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124 | Phys. Unserer Zeit | 36. Jahrgang 2005 | Nr. 3 DOI:10.1002/piuz.200501072 © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim gung, und der Kopf wendet sich von uns ab – ebenfalls nach links. Die Form unserer Gesichtsmaske erlaubt nun einen wei- teren Versuch. Während wir sie eben als konvexe Maske benutzt haben, können wir sie auch verkehrt herum, als konkaves Hohlgesicht,betrachten. Verblüfft stellt man fest, dass sich dieser Hohlkopf bei der gleichen Linksdrehung nach rechts wendet (Abbildung 1, untere Reihe). Wären wir, statt die Maske zu drehen, um sie herum nach rechts gegangen, so hätte sich das Gesicht also mit uns gedreht – wie bei den Neresheimer Fresken. Ja, es hätte in diesem Fall sogar unserer Bewegung voraus geblickt. Einstein scheint zu ahnen, wohin wir gehen werden. Zur Erklärung dieser Beobachtung reicht die Physik allein nicht aus. Mit welchen Methoden und aus welchen Daten bestimmt der menschliche Gesichtssinn Entfernun- gen und Tiefe im Raum? Für diesen Zweck setzt er primär zweiäugiges Stereosehen ein [2]. Ein Gegenstand wird vom linken Auge unter einem etwas anderen Winkel gesehen als vom rechten, was als binokulare Disparation bezeichnet wird. Dieser Winkel hängt vom Abstand des Objektes ab und wird zur Tiefenbestimmung ausgewertet. Der kleinste noch auflösbare Winkelunterschied, die stereoskopische Sehschärfe, liegt allerdings bei bestenfalls 10 Bogensekun- den. Bei einem mittleren Augenabstand von 65 mm ergibt V erwundert stehen Besucher in der barocken Abtei- kirche Neresheim in Baden-Württemberg und staunen über die Engel und Heiligen in der großen Kuppel. Beein- druckt von der genialen Tiefenwirkung der Fresken sind sie besonders dadurch verunsichert, dass ihnen beim Rund- gang in der Kirche die Blicke vieler Figuren zu folgen schei- nen. Befinden sich da oben vielleicht doch echte drei- dimensionale Figuren? Es gibt viele berühmte Orte, die für derartige Effekte bekannt sind. Was steckt physikalisch da- hinter? Erste Aufschlüsse geben hierzu Experimente mit einer dreidimensionalen Gesichtsmaske aus einer dünnen, das Licht diffus streuenden Kunststoffhülle. Nehmen wir im Einstein-Jahr das Konterfei des großen Physikers[1]. Wir stellen uns im Abstand einiger Meter vor der Maske auf und drehen sie in mehreren Schritten nach links (Abbildung 1, obere Reihe). Wie erwartet, folgt das Gesicht dieser Bewe- Sinnesphysiologie Der Blick der Einstein-Maske K LAUS D. HINSCH Konkav geformte Hohlmasken haben die Eigenschaft, dass sie einem Betrachter mit ihren Blicken zu folgen scheinen. Dieses Phänomen lässt sich mit Physik allein nicht erklären. Falsche Erwartungen spielen dem visuellen System einen Streich. Abb. 1 Einstein- masken bei einer Drehung zwischen 0 und 40 Grad nach links – in der oberen Reihe eine konvexe, in der unteren eine konkave Maske. Der Vollkopf folgt der Drehung, der Hohlkopf dreht sich entgegenge- setzt um den doppelten Winkel.

Der Blick der Einstein-Maske: Sinnesphysiologie

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124 | Phys. Unserer Zeit | 36. Jahrgang 2005 | Nr. 3 DOI:10.1002/piuz.200501072 © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

gung, und der Kopf wendet sich von uns ab – ebenfalls nach links.

Die Form unserer Gesichtsmaske erlaubt nun einen wei-teren Versuch. Während wir sie eben als konvexe Maske benutzt haben, können wir sie auch verkehrt herum, alskonkaves Hohlgesicht, betrachten. Verblüfft stellt man fest,dass sich dieser Hohlkopf bei der gleichen Linksdrehungnach rechts wendet (Abbildung 1, untere Reihe). Wärenwir, statt die Maske zu drehen, um sie herum nach rechtsgegangen, so hätte sich das Gesicht also mit uns gedreht –wie bei den Neresheimer Fresken. Ja, es hätte in diesemFall sogar unserer Bewegung voraus geblickt. Einsteinscheint zu ahnen, wohin wir gehen werden.

Zur Erklärung dieser Beobachtung reicht die Physik allein nicht aus. Mit welchen Methoden und aus welchenDaten bestimmt der menschliche Gesichtssinn Entfernun-gen und Tiefe im Raum? Für diesen Zweck setzt er primärzweiäugiges Stereosehen ein [2]. Ein Gegenstand wird vomlinken Auge unter einem etwas anderen Winkel gesehen alsvom rechten, was als binokulare Disparation bezeichnetwird. Dieser Winkel hängt vom Abstand des Objektes abund wird zur Tiefenbestimmung ausgewertet. Der kleinstenoch auflösbare Winkelunterschied, die stereoskopischeSehschärfe, liegt allerdings bei bestenfalls 10 Bogensekun-den. Bei einem mittleren Augenabstand von 65 mm ergibt

Verwundert stehen Besucher in der barocken Abtei-kirche Neresheim in Baden-Württemberg und staunen

über die Engel und Heiligen in der großen Kuppel. Beein-druckt von der genialen Tiefenwirkung der Fresken sind siebesonders dadurch verunsichert, dass ihnen beim Rund-gang in der Kirche die Blicke vieler Figuren zu folgen schei-nen. Befinden sich da oben vielleicht doch echte drei-dimensionale Figuren? Es gibt viele berühmte Orte, die fürderartige Effekte bekannt sind. Was steckt physikalisch da-hinter?

Erste Aufschlüsse geben hierzu Experimente mit einerdreidimensionalen Gesichtsmaske aus einer dünnen, dasLicht diffus streuenden Kunststoffhülle. Nehmen wir imEinstein-Jahr das Konterfei des großen Physikers[1]. Wirstellen uns im Abstand einiger Meter vor der Maske auf unddrehen sie in mehreren Schritten nach links (Abbildung 1,obere Reihe). Wie erwartet, folgt das Gesicht dieser Bewe-

Sinnesphysiologie

Der Blick der Einstein-MaskeKLAUS D. HINSCH

Konkav geformte Hohlmasken haben die Eigenschaft, dass sieeinem Betrachter mit ihren Blicken zu folgen scheinen. DiesesPhänomen lässt sich mit Physik allein nicht erklären. FalscheErwartungen spielen dem visuellen System einen Streich.

Abb. 1 Einstein-masken bei einerDrehung zwischen0 und 40 Gradnach links – in deroberen Reihe einekonvexe, in derunteren einekonkave Maske.Der Vollkopf folgtder Drehung, derHohlkopf drehtsich entgegenge-setzt um dendoppelten Winkel.

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E I N S T E I N - M A S K E | S I N N E S PH YS I O LO G I E

sich daher, dass bereits in 5 m Entfernung nur noch höchs-tens 20 mm Tiefenunterschied aufgelöst werden kön-nen. In dieser Entfernung können wir eine konkave Ge-sichtsmaske nicht mehr direkt von einer konvexen unter-scheiden.

Wenn Stereosehen versagt, nutzt der Mensch eine Viel-zahl monokularer Hinweise – vor allem die Parallaxe, dieVeränderung von Objektansichten bei Bewegung. Bei seit-licher Bewegung des Kopfes laufen nahe Gegenständeschnell, ferne langsam durch unser Gesichtsfeld undStrecken erfahren eine von ihrer Orientierung im Raum ab-hängige Änderung ihrer Länge. Über diesen Effekt könnenwir auch eine konvexe von einer konkaven Figur unter-scheiden (Abbildung 2). Sehen wir uns die Änderung derLänge eines kleinen Ausschnittes auf Einsteins rechter Wan-ge an. Bei Bewegung des Beobachters nach rechts verkürztsich diese Strecke bei der konvexen Maske auf L1, währendsie beim Hohlkopf länger wird (L2). Bei einer ebenen Figur– wie in den Kirchenmalereien – wird diese Strecke auchkürzer (L3), aber nicht so schnell wie bei der Vollfigur.

Wenn wir diese Erkenntnisse mit der Erfahrung des Alltags, dass Köpfe üblicherweise als konvexe Gesichter erscheinen, kombinieren, lässt sich auch die unerwartetedynamische Reaktion von Hohlmaske und Barockengel ver-stehen. Wir erwarten natürlich einen konvexen Einstein,registrieren bei unserer Bewegung nach rechts aber nichtdie zugehörige parallaktische Verkürzung aus Abbildung 2links, sondern eine Verlängerung wie in 2 Mitte. In vollerÜberzeugung, dass es sich um eine Vollmaske handelt, kön-nen wir diese Verlängerung nur damit erklären,dass sich derKopf zu uns hin gewendet hat, wobei die Strecke ja längerwird.

Auch bei dem überzeugend räumlich gemalten Engelvermuten wir eine echte dreidimensionale Figur. Da er inWirklichkeit eben ist, fällt die Verkürzung kleiner aus als er-wartet, was wiederum einer Drehung zugeschrieben wird.Die subjektiv wahrgenommene Drehung ist hier also klei-ner als bei der Hohlmaske. Unsere Experimente an einigenVersuchspersonen haben bestätigt, dass der Blick von Ein-steins Hohlmaske nicht nur dem Bobachter folgt, sondernum etwa den gleichen Winkel schon voraus schaut.

Eine Hohlmaske ist leicht zu produzieren. Wie sähe esaus,wenn eine komplizierte Szene komplett von innen nachaußen umgekrempelt würde? Ein solcher Fall lässt sich experimentell mit einem reellen holografischen Bild rea-lisieren [3].

In der Holografie wird üblicherweise ein virtuelles Bildder aufgenommenen Szene dadurch erzeugt, dass das Ho-logramm mit der ursprünglichen Referenzwelle beleuchtetwird. Für den Betrachter entsteht die Originalszene in ihrer Dreidimensionalität hinter dem Hologramm wieder.Beleuchtung mit einer zur Referenzwelle konjugiert kom-plexen Welle – praktisch einer rückwärts laufenden Welle– erzeugt ein reelles Bild. Bei horizontal einfallender ebe-ner Referenzwelle entsteht diese Situation durch 180°-Dre-hung des Hologramms um die Senkrechte. Im Raum zwi-schen Beobachter und Hologramm entsteht ein reelles Bild,als wäre das Objekt an der Hologrammebene gespiegelt.Die Tiefe ist invertiert: Was vorher zum Beispiel vorne war,ist jetzt hinten. Man nennt dies ein pseudoskopisches Bild,das sich entsprechend verwirrend verhält. Um zum Beispielvon oben auf eine Fläche zu blicken, muss man den Kopfnach unten bewegen.

Zurück nach Neresheim. Dreidimensionale Stuckfigu-ren oder raffiniert räumlich gemalte Fresken? Wenn dieBlicke uns aus schwindelnder Höhe folgen,dann handelt essich um ebene Darstellungen. Plastische Figuren hingegenwürden starr in eine feste Richtung blicken.

ZusammenfassungBeim räumlichen Sehen werden optische Reize mit Alltags-erfahrungen zum Bild der Welt verschmolzen. Bei unge-wöhnlichen Gegenständen führt dies zu Konflikten, die un-erwartete Effekte erzeugen. So scheinen sich Gesichter auf barocken Kirchenfresken oder in Form einer Hohlmaske beiBewegung eines Beobachters zu drehen. Eine Fehldeutung derbeobachteten Parallaxe liefert die Erklärung.

StichworteEinstein-Maske, Sinnesphysiologie, Parallaxe, binokulareDisparation, pseudoskopisches Bild.

Literatur und Internet[1] Die Einstein-Maske gibt es bei Stuart Landsborough’s Puzzling World,

Wanaka, Neuseeland; Internet: www.puzzlingworld.co.nz[2] D. S. Falk et al., Ein Blick ins Licht, Birkhäuser Verlag, Basel 1990

(Kap. 8).[3] R. J. Collier et al., Optical Holography. Academic Press, New York

1971, S.199.

Der AutorKlaus Hinsch, Professor für Experimentalphysik amInstitut für Physik der Carl von Ossietzky UniversitätOldenburg, Leiter der Arbeitsgruppe AngewandteOptik.

AnschriftProf. Dr. Klaus Hinsch, Institut für Physik, Fakultät V,Carl von Ossietzky Universität, Postfach 2503,26111 Oldenburg. [email protected]

A B B . 2 | PA R A L L A X E< Längenände-rung bei Änderungdes Betrachtungs-winkels. Bei derKonvexmaskelinks wird dieMarkierung aufder Wange kürzer,bei der Konkav-maske in derMitte deutlichlänger, beimebenen Bild rechtsebenfalls kürzer,aber nicht so starkwie vorher(L1<L3<L2).