Der Eigene : 1903-02

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    MOTTO:

    Und immer wiederum

    Erweiset sichs voll Klarheit ,

    daß imm erdar doch s iegt —

    die hehre Kraf t der Wahrhei t

    Willst mit kleinen Winkelzügen

    Gott und Menschen du belügen,

    Sieh, so wird sichs stets so fügen —

    Daß du dich wirst selbst betrügen.

    Nur die, so da mutig wagen,

    Frei zu stehen allen Fragen

    Und, vor Folgen ohne Zagen,

    Sich und Andern wahr zu sagen,

    Leben rein in Geistesklarheit,

    Freudig ihrer Offenbarheit.

    Denn es bricht Vorurteils Starrheit —

    Siegreic h ste ts die kühn e W ahr heit A1AURUS.

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    DER EIGENE

    EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR, KUNST

    CüOic^oiGüCis UND LITTERATUR  IS IS ISOUÖISOIS

    H E R A U S G E B E R :  A D O L F B R A N D  o CHARLOTTE.NBURG.

    FEBRUAR 1903

    INHALT:

    Motto von Maurus o Seite 82 o Kopfleiste aus dem Atelier Hiebel zu Brück o Seite 85 o

    „Dein Sturm pan ier " Gedicht von Hans Benzm ann o Seite 85 o Kopfleiste von Felix

    Malz o Seite 87 o „Sterben in Schön heit", Novelle von Caesa reon o Seite 87 o Schl uss

    leiste von Felix Malz o Seite 95 o „Beim Feste", Gedicht von Emanuel Geibel o Seite 96

    o „Mig non" , Kopfleiste von W. von Gloeden o Seite 97 o „Ra phae l", Gedicht von

    Adolf Brand o Seite 97 o „Im Kerker", Gedicht von Adolf Brand o Seite 99 o „Neue

    Lieb e", Ged icht von Adolf Brand o Seite 100 o „Hirte am Brunn en" , K unstblatt von

    W. von Gloeden o Seite 101 o „Singende Knaben", Zierleiste nach einem Friese von

    Luca del la Robbia, mi t Genehmigung der N euen Photographisc hen Gesel l schaf t in

    Stegli tz o Seite 103 o „Der schöne Jüngling in der bildenden Kunst al ler Zeiten",

    II.  Teil : Renaissance bis Raffael , Aufsatz von Dr. Kiefer o Seite 103 o „David" von

    Michelan gelo , Ku ns tb lat t , mi t Genehmigung der Neuen Photogra phischen Gesel l schaf t

    in Stegli tz o Seite 109 o „Am Rhein", G edicht von Nikolau s Lenau o Seite 115 o

    „Dolabella", Kunstblatt von W. von Gloeden o Seite 117 o „Dolabella", Gedicht von

    Hadrian o Seite 119 o „Die Homoerotik in der Weltl i t teratur" von Johannes Gaulke o

    Seite 120 o Kopfvignette au s dem Atelier Böhme o Seite 133 o „Juda s", Gedich t von

    Han s Benzm ann o Sei te 134 o „Chri s tus" , Kuns tb lat t von Wulf Schwe rdt feger o Sei te 135

    o „Vier Poesie n von A ndre Dalio o Seite 137 o Kopfleiste dazu von Felix Malz o

    Seite 137 o Vignette auf Seite 139 und Seite 142 von Andr e Dalio o „Der Bogen

    sch ütz e", Kunstbla tt von Richard Müller o Seite 143 o „Im Dü nen san de" , Kopfleiste

    von W . von Gloeden o Seite 145 o „Ge witte rnac ht", Novelle von Ha nns Fuchs o

    Seite 145 o Bücher und Mensc hen o Seite 151 o  e^e^e^J

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    V E R L A G :  M A X S P O H R  o LEIPZIG.

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    G A L L U S

      U. HIEBEL ZU BRÜCK

    DEIN STURMPANIER

    C o fröhlich schwingst du dein Panier,

    Du d e in es Ge i s te s S tu rmpan ie r

    In deinem Rückgrat Löwenmark,

    In deinem Herzen Siegfriedsblut,

    Dünkst du dich aller Welten stark,

    Dünk st du dich Gö ttern gleich und gut

    Und schlägst der Menge ins Gesicht,

    Die gegen dich mit Nadeln ficht

    Und gehst und hebst dein Sturmpanier

    Blut blitzt als deines Hauptes Zier,

    Das deine Dornenkron durchs t icht

    Du hebst das Adleraug, das nicht

    In deinen blutigen Tränen bricht,

    Zu deinem heiligen Sonnenlicht

    Du willst und kommst zur höchsten H öh,

    Du Kämpfe r, nach Ge thsemane . . . .

    Und gehst und hebst dein Sturmpanier

    Wie Tauben flarterts über dir

    Frohlockend klingt dein Siegeslied,

    Klingt deiner Lebensfreude Psalm

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    o o DER EIGEN E o o

    O, daß dich nicht zur Tiefe zieht

    Vor deiner Höh der letzte Halm,

    Daß du bis oben göttlich bleibst

    Und nicht in Nebeln niedertreibst

    Halt fest dein stolzes Sturmpanier,

    Dein Engel flatterts über dir

    O, daß dir nicht sein Schwert der Schmerz

    In deine heißen Hände legt,

    Daß du es bohrst ins eigne Herz,

    Worin der Erdenwurm sich regt,

    Der Wurm der Reue und der Schuld,

    Der heißen Todesunged uld —

    Und stirbst, ein Held und Heiland Dir,

    Dich deckend mit dem Sturmpanier . . .

    HANS BENZMANN.

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    S T E R B E N IN S C H Ö N H E IT * .

    Erinn erun g o hülle in Schönheit dies durstende Herz mir —

    Und Sehnsucht, du wiege in Träume mich ein

    Zaubre die seligsten Stunden, ach, mir aus dem Einst zurück,

    O lasse in Träumen mich lieben, was ich im Leben geliebt

    CAESAREON.

    s c h a u t e i c h w o c h e n l a n g d r a u ß e n a u f d e m L i d o d e n s t ü r m e n d e n

    W o g e n z u .

    Ohne Anfang, ohne Ende schäumten sie heran und kehrten

    zurück — in allen Tö ne n, in allen Farben — und versanken in

    sich wie in wilden Träu me n. Aus diesem im mer gleichen, immer neuen

    Spiele sprach die Ewigkeit.

    Wie ein ew iger Mahnruf erklang diese s Prasse ln und Schäumen.

    Es brachte Kunde von erlebten Ewigkeiten:

    „Ewigkeiten vor dir, Ewigk eiten nach dir Träum ender, was bist

    du gegen uns, die Unen dlichen? Welch es Atom von unserer Zeit um-

    faßt dein klägliches Bestehen?"

    So rauschte es, so wogte und  stürmte es vom Morgen bis zum

    Abend, noch eindringlicher des Nachts , wenn alles sons t schwieg. Des

    Nachts: wenn die Wogenberge gleich Gespensterheeren heran zischten,

    schwarz, mit weißen, zerschlissenen Kappen und grünen, schillernden

    Augen, lang die kalten Arme reckend und mit hohlem Gegurgel versinkend.

    Mir waren es Ta g und Nach t die gleichen Freunde. Noch im kurzen

    Schlummer erblickte ich kämpfende, sich bäumende Wogen und hörte

    ihr Rauschen wie Märchengesänge in meine Träume klingen.

    Woc henlang hatte mein Fuß Venedigs nahe Ufer gemieden. Kaum

    streifte mein Blick einmal den weißen Kai oder den hochragenden Campanile,

    * Erste Schrift aus dem Zyklus „Sein Name ist Schönheit", zu welchem ich das

    Vorwort des Verfassers unter der Überschrift „Ein Wort voraus an die Besseren" in

    No.

      1 des Eigenen brachte. ADOLF BRAND.

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    g g o o DER EIGENE o o

    den alten, roten Freun d. Nur da s ewige Meer, die ewige, rausch ende,

    schillernde Pracht vor mir war meiner Blicke unverändert Ziel.

    Es w ar ein verzü cktes Versinken in weiche, wonnige Tiefen seligster

    Melancholie. Es war ein Allesvergessen, es war der große, ersehnte

    Friede, ein endliches Ausruhen der irrenden Seele. — In jahrelangem,

    verzweifeltem Fliehen durch diese W elt ha be ich diesen Frieden gesuch t.

    An meinen Fersen heftete die Qual endloser Enttäuschu ng. Übersättigt

    bis zum Ekel, hungrig bis zur Verzweiflung, verfiel meine Seele dumpfer

    Resignation. Ich wan derte weiter — ohne Ziel.

    Hoffnungslos. —

    Vergraben am Meere sstrande, umtost von rauschenden, farbigen

    Wassern, entdeckte meine Seele in diesen Ewigkeitszeugen das flehend

    erseh nte Kleinod: Friede n. Nun trank ich süßen Frieden, schlürfte Ver-

    gessenh eit, ber ausc hte mich im Scha uen — umschleierte mich mit seliger

    Melancholie. Das war nun endlich Friede n.

    Ich wurde des Schauens nicht müde, ich wähnte diese Seligkeit —

    wie die ewige — ohne E nde . Ich hoffte aus dieser in jene unmerklich

    hinüberzugleiten, unmerklich in diesem Anblick zu sterben und dann ewig

    zu sein wie diese Wasser. — Aber es kam ein Ende.

    Ein berauschender, herrlicher Frühlingstag neigte sich zum Verblassen.

    Hinter der langgestreckten, weißen Isola Maggiore schien die Sonne in

    die Lagune hinab zutauch en. Die marm orne Chiesa della Salute war in

    ein Meer von Gold gesen kt. Giga ntisch e Strahlen umkränzten ihre Kuppel

    wie mit einem Heiligenschein und spielten am hohen Portale und auf

    den weißen Stufen. Dav or die Lagunen schimm erten in tausen d Farben,

    drüben dunkel metallen, hier blendend golden. Und alle diese Tö ne

    vibrierten sanft ineinan der wie schw ingen de Harfensaiten. Eine Prach t

    ohne Gleichen

    Das sah ich vom Dache meines H auses an. Ich wand te mich dann

    dem Meere zu:

    Flüssiges Gold wogte heran, die Schaumkronen waren zu Brillanten

    gew orden . Ich war geb lend et. Da s war nicht irdisch mehr, das waren

    Schätze aus allen Ewigk eiten, aus allen Weiten zusam meng etragen. Und

    nun rollten sie hier heran , gleißend, ganze Meere vo n Gold, Gestein

    und Perlen.

    Ich eilte hina b; ich glaubte , d aß in diesem Anblick nun das er-

    träum te Sterb en sei, daß so die Seligkeit des Himmels ihren Anfang

    nehme . Ich wähn te, d iese Wellen sollten mich hinübertrag en zum Ur-

    quell aller Herrlichkeit: zum ewigen Frieden.

    Ich bot mich ihnen. Um meine Füß e spielten säus elnd die flachen

    Vorläufer der hohen goldenen Wogen, die bis dicht ans Gastade heran-

    traten. Einen Mo ment stan den sie aufrecht vor mir, wie Mau ern. W ohl-

    an Dah inter breitete sich die Seligkeit, ich faßte zu: — — zischend

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    o o STERBEN IN SCHÖ NHEIT o o

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    brach der golden e Berg zusamm en, spritz ender Schaum näßte mein

    Antlitz.

    Immer neue Mauern strahlenden Goldes drangen vor, immer neue

    standen aufrecht — jeder streckte ich flehend die Arme entgegen —

    jed e wich schüttelnd , verneinen d. Mein e klägliche Nichtigkeit ließ sie

    erbeben , schaudern, entsetzen. Sie lehnten mich ab, sie schnitten Ge-

    berde n der V erachtung: mir war nicht bestimm t, in Schönheit zu sterben

    und selig zu werden . Mir scha ude rte. —

    Das war das End e. —

    Das war das Ende des Friedens, der Anfang neuer Enttäuschungen.

    Nun brach die wilde Flucht wieder an und das ruhelose Suchen.

    Fort

    Ich eilte die lange Straße hinab zum Landeplatz der Batelli, deren

    eines mich hinübertrug zum Molo Riva degli Schiavoni. — Fort über

    die weißen Fliesen, fort im Dämmerlicht.

    Piazza San Marco, holdes Heiligtum, Campanile, Chiesa, Pallazzi —

    welches W iede rseh en? Nun hüllt die Nacht euch ewig Prangende in

    Schatten — wie die dumpfe Schw erm ut meine lechzende Seele. Durch

    die hundert engen, dunstigen Gas sen, über die marm ornen, zahllosen

    Brücken , durch das schre iende , bunt e, faule Volk fort Alles fremd und

    doch alles beka nnt Alles geliebt Ach, wun de Seele, wohin?

    Auf dem Po nte di Rialto wo gte die dr ängend e Menge und sah hinab

    auf den breiten, schwarzen Kanal, kommender Dinge harrend.

    Oben, wo der Kanal Canareggio sich mit dem Kanal Grande verbindet,

    lag das Musikschiff bereit zum Beginn der Sere nata. Tausen d bu nter

    Flammen schmückten es und schon hatten die Sänger und Musikanten

    sich auf Deck versammelt.

    Serenata

    0 Serena ta Wie in süßer Trunken heit stammelte ich dieses geliebte

    W ort. Seren ata, heiligstes Heiligtum, o Serena ta di Venezia, rettendes

    Heil 0 Erlösung

    O melancholische Serenata

    Über die spiegelnde Pracht des bunten Schiffes schaute vom Kanal

    Canareggio das schwarze, eng e Ghetto herüb er. Wie ein drohende s

    Ausrufzeichen.

    Die lockend e Serenata hatte mich in ihren Zauberbann gezogen.

    Ich ging hinab, eine der schwarzen Gondole zu besteigen.

    „Gondole Gon dole Gon dole " tönte es wie immer im schmel-

    zend weichen Venezianisch. „Go ndo le " von allen Seiten. Ich stieg in

    die erste.

    Die Gondola stieß ab, ich saß mit dem Rücken dem Gondoliere

    zugewendet.

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    o o DER EIGENE o o

    Die sanften Wellen wiegten meinen gehetzten Leib, wie freundliche

    Träume eine zerstörte Seele. Und ich d achte an meine Freunde draußen:

    an die ewigen, an die bran dend en M eereswogen, an die Schätze im

    Sonnengo lde. Sie hatten mich verschmäht. —

    „Zur Serenata?" fragte über mir eine sanfte Stimme, so sanft und

    schmeichelnd, daß ich jäh aus meinen Trä um en auffuhr. Ich lehnte mein

    Haupt tief zurück und sah auf:

    Hinter mir stand der Go ndo liere. Über mir bewe gte sich seine ela s-

    tische Gestalt in rütmischen Sch wingu ngen. Sein dunkles Auge glühte,

    Lichter spiegelten sich darin. Seine junge , sonn enge bräu nte Brust wo gte

    unterm offenen, blaue n Hemd . Über die hoh e Stirn quoll schw arze s

    Locken haar, der breite Hut lag zu seinen Füße n. Ein 'schlanker, herr-

    licher Jüngling, wie nur Italiens glühend e Sonn e sie erblühen läßt, wa r

    es ,

      der fragte: „zur Serenata?"

    Seine weiche, tiefe Stimme gab ein Klingen wie melancholische

    Sehnsu chtsmelod ien. Sie klang in der Seele nach. —

    Die Serenade bega nn. Die Musik spielte eine glühende Volks weise.

    Wie heiße Trä nen fielen die Tön e auf meine weinende Seele. Langsa m

    durchfurchte das leuch tende Sängerschiff den Kanal, hund erte der

    schwarzen Gondeln schoben sich lautlos dahinter und füllten die Wasser-

    straße in ihrer ganzen Breite. Von den Baikon en der alten Marm or-

    paläste loderte bengalisches Feuer in glühenden Farben zum Nacht-

    himmel auf. Silhouettenhaft ho ben sich die rudernde n Gond oliere vo m

    grellen Lichte ab.

    „Zur Serenata?"

    Ich hatte noch immer meine Blicke nicht von dem Fragenden ge-

    trennt. Mein Kopf glühte, mein e Seele bra nnte — ich konnte n icht

    fortsehen. Mein Auge klamm erte sich an ihn und ich konnte nicht

    reden. Es war Wahnsinn, lodernder, rasend er W ahnsinn — wie d as

    Haschen der goldenen Wogen draußen.

    Es war Neid Alles in ihm, an ihm : sprühen d, strahlend — Leben ,

    Jugend, Feuer. Das wollte ich aus ihm saugen : für mich Es b rannte

    auf meiner Seele wie ein verzehrendes Feuer.

    Und diese glühenden Lippen lächelten buhlerisch süß:

    „Zur Serenata?"

    Drei Worte preßten sich endlich tonlos dumpf durch meine Lippen:

    „Auf die Lagune "

    „Auf die Lagune?" —tönte es weich in zaudernder, erstaunter Frage

    zurück. Lippen und Augen lä chelten, sein ganzes We sen sc hien ein

    weiches, wa rmes, strahlendes Lächeln. Dieses Lächeln w ar der Triumph

    der Schönheit und Kraft über die Armut und Armseligkeit des Lebens.

    „Auf die Lagune " befahl ich und mein Kopf sank vor, meine Blicke

    rissen sich los. — Nun sah ich ihn nicht mehr. —

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    o o STERBEN IN SCHÖNHEIT o

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    freundliche

    draußen:

    Schätze im

    sanft und

    lehnte mein

    seine elas-

    Auge glühte,

    Brust wogte

    schwarzes

    läßt, war

    Volksweise.

    Langsam

    nderte der

    die Wasser-

    Marmor-

    zum Nacht

    iere vom

    enden ge

    wie das

    — Leben,

    is brannte

    Lippen:

    schien ein

    Triumph

    Lebens.

    Mit kräftigen Stößen schw enkt e er seine Gond ola herum. Wir

    glitten g eräusc hlos den Kanal  hinauf an der Stazione vorüber, in die

    offene Lagune.

    Schwarz und bewegungslos lag die weite Flut vor uns. Es herrschte

    ein Schweigen wie draußen auf dem Camposanto, auf der feierlichen

    Toteninsel, wo unter grauen Marmorhügeln die Entseelten schlummern.

    Der Mond trat aus den Wo lken und warf sein bleiches Zerrbild

    über die dunklen Was ser. W eiß es Licht flutete über uns. — Ich sah

    neben mir im Wasser einen gigantischen, sich schwingenden Schatten:

    der Gondoliere

    Wir näherten uns der mächtigen, endlosen Eisenbahnbrücke, die das

    Festland mit Venedigs Inseln verbindet.

    Ein Zug keuchte heran . Da s Ge töse d er Brückenfahrt durchtob te

    das Schweigen der Nacht wie Me eres bran dun g. Über die metallene Flut

    raste das Spiegelbild des erleuchteten Nachtzuges wie eine glühende

    Schlange.

    Wieder sahen Hunderte aus aller Welt die Sehnsucht ihres Lebens

    befriedigt, ihr Ziel erreicht. Sie ware n in Ven edig

    Draußen bei uns auf der Lagune war es wieder still.

    Ich ließ mein Haupt über die Lehne zurücksinken und schloß die

    Augen. So sah ich ihn nicht. Doch ich fühlte seine glühenden Blicke

    durch meine Lider dringen. Ich spürte sein en h eißen Hauch, wenn er

    sich beim Rudern weit vorbeugte.

    Ich schlug die Augen auf.

    Dicht über meinem Antlitz lode rten seine Augen — meine Blicke

    gingen darin unter. Ich sah nichts mehr. Ich streckte krampfhaft die

    Arme empor, die seinen Nacken berührten.

    Er senk te sich tiefer hera b. Er sen kte sich herab bis auf meine

    lechzenden Lippen. — Sein Atem drang in meine Seele.

    „Ach " —

    „Zur Sere nata " schrie ich. Es war ein gellender Schrei, den ich

    ausst ieß. Ich erschra k. Ich flehte, ich be bt e:

    „Zur Serenata."

    Wie ein flüsterndes Echo klang es von seinem Munde zärtlich zurück:

    „Zur Serenata?" —

    Ich setzte mich auf den ihm ge genü berste hend en Sessel und sah

    ihn voll an.

    Er stand hoch über mir. Seine schlanke Schönhe it überflutete das

    Silberlicht des Mo nde s. Seine Züge verklärten sich in glückseligem

    Lächeln. Triumph leuchtete aus seinen Sternenaugen.

    Wie ein Gott

    Ich st arrte ihn an. Ich muß te ihn anst arren , m eine Blicke ließen sich

    - ~ ~ — — • — r . „f lpgj?

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    o o DER EIGENE o o

    nicht wend en. Er hatte aus meiner Seele die Ewig en vom Lido ge -

    drängt.

    Unterm Ponte di Rialto erreichte n wir die Sere nata . Unsere Gon dola

    schob sich sanft zwischen die and eren . Langsam, kaum merklich gleitete

    der ganze Zug mit dem leu chten den Sängerschiffe in de r Mitte vorw ärts.

    Niemand geht es ja zu langsam . Jeder will in tiefen, tiefen Zügen

    dieser nächtlichen, zauberischen Schönheit einziges Schauspiel in sich

    aufnehmen. Niemand wird dessen satt. —

    Um uns ein Meer leise sich w iegender, sc hw arzer Gondo le, alle mit

    funkelnden Lichtern. Leuc hten des Feuer von den Paläste n, vom Schiffe

    melodische Klänge und glüh end er Sang, eine Menschh eit voll Freud e

    und Glückseligkeit und d och — über alles ein zarter Schleier v on

    Melancholie gebreitet.

    Das ist die Serenata —

    Um Mittern acht erreichten wir die Mündung de s Kanals. Vor dem

    Palazzo ducale endete die Serenata.

    Menschen und Gondole und Lichter verloren sich.

    Fragend blickte mich mein Gondoliere an:

    „Wohin ?"

    „Nach dem Lido."

    „Nach dem Lido, noch diese Nacht? Wir allein? Das b randen de

    Meer wirft seine Wellen weit herein."

    „Fürchtest du dich, Go ndo liere? Das Wa sser ist still und die Nacht

    ist sicherer für solche Fahrt als der Tag, wenn tausend F ahrzeug e im

    Hafen kreuzen."

    Freilich war mir die Gefahr bekannt und ich wusste wohl, daß es

    nicht ratsam sei, nur mit einem Gondoliere sich den Meereswogen in

    die Arme zu werfen. Aber ich mußte hinaus in mein Heim. Er allein

    sollte mich hinausbringen.

    „Nach dem L ido" bat ich ihn. Ich lächelte ihm zu, zärtlich. —

    Ich wu ßte, d aß er alles für mich tun würde , d aß er mir wie ein

    Sklave unterwürfig war.

    Ich befahl nicht mehr, ich bat. In flehendem Lächeln hob en sich

    meine Augen empo r zu ihm. Meine Blicke umschlossen seine schlan ke

    Gestalt in stumm er Zärtlichkeit. Die Raserei war einem stillen Sehn en

    gewichen, lächelnder Friede lag über meiner Seele.

    Ich lächelte ihm zu.

    Er antwortete mit der stummen Sprache seiner zarten Seele: mit

    seinem milden, bejahenden Lächeln.

    Wir glitten an den Kolossen der Ozeandampfer vorüber und steuerten

    dem fernen Lido zu.

    Von unseren Lippen stör te kein Laut das heilige Schweigen der

    Nacht. Wir rede ten zu einan der mit der Sprac he der funkelnden Ster ne.

    Es war eine

    Die Fahrt gn

    Seitdem sind

    Eine Woche

    wohnung auf dem

    Heim am Lago

    Hoch über

    Schwarze Cypn

    finsteren, feierlich«

    Mein Heim lie

    und Rhododendroi

    Feierstimmung bre

    Hier verbrach

    Sehnsucht des Ta

    Heute —

    Ein glühender

    die Luft geht ein

    Hitze legt sich se

    Ich verschlafe

    dichten, geschloss

    ich fort vom Mor

    trägt sich auf di

    Als es Abenc

    Sessel und brüte

    Regungslos

    Ich dem.v

    Endlich ent

    bewegliche tiefe

    Nacht —

    Schon Nacht

    Millionen St(

    den hohen Spieg

    S chön

    Ich trete hin

    Heimes: wie ein

    Ach Ironie

    Keimender

    Niemand weiß e

    Ach, was is

    brochene Schönf

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    o o STE RBEN IN SCHÖ NHEIT o o

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    Es war eine klare, blaue, warme Nacht. —

    Die Fahrt ging glatt und glücklich. Sie währte lange. — — —

    Seitdem sind dreißig Tage verflossen.

    Eine Woche nach der nächtlichen Fahrt verließ ich meine Strand-

    wohn ung auf dem Ud o und flüchtete von Venedig in mein einsames

    Heim am Lago di Como.

    Hoch ü ber dem blauen W asser thro nt meine Villa von Marmor.

    Schwarze Cypressen ragen davor zum Himmel auf; ich liebe diese

    finsteren, feierlichen Giganten . Eine bre ite Terras se führt hinab zum See.

    Mein Heim liegt in einem Walde von blühenden Oliven, Magnolien

    und Rhodo dendron — wie ein stumm es Schlo ss im heiligen Hain. Ewige

    Feierstimmung breitet sich darüber.

    Hier verbrachte ich die letzten Wochen in schweren Träumen, mit

    Sehnsucht des Tags der endl ichen Erlösung harrend. —

    Heute —

    Ein glühender Tag . Verheerend bre nnt die Sonne hernieder; durch

    die Luft geht ein Flimmern, als siede und brodele die Atmosphäre. Diese

    Hitze legt sich sengend auf alles Leben.

    Ich verschlafe den ganzen Tag im Dun kel meines Ha uses. Hinter

    dichten, geschlossenen Vorhängen, die alles Licht verbannen, schlummere

    ich fort vom Morgen bis zum Abend. Do ch die Glut von außen ü ber-

    trägt sich auf die Träume.

    Als es Abend w ird, spr inge ich auf. Ich setze mich in einen niedrigen

    Sessel und brüte eine Stunde noch vor mich hin.

    Regungslos, wie tot.

    Ich denke an die Erlösung.

    Endlich e ntschließe ich mich, den seide nen Vorha ng, dessen un-

    bewegliche tiefe Falten mir die Augen brennen, zurückzuziehen.

    Nach t —

    Schon Nacht? — oder endl ich?

    Millionen Ste rne glitzern. Ich zün de ein Licht an und schau e in

    den hohen Spiegel —? —

    Schön

    Ich trete hinaus und stehe unterm weißen Portale meines marmornen

    Heimes: wie ein Bild des Frühlings.

    Ach Ironie

    Keimender Wah nsinn frißt an m einer Seele w ie quellendes Gift.

    Niemand weiß es. Alle würd en sag en : Seht, seht wie schön

    Ach, was ist Schön heit ohn e Kraft? Eine schwache, kranke, ge-

    brochene Schönheit, eine vergangene — was ist die?

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    13/70

    9

    o o DER EIGENE o o

    Ich will sterb en. Sterb en eben no ch in Schö nheit. Ich will nicht

    verwelken, nicht hinsiechen — nein, nein, nein

    Ich will abbrechen wie im vollen berauschenden Dufte ein blühender

    Orangenzweig, getroffen von einer schwer herabfallenden Frucht.

    Eine solche Frucht ist die gesättigte Schönheit.

    Alle sollten sterb en, die satt sind, denn wa s m ehr ist, ist zu viel.

    Alles sollte vergehen, was den Höhepunkt seines Wesens erreicht hat.

    Kein Verglimmen , kein Altern, kein Abs terben Nur strahlende

    Schönheit, sieghafte Kraft Raum für di es e —

    Sterben

    Sterbe n? Warum macht dieser hehre Begriff so viele heulende

    Gesichter, so viele klagende Herzen?

    Warum?

    Sterben ist nötig, leben nich t Alles was gebo ren ist, muß sterbe n.

    Giebt es einen feierlicheren Moment als den des Hinübergleitens

    vom Sein zum Nichtsein, vom Leben in den To d? Ein g roßer Akt

    In Schönheit, in Glanz, in Verklärung sollte er sich abspielen als

    Apotheose des ganzen Wesens .

    Strahlendes Licht über den Sterbenden und rauschende Fanfarenklänge

    Und wenn das Auge erloschen, deckt ihn mit schillernder roter Seide,

    durch die sein Antlitz in rosiger Verklärung schimmert und laßt Sphären-

    musik ertönen: Harfenklänge und fernen Kindergesang.

    Die Schönheit: der Kraft

    Über meinem Hause steht der volle Mo nd. Ein weißes Lichtmeer

    liegt über der nächtlichen Prac ht. Die Bäum e tragen Silberkronen, silbern

    gleißen unten die träumenden Wasser, die weißen Stufen und Statuen:

    alles versinkt in einer Flut mag isch blen den den Lichtes. Der klare

    Himmel ist hellblau wie bei Son nena ufga ng, die kleinen und groß en

    Sterne strahlen wie Sonn en. Wie schwarze Kerzen heben sich in

    scharfen Silhouetten die hohen C ypresse n vom Nachthimmel ab und

    werfen lange, lange schwarze Schatten ü ber die Terrasse. Aus tausend

    Blütenkelchen mischt sich ein schwerer berauschender Duft.

    Keine Bewegung, kein Laut: die Welt scheint in einem Zustande der

    Erstarr ung wie ein zaub erha ftes rie siges Bild. Ich allein leb e —

    Lebe ich noc h? Ein Zittern läuft durch meine Glieder, vor meinem

    Auge scheint sich das gew altige Bild zu vers chie ben . Ich schreite vor

    und steige langsa m die breiten Stufen hinab . Seltsam klingen meine

    Tritte aus den Büschen zurück.

    Noch wenige Stufen bis zum Wasser. —

    Rechts und links stehen weiße Statuen: „Schönheit" und „Licht", die

    Ankomm enden begr üßen d. Ich stütze mein Haupt auf den Sockel der

    „Schönheit" und schmiege meine heiße Stirn an das marmorne Bildwerk.

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    o o STERBEN IN SCHÖNHEIT o o

    9 5

    Etw as regt sich hinter mir. Ich hör e einen verklingenden Schritt.

    Ich wende mich nicht.

    Um meine Hüften schlingt sich ein fester Arm, in den ich mich

    zurücklege.

    „Giorgio "

    „Ich bins."

    „Giorgio, mein Erlöser "

    „Ich bins."

    „Du hast W ort ge halten "

    Aus meinem Gürtel löse ich einen kleinen, silbernen Schlüssel und

    drücke ihn in seine Hand.

    Er lächelt zärtlich zum Dank.

    Ich lege meinen Arm um seinen schlanken braunen Hais und trinke

    von seinem Antlitz noch einmal blühend e Schönhe it. Aus seinem Arm,

    aus seinem Blick — aus seiner Seele strahlt glühende Kraft.

    „Dir — Kraft — die Schö nheit und die Welt und Tod den

    Schwachen "

    Ein funkelnder Stahl blitzt in seiner Han d. Ich lächl e:

    „Giorgio, Erlöser "

    Seine Gestalt scheint zu zerfließen, sich zum leuchtenden Gotte zu

    verwandeln; überirdisches Licht strahlt aus seinen Zügen.

    Ich fühle seine Umarmung, in meine Brust senkt sich sein spitzer

    Stahl — ohne Schmerz.

    Erlösung küß t meine Seele in himm lischer Won ne. Meine Augen

    schauen in die Ewigkeit.

    Mein Körper gleitet von den Händen des Erlösers gehalten auf den

    Marmor nieder. Rotes Blut rinnt über die w eißen Fliesen hinab, von

    Stufe zu Stufe, und mengt sich unten mit dem leuchtenden Wasser.

    Oben unterm Portale erreichen meine Blicke noch einmal die Ge-

    stalt des Erlösers. Mit der Rechten winkt er mir Grüße und verschwindet.

    Die letzte Kraft des sterbendes Leibes schließt mir die Augen.

    Tot Erlös t

    Gestorben in Schönheit. —

    Laßt es so sein

    CAESAREON

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  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

    15/70

    o o DER EIGENE o o

    BEIM FESTE

    füllt die Pokale mit cyprischem Wein

    Laßt blinken im Becher den purpurnen Schein

    Schlürft hastigen Zuges den raschen Genuß

    So kurz ist die Jugend, so flüchtig der Kuß.

    Es flammen die Rosen in duftiger Glut,

    Es spiegeln die Sterne sich tief in der Flut;

    Doch mehr ist als Rosen und Sterne zumal

    Die Blut auf den Wangen, im Auge der Strahl.

    Durch Blätter und Lauben bricht farbiger Glanz,

    Da regt sich im Grünen melodisch der Tanz;

    Heiß schlingt sich der Arm um die schöne Gestalt,

    Die Blicke, die Herzen, sie finden sich bald.

    So schwärm et, so küss et Vom Himmelsgezelt

    Wirft goldene Schimmer der Mond in die Welt.

    Gen ießt We nn die glänzen de Scheibe verblich,

    Wer weiß, ob die Liebe der Brust nicht entwich

    Ich hab einst geliebt und auf Treue gebaut,

    Ich habe dem Lächeln des Frühlings vertraut;

    Die Stürme des Herbstes, sie brausten daher,

    Ich suchte die Blumen und fand sie nicht mehr

    Drum hastig die blinkenden Becher geleert

    Ergreift , was die rollende Stunde beschert

    Genießt die Minute, so lange sie glüht

    Der Frühling verwelkt, und die Liebe verblüht

    EMANUEL GEIßEL.

  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

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    A I I G N ' O N

    W. VON GLOEDEN

    RAPHAEL

    ^ e i n Auge is t mir

    Wie im finstern Tann enwa lde

    Der stille Weiher,

    Wann mit düstrem Glänze

    Der Mond drauf scheint:

    So tief und ernst —

    Und wann es weint,

    Ists die von Tau und Morgenglut

    Geschmückte und gelabte Bergeshalde

    Wanns aber lacht:

    So froh und wild,

    Wie die in flammendem Wetterglast

    Brausende, jauchzende Mainacht

  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

    17/70

    o o DER EIGENE o o

    Sein Kuß ist Sehnsucht,

    Sein Umarmen Friede

    Und Seligkeit:

    An seiner Brust zu ruhn,

    Wenn Wang an Wang

    Uns liebe Träume kosen

    Und Eros schmeichelnd

    Um Stirn und Nacken

    Der Liebe keusche Wunderblumen zaubert,

    Die nur auf seinen stillen Inseln blühen

    *

    Der Schenkel Kraft

    Strebt schlank und weich empor,

    Lebendge Säulen eines Heiligtumes

    In dem nur ich allein der Priester bin

    *

    Sein Mund hüllt Wehmut,

    Schamhaftes Entzücken,

    Und südweinsüß ist seiner Lippen Rand,

    Frostlösend wie der schwüle Föhn,

    Wie Abendsonnenblut erglühend,

    Purpur- und scharlachrot

    Wie Rosen

    O Göttert ros t ,

    Sich daran satt zu nippen,

    Am Kelch der Minne,

    Der nur Freude sprudelt,

    Erlöserwonnen

    Der Unendlichkeit

    ADOLF BRAND.

  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

    18/70

    o o IM KERKER o o

    IM KERKER

    Line Pri tsche und Matratze

    Und ein weißes Linnentuch,

    Blaukarrierte Deckbezüge

    Und ein halbvergilbtes Buch.

    Drinnen les ich und vergesse

    Meine Einsamkeit und Qual,

    Bis die Zellenwände grinsen

    Schattenwirr und totenfahl —

    Bis der Posten auf dem Hofe

    Dröhnend schreitet durch die Nacht,

    Daß es gellt wie Teufelslachen

    Und d er Asphalt klirrt und krach t —

    Daß es hämmert im Gehirne

    Von Gedanken, weh und heiß,

    Bis von meinen müden Wimpern

    Trän e rinnt um Träne Ieis —

    Bis ich küsse ihre Blicke,

    Meiner Mutter blutend Herz,

    Meines Vaters graue Haare

    — Und m ich f inde heim a twär ts . . . .

    Wo ein Stern in meinem Garten

    Lächelnd vor mir niederfällt

    Und ein Engel mir sein Mündchen

    Schalkhaft zag entgegen hält —

    Und der Engel ist ein Junge

    Und der Junge, der bist Du

    Und der Himmel geigt und jubelt,

    Vater, Mutter schauen zu —

    Vater, Mutter stehn und beten,

    Und die Nacht ruht warm und weich,

    Und wir gehn auf leisen Sohlen

    In ein schönes Mä rchenre ich . . .

    ADOLF BRAND.

    ESH

  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

    19/70

    o o DER EIGEN E o o

    NEUE LIEBE

    T^\u bist wie eine Gerte,

    So frisch, so schlank und gut.

    Ich küsse Dich, Geliebter,

    Wildsüßes Schelmenblut

    Ich küß Dein Silberlachen,

    Den roten Perlenmund.

    Der Wollust lockend Leuchten

    Auf Deiner Schenkel Rund

    Ich küß von Deinem Nacken

    Den lieben krausen Sinn.

    — Sieh — blick in meine Sterne :

    Du gibst Dich, gibst Dich hin

    Dann halt ich Dich umschlungen

    Wie diese Gerte fein.

    Du Schlingel bist mein Eigen

    Und sollst mein Sklave sein

    Und wie die schlanke Gerte

    Springt flammend auf und zu,

    So Wille ganz und Feuer,

    So biegsam sei auch Du

    Dann springen, blühn und brennen

    Blutrot zur halben Nacht

    Der Liebe Wunderrosen

    Aus meines Herzens Schacht.

    Dann ringeln sie wie Schlangen

    Um Lenden sich und Bein

    Und küssen Dich und kosen

    Zu süßem Seligsein

    Du, Du mein heiiges Lachen

    Und meiner Sehnsucht Weh,

    Dann grüß ich D ich wie Nordlicht,

    Wie Glast im Gletscherschnee

    Die Rosen, meine Runen,

    Sie raunen: Du bist mein

    — Der Burschen allerschönster,

    Du wirst mein Sklave sein

    ADOLF BRAND

  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

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    . - . - , • - .

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    HIRTE AM BRUNNEN

    W VON GLOEDEN

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    i f lU I ~ f

  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

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    SING END E KNABEN LUCA DELLA ROBBIA

    DER SCHÖNE JÜNGLING

    IN DER BILDENDEN KUNST ALLER ZEITEN

    11.

    RENAISSANCE BIS RAFFAEL.

    D

    as Christentum g ab dem Eros Gift zu trinken, sagt

    Nietzsche mit Rec ht; und am tiefsten vielleicht kann

    man diesen verderblichen Einfluß des Christentums an

    seinen Wirkungen auf die bildende Kunst des Mittelalters

    studieren : Dahin ist für lange öde Jahrhund erte der naive

    Kunstblick, mit dem ein Praxiteles seine herrlichen nackten

    Leiber geschaut und mustergiltig verewigt hat, dahin ist die

    warmb lütige, echt mensch liche Sinnenfreude, mit der das

    Hellenenvolk seine Schöpfungen aufnahm, an derartige An

    blicke gewöhnt von dem trauten Umgang älterer mit jünge

    ren Männern und Knaben her in der veredelnden, Geist und

    Körper in gleicherweise für das Schöne erziehenden Palästra,

    dahin die lichtvolle W eltbetrachtung eines Piaton, an die

    Stelle getreten von all dem ist eine We ltanschauun g,

    die, feindlich aller Kunst, ihren Stützpu nkt in einem p ha n-

    — _

    T — ~ : —

  • 8/21/2019 Der Eigene : 1903-02

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    1 4

    o o DER EIGENE o o

    tastischen Reich des Jenseits su cht, die W elt der Sinne ver

    achtet, ja sie für ein Teufelswerk erklärt, von dem man sich

    durch Askese abwenden müsse, ein Volk, dessen beste ur

    wüchsig undifferenzierte Kraft in den lichtlosen Marterkam

    mern der Klöster zu engherzigen Knechten herangezüchtet

    wird, eine „Kun st , die diese s Namens kaum würdig, sich

    in naiv kindischer Weise in der Darstellung von gemarter

    ten Heiligen gefällt. Daß diese für echtes Men schentum

    toten Jahrhunderte keinen Meister hervorbringen , der die

    Verherrlichung der Jüngling sschön heit sich zum Lebensinh alt

    setzt, ist selbstverständ lich. Erst als die Me nschhe it unter

    dem Einfluß der wiederentdeckten Originalwerke Aristoteles

    und Piatons sich ihres Erbes aus längstvergangenen Zeiten

    wiederzu erinnern begann, als der immer und ewig en g

    herziger Weltanschauung und Moral totfeindliche Kunst

    genius der Welt in sinnenfrohen Päp sten und Fürsten zeit

    weise wenigstens wieder aufzuleuchten begann, da fanden

    sich auch schon wieder, wie im erwachenden Lenz die Blu

    men, Künstler, die für die vollendete Schönheit der männ

    lichen Jugend ein Auge hatten. Und wie die hellenischen

    Meister die Motive für ihre Darstellung ihrer Götterwelt ent

    nehmen und erst in späteren Zeiten mit bew ußter Absicht

    den Men schen als solchen verherrlichen, begin nt auch die

    plastische Kunst der Renaissance, die wir zunächst ins Auge

    fassen wollen, mit Motiven der viel ärmeren und prosaische

    ren mittelalterlichen „Götterw elt . Und zwar sind es

    Florentiner Meister, die zuerst den Bann des Mittelalters

    abzuschütteln beginnen: gleich der erste Meister, dem man

    hier begegnet, der Bahnbrecher der „neuen Richtung , Lo-

    renzo Ghiberti, hat in seinen bekannten Bronzereliefs einige

    uns interessierende Gestalten geschaffen, deren zarteste

    vielleicht der nackte knieende Knabe Isaak auf der „Opfe

    rung Isaa ks darstellt.

    Einen großen Schritt weiter ging Donatello, der erste

    Meister, der es seit den Tagen der Antike wieder wagte,

    einen nackten Jünglingskörper als Statue im Bronzeguß zu

    bilden: Di

    gesunderJ

    Übergänge

    überhaupt

    stellerei

    fast ausschli

    es

      f

    nun wie

    seinem

    sprühenden

    Knaben *

    renzer Dom

    reichen

    liehe Kind

    reizte, oder

    St. Georg**

    predigers

    typisch wied

    seit damalig

    jener „g

    engel den

    seinem Grab

    dem Künstl

    stehen, H

    :

    treiben ,

    ben so geläu

    hinnehmen,

    im Mensch

    wir dieselbe

    am Knabenk

    Christkind u

    bestritten w

    Menschliche

    * Treffl ich

    Nr . 5048 , au f d

    ** Siehe die

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    o o DER SCHÖNE JÜNGLING o o

    105

    bilde n: Dies Werk ist sein jugendlicher David, ein derber,

    gesunder Junge mit vollendet schönen Formen, deren zarteste

    Überg änge dem Künstler wiederzugeben gelang.* Es ist

    übe rhau pt eine n och viel zu w enig von der Zunftschrift-

    stellerei untersuchte Erscheinung, daß gerade dieser Meister

    fast ausschließlich die männliche Schönheit nachbildet, ob

    es

      r

    nun wie hier das reifere Knabenalter ist, oder wie in

    seinem tanzend en Amor * und den entzückenden leben

    sprühenden Bürschchen, den tanzenden und singenden Engel-

    Knaben * des „Kinderfrieses" an der Sängerbühne im Flo

    renzer Dom (jetzt im Museo S. U. di Fiore) und den zahl

    reichen einzelnen Knabenb üsten * das noch ganz juge nd

    liche K inderalter, das des Kün stlers Auge zum Schaffen

    reizte, oder ob er schließlich wie in der Marmorstatue des

    St. Georg** und der Bronzestatue des „abgezehrten Wüsten

    predigers" Johannes das Jünglings- und Mannesalter geradezu

    typisch wiedergibt.

    Donatellos Engelknaben sind übrigens die ersten der

    seit damaliger Zeit so unzähligemal wiederholten „Putten",

    jener „gutherzigen, pausbäckigen Jungen," die als Schutz

    engel den Menschen auf seinem Lebensweg begleiten, an

    seinem Grabe Wache halten, die als gute Werkstattgeister

    dem Künstler überall helfend und sch mü cken d zur Seite

    stehen, die neckend und scherzend ihr harmloses Spiel

    treiben". Gerad e in dieser Rolle sind uns jugendliche Kna

    ben so geläufig geworden, daß wir sie als selbstverständlich

    hinnehmen, ohne uns bewußt zu werden, welchen Strömungen

    im M ensch en- und Kunstgeist — bereits seit der Antike —

    wir dieselben verdanken Denn daß hier die antike Freude

    am Knabenkörper, vermengt mit christlichen Elementen —

    Christkind usw. — die eigentliche Quelle ist, dürfte zwar

    bestritten werden , ist aber dennoch wah r. Mehr ins rein

    Men schliche übertragen, h a^d iese s Motiv Donatellos genialer

    * Treffliche Abbildung im Verlag d er „Neuen Photo graph ischen G esellschaft"

    Nr. 5048, auf deren Bilder wir auch im Folgenden hinweisen werden.

    ** Siehe die Nummern  5283,  5103, 5536, 5265, 5266, 5288, 5279 a. a. 0.

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    106

    o DER EIGEN E o o

    Nachfolger, Luca della Robbia, in seinen tan zend en und

    musizierenden K indern (auch M ädchen), mit denen er den Fries

    der zweiten Orgelbühne des F lorenzer Dom es schm ückte. *

    Besonders die uns interessierenden Knaben sind von einer

    frischen und lebenswahren Charakteristik, daß man nicht

    weiß,

      ob man in der Wiedergabe des Knabenalters diesem

    Künstler ode r seinem Vorbild Don atello den ersten Rang

    einräumen soll. Unter den weiteren von Don atellos Geist

    angeregten Künstlern jener Zeit ist für unsere Zwecke wic h

    tig Antonio Rossellno, dessen S. Sebastian, ein wundervoll

    zarter Jüngling m it weichsten Formen und mildem edlem

    Ausdruck in dem voll Ergebung nach oben gerichteten

    Antlitz zu den liebreizen dsten nackten Marm orfiguren der

    Frührenaissance zählt. Der letzte gewaltige Meister der

    Frührenaissance endlich, Andrea Verrocchio bietet uns eine

    Anzahl herrlicher Verkörperungen männlicher Jugendblüte

    (alles Bronzen). Einmal schuf er eine prächtige Knabenstatue

    in dem als Fontaine gedachten Knaben mit dem Fisch, dann

    den in bewußtem Gegensatz zu dem Don atelloschen Werk

    aufgefaßten David, ** einen an der Grenze des Kn aben -

    zum Jüngling salter stehend en feingliedrigen Bursc hen mit

    reichem Lockenkopf, beinahe mädchenhaft schüchternem

    Lächeln, großen Augen und schmalem Kinn, und seinen Ver

    wandten, die Tonfigur eines völlig nackten schlafenden Jüng

    lings und endlich den in reiche Gew ände gehüllten an mu

    tigen Thom as in der Gruppe „Christus und Thom as. Verro-

    cchios Jünglingsideal weist bereits auf das Leon ardos hin,

    wie wir später sehen werden.

    Indem wir nun die für unsere Zwecke wenig ergibige

    Kleinkunst der Modelleure und Plakettenkün stler übergehen,

    müssen wir, bevor wir die Meister der Hoch renaissance be

    trachten, ein wenig bei den Malern der Frührenaissance

    verweilen. Die A usbeu te für u ns wird freilich gering sein,

    wa s schon mit dem W esen der Plastik und Malerei aufs

    * Nr. 5104 , 5105 , 5106 ff — 5114 der Samm lung.

    ** Nr. 5261. a. a. 0.

    engste zusarr

    stellung des

    würde, wäre

    ins Gebiet di

    gerade bei <

    wenig hierhei

    und da einer

    einzigen jugi

    Stoffen eben

    malerisch dai

    stalten sind (

    wundervoll 1

    in erster Linie

    bilder* umge

    dem „Magnil

    besonders d

    lehnende Kn,

    Locken umra

    Viele Gesch

    mit den viel

    den Madonn

    der „Madon:

    schöne Jünr '

    Madonna g

    einzige Dar:

    Hand besitz-

    innernden h

    lieh anmutig

    Madonnenbi

    Madonna

    Gestalten ui

    seelische A

    fragenden C

    Bannkreis

    Künstler w:

    * No. 555

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    - _ _ J _ _ _ _ — * .

    DER SCHÖNE JÜNGLING o o

    107

    wich

    — —

     

    S ?

    engste zusammenhängt — eine Malerei, die sich die Dar

    stellung des schönen menschlichen Körper zum Ziel setzen

    würde, wäre damit schon auf falschen Bahnen und würde

    ins Gebiet der Plastik übergreifen. So kommt es, daß wir

    gerade bei ersten Meistern der Malerei nichts oder nur

    wenig hierher Passendes finden werden, nur gelegentlich hier

    und da einen Sebastian oder einen Johan neskn aben , fast die

    einzigen jugend lich männlichen Ty pen, die die in ihren

    Stoffen eben immer noch sehr arme Zeit gestattet unbekleidet

    malerisch darzustellen. Interessanter beinahe als diese G e

    stalten sind die vielfach wie derk ehre nde n Enge l, fast alles

    wundervoll liebliche Knaben- und Jünglingsbilder, wie sie

    in erster Linie des F lorentiners Botticelli zahlreiche M ado nnen

    bilder* um geben, und vielleicht am c harak teristisch sten auf

    dem „Mag nificat" in den Uffizien in Florenz gelu ngen sin d;

    besonders der eine sich über die beiden andern herab

    lehnende Knabe mit dem schmalen, seelenvollen, von dichten

    Locken umrahmten, süßen Antlitz, ist ein entzückender Junge

    Viele Gesch wister besitzt er auf dem „M adonnen bild

    mit den vielen Engeln" im Berliner Museum, der „Thronen

    den Madonna mit Heiligen" in der Florenzer Akademie und

    der „Ma donn a" in den Florenzer Uffizien. Eine strahlend

    schöne Jünglingsgestalt ist der auf dem Bild der „Thronenden

    Madonna" ganz außen rechts stehende heilige Michael; die

    einzige Darstellung eines nackten Jünglings von Botticellis

    Hand besitzen wir in dem an Verrocchios K nabenideal er

    innernden heiligen Sebastian im Berliner Museum . Jug end

    lich anm utig sind auch die beiden Johan neskn aben auf dem

    Ma donn enbilde der Gem äldegallerie in Florenz und d er

    Ma donn a del Passegg io im Palazzo P itti. W as alle diese

    Gestalten uns Modernen so sympathisch macht, ist der tief

    seelische A usdruck, die „Schw ermut", die aus all diesen

    fragenden Gesichtern uns anblickt und unwillkürlich in ihren

    Ban nkreis zieht. Die unm ittelbar von Botticelli beeinflußten

    Künstler wie Philippino Lippi und Ghirlandajo haben diese

    * No. 5551, 5171, a . a . 0 .

    ' ~ —

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    26/70

    108

    o o DER EIGEN E o o

    Eigentümlichkeit nachzuahmen gesucht, ohne daß es ihnen

    aber so recht gelungen wäre; die Engelknaben auf dem

    Bild Lippis „Vision des heiligen Bernh ard sind in Ver-

    gleichung mit denen Botticellis doch ziemlich nichtssagende,

    wenn auch frisch anm utige Knab engesichter. Dass elbe gilt

    von dem Knaben Tobias auf dem bisher unter Verrocchios

    Namen bekannten Bild der „To bias mit äen drei Engeln

    in  er  Florentiner Ak ademie. Ein großer* Meister in der

    Wiedergabe des nackten männlichen Körpers ist dagegen

    Luca Signorelli, der beso nders in seinem „Pan unter den

    Hirten (Berlin), seiner „Auferstehung der To ten und

    „Strafe der Verdamm ten (Dom in Orvieto) sein gew altiges

    Talent zur W iedergabe von kräftiges Leben hauchenden

    nackten Gestalten prä chtig entfaltete. Unter den gleichzeitig

    arbeitenden Paduaner Meistern interessiert uns vor allem

    Mantegne, der in seinem ganz antik aufgefaßten „Triumph

    zug Cäsa rs (in Schloß Hamptoncourt bei London) eine

    Reihe herrlicher Jünglingsgestalten, in seinem „Sebastian

    (Wiener Galerie) zumerstenmal den schm erzzerrissenen Dulder

    überzeugend und in seinem „Bacchanal hellenische Sinnen

    lust und üpp ige nackte Jünglingsleiber wahrheitsgetreu

    wied ergab . In Venedig wirkte dam als Antonello da Messina,

    dessen „Sebastian (Dresden), ein Jüngling mit außerorden t

    lich w eichen Formen, so recht die diesem Meister eigene

    Kunst durch Halbtöne seinen Gestalten Rundung und über

    raschend es Leben zu verleihen kennzeichnet. Aus der um -

    brischen Schule endlich wäre zu erwähnen Pietro Perugino

    mit seinem etwas sentimental verzückt nach oben blickenden

    Sebastian auf dem Madonnabilde der Offizien, dem mädchen

    haft zarten Tobias neben dem Erzengel Raffael (London) und

    etwa noch dem verträumten Jünglingsporträt der Uffizien.

    Die „weiche Gefühlsseligkeit aller Gestalten diese s Meisters,

    der „feminine Zug seiner Kuns t befähigt ihn gerade be

    sonders zur Wiedergabe jener zarten Jünglingstypen, die so

    recht von der Natur dazu geschaffen scheinen, in schwärmer

    ischer Liebe einem starken männ lichen Charakter ihr Herz

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    unter den

    'eichzeitig

    D A V I D

    VON MICHELANGELO

    Mit Genehmigung der Neuen Photographischen Gesellschaft in Steglitz.

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    o o DER SCHÖNE JÜNGLING

    111

    zu sche nken Noch mehr tritt diese r Zug in den Jünglings

    gestalten Leonardo da Vincis zu Tage, jenes Meisters, mit

    dessen Betrachtung wir in die Zeit des „Quinquecento",

    der Hoch renaissance, eintreten. W as un s an Jünglingsge

    stalten aus der H and d ieses der Jün glin gsli ebe nicht ab

    holden Kün stlers be kann t und erhalte n ist, alle zeichnen sie

    sich durch eine feminine Anmut, einen süßen Liebreiz aus,

    alle geben sie das bereits in Verrocchios — Leonardos

    Lehrer — David angedeutete Jünglingsideal vollendet wieder,

    „jene Köpfe mit den träum erisch wehm ütigen Augen, dem

    weich geringelten Haar,* dem leisen rätselvollen Lächeln."

    Vollendete Beispiele derart sind Leonardos „Johannes der

    Täufer" (im Louvre), das ungemein treuherzig blickende

    Knabengesicht der Bacchusstudie (Zeichnung der Akademie

    in Venedig), der fast zu weiblich und weichlich aufgefaßte

    „jugendliche Bacchus" im Louvre und nicht zuletzt der zarte

    Johannes und Philippus d es Abendm ahles. Gerade Johannes

    ersch eint auf dem weltb erühm ten Bild in Aussehen und

    Größe berei ts a ls der ausgesprochene Li eb lin gsj ün ge r

    Jesu.** An Leonardo s unerschütterlichem Lichtgenius waren

    die Wogender düsteren Savonarolabewegung, die in Botticelles

    Werken so deutlich zu spüren ist, glücklich abgeprallt. Leonardo

    hat die psycholog ische Vertiefung, die die asketische Bew egung

    mit sich brachte, in sich aufgenomm en, aber — zum Glück

    — nicht die barbarische Kunstfeindlichkeit des Bußpredigers.

    Und er ist insofern für die ganze nun folgende gewaltige

    Kunstepoche vorbildlich g ew esen : denn auf die Reaktion

    folgte nun ein ungeahnter Triumph des Kunstgenius, der so

    recht „von diese r W elt" ist Und zwar keines einseitigen:

    steht d och neben einem Sodo ma ein Michel-Angelo, und

    neben diesen ein Andrea del Sarto , und über allen ein

    Raffael

    Uns interessiert in erster Linie „Sodoma", mit seinem

    richtigen Namen Antonio Bazzi geheißen, ein Maler, dessen

    * Vgl. Ludwig Frey: „Der Eros und die Kunst". S. 142.

    ** Vgl. auch E. v. Kupffers „Lieblingm inne und Freundeslieb e". S. 15 oben.

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    ] 12 ° °

      D E R

      EIGENE  o o

    persönliche V orliebe für den schö nen Jüngling ihm den Sp ott-

    namen eintrug, der ihm zu einem Ehrennahmen werden

    sollte. Seine Kunst in der Wiede rgabe jugendlich männlicher

    Schö nheit ist einzigartig. Am bes ten ist, wie Muther sagt,

    der ganze Sodoma in der Figur des Isaak

      uf

      dem Opfer

    Abrahams enthalten: „D ieser K nabe mit dem Backfisch-

    köpfchen und den we iche n Hüften, der die vollen runden

    Arme über dem Busen kreuzt, — das ist der Antinous des

    Christentums, ein Sc hönhe itsideal, das nur in Zeiten höchster

    Kultur und Im moralität herv ortritt. Ein ähnlicher Ty pu s ist

    der linke Engel auf d em Bild de s S. Sitterio im Ra thau s

    in Siena und der Hymena eus auf dem berühmten G emälde

    „Alexander und Rox ane (Rom, Farnesina), während Sodo mas

    „S.  Seb astian (Florenz , Uffizien) einen etwas reiferen Jü ng -

    ling mit vollen, weich en Formen darstellt. Eine ganz a nde re

    Art Mä nnlichkeit tritt un s in Miche langelo entgeg en. G leich

    sein erstes Jugendwerk, das Hochrelief des „Kentauren-

    kampfes mit seinen mäch tigen nackten Männerleibern, in

    denen eine gebu nden e Riesenkraft sich ank ündigt, ist für

    dieses Meisters Art bezeichnend: er ist der ausgesprochene

    Anbeter des kraftvollen mä nnliche n Körpers. Darum ist er

    auch seiner innersten N atur nach Plastiker, was gerade seine

    Malereien am besten bew eisen werden. Zugleich ist er

    Pa thetik er; Lieblichkeit und Sinnenreiz, wie wir ihn bei

    Sodoma finden, ist d iesem Riesen fremd; nur ein Juge nd-

    werk, der zartgliederige, lächelnde „G iovannino mit der

    Honigwabe (Marmorfigur im Berliner Museum)* macht eine

    Ausnahme, während schon sein nächstes Werk, der Bacchus

    (N ationalmuseum in Florenz) in der Mächtigkeit seiner noc h

    jugendlichen Formen trotz des unpathetischen Motives jenen

    Zug unm eßbarer G röße atmet, die dann bald darauf in

    seinem David** (Florenz) den ersten gewaltigen Ausdruck

    fand. War doch seit den Tage n der Hellenen eine solche

    Verkörperung eines ideal schönen kraftvollen Jünglingsleibes

    * No. 5260 a. a. o.

    ** 5050 , 5051 a. a. o.

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    o DER SCHÖNE JÜNGLING

    113

    nicht mehr dag ew esen Wie sehr Michelangelo schwelgte

    in der Darstellung von Jünglingsleibern, ohne mit anderer

    Absicht als um der W iedergab e schön er Menschen willen,

    zeigt so recht eines seiner aus jener Zeit stammenden Ge-

    mälde, „die heilige Familie" in den Uffizien, auf dem, an-

    scheinend „zwec klos", vier herrliche nackte Jünglings-

    gestalten den Hintergru nd füllen. W enn man sich vollends

    das Deckengem älde* in der Sixtina in Rom betrachtet,

    da s bekan ntlich die Erschaffung der We lt, den Sündenfall

    und die Gesch ichte Noa hs darstellt, so steht man angesichts

    dieser Überfülle von nur dekorativen nackten männlichen

    Leibern, von den als Karyatiden benutzten Knaben bis zu den

    je ein Son derbild flankierende n vier sog. „Sklaven", an -

    gesichts dieser weder vorher noch nachher je versuchten

    Symphonie schöner Männlichkeit vor einem Rätsel, das alle

    Kunstforscher mit ihren Redensarten nicht auflösen, zu

    dessen Lösung aber der beste Schlüssel in Michelangelos

    Sonetten enthalten

     ist

    jenen wu nderba ren Gesängen, die stellen-

    weise glühend die J u n g li nglieb e preisen . . .**. Und unter

    diesem Gesichtspunkt ist überhaupt Michelangelos ganzes

    Schaffen wie mit einem Mal neu beleuchtet — derselbe Geist,

    der die hellenischen Plastiker trieb, ihre Werke zu schaffen,

    derselbe Geist ist es im Grunde genommen, der Michelangelos

    Schaffen durc hglü ht Ein ähn liche s We rk, aber in Plastik,

    sollte das Grabmal für Julius II. werden, wie sich noch aus

    der Federzeichnun g d er Uffizien erkenn en läßt. Denn au s-

    geführt wurde es nie, nur einzelne fertige Teile, jetzt zer-

    streut in den Museen, lassen ahnen, w as es geworden

    wä re Für uns am schönsten sind die beiden jetzt im Louvre

    befindlichen nackten „Gefangenen", deren einer, ein in

    schönster Blüte des Jugen dreizes p rangen der Jüngling, der

    um die Brust gefesselt, todesmatt sein edles Haupt zurück-

    lehnt, während die Rechte nach dem Herzen greift und die

    Linke de n Kopf unterstützt, vielleicht die form enschön ste

    Schöpfung des M eisters ist. Auf seinem „jüngsten Gericht",

    * 902, 903, 903a — h. a. a. o.

    ** Siehe auch Jahrbuch für sex. Zwischenstufen, Bd. II. Seite 254 ff.

    — — « ~«

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    .

    j ] 4 o o DER EIGENE o o

    dem letzten großen Ge mäld e des Me isters, hat er noch ein

    mal alle Tön e vereint, freilich au s dem Kosm os d er Welt

    schöpfung ist hier ein wilde s Chao s geworden, aber, was

    uns interessiert, auch hier arbeitet der Plastiker, auch hier

    die ungebrochene Freude am nackten männlichen Körper.

    Michelangelos Zeitgenosse Raffael bietet für unsere Zwecke

    wenig. Wenn auch seine weltberühmten Fresken wie die

    „Schule von

    „Disputa (Vati

    interessanter

    bieten und sein

    Johannes in der

    für die Darstel-

    schöner nackter

    vorbildlich ge-

    ist eben doch

    der Meister,

    Weiblichen in

    nen den ideal

    verliehen hat,

    Fresken Werke

    Einheit von

    gegengesetztes-

    Stileinflüssen

    Unter den

    Florentinern

    nicht vergessen werden Andrea del Sarto, dessen Johannes

    knabe* (Florenz Pittigallerie) mit Recht zu den Lieblingen aller

    Italienreisenden ge hört. Zeigt er auch nicht die durchgeistigte

    Schön heit des Raffaelschen, so fesselt doch der eindringen de

    Blick dieser treuherzigen Augen, die so unschuldig aus der

      uf-

    tigen Blüte des lieblich reinen Knabenantlitzes herausschauen,

    unwillkürlich jeden Beschauer und ist geradezu ein Entzücken

    für den vom Pfeil de s E ros Getroffenen. Der Künstler selbst w ar

    ansche inend in sein M odell verliebt, denn er bringt es noch m ehr

    fach, so in der in Dresden befindlichen Opferung Isaaks und in

    dem Ma donn enbild aus dem Jahre 1524. Dr. o.

     KIEFER.

    * No. 6032 a. a. o.

    BACCHUS

    Athen und die

    can) eine Reihe

    Jünglingstypen

    jugendlicher

    Tribuna sogar

    lung vollendet

    Knabenideale

    worden ist, so

    Raffaelvorallem

    der dem Ewig-

    seinen Madon-

    sten Ausdruck

    und in seinen

    einzigartiger

    scheinbar ent-

    ten Motiven und

    geschaffen hat.

    gleichzeitigen

    darf von uns

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    ^LU^UA  QuiJß A

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    ^  

    auch hier

    o o AM RHEIN o o

    AM RHEIN

    \ l / i r reisten zusammen mit Andern

    Zu Schiff hinunter den Rhein,

    Es war ein seliges Wandern;

    Doch waren wir selten allein.

    S i e t r a t e n h e r a n , z u l a u s c h e n , —

    D u l i e ß e s t n u r h i e r u n d d o r t

    Mir fallen unter das Rauschen

    D e s S tr om e s e i n h e i m l i c h e s W o r t .

    I c h s p r a c h : „ B a l d t r e n n t u n s d i e R e i s e

    O b h i e r w i r u n s w i e d e r s e h n ? "

    „ D o r t v i e l l e i c h t e i n s t " — s a g t e s t d u le i se ,

    I c h k o n n t e d i c h k a u m v e r s t e h n .

    Wir flogen vorüber am Strande,

    Der Dampf durchbrauste den Schlot,

    Wie ein zorniger Neger die Bande

    Wildschnaubend zu sprengen droht.

    Und sie begannen zu preisen,

    Wie schnell man sich heute bewegt,

    Und wie das rührige Eisen

    Man über die Straßen legt.

    Als wollten zu Grabe sie tragen

    Des Elends türmenden Wust,

    Und wieder das Eden erjagen,

    Den uralt bittern Verlust.

    Es hat doch den rechten Fergen

    Das Schifflein noch lange nicht,

    S o l a n g e n o c h L i e b e v e r b e r g e n

    S i c h m u ß w i e e i n S ü n d e r g e s i c h t

    Noch lange nicht hat, Ihr Gesellen,

    Das Eisen den rechten Guß,

    W e n n si c h d i e L i e b e b e s t e l l e n

    N o c h h i n t e r d i e G r ä b e r m u ß

    So dacht ich und blickte verdrossen

    Hinab in die rollende Flut;

    D ic h u m ri ng te n D e i n e G e n o s s e n

    Un d sch erz ten ; d i e h a t te n es g u t

    115

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    ~ „   . •

    1 ] Q O D D E R E I G EN E o o

    Die Nacht war dunkelnd gekommen,

    Da stiegen am Strande wir aus;

    Ich folgte Dir stumm und beklommen

    Von ferne bis an Dein Haus.

    Und als Du noch einmal nickend

    Verschwunden im schließenden Tor,

    Stand ich eine Weile noch, blickend

    Nach Deinem Fenster empor.

    Ich schied von Deinem Quartiere

    Und ging hinüber in meins,

    Das lag im fernen Reviere

    Am andern Ufer des Rheins.

    Ich betrat mein trauriges Zimmer,

    Und starrte unverwandt

    Hinüber zum Kerzenschimmer,

    Den mir Dein Fenster gesandt.

    Die Lichter drüben am Strande

    Erloschen nach und nach,

    Doch wie zu traulichem Pfände

    Blieb Deines immer noch wach.

    Wie ich im einsamen Leide

    Hinstarrte über die Flut:

    Als wären gestorben wir beide,

    Ward mir mit einmal zu Mut;

    Als trennten uns weite Welten

    Ward mir mit einem Mal,

    Den Erdengram zu vergelten

    Mit ewiger Sehnsucht Qual;

    Als blinkte Dein Lichtlein, so ferne,

    In meine Finsternis

    Von einem entlegenen Sterne,

    Der Dich mir auf immer entriß

    Mir spielten, wie Tränendiebe,

    Nachtwinde ums Augenlid,

    Wie der Geist unglücklicher Liebe,

    Der über die Erde zieht NIKOLAUS LENAU

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    •  • . • • «

    _ ___

    D O L B E L L

    W VON  GLOEDEN

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    o o DOLABELLA o o

    DOLABELLA*

    \ \^eiß und blendend wie die Per len

    Sind die Zähne Dolabellas,

    Meines Lieblings. — Ach, wie schelmisch

    Hinter feuchten, vollen, weichen

    Sanft gewellten Purpurlippen

    Sie zu mir herüberspähen

    Und zu einem langen, süßen,

    Liebetrunknen Kuß mich laden

    Nun, so komm auch, Dolabella,

    Komm in meine offnen Arme

    Des Genusses Hoffnung wecken

    Und dann täuschen — wäre grausa m

    Sag selbst: soll die reife Traube

    Die am schöngewachsnen Weinstock

    Lockend hängt, vertrocknen, faulen?

    Soll das Roß von edler Rasse

    Nicht die Rennbahn stolz durchfliegen?

    Soll der Demant in dem finstern

    Schacht des Berges glanzlos schlummern?

    Oder soll der schönste Bursche

    Stabiäs — Nazaren er w erden ?

    Und mit vorgebeugtem Kopfe

    Scheu durch unsere Gassen schleichen?

    Nein, bei Hermes, unserer Liebe

    Treuem Schützer, nimmermehr

    Laß uns, Dolabella, lieben

    Treu und fest, solang die Jugend

    Herrlich uns im Becher schäumt

    Ge lt? Du lächelst — Deine Lippen

    Locken gar so süß — o zögre

    Länger nicht, mein Dolabella

    Herzensguter, schönster Bursche,

    Komm in meine Arme, komm

    HADRIAN

    Hadrian, Gedichte eines Heiden.

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    DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTERATUR

    G

    estützt auf die neuesten wissensch aftlichen Erk enn tniss e

    und Hy pothese n haben einige Schriftsteller der Lie b-

    lingminne den Nachw eis zu erbringen versucht, daß

    die größten Taten auf allen Gebieten des Kulturlebens

    immer nur von Männern mit ausgeprägter hom oerotischer

    Naturan lage ausgeführt word en sind. In diese r Hinsicht ist

    ein Buch von Lu d w ig F re y * höchst beachtenswert. Frey

    führt in einer Vorbem erkung an, daß die Lieblingm innend en

    mit den N ormalgeschlechtlichen namentlich auf dem G ebiete

    der Kunst vollwertig rivalisieren könn en. Später glaubt er ab er

    dem Lieblingminnenden den Vorrang einräumen zu dürfen.

    „In seine r Natur verbindet er Produ ktivität und Rezeption.

    Er sieht mit den Augen des M annes und denen des

    W eibes zugleich. So wird das am Künstler geforderte hohe

    Empfindungsvermögen in ihm zum Zaube rspiegel, mit

    welchem derselbe Welt und Men schen erfaßt und sie in

    jener Verklärung wieder strahlen läßt, die den unnennbaren

    Reiz d er Kunst ausmacht . . . Er ist so recht geeignet,

    Träger und Ausgan gspunkt für säm tliche Kunstzweige zu

    werd en; für die anspru chslose sten wie für die höchsten.

    Wenn wir von der heimlichen Tenden z dieser W orte ab -

    sehen, so hat Frey—in^ seinem B uch aber doch ein höchst

    schätzenswertes

    /

    'Material über das homoerotische Problem in

    der Kunst und tftteratur zusamm engestellt un d uns den

    o o DI

    Schlüssel zum

    Persönlichkeits

    In der  i

    im homoerotis

    eine wichtige

    Naturspiel, das

    eigenartigen Fi

    heute noch da

    gefunden hat.

    Altertums, voi

    Freundesl iebe

    derselben von

    läßt sich nicht

    aber bei den 1

    in späteren Ze:

    liehe Betätigun

    ihren eigentüm

    Sänger der  ml

    Welt l i t e ra tur

    (gest. 1389). S

    unverhohlen 

    Zarteres a??

    Weicheres . . .

    Glühende Küs

    Süßres al s mi

    Wie Frey bem

    dafür gesorgt,

    Wohlanständig

    Eine ähnliche

    größten Geiste

    im Interesse <

    Wir wollen u

    ressanten, hon

    der Weltlittera

    M i c h e l a n g e '

    * Der Eros und die Kunst. Leipzig. Verlag von Max Spolir.

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    o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTER TUR o o

    2

    unsicht ist

    / Schlüssel zum Verständnis der Werke vieler hervorragender

    Persönlichkeiten gegeben.

    In der Litteratur aller Zeiten und Länder hat der Eros

    im homoerotischen Gewände (Freundesliebe-Lieblingminne)

    eine wichtige Rolle gespielt. Die Freu ndes liebe ist ein

    Naturspiel, das da, wo es sich frei entfalten durfte, seine

    eigenartigen Früchte getragen hat. P e r s i e n war und ist

    heute noch das Land, wo die Freundesliebe eine Heimstätte

    gefunden hat. Ob und inwieweit die anderen Länder des

    Altertums, vor allem Griechenland , in der Ausü bung der

    Freundesliebe und in ihrer sittlichen Anschauung bezüglich

    derselben von Persien beeinflußt worden sind, diese Frage

    läßt sich nicht mit Bestimmtheit entscheid en. Jedenfalls hat

    aber bei den Persern nicht nur im Altertum, sondern auch

    in späteren Zeiten die Freundesliebe als eine durchaus sitt

    liche Betätigung gegolten, und sie hat auch in der Litteratur

    ihren eigentümlichen Reflex gefunden. De r große persisc he

    Sän ger der männlichen Liebe und Schön heit, w elcher der

    Weltlitteratur angehört, ist E d d i n M o h a m ed H afis -

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    39/70

    122

    o o DER EIGENE o o

    Viel Ärger haben S h a k e s p e a r e s Sonette den kommen-

    tierungswütigen Philologen bereitet.* Die Tatsache, daß

    dieselben an eine männliche Person gerichtet sind, läßt sich

    nicht ableugnen, darum mußten sie eine Auslegung und Um-

    deutung erfahren, damit das „sittliche" Renommee des

    Dichters gew ahrt bliebe. Die Sonettenerklärer teilen sich

    in zwei Hauptgruppen: die Suppositionstheoretiker und die

    Fiktionstheoretiker. Die erste Gru ppe läßt den Dichter nicht

    selbst, sond ern für eine andere Person sprechen. Dana ch

    hätte Sha kesp eare die Sone tte im Auftrag od er „auf Be

    stellung" eines hohen Gönners, wie etwa des Grafen South-

    ham pton, Pem broke oder Essex, verfertigt. Niedriger läßt

    sich die dichterische Tätigkeit eines Shakespeare kaum ein

    schätz en Die Fiktion stheor etiker verfahren etwas klüger.

    Sie lassen den Dichter gewisserm aßen als Experimentator

    auftreten. Shakespeare versetzt sich aus wer weiß welchen

    Gründen in die Situation eines liebenden Weibes und dichtet

    als solches darauf lo s. D er W idersp ruch liegt auf der

    Hand. Denn es wird keinem großen Dichter einfallen, auch

    u

    ein lyrisches Gedicht zu verfassen, ohne mit dem ganzen

    •Herzen dabei zu sein, geschweige denn eine ganze Serie.

    Wie unsere deutschen Sonettenerklärer (Delius, Gilde

    meister, Gödeke u. a. m.), so verwirft auch ein englischer

    Shakespeareforscher, Sidney Lee**, den autobiographischen

    Charakter derselben. Lee gibt zu, daß wohl die meisten

    von Shakespeares Sonetten auf den ersten Blick als Selbst

    bekenn tnisse erscheinen, vergleicht man sie aber mit den

    vielen tausen d S onetten, die im 16. Jahrh und ert in Fran k

    reich, England und Italien verfaßt worden sind, so dürften

    erstere nur noch als Geschicklichkeitsproben oder im besten

    Fall als hervorragende Nachdichtungen in Betracht kommen.

    „Von den Gedanken und Ausdrücken" sagt Lee, „die sich

    * Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei ausdrücklich bemerkt, daß hier nur

    der V e rf as se r der Sonette in Betracht kom mt; der Name (Shakespeare, Bacum u .a.)

    tut nichts zur Sache.

    ** W ill iam S h ak es p ea re , sein Leben und seine Werke, von Si dn ey Lee.

    Durchgesehen und eingeleitet von Prof Dr. Rieh. Wülker, Leipzig. Georg Wigand 1901.

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    o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTERATUR o o

    123

    in Daniels, Draytons, Watsons, Bownabes, Barnes, Constab-

    les,  Sidneys Sonetten vorfinden, machte Shak espeare in sei

    nen Gedichten ebenso mit Bewußtsein und ohne Gewis sens

    bisse Gebrauch, wie er Stücke und Romane seiner Zeit

    geno ssen zu seinen Dramen benutzte. Bes onde rs an Dray-

    ton lehnt er sich an. Ähnlichkeiten, wie sie zwischen Sh ake

    spea res Sonetten und denen Petrarc as und Desp ortes zu

    Tage treten, sind wohl durch sein Studium der englischen

    Nachahm ungen jener Dichter hervorgerufen wo rden. Nach

    der Theorie Lees verliert Shakespeare entschieden als lyri

    scher Poet, gewinnt aber indirekt als Dramatiker, da er eben

    nicht das, was ihn selbst bewegt, son dern die Gefühle und

    Stimmungen Anderer zum Ausdruck gebrac ht hat. Betrach

    tet man die Sonette nach dem Vorgang Lees als bloße Nach

    dichtungen, dann wäre die Streitfrage überhaupt aus der Welt

    geschafft. Nun gibt es aber für die Auffassung Lees nicht die

    geringste tatsächliche Unterlage und damit fällt seine ganze

    Theorie, wie die der deutschen Philologen, in sich zusammen.

    Das Sonettenproblem ist aber sofort gelöst, wenn man

    es nicht philologisch, sonde rn psycholog isch auffaßt. Sha ke

    speare war ein seelischer Herm aphrodit, in dessen Natur

    das intellektuell überwiegende Element des Mannes sich mit

    dem sensitiven Element des W eibes harmon isch vereinigte.

    In seinen lyrischen Dichtungen, den Sonetten, objektiviert sich

    die Doppelnatur des Dichters mit elementarer Kraft. Shake

    speare selbst war sich seiner doppelseitigen Beanlagung wohl

    bewuß t. Im Sonett 144 charakterisiert er sich folgenderm aßen:

    Two loves I have of comfort and despair,

    Which like two spirits do suggest me still:

    The better angel is a man sight fair,

    The worser spirit a w o m an colour d' Hl.*

    * In freier Übertragung:

    Die Liebe ist für mich ein Doppelwesen,

    Das mich beherrscht in Lust und Leid.

    Als besseres Ich hab ich den Mann mir auserlesen,

    Was schlecht und niedrig an mir ist, heißt Weib.

    i

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    124

    o DER EIGENE o o

    Wie die Sonette Shakespe ares, so sind auch die eines

    anderen großen Künst lers und Dichters — M ic h e la n g e lo —

    Gegenstand einer spitzfindigen ph ilologischen Auslegung ge

    worden. Hier wie dort dieselbe Verkennung der Ursachen

    und unmittelbar daraus hervorgehend: eine unendliche Reihe

    von „Ehrenrettungsversuchen . Lange Zeit hat man die Lie

    besgefühle, denen Michelangelo in seinen Sonetten Ausdruck

    verliehen hat, überhaupt nicht verstanden ode r falsch au s

    gelegt, indem man ihren Ursprung von dem überschwäng-

    lichen Freundschaftskultus, der seiner Zeit eigen g ewesen

    ist, abgeleitet hat. Den vagen Vermutungen b ezüglich des

    Seelenlebens Michelangelos tritt Dr. Numa Prätorius in einer

    Studie „Michelangelos Urningtum (Jahrbuch für sexuelle

    Zwischenstufen, II. Jahrgang) mit aller Entschiedenheit ent

    gegen und sucht die homoerotische Veranlagung des Künstlers

    aus seinen Sonetten festzustellen.

    Schon zu Lebzeiten Michelangelos stellte ein Zeitgenosse,

    Varchi, der Vorlesungen über se ine D ichtungen hielt, es als

    eine Ta tsach e hin, daß eine Anzahl d erselb en an den jungen

    Tomaso di Cavalieri, den intimen Freund Michelangelos, ge

    richtet seien. Die Liebe zu je nem bezeich nete er als eine

    „sokratisch e, voll platonischer Gedan ken. Nach Varchi

    kommt, wie Scheffler,* den Präto rius hier a ls Q uelle be

    nutzt, sagt, das System der Verdunkelung der Tatsachen auf.

    Scheffler weist in seiner Schrift nach, daß die einzige Frau,

    die im Leben M ichelangelos eine Rolle gespielt hat, die

    Ma rquise Vittoria C olonna, nur in einem freundschaftlichen

    Verhältnis zu ihm gestan den habe . Ferner stellt er fest, daß

    die der Colonna gewidmeten Gedichte der Liebesleiden

    schaft gänzlich entbehren, und nur die an Jünglinge ge

    richteten Sonette echte erotisch e Gefühle w iederspie geln

    („de r in der Glut wah rer Leidenschaft sic h offenbarende

    Eros ) .

      Außerdem betont Scheffler, daß Pia tos W erke und

    Gedanken das ästhetische Gefühl und die Liebesrichtung

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    des großen A

    dieser Liebe

    Michelangelos

    keit seiner g

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    zwange, der n

    Das wicl

    Michelangelos

    32 Jahre bis

    wurde Michel;

    Porträt er malt

    beeinflußt hat.

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    * Aus der Ob

    Thonret, Berlin. Sp

    * Michelangelo, eine Renaissancestudie. Altenburg. Verlag von Geibel.

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    o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTERATUR o o

    des großen Meisters beeinflußt hätten. De r letzte Grund

    dies er Liebe ist aber nur in der konstitutionellen Anlage

    Michelangelos zu suchen. Er selb er betont ja die Natürlich

    keit seiner gleichgeschlechtlichen Liebe: „Und weiterhin

    hand le ich in meiner Liebe ja auch unter einem Natu r

    zwange, der mich entschuldigt."

    Das wichtigste Freundschafts- resp. Liebesverhältnis

    Michelangelos ist dasjenige zu dem jungen Cavalieri, das

    32 Jahre bis zum Tode des M eisters anhält. Cavalieri

    wu rde M ichelangelos Schüler, er war der einzige, desse n

    Porträt er malte und der ihn in seinen künstlerischen Plänen

    beeinflußt hat. In vielen Sonetten hat er sein er tiefen Leide n

    schaft für Cavalieri ergreifenden Ausdruck gegeben:

    Nr. 48.*

    O seiger Tag, der einst Gewißheit bringt

    Erbarmt Euch, Zeit und Stunde, Tag und Sonne:

    Steht plötzlich still in Eurem ewgen Gange;

    Daß mirs auch ohne mein Verdienst gelingt,

    Zu schließen in die Arme voller Wonne

    Den holden Freund, nach dem ich längst verlange

    Außer zu Cavalieri erglühte Michelangelo auch zu

    ande ren Jünglingen in leidenschaftlicher sinnlicher Liebe.

    Febo di Poggio besingt er folgendermaßen:

    Vor deiner Augen Pracht

    Sinkt jeder Blick, der Trotz ist überwunden

    Wenn einer je den Freudentod gefunden,

    Geschiehts in solchen Stunden,

    Wo Schönheit unterl iegt der Liebe Macht

    Michelangelo ist, psychologisch betrachtet, eine der

    interessantesten Erscheinungen der Lieblingminnenden, da er

    bewußt seinem homoerotischen Naturtriebe nachhing, solange

    er auf der Höhe seine r Schaffenskraft stand . Erst in seinen

    letzten Lebensjahren, als die religiösen Stimmungen bei ihm

    überwogen, fühlte er sich schuldbeladen und empfand tiefe

    * Aus der Übersetzung von W al te r R ob er t T or n o w ; Ausgabe von Georg

    Thon ret, Berlin. Spenersche Buchhandlung 1896.

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    o o DER EIGEN E o o

    Reue über seine mannmännliche Liebe. Sein Sonett Nr. 299

    klingt in die wehmütigen Verse aus:

    Mir fehlts an eigener Kraft, die fähig wäre,

    Zu ändern, was ich trieb mein Leben lang,

    Wenn du (Gott) nicht Ziel und Halt gibst meinem Gang,

    Nicht dein Geleit mir gibst, das leuchtend — hehre

    Für die Beurteilung der Naturanlage und der Liebes

    richtung Michelangelos dürfte die Tatsache, daß der große

    Meister keinen weiblichen Körper hat bilden können, von

    nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Seine großen

    Kompositionen atmen einen herben männlichen Geist, und

    es überw iegt in ihnen der geda nkliche Inhalt, nicht das

    erotische Element. We iblichen Gestalten bege gnen wir

    selten in seinen W erken, und wo er sich ihrer als alle

    gorische Figuren bedient, wie an dem Grabmal der Me-

    diceer, nehmen dieselben einen männlichen Ausdruck an.

    Dahingegen erkennen wir überall in seinen kraftvollen

    Jünglingsgestalten den begeisterten Sänger der männlichen

    Schönheit wieder.

    Einen schätzenswerten Beitrag zur Psychologie der

    Homoerotik und ihren Einfluß auf die litterarische Produktion

    stellt das Tagebuch des Grafen Platen dar. Die Tagebuch

    blätter geben uns einen interessanten Kommentar zu den

    lyrischen Schöpfungen des unglücklichen D ich ters , der

    freudlos dahinsiechte, weil das Odium der Verworfenheit

    und L asterhaftigkeit auf ihm ruhte. Platen, der im Gegensatz

    zu Shakespeare und Michelangelo seine mannmännliche Liebe

    als einen Makel empfand, hatte nichts aus seinem Tagebuch

    der Öffentlichkeit mitgeteilt. Es war lediglich für ihn be

    stimmt, der einzige Freund, den er „die Schwäche des

    menschlichen Herzen s" zu seinem Trost anvertrauen konnte.

    Auch sein Freu nd, Dr. Pfeufer, dem er es im Jahre 1833,

    als er zum letztenmal in Deutschland weilte, übergab, und

    der Philosoph Schelling, der mit jenem zusammen die nach

    gelassenen Manuskripte sichtete, stand von einer Veröffent-

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    Platen mac

    strengen Unter

    freundschaftlich

    anstalt an, so

    von Perglas,

    er: „Ich liebe

    glaube, daß ic

    und daß der le

    getan werden,

    n a c h L i e b e :

    entspringender

    Alter, dem die

    sich einem Wes

    Lebensüberdrul

    Gedanke ,

      der

    weitem auf da

    glaubte er di

    können, und

    zu verlieben,

    in mein Herz e

    hinzu: „Doch

    Diese Neigun

    Hoffnung

      ist,

    Bekanntschaft

    noch heute in

    Wo imm

    einem ge wisse

    beruhte diese

    sich lieber in

    * Die Ta geb i

    Dich ters herausgeg«

    bei Co t t a .

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    o o DIE HOMOEROTIK IN DER WE LTLIT TERA TUR o o

    27

    lichung ab. Später entschloß sich jed och Pfeufer zu einer

    beschrän kten Herausgabe des Tag ebuc hes. Die erste voll-

    ständige Ausgabe des ersten Bandes der Tagebücher des

    Grafen Platen ist jedoch im Jahre 1896 verö ffentlicht*

    Platen machte zwischen Freundschaft und Liebe einen

    strengen Unterschied. Mehrere kameradschaftliche resp.

    freundschaftliche Beziehungen knüpfte er auf der Kadetten-

    anstalt an, so mit dem Grafen Fugger und dem Freiherrn

    von Perglas. Über seine Freundschaft mit letzterem schrieb

    er: „Ich liebe ihn zwar mit aufrichtiger Achtung; aber ich

    glaub e, da ß ich bei diesem Grad e we rde stehen bleiben,

    und daß der letzte Schritt, der mir noch mangelt, nie wird

    getan w erden. In diesen Worten macht sich das Verlangen

    nach Liebe: nach leidenschaftlicher, dem sexuellen Triebe

    entsprin gend er Liebe schon beme rkbar. Er steht in einem

    Alter, dem die Freundschaft nicht mehr genug ist, er muß

    sich einem Wesen anschließen, um sich vor dem aufsteigenden

    Leben süberdru ß zu bewahren. Und da entdeck t er — ein

    Ge dank e, der ihn zittern macht — daß seine Neigung bei

    weitem auf das eigene Ges chlech t geric htet ist. Anfänglich

    glaubte er die ihm eingeborene Neigung korrigieren zu

    können, und er versuchte darum ernstlich, sich in ein Weib

    zu verlieben. „In diesem Zeitraum schien sich W eiberliebe

    in mein Herz einzuschleichen . Ab er bald setzte er resigniert

    hinzu: „Doch vielleicht war dies bloß Bedürfnis zu lieben .. .

    Diese Neigung erlosch mit der Zeit; denn wo keine rechte

    Hoffnung ist, da ist auch keine Liebe. Würde ich ihre

    Bekanntschaft nicht gemacht haben, so wäre ich vielleicht

    noch heute in sie verliebt.

    Wo immer sich bei Platen eine gewisse Zuneigung zu

    einem gewissen Individuum des anderen Geschlechts einstellte,

    beruhte diese auf dem Gefühl der Pietät, daher bewegte er

    sich lieber in der Gesellschaft älterer als jüngerer Frauen.

    * Die Tagebü cher des Gra fen August von P la ten . Aus den Handschr i f ten des

    Dich te r s he rausgeg eben von G. von Laubm ann und L. v . Sche f fle r . I . Band. S tu t tga r t

    be i Cot ta .

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    R EIGENE o o

    Alle Reflexionen über seine Natur kön nen ihn nicht über

    die Tatsache der homoerotischen Empfindung hinwegtäuschen.

    Seinem Schicksal kann er nicht entrinnen, und ehe er sich

    dessen recht bewußt ist, bemächtigt sich seiner die erste

    große Leidenschaft. (Friedrich von Brand enstein, Kavallerie

    offizier in bay erische n Dien sten). Spä ter vertraute er seinem

    Tagebuch an, daß er damals noch keine Idee hatte, daß ein

    strafbares Verhältnis zwischen Männern existieren könne,

    sonst würde ihn dieser Gedanke vielleicht zurückgeschreckt

    haben. Es gelang dem unglücklich veranlagten Dichter

    indessen nie, sich dem abgöttisch Geliebten zu nähern,

    worüber sich seiner eine düstere Gemütsstimmung be

    mächtigte, die oft in seinen Liedern einen ergreifenden

    Wiederhall fand:

    Wo ist das Lied, das mir verhallt

    In Freuden sonst und Schmerz:

    Und, ach, mir ist mein junges Sein

    Schon eine alte Last

    Platens Kampf ist, wie aus jedem Blatt seiner Selbst

    bekenntnisse hervorgeht, ein furchtbarer gewesen, der

    schließlich zu einer vollständigen Zerrüttung und zum Lebens

    überdruß führen mußte. Nur die Überzeugung, die ihm

    durch eine strenge Selbstkontrolle allmählich geworden war,

    daß nämlich die Natur ihn mit einer gleichgeschlechtlichen

    Neigung aus gesta ttet habe, hielt ihn noch aufrecht. „Zw itter

    hafte Gefühle nährt die Liebe in meinem Busen, vor denen

    mancher schaudern würde; aber Gott weiß es, meine

    N e i gung i s t r e i n und gu t . "

    Platens Selbstbekenntnisse zeugen davon, daß die homo

    erotische Neigung ein unverschuldeter Seelenzustand ist und I A J

      ^

    daß sie wohl vereinb ar ist mit Hoheit der Ge sinnu ng und cL ĵ-Lo

    Größe der Anschauung.

    Eine der interessantesten litterarischen Persönlichkeiten

    neuerer Zeit ist der englische Dichter und Ästhetiker O s c a r

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    o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITT ERATU R o o

    129

    W i l d e , der als ein Opfer seiner gleichgeschlechtlichen

    Veranlagung am 30. November 1900 in Paris im Elend ver

    storben ist. Wilde hat sich auf den versch iedenste n Gebieten

    mit Erfolg betätigt. Im Alter von 21 Jahr en veröffentlichte

    er bereits seine erste Gedichtsam mlun g. In schneller Folge

    erschienen dann seine Prosasc hriften: „Der Röm er , „Die

    Sph inx , „Dorian Gray . Auch als dramatischer Dichter ist

    er mehrmals hervorgetreten. Seine Th eater stück e* „Der

    Fächer der Lady Windermere , „Eine unbedeu tende Frau ,

    „Ein idealer Ga tte u. a. zählten einst zu den Repertoir-

    stücken der englischen Bühne.

    Seine glänzend begonnene Laufbahn wurde jedoch

    durch seinen „Fall jäh unterbro chen. Im Jahre 1895 wurde

    Wilde w egen sträflichen Um gangs mit Pers one n desselben

    Geschlechts angeklagt und auf Grund eines bloßen Indizien

    beweises zu einer entehrenden zweijährigen Kerkerhaft ver

    urteilt, die ihn seelisch und körperlich zu Grunde richtete.**

    Von dem Zeitpunkt seiner Verurteilung an war Wilde ein

    Geächteter, dieselbe Gesellschaft, die ihn einst verhätschelt

    hatte, nahm plötzlich Anstoß an seinen Werken und ver

    anstaltete einen allgemeinen Boykott gegen den Dichter.

    Sein e Bücher w urden a us allen öffentlichen und privaten

    Bibliotheken entfernt, seine Theaterstücke schleunigst vom

    Repertoir gestrichen und der Vertrieb seiner Werke von

    den Verlegern abgelehnt. Die ser litterarische Spek takel dürfte

    in der neueren Geschichte einzig dastehen.

    * Jetzt neu verlegt bei Max Spohr in Leipzig.

    ** In se iner Ver te idigungsrede vor dem Zentra l -Kr imina l -C our t äußer te s ich

    Wild e über die gleichges chlechtliche Liebe folgen derm aßen : „D ie Liebe, die in unserem

    Jahrh und er t ihren Namen nicht nennen  darf die Zuneigung e ines ä l te ren Mannes zu

    e inem jüngeren, wie s ie zwischen David und Jona th an besta nd, w ie s ie Pla to zur

    Grund lage se iner Phi losophie machte und wie wir s ie in den Sone t ten Miche lange los

    und Shak espe ares f inden — jene tiefe Neig ung, die eben so rein wie vollkommen ist

    und die größten Künst le r zu ihren bedeu tensten W erken bege is te r t ha t — jene L iebe

    wird in unserem Jahrhunder t so mißv ers tanden , daß s ie mich vor die Schranken des

    Ger ichts geführ t ha t . . . S ie is t nur ge is t ig , und s ie bes teht a lle in zwischen e inem

    älte