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halvor-raknes
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8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
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MOTTO:
Und immer wiederum
Erweiset sichs voll Klarheit ,
daß imm erdar doch s iegt —
die hehre Kraf t der Wahrhei t
Willst mit kleinen Winkelzügen
Gott und Menschen du belügen,
Sieh, so wird sichs stets so fügen —
Daß du dich wirst selbst betrügen.
Nur die, so da mutig wagen,
Frei zu stehen allen Fragen
Und, vor Folgen ohne Zagen,
Sich und Andern wahr zu sagen,
Leben rein in Geistesklarheit,
Freudig ihrer Offenbarheit.
Denn es bricht Vorurteils Starrheit —
Siegreic h ste ts die kühn e W ahr heit A1AURUS.
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DER EIGENE
EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR, KUNST
CüOic^oiGüCis UND LITTERATUR IS IS ISOUÖISOIS
H E R A U S G E B E R : A D O L F B R A N D o CHARLOTTE.NBURG.
FEBRUAR 1903
INHALT:
Motto von Maurus o Seite 82 o Kopfleiste aus dem Atelier Hiebel zu Brück o Seite 85 o
„Dein Sturm pan ier " Gedicht von Hans Benzm ann o Seite 85 o Kopfleiste von Felix
Malz o Seite 87 o „Sterben in Schön heit", Novelle von Caesa reon o Seite 87 o Schl uss
leiste von Felix Malz o Seite 95 o „Beim Feste", Gedicht von Emanuel Geibel o Seite 96
o „Mig non" , Kopfleiste von W. von Gloeden o Seite 97 o „Ra phae l", Gedicht von
Adolf Brand o Seite 97 o „Im Kerker", Gedicht von Adolf Brand o Seite 99 o „Neue
Lieb e", Ged icht von Adolf Brand o Seite 100 o „Hirte am Brunn en" , K unstblatt von
W. von Gloeden o Seite 101 o „Singende Knaben", Zierleiste nach einem Friese von
Luca del la Robbia, mi t Genehmigung der N euen Photographisc hen Gesel l schaf t in
Stegli tz o Seite 103 o „Der schöne Jüngling in der bildenden Kunst al ler Zeiten",
II. Teil : Renaissance bis Raffael , Aufsatz von Dr. Kiefer o Seite 103 o „David" von
Michelan gelo , Ku ns tb lat t , mi t Genehmigung der Neuen Photogra phischen Gesel l schaf t
in Stegli tz o Seite 109 o „Am Rhein", G edicht von Nikolau s Lenau o Seite 115 o
„Dolabella", Kunstblatt von W. von Gloeden o Seite 117 o „Dolabella", Gedicht von
Hadrian o Seite 119 o „Die Homoerotik in der Weltl i t teratur" von Johannes Gaulke o
Seite 120 o Kopfvignette au s dem Atelier Böhme o Seite 133 o „Juda s", Gedich t von
Han s Benzm ann o Sei te 134 o „Chri s tus" , Kuns tb lat t von Wulf Schwe rdt feger o Sei te 135
o „Vier Poesie n von A ndre Dalio o Seite 137 o Kopfleiste dazu von Felix Malz o
Seite 137 o Vignette auf Seite 139 und Seite 142 von Andr e Dalio o „Der Bogen
sch ütz e", Kunstbla tt von Richard Müller o Seite 143 o „Im Dü nen san de" , Kopfleiste
von W . von Gloeden o Seite 145 o „Ge witte rnac ht", Novelle von Ha nns Fuchs o
Seite 145 o Bücher und Mensc hen o Seite 151 o e^e^e^J
;
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V E R L A G : M A X S P O H R o LEIPZIG.
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.v A im m tm a t im m m m m m m m * \w < ~ <
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G A L L U S
U. HIEBEL ZU BRÜCK
DEIN STURMPANIER
C o fröhlich schwingst du dein Panier,
Du d e in es Ge i s te s S tu rmpan ie r
In deinem Rückgrat Löwenmark,
In deinem Herzen Siegfriedsblut,
Dünkst du dich aller Welten stark,
Dünk st du dich Gö ttern gleich und gut
Und schlägst der Menge ins Gesicht,
Die gegen dich mit Nadeln ficht
Und gehst und hebst dein Sturmpanier
Blut blitzt als deines Hauptes Zier,
Das deine Dornenkron durchs t icht
Du hebst das Adleraug, das nicht
In deinen blutigen Tränen bricht,
Zu deinem heiligen Sonnenlicht
Du willst und kommst zur höchsten H öh,
Du Kämpfe r, nach Ge thsemane . . . .
Und gehst und hebst dein Sturmpanier
Wie Tauben flarterts über dir
Frohlockend klingt dein Siegeslied,
Klingt deiner Lebensfreude Psalm
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o o DER EIGEN E o o
O, daß dich nicht zur Tiefe zieht
Vor deiner Höh der letzte Halm,
Daß du bis oben göttlich bleibst
Und nicht in Nebeln niedertreibst
Halt fest dein stolzes Sturmpanier,
Dein Engel flatterts über dir
O, daß dir nicht sein Schwert der Schmerz
In deine heißen Hände legt,
Daß du es bohrst ins eigne Herz,
Worin der Erdenwurm sich regt,
Der Wurm der Reue und der Schuld,
Der heißen Todesunged uld —
Und stirbst, ein Held und Heiland Dir,
Dich deckend mit dem Sturmpanier . . .
HANS BENZMANN.
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S T E R B E N IN S C H Ö N H E IT * .
Erinn erun g o hülle in Schönheit dies durstende Herz mir —
Und Sehnsucht, du wiege in Träume mich ein
Zaubre die seligsten Stunden, ach, mir aus dem Einst zurück,
O lasse in Träumen mich lieben, was ich im Leben geliebt
CAESAREON.
s c h a u t e i c h w o c h e n l a n g d r a u ß e n a u f d e m L i d o d e n s t ü r m e n d e n
W o g e n z u .
Ohne Anfang, ohne Ende schäumten sie heran und kehrten
zurück — in allen Tö ne n, in allen Farben — und versanken in
sich wie in wilden Träu me n. Aus diesem im mer gleichen, immer neuen
Spiele sprach die Ewigkeit.
Wie ein ew iger Mahnruf erklang diese s Prasse ln und Schäumen.
Es brachte Kunde von erlebten Ewigkeiten:
„Ewigkeiten vor dir, Ewigk eiten nach dir Träum ender, was bist
du gegen uns, die Unen dlichen? Welch es Atom von unserer Zeit um-
faßt dein klägliches Bestehen?"
So rauschte es, so wogte und stürmte es vom Morgen bis zum
Abend, noch eindringlicher des Nachts , wenn alles sons t schwieg. Des
Nachts: wenn die Wogenberge gleich Gespensterheeren heran zischten,
schwarz, mit weißen, zerschlissenen Kappen und grünen, schillernden
Augen, lang die kalten Arme reckend und mit hohlem Gegurgel versinkend.
Mir waren es Ta g und Nach t die gleichen Freunde. Noch im kurzen
Schlummer erblickte ich kämpfende, sich bäumende Wogen und hörte
ihr Rauschen wie Märchengesänge in meine Träume klingen.
Woc henlang hatte mein Fuß Venedigs nahe Ufer gemieden. Kaum
streifte mein Blick einmal den weißen Kai oder den hochragenden Campanile,
* Erste Schrift aus dem Zyklus „Sein Name ist Schönheit", zu welchem ich das
Vorwort des Verfassers unter der Überschrift „Ein Wort voraus an die Besseren" in
No.
1 des Eigenen brachte. ADOLF BRAND.
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g g o o DER EIGENE o o
den alten, roten Freun d. Nur da s ewige Meer, die ewige, rausch ende,
schillernde Pracht vor mir war meiner Blicke unverändert Ziel.
Es w ar ein verzü cktes Versinken in weiche, wonnige Tiefen seligster
Melancholie. Es war ein Allesvergessen, es war der große, ersehnte
Friede, ein endliches Ausruhen der irrenden Seele. — In jahrelangem,
verzweifeltem Fliehen durch diese W elt ha be ich diesen Frieden gesuch t.
An meinen Fersen heftete die Qual endloser Enttäuschu ng. Übersättigt
bis zum Ekel, hungrig bis zur Verzweiflung, verfiel meine Seele dumpfer
Resignation. Ich wan derte weiter — ohne Ziel.
Hoffnungslos. —
Vergraben am Meere sstrande, umtost von rauschenden, farbigen
Wassern, entdeckte meine Seele in diesen Ewigkeitszeugen das flehend
erseh nte Kleinod: Friede n. Nun trank ich süßen Frieden, schlürfte Ver-
gessenh eit, ber ausc hte mich im Scha uen — umschleierte mich mit seliger
Melancholie. Das war nun endlich Friede n.
Ich wurde des Schauens nicht müde, ich wähnte diese Seligkeit —
wie die ewige — ohne E nde . Ich hoffte aus dieser in jene unmerklich
hinüberzugleiten, unmerklich in diesem Anblick zu sterben und dann ewig
zu sein wie diese Wasser. — Aber es kam ein Ende.
Ein berauschender, herrlicher Frühlingstag neigte sich zum Verblassen.
Hinter der langgestreckten, weißen Isola Maggiore schien die Sonne in
die Lagune hinab zutauch en. Die marm orne Chiesa della Salute war in
ein Meer von Gold gesen kt. Giga ntisch e Strahlen umkränzten ihre Kuppel
wie mit einem Heiligenschein und spielten am hohen Portale und auf
den weißen Stufen. Dav or die Lagunen schimm erten in tausen d Farben,
drüben dunkel metallen, hier blendend golden. Und alle diese Tö ne
vibrierten sanft ineinan der wie schw ingen de Harfensaiten. Eine Prach t
ohne Gleichen
Das sah ich vom Dache meines H auses an. Ich wand te mich dann
dem Meere zu:
Flüssiges Gold wogte heran, die Schaumkronen waren zu Brillanten
gew orden . Ich war geb lend et. Da s war nicht irdisch mehr, das waren
Schätze aus allen Ewigk eiten, aus allen Weiten zusam meng etragen. Und
nun rollten sie hier heran , gleißend, ganze Meere vo n Gold, Gestein
und Perlen.
Ich eilte hina b; ich glaubte , d aß in diesem Anblick nun das er-
träum te Sterb en sei, daß so die Seligkeit des Himmels ihren Anfang
nehme . Ich wähn te, d iese Wellen sollten mich hinübertrag en zum Ur-
quell aller Herrlichkeit: zum ewigen Frieden.
Ich bot mich ihnen. Um meine Füß e spielten säus elnd die flachen
Vorläufer der hohen goldenen Wogen, die bis dicht ans Gastade heran-
traten. Einen Mo ment stan den sie aufrecht vor mir, wie Mau ern. W ohl-
an Dah inter breitete sich die Seligkeit, ich faßte zu: — — zischend
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o o STERBEN IN SCHÖ NHEIT o o
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brach der golden e Berg zusamm en, spritz ender Schaum näßte mein
Antlitz.
Immer neue Mauern strahlenden Goldes drangen vor, immer neue
standen aufrecht — jeder streckte ich flehend die Arme entgegen —
jed e wich schüttelnd , verneinen d. Mein e klägliche Nichtigkeit ließ sie
erbeben , schaudern, entsetzen. Sie lehnten mich ab, sie schnitten Ge-
berde n der V erachtung: mir war nicht bestimm t, in Schönheit zu sterben
und selig zu werden . Mir scha ude rte. —
Das war das End e. —
Das war das Ende des Friedens, der Anfang neuer Enttäuschungen.
Nun brach die wilde Flucht wieder an und das ruhelose Suchen.
Fort
Ich eilte die lange Straße hinab zum Landeplatz der Batelli, deren
eines mich hinübertrug zum Molo Riva degli Schiavoni. — Fort über
die weißen Fliesen, fort im Dämmerlicht.
Piazza San Marco, holdes Heiligtum, Campanile, Chiesa, Pallazzi —
welches W iede rseh en? Nun hüllt die Nacht euch ewig Prangende in
Schatten — wie die dumpfe Schw erm ut meine lechzende Seele. Durch
die hundert engen, dunstigen Gas sen, über die marm ornen, zahllosen
Brücken , durch das schre iende , bunt e, faule Volk fort Alles fremd und
doch alles beka nnt Alles geliebt Ach, wun de Seele, wohin?
Auf dem Po nte di Rialto wo gte die dr ängend e Menge und sah hinab
auf den breiten, schwarzen Kanal, kommender Dinge harrend.
Oben, wo der Kanal Canareggio sich mit dem Kanal Grande verbindet,
lag das Musikschiff bereit zum Beginn der Sere nata. Tausen d bu nter
Flammen schmückten es und schon hatten die Sänger und Musikanten
sich auf Deck versammelt.
Serenata
0 Serena ta Wie in süßer Trunken heit stammelte ich dieses geliebte
W ort. Seren ata, heiligstes Heiligtum, o Serena ta di Venezia, rettendes
Heil 0 Erlösung
O melancholische Serenata
Über die spiegelnde Pracht des bunten Schiffes schaute vom Kanal
Canareggio das schwarze, eng e Ghetto herüb er. Wie ein drohende s
Ausrufzeichen.
Die lockend e Serenata hatte mich in ihren Zauberbann gezogen.
Ich ging hinab, eine der schwarzen Gondole zu besteigen.
„Gondole Gon dole Gon dole " tönte es wie immer im schmel-
zend weichen Venezianisch. „Go ndo le " von allen Seiten. Ich stieg in
die erste.
Die Gondola stieß ab, ich saß mit dem Rücken dem Gondoliere
zugewendet.
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o o DER EIGENE o o
Die sanften Wellen wiegten meinen gehetzten Leib, wie freundliche
Träume eine zerstörte Seele. Und ich d achte an meine Freunde draußen:
an die ewigen, an die bran dend en M eereswogen, an die Schätze im
Sonnengo lde. Sie hatten mich verschmäht. —
„Zur Serenata?" fragte über mir eine sanfte Stimme, so sanft und
schmeichelnd, daß ich jäh aus meinen Trä um en auffuhr. Ich lehnte mein
Haupt tief zurück und sah auf:
Hinter mir stand der Go ndo liere. Über mir bewe gte sich seine ela s-
tische Gestalt in rütmischen Sch wingu ngen. Sein dunkles Auge glühte,
Lichter spiegelten sich darin. Seine junge , sonn enge bräu nte Brust wo gte
unterm offenen, blaue n Hemd . Über die hoh e Stirn quoll schw arze s
Locken haar, der breite Hut lag zu seinen Füße n. Ein 'schlanker, herr-
licher Jüngling, wie nur Italiens glühend e Sonn e sie erblühen läßt, wa r
es ,
der fragte: „zur Serenata?"
Seine weiche, tiefe Stimme gab ein Klingen wie melancholische
Sehnsu chtsmelod ien. Sie klang in der Seele nach. —
Die Serenade bega nn. Die Musik spielte eine glühende Volks weise.
Wie heiße Trä nen fielen die Tön e auf meine weinende Seele. Langsa m
durchfurchte das leuch tende Sängerschiff den Kanal, hund erte der
schwarzen Gondeln schoben sich lautlos dahinter und füllten die Wasser-
straße in ihrer ganzen Breite. Von den Baikon en der alten Marm or-
paläste loderte bengalisches Feuer in glühenden Farben zum Nacht-
himmel auf. Silhouettenhaft ho ben sich die rudernde n Gond oliere vo m
grellen Lichte ab.
„Zur Serenata?"
Ich hatte noch immer meine Blicke nicht von dem Fragenden ge-
trennt. Mein Kopf glühte, mein e Seele bra nnte — ich konnte n icht
fortsehen. Mein Auge klamm erte sich an ihn und ich konnte nicht
reden. Es war Wahnsinn, lodernder, rasend er W ahnsinn — wie d as
Haschen der goldenen Wogen draußen.
Es war Neid Alles in ihm, an ihm : sprühen d, strahlend — Leben ,
Jugend, Feuer. Das wollte ich aus ihm saugen : für mich Es b rannte
auf meiner Seele wie ein verzehrendes Feuer.
Und diese glühenden Lippen lächelten buhlerisch süß:
„Zur Serenata?"
Drei Worte preßten sich endlich tonlos dumpf durch meine Lippen:
„Auf die Lagune "
„Auf die Lagune?" —tönte es weich in zaudernder, erstaunter Frage
zurück. Lippen und Augen lä chelten, sein ganzes We sen sc hien ein
weiches, wa rmes, strahlendes Lächeln. Dieses Lächeln w ar der Triumph
der Schönheit und Kraft über die Armut und Armseligkeit des Lebens.
„Auf die Lagune " befahl ich und mein Kopf sank vor, meine Blicke
rissen sich los. — Nun sah ich ihn nicht mehr. —
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o o STERBEN IN SCHÖNHEIT o
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freundliche
draußen:
Schätze im
sanft und
lehnte mein
seine elas-
Auge glühte,
Brust wogte
schwarzes
läßt, war
Volksweise.
Langsam
nderte der
die Wasser-
Marmor-
zum Nacht
iere vom
enden ge
wie das
— Leben,
is brannte
Lippen:
schien ein
Triumph
Lebens.
Mit kräftigen Stößen schw enkt e er seine Gond ola herum. Wir
glitten g eräusc hlos den Kanal hinauf an der Stazione vorüber, in die
offene Lagune.
Schwarz und bewegungslos lag die weite Flut vor uns. Es herrschte
ein Schweigen wie draußen auf dem Camposanto, auf der feierlichen
Toteninsel, wo unter grauen Marmorhügeln die Entseelten schlummern.
Der Mond trat aus den Wo lken und warf sein bleiches Zerrbild
über die dunklen Was ser. W eiß es Licht flutete über uns. — Ich sah
neben mir im Wasser einen gigantischen, sich schwingenden Schatten:
der Gondoliere
Wir näherten uns der mächtigen, endlosen Eisenbahnbrücke, die das
Festland mit Venedigs Inseln verbindet.
Ein Zug keuchte heran . Da s Ge töse d er Brückenfahrt durchtob te
das Schweigen der Nacht wie Me eres bran dun g. Über die metallene Flut
raste das Spiegelbild des erleuchteten Nachtzuges wie eine glühende
Schlange.
Wieder sahen Hunderte aus aller Welt die Sehnsucht ihres Lebens
befriedigt, ihr Ziel erreicht. Sie ware n in Ven edig
Draußen bei uns auf der Lagune war es wieder still.
Ich ließ mein Haupt über die Lehne zurücksinken und schloß die
Augen. So sah ich ihn nicht. Doch ich fühlte seine glühenden Blicke
durch meine Lider dringen. Ich spürte sein en h eißen Hauch, wenn er
sich beim Rudern weit vorbeugte.
Ich schlug die Augen auf.
Dicht über meinem Antlitz lode rten seine Augen — meine Blicke
gingen darin unter. Ich sah nichts mehr. Ich streckte krampfhaft die
Arme empor, die seinen Nacken berührten.
Er senk te sich tiefer hera b. Er sen kte sich herab bis auf meine
lechzenden Lippen. — Sein Atem drang in meine Seele.
„Ach " —
„Zur Sere nata " schrie ich. Es war ein gellender Schrei, den ich
ausst ieß. Ich erschra k. Ich flehte, ich be bt e:
„Zur Serenata."
Wie ein flüsterndes Echo klang es von seinem Munde zärtlich zurück:
„Zur Serenata?" —
Ich setzte mich auf den ihm ge genü berste hend en Sessel und sah
ihn voll an.
Er stand hoch über mir. Seine schlanke Schönhe it überflutete das
Silberlicht des Mo nde s. Seine Züge verklärten sich in glückseligem
Lächeln. Triumph leuchtete aus seinen Sternenaugen.
Wie ein Gott
Ich st arrte ihn an. Ich muß te ihn anst arren , m eine Blicke ließen sich
- ~ ~ — — • — r . „f lpgj?
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o o DER EIGENE o o
nicht wend en. Er hatte aus meiner Seele die Ewig en vom Lido ge -
drängt.
Unterm Ponte di Rialto erreichte n wir die Sere nata . Unsere Gon dola
schob sich sanft zwischen die and eren . Langsam, kaum merklich gleitete
der ganze Zug mit dem leu chten den Sängerschiffe in de r Mitte vorw ärts.
Niemand geht es ja zu langsam . Jeder will in tiefen, tiefen Zügen
dieser nächtlichen, zauberischen Schönheit einziges Schauspiel in sich
aufnehmen. Niemand wird dessen satt. —
Um uns ein Meer leise sich w iegender, sc hw arzer Gondo le, alle mit
funkelnden Lichtern. Leuc hten des Feuer von den Paläste n, vom Schiffe
melodische Klänge und glüh end er Sang, eine Menschh eit voll Freud e
und Glückseligkeit und d och — über alles ein zarter Schleier v on
Melancholie gebreitet.
Das ist die Serenata —
Um Mittern acht erreichten wir die Mündung de s Kanals. Vor dem
Palazzo ducale endete die Serenata.
Menschen und Gondole und Lichter verloren sich.
Fragend blickte mich mein Gondoliere an:
„Wohin ?"
„Nach dem Lido."
„Nach dem Lido, noch diese Nacht? Wir allein? Das b randen de
Meer wirft seine Wellen weit herein."
„Fürchtest du dich, Go ndo liere? Das Wa sser ist still und die Nacht
ist sicherer für solche Fahrt als der Tag, wenn tausend F ahrzeug e im
Hafen kreuzen."
Freilich war mir die Gefahr bekannt und ich wusste wohl, daß es
nicht ratsam sei, nur mit einem Gondoliere sich den Meereswogen in
die Arme zu werfen. Aber ich mußte hinaus in mein Heim. Er allein
sollte mich hinausbringen.
„Nach dem L ido" bat ich ihn. Ich lächelte ihm zu, zärtlich. —
Ich wu ßte, d aß er alles für mich tun würde , d aß er mir wie ein
Sklave unterwürfig war.
Ich befahl nicht mehr, ich bat. In flehendem Lächeln hob en sich
meine Augen empo r zu ihm. Meine Blicke umschlossen seine schlan ke
Gestalt in stumm er Zärtlichkeit. Die Raserei war einem stillen Sehn en
gewichen, lächelnder Friede lag über meiner Seele.
Ich lächelte ihm zu.
Er antwortete mit der stummen Sprache seiner zarten Seele: mit
seinem milden, bejahenden Lächeln.
Wir glitten an den Kolossen der Ozeandampfer vorüber und steuerten
dem fernen Lido zu.
Von unseren Lippen stör te kein Laut das heilige Schweigen der
Nacht. Wir rede ten zu einan der mit der Sprac he der funkelnden Ster ne.
Es war eine
Die Fahrt gn
Seitdem sind
Eine Woche
wohnung auf dem
Heim am Lago
Hoch über
Schwarze Cypn
finsteren, feierlich«
Mein Heim lie
und Rhododendroi
Feierstimmung bre
Hier verbrach
Sehnsucht des Ta
Heute —
Ein glühender
die Luft geht ein
Hitze legt sich se
Ich verschlafe
dichten, geschloss
ich fort vom Mor
trägt sich auf di
Als es Abenc
Sessel und brüte
Regungslos
Ich dem.v
Endlich ent
bewegliche tiefe
Nacht —
Schon Nacht
Millionen St(
den hohen Spieg
S chön
Ich trete hin
Heimes: wie ein
Ach Ironie
Keimender
Niemand weiß e
Ach, was is
brochene Schönf
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o o STE RBEN IN SCHÖ NHEIT o o
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Es war eine klare, blaue, warme Nacht. —
Die Fahrt ging glatt und glücklich. Sie währte lange. — — —
Seitdem sind dreißig Tage verflossen.
Eine Woche nach der nächtlichen Fahrt verließ ich meine Strand-
wohn ung auf dem Ud o und flüchtete von Venedig in mein einsames
Heim am Lago di Como.
Hoch ü ber dem blauen W asser thro nt meine Villa von Marmor.
Schwarze Cypressen ragen davor zum Himmel auf; ich liebe diese
finsteren, feierlichen Giganten . Eine bre ite Terras se führt hinab zum See.
Mein Heim liegt in einem Walde von blühenden Oliven, Magnolien
und Rhodo dendron — wie ein stumm es Schlo ss im heiligen Hain. Ewige
Feierstimmung breitet sich darüber.
Hier verbrachte ich die letzten Wochen in schweren Träumen, mit
Sehnsucht des Tags der endl ichen Erlösung harrend. —
Heute —
Ein glühender Tag . Verheerend bre nnt die Sonne hernieder; durch
die Luft geht ein Flimmern, als siede und brodele die Atmosphäre. Diese
Hitze legt sich sengend auf alles Leben.
Ich verschlafe den ganzen Tag im Dun kel meines Ha uses. Hinter
dichten, geschlossenen Vorhängen, die alles Licht verbannen, schlummere
ich fort vom Morgen bis zum Abend. Do ch die Glut von außen ü ber-
trägt sich auf die Träume.
Als es Abend w ird, spr inge ich auf. Ich setze mich in einen niedrigen
Sessel und brüte eine Stunde noch vor mich hin.
Regungslos, wie tot.
Ich denke an die Erlösung.
Endlich e ntschließe ich mich, den seide nen Vorha ng, dessen un-
bewegliche tiefe Falten mir die Augen brennen, zurückzuziehen.
Nach t —
Schon Nacht? — oder endl ich?
Millionen Ste rne glitzern. Ich zün de ein Licht an und schau e in
den hohen Spiegel —? —
Schön
Ich trete hinaus und stehe unterm weißen Portale meines marmornen
Heimes: wie ein Bild des Frühlings.
Ach Ironie
Keimender Wah nsinn frißt an m einer Seele w ie quellendes Gift.
Niemand weiß es. Alle würd en sag en : Seht, seht wie schön
Ach, was ist Schön heit ohn e Kraft? Eine schwache, kranke, ge-
brochene Schönheit, eine vergangene — was ist die?
•
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o o DER EIGENE o o
Ich will sterb en. Sterb en eben no ch in Schö nheit. Ich will nicht
verwelken, nicht hinsiechen — nein, nein, nein
Ich will abbrechen wie im vollen berauschenden Dufte ein blühender
Orangenzweig, getroffen von einer schwer herabfallenden Frucht.
Eine solche Frucht ist die gesättigte Schönheit.
Alle sollten sterb en, die satt sind, denn wa s m ehr ist, ist zu viel.
Alles sollte vergehen, was den Höhepunkt seines Wesens erreicht hat.
Kein Verglimmen , kein Altern, kein Abs terben Nur strahlende
Schönheit, sieghafte Kraft Raum für di es e —
Sterben
Sterbe n? Warum macht dieser hehre Begriff so viele heulende
Gesichter, so viele klagende Herzen?
Warum?
Sterben ist nötig, leben nich t Alles was gebo ren ist, muß sterbe n.
Giebt es einen feierlicheren Moment als den des Hinübergleitens
vom Sein zum Nichtsein, vom Leben in den To d? Ein g roßer Akt
In Schönheit, in Glanz, in Verklärung sollte er sich abspielen als
Apotheose des ganzen Wesens .
Strahlendes Licht über den Sterbenden und rauschende Fanfarenklänge
Und wenn das Auge erloschen, deckt ihn mit schillernder roter Seide,
durch die sein Antlitz in rosiger Verklärung schimmert und laßt Sphären-
musik ertönen: Harfenklänge und fernen Kindergesang.
Die Schönheit: der Kraft
Über meinem Hause steht der volle Mo nd. Ein weißes Lichtmeer
liegt über der nächtlichen Prac ht. Die Bäum e tragen Silberkronen, silbern
gleißen unten die träumenden Wasser, die weißen Stufen und Statuen:
alles versinkt in einer Flut mag isch blen den den Lichtes. Der klare
Himmel ist hellblau wie bei Son nena ufga ng, die kleinen und groß en
Sterne strahlen wie Sonn en. Wie schwarze Kerzen heben sich in
scharfen Silhouetten die hohen C ypresse n vom Nachthimmel ab und
werfen lange, lange schwarze Schatten ü ber die Terrasse. Aus tausend
Blütenkelchen mischt sich ein schwerer berauschender Duft.
Keine Bewegung, kein Laut: die Welt scheint in einem Zustande der
Erstarr ung wie ein zaub erha ftes rie siges Bild. Ich allein leb e —
Lebe ich noc h? Ein Zittern läuft durch meine Glieder, vor meinem
Auge scheint sich das gew altige Bild zu vers chie ben . Ich schreite vor
und steige langsa m die breiten Stufen hinab . Seltsam klingen meine
Tritte aus den Büschen zurück.
Noch wenige Stufen bis zum Wasser. —
Rechts und links stehen weiße Statuen: „Schönheit" und „Licht", die
Ankomm enden begr üßen d. Ich stütze mein Haupt auf den Sockel der
„Schönheit" und schmiege meine heiße Stirn an das marmorne Bildwerk.
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o o STERBEN IN SCHÖNHEIT o o
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Etw as regt sich hinter mir. Ich hör e einen verklingenden Schritt.
Ich wende mich nicht.
Um meine Hüften schlingt sich ein fester Arm, in den ich mich
zurücklege.
„Giorgio "
„Ich bins."
„Giorgio, mein Erlöser "
„Ich bins."
„Du hast W ort ge halten "
Aus meinem Gürtel löse ich einen kleinen, silbernen Schlüssel und
drücke ihn in seine Hand.
Er lächelt zärtlich zum Dank.
Ich lege meinen Arm um seinen schlanken braunen Hais und trinke
von seinem Antlitz noch einmal blühend e Schönhe it. Aus seinem Arm,
aus seinem Blick — aus seiner Seele strahlt glühende Kraft.
„Dir — Kraft — die Schö nheit und die Welt und Tod den
Schwachen "
Ein funkelnder Stahl blitzt in seiner Han d. Ich lächl e:
„Giorgio, Erlöser "
Seine Gestalt scheint zu zerfließen, sich zum leuchtenden Gotte zu
verwandeln; überirdisches Licht strahlt aus seinen Zügen.
Ich fühle seine Umarmung, in meine Brust senkt sich sein spitzer
Stahl — ohne Schmerz.
Erlösung küß t meine Seele in himm lischer Won ne. Meine Augen
schauen in die Ewigkeit.
Mein Körper gleitet von den Händen des Erlösers gehalten auf den
Marmor nieder. Rotes Blut rinnt über die w eißen Fliesen hinab, von
Stufe zu Stufe, und mengt sich unten mit dem leuchtenden Wasser.
Oben unterm Portale erreichen meine Blicke noch einmal die Ge-
stalt des Erlösers. Mit der Rechten winkt er mir Grüße und verschwindet.
Die letzte Kraft des sterbendes Leibes schließt mir die Augen.
Tot Erlös t
Gestorben in Schönheit. —
Laßt es so sein
CAESAREON
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15/70
o o DER EIGENE o o
BEIM FESTE
füllt die Pokale mit cyprischem Wein
Laßt blinken im Becher den purpurnen Schein
Schlürft hastigen Zuges den raschen Genuß
So kurz ist die Jugend, so flüchtig der Kuß.
Es flammen die Rosen in duftiger Glut,
Es spiegeln die Sterne sich tief in der Flut;
Doch mehr ist als Rosen und Sterne zumal
Die Blut auf den Wangen, im Auge der Strahl.
Durch Blätter und Lauben bricht farbiger Glanz,
Da regt sich im Grünen melodisch der Tanz;
Heiß schlingt sich der Arm um die schöne Gestalt,
Die Blicke, die Herzen, sie finden sich bald.
So schwärm et, so küss et Vom Himmelsgezelt
Wirft goldene Schimmer der Mond in die Welt.
Gen ießt We nn die glänzen de Scheibe verblich,
Wer weiß, ob die Liebe der Brust nicht entwich
Ich hab einst geliebt und auf Treue gebaut,
Ich habe dem Lächeln des Frühlings vertraut;
Die Stürme des Herbstes, sie brausten daher,
Ich suchte die Blumen und fand sie nicht mehr
Drum hastig die blinkenden Becher geleert
Ergreift , was die rollende Stunde beschert
Genießt die Minute, so lange sie glüht
Der Frühling verwelkt, und die Liebe verblüht
EMANUEL GEIßEL.
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A I I G N ' O N
W. VON GLOEDEN
RAPHAEL
^ e i n Auge is t mir
Wie im finstern Tann enwa lde
Der stille Weiher,
Wann mit düstrem Glänze
Der Mond drauf scheint:
So tief und ernst —
Und wann es weint,
Ists die von Tau und Morgenglut
Geschmückte und gelabte Bergeshalde
Wanns aber lacht:
So froh und wild,
Wie die in flammendem Wetterglast
Brausende, jauchzende Mainacht
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o o DER EIGENE o o
Sein Kuß ist Sehnsucht,
Sein Umarmen Friede
Und Seligkeit:
An seiner Brust zu ruhn,
Wenn Wang an Wang
Uns liebe Träume kosen
Und Eros schmeichelnd
Um Stirn und Nacken
Der Liebe keusche Wunderblumen zaubert,
Die nur auf seinen stillen Inseln blühen
*
Der Schenkel Kraft
Strebt schlank und weich empor,
Lebendge Säulen eines Heiligtumes
In dem nur ich allein der Priester bin
*
Sein Mund hüllt Wehmut,
Schamhaftes Entzücken,
Und südweinsüß ist seiner Lippen Rand,
Frostlösend wie der schwüle Föhn,
Wie Abendsonnenblut erglühend,
Purpur- und scharlachrot
Wie Rosen
O Göttert ros t ,
Sich daran satt zu nippen,
Am Kelch der Minne,
Der nur Freude sprudelt,
Erlöserwonnen
Der Unendlichkeit
ADOLF BRAND.
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o o IM KERKER o o
IM KERKER
Line Pri tsche und Matratze
Und ein weißes Linnentuch,
Blaukarrierte Deckbezüge
Und ein halbvergilbtes Buch.
Drinnen les ich und vergesse
Meine Einsamkeit und Qual,
Bis die Zellenwände grinsen
Schattenwirr und totenfahl —
Bis der Posten auf dem Hofe
Dröhnend schreitet durch die Nacht,
Daß es gellt wie Teufelslachen
Und d er Asphalt klirrt und krach t —
Daß es hämmert im Gehirne
Von Gedanken, weh und heiß,
Bis von meinen müden Wimpern
Trän e rinnt um Träne Ieis —
Bis ich küsse ihre Blicke,
Meiner Mutter blutend Herz,
Meines Vaters graue Haare
— Und m ich f inde heim a twär ts . . . .
Wo ein Stern in meinem Garten
Lächelnd vor mir niederfällt
Und ein Engel mir sein Mündchen
Schalkhaft zag entgegen hält —
Und der Engel ist ein Junge
Und der Junge, der bist Du
Und der Himmel geigt und jubelt,
Vater, Mutter schauen zu —
Vater, Mutter stehn und beten,
Und die Nacht ruht warm und weich,
Und wir gehn auf leisen Sohlen
In ein schönes Mä rchenre ich . . .
ADOLF BRAND.
ESH
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19/70
o o DER EIGEN E o o
NEUE LIEBE
T^\u bist wie eine Gerte,
So frisch, so schlank und gut.
Ich küsse Dich, Geliebter,
Wildsüßes Schelmenblut
Ich küß Dein Silberlachen,
Den roten Perlenmund.
Der Wollust lockend Leuchten
Auf Deiner Schenkel Rund
Ich küß von Deinem Nacken
Den lieben krausen Sinn.
— Sieh — blick in meine Sterne :
Du gibst Dich, gibst Dich hin
Dann halt ich Dich umschlungen
Wie diese Gerte fein.
Du Schlingel bist mein Eigen
Und sollst mein Sklave sein
Und wie die schlanke Gerte
Springt flammend auf und zu,
So Wille ganz und Feuer,
So biegsam sei auch Du
Dann springen, blühn und brennen
Blutrot zur halben Nacht
Der Liebe Wunderrosen
Aus meines Herzens Schacht.
Dann ringeln sie wie Schlangen
Um Lenden sich und Bein
Und küssen Dich und kosen
Zu süßem Seligsein
Du, Du mein heiiges Lachen
Und meiner Sehnsucht Weh,
Dann grüß ich D ich wie Nordlicht,
Wie Glast im Gletscherschnee
Die Rosen, meine Runen,
Sie raunen: Du bist mein
— Der Burschen allerschönster,
Du wirst mein Sklave sein
ADOLF BRAND
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HIRTE AM BRUNNEN
W VON GLOEDEN
- • - • • - - • • • • ^ ^ - - « ^ - - ^
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SING END E KNABEN LUCA DELLA ROBBIA
DER SCHÖNE JÜNGLING
IN DER BILDENDEN KUNST ALLER ZEITEN
11.
RENAISSANCE BIS RAFFAEL.
D
as Christentum g ab dem Eros Gift zu trinken, sagt
Nietzsche mit Rec ht; und am tiefsten vielleicht kann
man diesen verderblichen Einfluß des Christentums an
seinen Wirkungen auf die bildende Kunst des Mittelalters
studieren : Dahin ist für lange öde Jahrhund erte der naive
Kunstblick, mit dem ein Praxiteles seine herrlichen nackten
Leiber geschaut und mustergiltig verewigt hat, dahin ist die
warmb lütige, echt mensch liche Sinnenfreude, mit der das
Hellenenvolk seine Schöpfungen aufnahm, an derartige An
blicke gewöhnt von dem trauten Umgang älterer mit jünge
ren Männern und Knaben her in der veredelnden, Geist und
Körper in gleicherweise für das Schöne erziehenden Palästra,
dahin die lichtvolle W eltbetrachtung eines Piaton, an die
Stelle getreten von all dem ist eine We ltanschauun g,
die, feindlich aller Kunst, ihren Stützpu nkt in einem p ha n-
— _
T — ~ : —
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1 4
o o DER EIGENE o o
tastischen Reich des Jenseits su cht, die W elt der Sinne ver
achtet, ja sie für ein Teufelswerk erklärt, von dem man sich
durch Askese abwenden müsse, ein Volk, dessen beste ur
wüchsig undifferenzierte Kraft in den lichtlosen Marterkam
mern der Klöster zu engherzigen Knechten herangezüchtet
wird, eine „Kun st , die diese s Namens kaum würdig, sich
in naiv kindischer Weise in der Darstellung von gemarter
ten Heiligen gefällt. Daß diese für echtes Men schentum
toten Jahrhunderte keinen Meister hervorbringen , der die
Verherrlichung der Jüngling sschön heit sich zum Lebensinh alt
setzt, ist selbstverständ lich. Erst als die Me nschhe it unter
dem Einfluß der wiederentdeckten Originalwerke Aristoteles
und Piatons sich ihres Erbes aus längstvergangenen Zeiten
wiederzu erinnern begann, als der immer und ewig en g
herziger Weltanschauung und Moral totfeindliche Kunst
genius der Welt in sinnenfrohen Päp sten und Fürsten zeit
weise wenigstens wieder aufzuleuchten begann, da fanden
sich auch schon wieder, wie im erwachenden Lenz die Blu
men, Künstler, die für die vollendete Schönheit der männ
lichen Jugend ein Auge hatten. Und wie die hellenischen
Meister die Motive für ihre Darstellung ihrer Götterwelt ent
nehmen und erst in späteren Zeiten mit bew ußter Absicht
den Men schen als solchen verherrlichen, begin nt auch die
plastische Kunst der Renaissance, die wir zunächst ins Auge
fassen wollen, mit Motiven der viel ärmeren und prosaische
ren mittelalterlichen „Götterw elt . Und zwar sind es
Florentiner Meister, die zuerst den Bann des Mittelalters
abzuschütteln beginnen: gleich der erste Meister, dem man
hier begegnet, der Bahnbrecher der „neuen Richtung , Lo-
renzo Ghiberti, hat in seinen bekannten Bronzereliefs einige
uns interessierende Gestalten geschaffen, deren zarteste
vielleicht der nackte knieende Knabe Isaak auf der „Opfe
rung Isaa ks darstellt.
Einen großen Schritt weiter ging Donatello, der erste
Meister, der es seit den Tagen der Antike wieder wagte,
einen nackten Jünglingskörper als Statue im Bronzeguß zu
bilden: Di
gesunderJ
Übergänge
überhaupt
stellerei
fast ausschli
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nun wie
seinem
sprühenden
Knaben *
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treiben ,
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Christkind u
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Menschliche
* Treffl ich
Nr . 5048 , au f d
** Siehe die
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23/70
o o DER SCHÖNE JÜNGLING o o
105
bilde n: Dies Werk ist sein jugendlicher David, ein derber,
gesunder Junge mit vollendet schönen Formen, deren zarteste
Überg änge dem Künstler wiederzugeben gelang.* Es ist
übe rhau pt eine n och viel zu w enig von der Zunftschrift-
stellerei untersuchte Erscheinung, daß gerade dieser Meister
fast ausschließlich die männliche Schönheit nachbildet, ob
es
r
nun wie hier das reifere Knabenalter ist, oder wie in
seinem tanzend en Amor * und den entzückenden leben
sprühenden Bürschchen, den tanzenden und singenden Engel-
Knaben * des „Kinderfrieses" an der Sängerbühne im Flo
renzer Dom (jetzt im Museo S. U. di Fiore) und den zahl
reichen einzelnen Knabenb üsten * das noch ganz juge nd
liche K inderalter, das des Kün stlers Auge zum Schaffen
reizte, oder ob er schließlich wie in der Marmorstatue des
St. Georg** und der Bronzestatue des „abgezehrten Wüsten
predigers" Johannes das Jünglings- und Mannesalter geradezu
typisch wiedergibt.
Donatellos Engelknaben sind übrigens die ersten der
seit damaliger Zeit so unzähligemal wiederholten „Putten",
jener „gutherzigen, pausbäckigen Jungen," die als Schutz
engel den Menschen auf seinem Lebensweg begleiten, an
seinem Grabe Wache halten, die als gute Werkstattgeister
dem Künstler überall helfend und sch mü cken d zur Seite
stehen, die neckend und scherzend ihr harmloses Spiel
treiben". Gerad e in dieser Rolle sind uns jugendliche Kna
ben so geläufig geworden, daß wir sie als selbstverständlich
hinnehmen, ohne uns bewußt zu werden, welchen Strömungen
im M ensch en- und Kunstgeist — bereits seit der Antike —
wir dieselben verdanken Denn daß hier die antike Freude
am Knabenkörper, vermengt mit christlichen Elementen —
Christkind usw. — die eigentliche Quelle ist, dürfte zwar
bestritten werden , ist aber dennoch wah r. Mehr ins rein
Men schliche übertragen, h a^d iese s Motiv Donatellos genialer
* Treffliche Abbildung im Verlag d er „Neuen Photo graph ischen G esellschaft"
Nr. 5048, auf deren Bilder wir auch im Folgenden hinweisen werden.
** Siehe die Nummern 5283, 5103, 5536, 5265, 5266, 5288, 5279 a. a. 0.
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24/70
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106
o DER EIGEN E o o
Nachfolger, Luca della Robbia, in seinen tan zend en und
musizierenden K indern (auch M ädchen), mit denen er den Fries
der zweiten Orgelbühne des F lorenzer Dom es schm ückte. *
Besonders die uns interessierenden Knaben sind von einer
frischen und lebenswahren Charakteristik, daß man nicht
weiß,
ob man in der Wiedergabe des Knabenalters diesem
Künstler ode r seinem Vorbild Don atello den ersten Rang
einräumen soll. Unter den weiteren von Don atellos Geist
angeregten Künstlern jener Zeit ist für unsere Zwecke wic h
tig Antonio Rossellno, dessen S. Sebastian, ein wundervoll
zarter Jüngling m it weichsten Formen und mildem edlem
Ausdruck in dem voll Ergebung nach oben gerichteten
Antlitz zu den liebreizen dsten nackten Marm orfiguren der
Frührenaissance zählt. Der letzte gewaltige Meister der
Frührenaissance endlich, Andrea Verrocchio bietet uns eine
Anzahl herrlicher Verkörperungen männlicher Jugendblüte
(alles Bronzen). Einmal schuf er eine prächtige Knabenstatue
in dem als Fontaine gedachten Knaben mit dem Fisch, dann
den in bewußtem Gegensatz zu dem Don atelloschen Werk
aufgefaßten David, ** einen an der Grenze des Kn aben -
zum Jüngling salter stehend en feingliedrigen Bursc hen mit
reichem Lockenkopf, beinahe mädchenhaft schüchternem
Lächeln, großen Augen und schmalem Kinn, und seinen Ver
wandten, die Tonfigur eines völlig nackten schlafenden Jüng
lings und endlich den in reiche Gew ände gehüllten an mu
tigen Thom as in der Gruppe „Christus und Thom as. Verro-
cchios Jünglingsideal weist bereits auf das Leon ardos hin,
wie wir später sehen werden.
Indem wir nun die für unsere Zwecke wenig ergibige
Kleinkunst der Modelleure und Plakettenkün stler übergehen,
müssen wir, bevor wir die Meister der Hoch renaissance be
trachten, ein wenig bei den Malern der Frührenaissance
verweilen. Die A usbeu te für u ns wird freilich gering sein,
wa s schon mit dem W esen der Plastik und Malerei aufs
* Nr. 5104 , 5105 , 5106 ff — 5114 der Samm lung.
** Nr. 5261. a. a. 0.
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* No. 555
8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
25/70
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DER SCHÖNE JÜNGLING o o
107
wich
— —
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engste zusammenhängt — eine Malerei, die sich die Dar
stellung des schönen menschlichen Körper zum Ziel setzen
würde, wäre damit schon auf falschen Bahnen und würde
ins Gebiet der Plastik übergreifen. So kommt es, daß wir
gerade bei ersten Meistern der Malerei nichts oder nur
wenig hierher Passendes finden werden, nur gelegentlich hier
und da einen Sebastian oder einen Johan neskn aben , fast die
einzigen jugend lich männlichen Ty pen, die die in ihren
Stoffen eben immer noch sehr arme Zeit gestattet unbekleidet
malerisch darzustellen. Interessanter beinahe als diese G e
stalten sind die vielfach wie derk ehre nde n Enge l, fast alles
wundervoll liebliche Knaben- und Jünglingsbilder, wie sie
in erster Linie des F lorentiners Botticelli zahlreiche M ado nnen
bilder* um geben, und vielleicht am c harak teristisch sten auf
dem „Mag nificat" in den Uffizien in Florenz gelu ngen sin d;
besonders der eine sich über die beiden andern herab
lehnende Knabe mit dem schmalen, seelenvollen, von dichten
Locken umrahmten, süßen Antlitz, ist ein entzückender Junge
Viele Gesch wister besitzt er auf dem „M adonnen bild
mit den vielen Engeln" im Berliner Museum, der „Thronen
den Madonna mit Heiligen" in der Florenzer Akademie und
der „Ma donn a" in den Florenzer Uffizien. Eine strahlend
schöne Jünglingsgestalt ist der auf dem Bild der „Thronenden
Madonna" ganz außen rechts stehende heilige Michael; die
einzige Darstellung eines nackten Jünglings von Botticellis
Hand besitzen wir in dem an Verrocchios K nabenideal er
innernden heiligen Sebastian im Berliner Museum . Jug end
lich anm utig sind auch die beiden Johan neskn aben auf dem
Ma donn enbilde der Gem äldegallerie in Florenz und d er
Ma donn a del Passegg io im Palazzo P itti. W as alle diese
Gestalten uns Modernen so sympathisch macht, ist der tief
seelische A usdruck, die „Schw ermut", die aus all diesen
fragenden Gesichtern uns anblickt und unwillkürlich in ihren
Ban nkreis zieht. Die unm ittelbar von Botticelli beeinflußten
Künstler wie Philippino Lippi und Ghirlandajo haben diese
* No. 5551, 5171, a . a . 0 .
' ~ —
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26/70
108
o o DER EIGEN E o o
Eigentümlichkeit nachzuahmen gesucht, ohne daß es ihnen
aber so recht gelungen wäre; die Engelknaben auf dem
Bild Lippis „Vision des heiligen Bernh ard sind in Ver-
gleichung mit denen Botticellis doch ziemlich nichtssagende,
wenn auch frisch anm utige Knab engesichter. Dass elbe gilt
von dem Knaben Tobias auf dem bisher unter Verrocchios
Namen bekannten Bild der „To bias mit äen drei Engeln
in er Florentiner Ak ademie. Ein großer* Meister in der
Wiedergabe des nackten männlichen Körpers ist dagegen
Luca Signorelli, der beso nders in seinem „Pan unter den
Hirten (Berlin), seiner „Auferstehung der To ten und
„Strafe der Verdamm ten (Dom in Orvieto) sein gew altiges
Talent zur W iedergabe von kräftiges Leben hauchenden
nackten Gestalten prä chtig entfaltete. Unter den gleichzeitig
arbeitenden Paduaner Meistern interessiert uns vor allem
Mantegne, der in seinem ganz antik aufgefaßten „Triumph
zug Cäsa rs (in Schloß Hamptoncourt bei London) eine
Reihe herrlicher Jünglingsgestalten, in seinem „Sebastian
(Wiener Galerie) zumerstenmal den schm erzzerrissenen Dulder
überzeugend und in seinem „Bacchanal hellenische Sinnen
lust und üpp ige nackte Jünglingsleiber wahrheitsgetreu
wied ergab . In Venedig wirkte dam als Antonello da Messina,
dessen „Sebastian (Dresden), ein Jüngling mit außerorden t
lich w eichen Formen, so recht die diesem Meister eigene
Kunst durch Halbtöne seinen Gestalten Rundung und über
raschend es Leben zu verleihen kennzeichnet. Aus der um -
brischen Schule endlich wäre zu erwähnen Pietro Perugino
mit seinem etwas sentimental verzückt nach oben blickenden
Sebastian auf dem Madonnabilde der Offizien, dem mädchen
haft zarten Tobias neben dem Erzengel Raffael (London) und
etwa noch dem verträumten Jünglingsporträt der Uffizien.
Die „weiche Gefühlsseligkeit aller Gestalten diese s Meisters,
der „feminine Zug seiner Kuns t befähigt ihn gerade be
sonders zur Wiedergabe jener zarten Jünglingstypen, die so
recht von der Natur dazu geschaffen scheinen, in schwärmer
ischer Liebe einem starken männ lichen Charakter ihr Herz
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unter den
'eichzeitig
D A V I D
VON MICHELANGELO
Mit Genehmigung der Neuen Photographischen Gesellschaft in Steglitz.
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o o DER SCHÖNE JÜNGLING
111
zu sche nken Noch mehr tritt diese r Zug in den Jünglings
gestalten Leonardo da Vincis zu Tage, jenes Meisters, mit
dessen Betrachtung wir in die Zeit des „Quinquecento",
der Hoch renaissance, eintreten. W as un s an Jünglingsge
stalten aus der H and d ieses der Jün glin gsli ebe nicht ab
holden Kün stlers be kann t und erhalte n ist, alle zeichnen sie
sich durch eine feminine Anmut, einen süßen Liebreiz aus,
alle geben sie das bereits in Verrocchios — Leonardos
Lehrer — David angedeutete Jünglingsideal vollendet wieder,
„jene Köpfe mit den träum erisch wehm ütigen Augen, dem
weich geringelten Haar,* dem leisen rätselvollen Lächeln."
Vollendete Beispiele derart sind Leonardos „Johannes der
Täufer" (im Louvre), das ungemein treuherzig blickende
Knabengesicht der Bacchusstudie (Zeichnung der Akademie
in Venedig), der fast zu weiblich und weichlich aufgefaßte
„jugendliche Bacchus" im Louvre und nicht zuletzt der zarte
Johannes und Philippus d es Abendm ahles. Gerade Johannes
ersch eint auf dem weltb erühm ten Bild in Aussehen und
Größe berei ts a ls der ausgesprochene Li eb lin gsj ün ge r
Jesu.** An Leonardo s unerschütterlichem Lichtgenius waren
die Wogender düsteren Savonarolabewegung, die in Botticelles
Werken so deutlich zu spüren ist, glücklich abgeprallt. Leonardo
hat die psycholog ische Vertiefung, die die asketische Bew egung
mit sich brachte, in sich aufgenomm en, aber — zum Glück
— nicht die barbarische Kunstfeindlichkeit des Bußpredigers.
Und er ist insofern für die ganze nun folgende gewaltige
Kunstepoche vorbildlich g ew esen : denn auf die Reaktion
folgte nun ein ungeahnter Triumph des Kunstgenius, der so
recht „von diese r W elt" ist Und zwar keines einseitigen:
steht d och neben einem Sodo ma ein Michel-Angelo, und
neben diesen ein Andrea del Sarto , und über allen ein
Raffael
Uns interessiert in erster Linie „Sodoma", mit seinem
richtigen Namen Antonio Bazzi geheißen, ein Maler, dessen
* Vgl. Ludwig Frey: „Der Eros und die Kunst". S. 142.
** Vgl. auch E. v. Kupffers „Lieblingm inne und Freundeslieb e". S. 15 oben.
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] 12 ° °
D E R
EIGENE o o
persönliche V orliebe für den schö nen Jüngling ihm den Sp ott-
namen eintrug, der ihm zu einem Ehrennahmen werden
sollte. Seine Kunst in der Wiede rgabe jugendlich männlicher
Schö nheit ist einzigartig. Am bes ten ist, wie Muther sagt,
der ganze Sodoma in der Figur des Isaak
uf
dem Opfer
Abrahams enthalten: „D ieser K nabe mit dem Backfisch-
köpfchen und den we iche n Hüften, der die vollen runden
Arme über dem Busen kreuzt, — das ist der Antinous des
Christentums, ein Sc hönhe itsideal, das nur in Zeiten höchster
Kultur und Im moralität herv ortritt. Ein ähnlicher Ty pu s ist
der linke Engel auf d em Bild de s S. Sitterio im Ra thau s
in Siena und der Hymena eus auf dem berühmten G emälde
„Alexander und Rox ane (Rom, Farnesina), während Sodo mas
„S. Seb astian (Florenz , Uffizien) einen etwas reiferen Jü ng -
ling mit vollen, weich en Formen darstellt. Eine ganz a nde re
Art Mä nnlichkeit tritt un s in Miche langelo entgeg en. G leich
sein erstes Jugendwerk, das Hochrelief des „Kentauren-
kampfes mit seinen mäch tigen nackten Männerleibern, in
denen eine gebu nden e Riesenkraft sich ank ündigt, ist für
dieses Meisters Art bezeichnend: er ist der ausgesprochene
Anbeter des kraftvollen mä nnliche n Körpers. Darum ist er
auch seiner innersten N atur nach Plastiker, was gerade seine
Malereien am besten bew eisen werden. Zugleich ist er
Pa thetik er; Lieblichkeit und Sinnenreiz, wie wir ihn bei
Sodoma finden, ist d iesem Riesen fremd; nur ein Juge nd-
werk, der zartgliederige, lächelnde „G iovannino mit der
Honigwabe (Marmorfigur im Berliner Museum)* macht eine
Ausnahme, während schon sein nächstes Werk, der Bacchus
(N ationalmuseum in Florenz) in der Mächtigkeit seiner noc h
jugendlichen Formen trotz des unpathetischen Motives jenen
Zug unm eßbarer G röße atmet, die dann bald darauf in
seinem David** (Florenz) den ersten gewaltigen Ausdruck
fand. War doch seit den Tage n der Hellenen eine solche
Verkörperung eines ideal schönen kraftvollen Jünglingsleibes
* No. 5260 a. a. o.
** 5050 , 5051 a. a. o.
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o DER SCHÖNE JÜNGLING
113
nicht mehr dag ew esen Wie sehr Michelangelo schwelgte
in der Darstellung von Jünglingsleibern, ohne mit anderer
Absicht als um der W iedergab e schön er Menschen willen,
zeigt so recht eines seiner aus jener Zeit stammenden Ge-
mälde, „die heilige Familie" in den Uffizien, auf dem, an-
scheinend „zwec klos", vier herrliche nackte Jünglings-
gestalten den Hintergru nd füllen. W enn man sich vollends
das Deckengem älde* in der Sixtina in Rom betrachtet,
da s bekan ntlich die Erschaffung der We lt, den Sündenfall
und die Gesch ichte Noa hs darstellt, so steht man angesichts
dieser Überfülle von nur dekorativen nackten männlichen
Leibern, von den als Karyatiden benutzten Knaben bis zu den
je ein Son derbild flankierende n vier sog. „Sklaven", an -
gesichts dieser weder vorher noch nachher je versuchten
Symphonie schöner Männlichkeit vor einem Rätsel, das alle
Kunstforscher mit ihren Redensarten nicht auflösen, zu
dessen Lösung aber der beste Schlüssel in Michelangelos
Sonetten enthalten
ist
jenen wu nderba ren Gesängen, die stellen-
weise glühend die J u n g li nglieb e preisen . . .**. Und unter
diesem Gesichtspunkt ist überhaupt Michelangelos ganzes
Schaffen wie mit einem Mal neu beleuchtet — derselbe Geist,
der die hellenischen Plastiker trieb, ihre Werke zu schaffen,
derselbe Geist ist es im Grunde genommen, der Michelangelos
Schaffen durc hglü ht Ein ähn liche s We rk, aber in Plastik,
sollte das Grabmal für Julius II. werden, wie sich noch aus
der Federzeichnun g d er Uffizien erkenn en läßt. Denn au s-
geführt wurde es nie, nur einzelne fertige Teile, jetzt zer-
streut in den Museen, lassen ahnen, w as es geworden
wä re Für uns am schönsten sind die beiden jetzt im Louvre
befindlichen nackten „Gefangenen", deren einer, ein in
schönster Blüte des Jugen dreizes p rangen der Jüngling, der
um die Brust gefesselt, todesmatt sein edles Haupt zurück-
lehnt, während die Rechte nach dem Herzen greift und die
Linke de n Kopf unterstützt, vielleicht die form enschön ste
Schöpfung des M eisters ist. Auf seinem „jüngsten Gericht",
* 902, 903, 903a — h. a. a. o.
** Siehe auch Jahrbuch für sex. Zwischenstufen, Bd. II. Seite 254 ff.
— — « ~«
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j ] 4 o o DER EIGENE o o
dem letzten großen Ge mäld e des Me isters, hat er noch ein
mal alle Tön e vereint, freilich au s dem Kosm os d er Welt
schöpfung ist hier ein wilde s Chao s geworden, aber, was
uns interessiert, auch hier arbeitet der Plastiker, auch hier
die ungebrochene Freude am nackten männlichen Körper.
Michelangelos Zeitgenosse Raffael bietet für unsere Zwecke
wenig. Wenn auch seine weltberühmten Fresken wie die
„Schule von
„Disputa (Vati
interessanter
bieten und sein
Johannes in der
für die Darstel-
schöner nackter
vorbildlich ge-
ist eben doch
der Meister,
Weiblichen in
nen den ideal
verliehen hat,
Fresken Werke
Einheit von
gegengesetztes-
Stileinflüssen
Unter den
Florentinern
nicht vergessen werden Andrea del Sarto, dessen Johannes
knabe* (Florenz Pittigallerie) mit Recht zu den Lieblingen aller
Italienreisenden ge hört. Zeigt er auch nicht die durchgeistigte
Schön heit des Raffaelschen, so fesselt doch der eindringen de
Blick dieser treuherzigen Augen, die so unschuldig aus der
uf-
tigen Blüte des lieblich reinen Knabenantlitzes herausschauen,
unwillkürlich jeden Beschauer und ist geradezu ein Entzücken
für den vom Pfeil de s E ros Getroffenen. Der Künstler selbst w ar
ansche inend in sein M odell verliebt, denn er bringt es noch m ehr
fach, so in der in Dresden befindlichen Opferung Isaaks und in
dem Ma donn enbild aus dem Jahre 1524. Dr. o.
KIEFER.
* No. 6032 a. a. o.
BACCHUS
Athen und die
can) eine Reihe
Jünglingstypen
jugendlicher
Tribuna sogar
lung vollendet
Knabenideale
worden ist, so
Raffaelvorallem
der dem Ewig-
seinen Madon-
sten Ausdruck
und in seinen
einzigartiger
scheinbar ent-
ten Motiven und
geschaffen hat.
gleichzeitigen
darf von uns
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^LU^UA QuiJß A
8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
33/70
^
auch hier
o o AM RHEIN o o
AM RHEIN
\ l / i r reisten zusammen mit Andern
Zu Schiff hinunter den Rhein,
Es war ein seliges Wandern;
Doch waren wir selten allein.
S i e t r a t e n h e r a n , z u l a u s c h e n , —
D u l i e ß e s t n u r h i e r u n d d o r t
Mir fallen unter das Rauschen
D e s S tr om e s e i n h e i m l i c h e s W o r t .
I c h s p r a c h : „ B a l d t r e n n t u n s d i e R e i s e
O b h i e r w i r u n s w i e d e r s e h n ? "
„ D o r t v i e l l e i c h t e i n s t " — s a g t e s t d u le i se ,
I c h k o n n t e d i c h k a u m v e r s t e h n .
Wir flogen vorüber am Strande,
Der Dampf durchbrauste den Schlot,
Wie ein zorniger Neger die Bande
Wildschnaubend zu sprengen droht.
Und sie begannen zu preisen,
Wie schnell man sich heute bewegt,
Und wie das rührige Eisen
Man über die Straßen legt.
Als wollten zu Grabe sie tragen
Des Elends türmenden Wust,
Und wieder das Eden erjagen,
Den uralt bittern Verlust.
Es hat doch den rechten Fergen
Das Schifflein noch lange nicht,
S o l a n g e n o c h L i e b e v e r b e r g e n
S i c h m u ß w i e e i n S ü n d e r g e s i c h t
Noch lange nicht hat, Ihr Gesellen,
Das Eisen den rechten Guß,
W e n n si c h d i e L i e b e b e s t e l l e n
N o c h h i n t e r d i e G r ä b e r m u ß
So dacht ich und blickte verdrossen
Hinab in die rollende Flut;
D ic h u m ri ng te n D e i n e G e n o s s e n
Un d sch erz ten ; d i e h a t te n es g u t
115
8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
34/70
~ „ . •
1 ] Q O D D E R E I G EN E o o
Die Nacht war dunkelnd gekommen,
Da stiegen am Strande wir aus;
Ich folgte Dir stumm und beklommen
Von ferne bis an Dein Haus.
Und als Du noch einmal nickend
Verschwunden im schließenden Tor,
Stand ich eine Weile noch, blickend
Nach Deinem Fenster empor.
Ich schied von Deinem Quartiere
Und ging hinüber in meins,
Das lag im fernen Reviere
Am andern Ufer des Rheins.
Ich betrat mein trauriges Zimmer,
Und starrte unverwandt
Hinüber zum Kerzenschimmer,
Den mir Dein Fenster gesandt.
Die Lichter drüben am Strande
Erloschen nach und nach,
Doch wie zu traulichem Pfände
Blieb Deines immer noch wach.
Wie ich im einsamen Leide
Hinstarrte über die Flut:
Als wären gestorben wir beide,
Ward mir mit einmal zu Mut;
Als trennten uns weite Welten
Ward mir mit einem Mal,
Den Erdengram zu vergelten
Mit ewiger Sehnsucht Qual;
Als blinkte Dein Lichtlein, so ferne,
In meine Finsternis
Von einem entlegenen Sterne,
Der Dich mir auf immer entriß
Mir spielten, wie Tränendiebe,
Nachtwinde ums Augenlid,
Wie der Geist unglücklicher Liebe,
Der über die Erde zieht NIKOLAUS LENAU
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• • . • • «
_ ___
D O L B E L L
W VON GLOEDEN
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o o DOLABELLA o o
DOLABELLA*
\ \^eiß und blendend wie die Per len
Sind die Zähne Dolabellas,
Meines Lieblings. — Ach, wie schelmisch
Hinter feuchten, vollen, weichen
Sanft gewellten Purpurlippen
Sie zu mir herüberspähen
Und zu einem langen, süßen,
Liebetrunknen Kuß mich laden
Nun, so komm auch, Dolabella,
Komm in meine offnen Arme
Des Genusses Hoffnung wecken
Und dann täuschen — wäre grausa m
Sag selbst: soll die reife Traube
Die am schöngewachsnen Weinstock
Lockend hängt, vertrocknen, faulen?
Soll das Roß von edler Rasse
Nicht die Rennbahn stolz durchfliegen?
Soll der Demant in dem finstern
Schacht des Berges glanzlos schlummern?
Oder soll der schönste Bursche
Stabiäs — Nazaren er w erden ?
Und mit vorgebeugtem Kopfe
Scheu durch unsere Gassen schleichen?
Nein, bei Hermes, unserer Liebe
Treuem Schützer, nimmermehr
Laß uns, Dolabella, lieben
Treu und fest, solang die Jugend
Herrlich uns im Becher schäumt
Ge lt? Du lächelst — Deine Lippen
Locken gar so süß — o zögre
Länger nicht, mein Dolabella
Herzensguter, schönster Bursche,
Komm in meine Arme, komm
HADRIAN
Hadrian, Gedichte eines Heiden.
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37/70
DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTERATUR
G
estützt auf die neuesten wissensch aftlichen Erk enn tniss e
und Hy pothese n haben einige Schriftsteller der Lie b-
lingminne den Nachw eis zu erbringen versucht, daß
die größten Taten auf allen Gebieten des Kulturlebens
immer nur von Männern mit ausgeprägter hom oerotischer
Naturan lage ausgeführt word en sind. In diese r Hinsicht ist
ein Buch von Lu d w ig F re y * höchst beachtenswert. Frey
führt in einer Vorbem erkung an, daß die Lieblingm innend en
mit den N ormalgeschlechtlichen namentlich auf dem G ebiete
der Kunst vollwertig rivalisieren könn en. Später glaubt er ab er
dem Lieblingminnenden den Vorrang einräumen zu dürfen.
„In seine r Natur verbindet er Produ ktivität und Rezeption.
Er sieht mit den Augen des M annes und denen des
W eibes zugleich. So wird das am Künstler geforderte hohe
Empfindungsvermögen in ihm zum Zaube rspiegel, mit
welchem derselbe Welt und Men schen erfaßt und sie in
jener Verklärung wieder strahlen läßt, die den unnennbaren
Reiz d er Kunst ausmacht . . . Er ist so recht geeignet,
Träger und Ausgan gspunkt für säm tliche Kunstzweige zu
werd en; für die anspru chslose sten wie für die höchsten.
Wenn wir von der heimlichen Tenden z dieser W orte ab -
sehen, so hat Frey—in^ seinem B uch aber doch ein höchst
schätzenswertes
/
'Material über das homoerotische Problem in
der Kunst und tftteratur zusamm engestellt un d uns den
o o DI
Schlüssel zum
Persönlichkeits
In der i
im homoerotis
eine wichtige
Naturspiel, das
eigenartigen Fi
heute noch da
gefunden hat.
Altertums, voi
Freundesl iebe
derselben von
läßt sich nicht
aber bei den 1
in späteren Ze:
liehe Betätigun
ihren eigentüm
Sänger der ml
Welt l i t e ra tur
(gest. 1389). S
unverhohlen
Zarteres a??
Weicheres . . .
Glühende Küs
Süßres al s mi
Wie Frey bem
dafür gesorgt,
Wohlanständig
Eine ähnliche
größten Geiste
im Interesse <
Wir wollen u
ressanten, hon
der Weltlittera
M i c h e l a n g e '
* Der Eros und die Kunst. Leipzig. Verlag von Max Spolir.
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38/70
o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTER TUR o o
2
unsicht ist
/ Schlüssel zum Verständnis der Werke vieler hervorragender
Persönlichkeiten gegeben.
In der Litteratur aller Zeiten und Länder hat der Eros
im homoerotischen Gewände (Freundesliebe-Lieblingminne)
eine wichtige Rolle gespielt. Die Freu ndes liebe ist ein
Naturspiel, das da, wo es sich frei entfalten durfte, seine
eigenartigen Früchte getragen hat. P e r s i e n war und ist
heute noch das Land, wo die Freundesliebe eine Heimstätte
gefunden hat. Ob und inwieweit die anderen Länder des
Altertums, vor allem Griechenland , in der Ausü bung der
Freundesliebe und in ihrer sittlichen Anschauung bezüglich
derselben von Persien beeinflußt worden sind, diese Frage
läßt sich nicht mit Bestimmtheit entscheid en. Jedenfalls hat
aber bei den Persern nicht nur im Altertum, sondern auch
in späteren Zeiten die Freundesliebe als eine durchaus sitt
liche Betätigung gegolten, und sie hat auch in der Litteratur
ihren eigentümlichen Reflex gefunden. De r große persisc he
Sän ger der männlichen Liebe und Schön heit, w elcher der
Weltlitteratur angehört, ist E d d i n M o h a m ed H afis -
8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
39/70
122
o o DER EIGENE o o
Viel Ärger haben S h a k e s p e a r e s Sonette den kommen-
tierungswütigen Philologen bereitet.* Die Tatsache, daß
dieselben an eine männliche Person gerichtet sind, läßt sich
nicht ableugnen, darum mußten sie eine Auslegung und Um-
deutung erfahren, damit das „sittliche" Renommee des
Dichters gew ahrt bliebe. Die Sonettenerklärer teilen sich
in zwei Hauptgruppen: die Suppositionstheoretiker und die
Fiktionstheoretiker. Die erste Gru ppe läßt den Dichter nicht
selbst, sond ern für eine andere Person sprechen. Dana ch
hätte Sha kesp eare die Sone tte im Auftrag od er „auf Be
stellung" eines hohen Gönners, wie etwa des Grafen South-
ham pton, Pem broke oder Essex, verfertigt. Niedriger läßt
sich die dichterische Tätigkeit eines Shakespeare kaum ein
schätz en Die Fiktion stheor etiker verfahren etwas klüger.
Sie lassen den Dichter gewisserm aßen als Experimentator
auftreten. Shakespeare versetzt sich aus wer weiß welchen
Gründen in die Situation eines liebenden Weibes und dichtet
als solches darauf lo s. D er W idersp ruch liegt auf der
Hand. Denn es wird keinem großen Dichter einfallen, auch
u
ein lyrisches Gedicht zu verfassen, ohne mit dem ganzen
•Herzen dabei zu sein, geschweige denn eine ganze Serie.
Wie unsere deutschen Sonettenerklärer (Delius, Gilde
meister, Gödeke u. a. m.), so verwirft auch ein englischer
Shakespeareforscher, Sidney Lee**, den autobiographischen
Charakter derselben. Lee gibt zu, daß wohl die meisten
von Shakespeares Sonetten auf den ersten Blick als Selbst
bekenn tnisse erscheinen, vergleicht man sie aber mit den
vielen tausen d S onetten, die im 16. Jahrh und ert in Fran k
reich, England und Italien verfaßt worden sind, so dürften
erstere nur noch als Geschicklichkeitsproben oder im besten
Fall als hervorragende Nachdichtungen in Betracht kommen.
„Von den Gedanken und Ausdrücken" sagt Lee, „die sich
* Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei ausdrücklich bemerkt, daß hier nur
der V e rf as se r der Sonette in Betracht kom mt; der Name (Shakespeare, Bacum u .a.)
tut nichts zur Sache.
** W ill iam S h ak es p ea re , sein Leben und seine Werke, von Si dn ey Lee.
Durchgesehen und eingeleitet von Prof Dr. Rieh. Wülker, Leipzig. Georg Wigand 1901.
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40/70
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o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTERATUR o o
123
in Daniels, Draytons, Watsons, Bownabes, Barnes, Constab-
les, Sidneys Sonetten vorfinden, machte Shak espeare in sei
nen Gedichten ebenso mit Bewußtsein und ohne Gewis sens
bisse Gebrauch, wie er Stücke und Romane seiner Zeit
geno ssen zu seinen Dramen benutzte. Bes onde rs an Dray-
ton lehnt er sich an. Ähnlichkeiten, wie sie zwischen Sh ake
spea res Sonetten und denen Petrarc as und Desp ortes zu
Tage treten, sind wohl durch sein Studium der englischen
Nachahm ungen jener Dichter hervorgerufen wo rden. Nach
der Theorie Lees verliert Shakespeare entschieden als lyri
scher Poet, gewinnt aber indirekt als Dramatiker, da er eben
nicht das, was ihn selbst bewegt, son dern die Gefühle und
Stimmungen Anderer zum Ausdruck gebrac ht hat. Betrach
tet man die Sonette nach dem Vorgang Lees als bloße Nach
dichtungen, dann wäre die Streitfrage überhaupt aus der Welt
geschafft. Nun gibt es aber für die Auffassung Lees nicht die
geringste tatsächliche Unterlage und damit fällt seine ganze
Theorie, wie die der deutschen Philologen, in sich zusammen.
Das Sonettenproblem ist aber sofort gelöst, wenn man
es nicht philologisch, sonde rn psycholog isch auffaßt. Sha ke
speare war ein seelischer Herm aphrodit, in dessen Natur
das intellektuell überwiegende Element des Mannes sich mit
dem sensitiven Element des W eibes harmon isch vereinigte.
In seinen lyrischen Dichtungen, den Sonetten, objektiviert sich
die Doppelnatur des Dichters mit elementarer Kraft. Shake
speare selbst war sich seiner doppelseitigen Beanlagung wohl
bewuß t. Im Sonett 144 charakterisiert er sich folgenderm aßen:
Two loves I have of comfort and despair,
Which like two spirits do suggest me still:
The better angel is a man sight fair,
The worser spirit a w o m an colour d' Hl.*
* In freier Übertragung:
Die Liebe ist für mich ein Doppelwesen,
Das mich beherrscht in Lust und Leid.
Als besseres Ich hab ich den Mann mir auserlesen,
Was schlecht und niedrig an mir ist, heißt Weib.
•
i
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41/70
124
o DER EIGENE o o
Wie die Sonette Shakespe ares, so sind auch die eines
anderen großen Künst lers und Dichters — M ic h e la n g e lo —
Gegenstand einer spitzfindigen ph ilologischen Auslegung ge
worden. Hier wie dort dieselbe Verkennung der Ursachen
und unmittelbar daraus hervorgehend: eine unendliche Reihe
von „Ehrenrettungsversuchen . Lange Zeit hat man die Lie
besgefühle, denen Michelangelo in seinen Sonetten Ausdruck
verliehen hat, überhaupt nicht verstanden ode r falsch au s
gelegt, indem man ihren Ursprung von dem überschwäng-
lichen Freundschaftskultus, der seiner Zeit eigen g ewesen
ist, abgeleitet hat. Den vagen Vermutungen b ezüglich des
Seelenlebens Michelangelos tritt Dr. Numa Prätorius in einer
Studie „Michelangelos Urningtum (Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen, II. Jahrgang) mit aller Entschiedenheit ent
gegen und sucht die homoerotische Veranlagung des Künstlers
aus seinen Sonetten festzustellen.
Schon zu Lebzeiten Michelangelos stellte ein Zeitgenosse,
Varchi, der Vorlesungen über se ine D ichtungen hielt, es als
eine Ta tsach e hin, daß eine Anzahl d erselb en an den jungen
Tomaso di Cavalieri, den intimen Freund Michelangelos, ge
richtet seien. Die Liebe zu je nem bezeich nete er als eine
„sokratisch e, voll platonischer Gedan ken. Nach Varchi
kommt, wie Scheffler,* den Präto rius hier a ls Q uelle be
nutzt, sagt, das System der Verdunkelung der Tatsachen auf.
Scheffler weist in seiner Schrift nach, daß die einzige Frau,
die im Leben M ichelangelos eine Rolle gespielt hat, die
Ma rquise Vittoria C olonna, nur in einem freundschaftlichen
Verhältnis zu ihm gestan den habe . Ferner stellt er fest, daß
die der Colonna gewidmeten Gedichte der Liebesleiden
schaft gänzlich entbehren, und nur die an Jünglinge ge
richteten Sonette echte erotisch e Gefühle w iederspie geln
(„de r in der Glut wah rer Leidenschaft sic h offenbarende
Eros ) .
Außerdem betont Scheffler, daß Pia tos W erke und
Gedanken das ästhetische Gefühl und die Liebesrichtung
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des großen A
dieser Liebe
Michelangelos
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Michelangelos
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wurde Michel;
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* Michelangelo, eine Renaissancestudie. Altenburg. Verlag von Geibel.
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42/70
o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITTERATUR o o
des großen Meisters beeinflußt hätten. De r letzte Grund
dies er Liebe ist aber nur in der konstitutionellen Anlage
Michelangelos zu suchen. Er selb er betont ja die Natürlich
keit seiner gleichgeschlechtlichen Liebe: „Und weiterhin
hand le ich in meiner Liebe ja auch unter einem Natu r
zwange, der mich entschuldigt."
Das wichtigste Freundschafts- resp. Liebesverhältnis
Michelangelos ist dasjenige zu dem jungen Cavalieri, das
32 Jahre bis zum Tode des M eisters anhält. Cavalieri
wu rde M ichelangelos Schüler, er war der einzige, desse n
Porträt er malte und der ihn in seinen künstlerischen Plänen
beeinflußt hat. In vielen Sonetten hat er sein er tiefen Leide n
schaft für Cavalieri ergreifenden Ausdruck gegeben:
Nr. 48.*
O seiger Tag, der einst Gewißheit bringt
Erbarmt Euch, Zeit und Stunde, Tag und Sonne:
Steht plötzlich still in Eurem ewgen Gange;
Daß mirs auch ohne mein Verdienst gelingt,
Zu schließen in die Arme voller Wonne
Den holden Freund, nach dem ich längst verlange
Außer zu Cavalieri erglühte Michelangelo auch zu
ande ren Jünglingen in leidenschaftlicher sinnlicher Liebe.
Febo di Poggio besingt er folgendermaßen:
Vor deiner Augen Pracht
Sinkt jeder Blick, der Trotz ist überwunden
Wenn einer je den Freudentod gefunden,
Geschiehts in solchen Stunden,
Wo Schönheit unterl iegt der Liebe Macht
Michelangelo ist, psychologisch betrachtet, eine der
interessantesten Erscheinungen der Lieblingminnenden, da er
bewußt seinem homoerotischen Naturtriebe nachhing, solange
er auf der Höhe seine r Schaffenskraft stand . Erst in seinen
letzten Lebensjahren, als die religiösen Stimmungen bei ihm
überwogen, fühlte er sich schuldbeladen und empfand tiefe
* Aus der Übersetzung von W al te r R ob er t T or n o w ; Ausgabe von Georg
Thon ret, Berlin. Spenersche Buchhandlung 1896.
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• . . . . . . .
—
~?
126
o o DER EIGEN E o o
Reue über seine mannmännliche Liebe. Sein Sonett Nr. 299
klingt in die wehmütigen Verse aus:
Mir fehlts an eigener Kraft, die fähig wäre,
Zu ändern, was ich trieb mein Leben lang,
Wenn du (Gott) nicht Ziel und Halt gibst meinem Gang,
Nicht dein Geleit mir gibst, das leuchtend — hehre
Für die Beurteilung der Naturanlage und der Liebes
richtung Michelangelos dürfte die Tatsache, daß der große
Meister keinen weiblichen Körper hat bilden können, von
nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Seine großen
Kompositionen atmen einen herben männlichen Geist, und
es überw iegt in ihnen der geda nkliche Inhalt, nicht das
erotische Element. We iblichen Gestalten bege gnen wir
selten in seinen W erken, und wo er sich ihrer als alle
gorische Figuren bedient, wie an dem Grabmal der Me-
diceer, nehmen dieselben einen männlichen Ausdruck an.
Dahingegen erkennen wir überall in seinen kraftvollen
Jünglingsgestalten den begeisterten Sänger der männlichen
Schönheit wieder.
Einen schätzenswerten Beitrag zur Psychologie der
Homoerotik und ihren Einfluß auf die litterarische Produktion
stellt das Tagebuch des Grafen Platen dar. Die Tagebuch
blätter geben uns einen interessanten Kommentar zu den
lyrischen Schöpfungen des unglücklichen D ich ters , der
freudlos dahinsiechte, weil das Odium der Verworfenheit
und L asterhaftigkeit auf ihm ruhte. Platen, der im Gegensatz
zu Shakespeare und Michelangelo seine mannmännliche Liebe
als einen Makel empfand, hatte nichts aus seinem Tagebuch
der Öffentlichkeit mitgeteilt. Es war lediglich für ihn be
stimmt, der einzige Freund, den er „die Schwäche des
menschlichen Herzen s" zu seinem Trost anvertrauen konnte.
Auch sein Freu nd, Dr. Pfeufer, dem er es im Jahre 1833,
als er zum letztenmal in Deutschland weilte, übergab, und
der Philosoph Schelling, der mit jenem zusammen die nach
gelassenen Manuskripte sichtete, stand von einer Veröffent-
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8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
44/70
o o DIE HOMOEROTIK IN DER WE LTLIT TERA TUR o o
27
lichung ab. Später entschloß sich jed och Pfeufer zu einer
beschrän kten Herausgabe des Tag ebuc hes. Die erste voll-
ständige Ausgabe des ersten Bandes der Tagebücher des
Grafen Platen ist jedoch im Jahre 1896 verö ffentlicht*
Platen machte zwischen Freundschaft und Liebe einen
strengen Unterschied. Mehrere kameradschaftliche resp.
freundschaftliche Beziehungen knüpfte er auf der Kadetten-
anstalt an, so mit dem Grafen Fugger und dem Freiherrn
von Perglas. Über seine Freundschaft mit letzterem schrieb
er: „Ich liebe ihn zwar mit aufrichtiger Achtung; aber ich
glaub e, da ß ich bei diesem Grad e we rde stehen bleiben,
und daß der letzte Schritt, der mir noch mangelt, nie wird
getan w erden. In diesen Worten macht sich das Verlangen
nach Liebe: nach leidenschaftlicher, dem sexuellen Triebe
entsprin gend er Liebe schon beme rkbar. Er steht in einem
Alter, dem die Freundschaft nicht mehr genug ist, er muß
sich einem Wesen anschließen, um sich vor dem aufsteigenden
Leben süberdru ß zu bewahren. Und da entdeck t er — ein
Ge dank e, der ihn zittern macht — daß seine Neigung bei
weitem auf das eigene Ges chlech t geric htet ist. Anfänglich
glaubte er die ihm eingeborene Neigung korrigieren zu
können, und er versuchte darum ernstlich, sich in ein Weib
zu verlieben. „In diesem Zeitraum schien sich W eiberliebe
in mein Herz einzuschleichen . Ab er bald setzte er resigniert
hinzu: „Doch vielleicht war dies bloß Bedürfnis zu lieben .. .
Diese Neigung erlosch mit der Zeit; denn wo keine rechte
Hoffnung ist, da ist auch keine Liebe. Würde ich ihre
Bekanntschaft nicht gemacht haben, so wäre ich vielleicht
noch heute in sie verliebt.
Wo immer sich bei Platen eine gewisse Zuneigung zu
einem gewissen Individuum des anderen Geschlechts einstellte,
beruhte diese auf dem Gefühl der Pietät, daher bewegte er
sich lieber in der Gesellschaft älterer als jüngerer Frauen.
* Die Tagebü cher des Gra fen August von P la ten . Aus den Handschr i f ten des
Dich te r s he rausgeg eben von G. von Laubm ann und L. v . Sche f fle r . I . Band. S tu t tga r t
be i Cot ta .
8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
45/70
^ ^_~
J2 8 ° °
D E
R EIGENE o o
Alle Reflexionen über seine Natur kön nen ihn nicht über
die Tatsache der homoerotischen Empfindung hinwegtäuschen.
Seinem Schicksal kann er nicht entrinnen, und ehe er sich
dessen recht bewußt ist, bemächtigt sich seiner die erste
große Leidenschaft. (Friedrich von Brand enstein, Kavallerie
offizier in bay erische n Dien sten). Spä ter vertraute er seinem
Tagebuch an, daß er damals noch keine Idee hatte, daß ein
strafbares Verhältnis zwischen Männern existieren könne,
sonst würde ihn dieser Gedanke vielleicht zurückgeschreckt
haben. Es gelang dem unglücklich veranlagten Dichter
indessen nie, sich dem abgöttisch Geliebten zu nähern,
worüber sich seiner eine düstere Gemütsstimmung be
mächtigte, die oft in seinen Liedern einen ergreifenden
Wiederhall fand:
Wo ist das Lied, das mir verhallt
In Freuden sonst und Schmerz:
Und, ach, mir ist mein junges Sein
Schon eine alte Last
Platens Kampf ist, wie aus jedem Blatt seiner Selbst
bekenntnisse hervorgeht, ein furchtbarer gewesen, der
schließlich zu einer vollständigen Zerrüttung und zum Lebens
überdruß führen mußte. Nur die Überzeugung, die ihm
durch eine strenge Selbstkontrolle allmählich geworden war,
daß nämlich die Natur ihn mit einer gleichgeschlechtlichen
Neigung aus gesta ttet habe, hielt ihn noch aufrecht. „Zw itter
hafte Gefühle nährt die Liebe in meinem Busen, vor denen
mancher schaudern würde; aber Gott weiß es, meine
N e i gung i s t r e i n und gu t . "
Platens Selbstbekenntnisse zeugen davon, daß die homo
erotische Neigung ein unverschuldeter Seelenzustand ist und I A J
^
daß sie wohl vereinb ar ist mit Hoheit der Ge sinnu ng und cL ĵ-Lo
Größe der Anschauung.
Eine der interessantesten litterarischen Persönlichkeiten
neuerer Zeit ist der englische Dichter und Ästhetiker O s c a r
8/21/2019 Der Eigene : 1903-02
46/70
t - inirTiTtTr iTfii i i i
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rden war,
ker O s c a r
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o o DIE HOMOEROTIK IN DER WELTLITT ERATU R o o
129
W i l d e , der als ein Opfer seiner gleichgeschlechtlichen
Veranlagung am 30. November 1900 in Paris im Elend ver
storben ist. Wilde hat sich auf den versch iedenste n Gebieten
mit Erfolg betätigt. Im Alter von 21 Jahr en veröffentlichte
er bereits seine erste Gedichtsam mlun g. In schneller Folge
erschienen dann seine Prosasc hriften: „Der Röm er , „Die
Sph inx , „Dorian Gray . Auch als dramatischer Dichter ist
er mehrmals hervorgetreten. Seine Th eater stück e* „Der
Fächer der Lady Windermere , „Eine unbedeu tende Frau ,
„Ein idealer Ga tte u. a. zählten einst zu den Repertoir-
stücken der englischen Bühne.
Seine glänzend begonnene Laufbahn wurde jedoch
durch seinen „Fall jäh unterbro chen. Im Jahre 1895 wurde
Wilde w egen sträflichen Um gangs mit Pers one n desselben
Geschlechts angeklagt und auf Grund eines bloßen Indizien
beweises zu einer entehrenden zweijährigen Kerkerhaft ver
urteilt, die ihn seelisch und körperlich zu Grunde richtete.**
Von dem Zeitpunkt seiner Verurteilung an war Wilde ein
Geächteter, dieselbe Gesellschaft, die ihn einst verhätschelt
hatte, nahm plötzlich Anstoß an seinen Werken und ver
anstaltete einen allgemeinen Boykott gegen den Dichter.
Sein e Bücher w urden a us allen öffentlichen und privaten
Bibliotheken entfernt, seine Theaterstücke schleunigst vom
Repertoir gestrichen und der Vertrieb seiner Werke von
den Verlegern abgelehnt. Die ser litterarische Spek takel dürfte
in der neueren Geschichte einzig dastehen.
* Jetzt neu verlegt bei Max Spohr in Leipzig.
** In se iner Ver te idigungsrede vor dem Zentra l -Kr imina l -C our t äußer te s ich
Wild e über die gleichges chlechtliche Liebe folgen derm aßen : „D ie Liebe, die in unserem
Jahrh und er t ihren Namen nicht nennen darf die Zuneigung e ines ä l te ren Mannes zu
e inem jüngeren, wie s ie zwischen David und Jona th an besta nd, w ie s ie Pla to zur
Grund lage se iner Phi losophie machte und wie wir s ie in den Sone t ten Miche lange los
und Shak espe ares f inden — jene tiefe Neig ung, die eben so rein wie vollkommen ist
und die größten Künst le r zu ihren bedeu tensten W erken bege is te r t ha t — jene L iebe
wird in unserem Jahrhunder t so mißv ers tanden , daß s ie mich vor die Schranken des
Ger ichts geführ t ha t . . . S ie is t nur ge is t ig , und s ie bes teht a lle in zwischen e inem
älte