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Kapitel 3 Der Europ¨ aische Stabilit¨ ats und Wachstumspakt In diesem Jahr wird Deutschland zum vierten Mal in Folge die Defizitbegrenzung des Europ¨ aischen Stabilit¨ ats- und Wachstumspakts (SWP) ¨ uberschreiten. Nach den Verlaut- barungen des neuen Bundesfinanzministers Steinbr¨ uck muss davon ausgegangen werden, dass es auch in den Jahren 2006 und 2007 zu einer Verletzung des Stabilit¨ atspakts kom- men wird. Bei Beibehaltung des geltenden Regelwerks w¨ aren in diesem Fall eigentlich Sanktionen gegen Deutschland f¨ allig gewesen. Dazu wird es allerdings nicht kommen. Auf einer Sondersitzung im M¨ arz 2005 beschloss der ECOFIN-Rat Maßnahmen zur Verbesse- rung des Stabilit¨ ats- und Wachstumspakts“. Diese Vorlage wurde vom Europ¨ aischen Rat auf seiner Sitzung am 22. und 23. M¨ arz 2005 gebilligt. Die technische Umsetzung dieser Beschl¨ usse mit ¨ Anderungen in den Verordnungen des SWP steht noch aus, wird aber in urze erfolgen. In diesem Kapitel werden zun¨ achst die einschl¨ agigen Bestimmungen des EG-Vertrags angegeben, die geltenden Regelungen des SWP beschrieben und die aktu- elle Reformdiskussion - verbunden mit einer Einsch¨ atzung dieser Reformen - erl¨ autert. Danach geht es um m¨ ogliche ¨ okonomische Begr¨ undungen des SWP. Ein Abschnitt ¨ uber ogliche verschuldungsbedingte Inflationsanreize beschließt dieses Kapitel. 3.1 Die einschl¨ agigen Regelungen des EG-V und des SWP 3.1.1 Die Bestimmungen des EG-Vertrages ur den Beitritt zur Wirtschafts- und W¨ ahrungsunion waren die im Maastricht-Vertrag beschlossenen Konvergenzkriterien zentral. Kritisch waren dabei nur die verschuldungsori- entierten Konvergenzkriterien: eine Defizitquote von 3 v.H. und eine Schulden(stands)quote von 60 v.H. oder geringer. Die im Maastricht-Vertrag beschlossenen Obergrenzen f¨ ur Budgetdefizite und Schuldenstand der Mitgliedstaaten gelten auch weiterhin. Art. 104 bestimmt: Die Mitgliedstaaten vermeiden ¨ offentliche Defizite“. In Art. 104 Abs. 6 ist bestimmt: Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommis- sion..., ob ein ¨ uberm¨ aßiges Defizit besteht.“ 57

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Kapitel 3

Der Europaische Stabilitats und Wachstumspakt

In diesem Jahr wird Deutschland zum vierten Mal in Folge die Defizitbegrenzung desEuropaischen Stabilitats- und Wachstumspakts (SWP) uberschreiten. Nach den Verlaut-barungen des neuen Bundesfinanzministers Steinbruck muss davon ausgegangen werden,dass es auch in den Jahren 2006 und 2007 zu einer Verletzung des Stabilitatspakts kom-men wird. Bei Beibehaltung des geltenden Regelwerks waren in diesem Fall eigentlichSanktionen gegen Deutschland fallig gewesen. Dazu wird es allerdings nicht kommen. Aufeiner Sondersitzung im Marz 2005 beschloss der ECOFIN-Rat Maßnahmen zur

”Verbesse-

rung des Stabilitats- und Wachstumspakts“. Diese Vorlage wurde vom Europaischen Ratauf seiner Sitzung am 22. und 23. Marz 2005 gebilligt. Die technische Umsetzung dieserBeschlusse mit Anderungen in den Verordnungen des SWP steht noch aus, wird aber inKurze erfolgen. In diesem Kapitel werden zunachst die einschlagigen Bestimmungen desEG-Vertrags angegeben, die geltenden Regelungen des SWP beschrieben und die aktu-elle Reformdiskussion - verbunden mit einer Einschatzung dieser Reformen - erlautert.Danach geht es um mogliche okonomische Begrundungen des SWP. Ein Abschnitt ubermogliche verschuldungsbedingte Inflationsanreize beschließt dieses Kapitel.

3.1 Die einschlagigen Regelungen des EG-V und des SWP

3.1.1 Die Bestimmungen des EG-Vertrages

Fur den Beitritt zur Wirtschafts- und Wahrungsunion waren die im Maastricht-Vertragbeschlossenen Konvergenzkriterien zentral. Kritisch waren dabei nur die verschuldungsori-entierten Konvergenzkriterien: eine Defizitquote von 3 v.H. und eine Schulden(stands)quotevon 60 v.H. oder geringer. Die im Maastricht-Vertrag beschlossenen Obergrenzen furBudgetdefizite und Schuldenstand der Mitgliedstaaten gelten auch weiterhin. Art. 104bestimmt:

”Die Mitgliedstaaten vermeiden offentliche Defizite“. In Art. 104 Abs. 6 ist

bestimmt:”Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommis-

sion..., ob ein ubermaßiges Defizit besteht.“

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Artikel 104 EG-V

(1) Die Mitgliedstaaten vermeiden ubermaßige offentliche Defizite.

(2) Die Kommission uberwacht die Entwicklung der Haushaltslage und der Hohe desoffentlichen Schuldenstands in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Feststellungschwerwiegender Fehler. Insbesondere pruft sie die Einhaltung der Haushaltsdisziplin an-hand von zwei Kriterien, namlich daran,

a) ob das Verhaltnis des geplanten oder tatsachlichen offentlichen Defizits zum Brutto-inlandsprodukt einen bestimmten Referenzwert uberschreitet, es sei denn, dass

- entweder das Verhaltnis erheblich und laufend zuruckgegangen ist und einenWert in der Nahe des Referenzwerts erreicht hat

- oder der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorubergehend uberschritten wirdund das Verhaltnis in der Nahe des Referenzwerts bleibt,

b) ob das Verhaltnis des offentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt einenbestimmten Referenzwert uberschreitet, es sei denn, dass das Verhaltnis hinreichendrucklaufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nahert.

Die Referenzwerte werden in einem diesem Vertrag beigefugten Protokoll uber das Ver-fahren bei einem ubermaßigen Defizit im Einzelnen festgelegt.

(3) Erfullt ein Mitgliedstaat keines oder nur eines dieser Kriterien, so erstellt die Kommis-sion einen Bericht. In diesem Bericht wird berucksichtigt, ob das offentliche Defizit dieoffentlichen Ausgaben fur Investitionen ubertrifft; berucksichtigt werden ferner alle son-stigen einschlagigen Faktoren, einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haus-haltslage des Mitgliedstaats.

Die Kommission kann ferner einen Bericht erstellen, wenn sie ungeachtet der Erfullung derKriterien der Auffassung ist, dass in einem Mitgliedstaat die Gefahr eines ubermaßigenDefizits besteht.

(4) Der Ausschuss nach Artikel 114 gibt eine Stellungnahme zu dem Bericht der Kommissionab.

(5) Ist die Kommission der Auffassung, dass in einem Mitgliedstaat ein ubermaßiges Defizitbesteht oder sich ergeben konnte, so legt sie dem Rat eine Stellungnahme vor.

(6) Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission und un-ter Berucksichtigung der Bemerkungen, die der betreffende Mitgliedstaat gegebenenfallsabzugeben wunscht, nach Prufung der Gesamtlage, ob ein ubermaßiges Defizit besteht.

(7) Wird nach Absatz 6 ein ubermaßiges Defizit festgestellt, so richtet der Rat an den be-treffenden Mitgliedstaat Empfehlungen mit dem Ziel, dieser Lage innerhalb einer be-stimmten Frist abzuhelfen. Vorbehaltlich des Absatzes 8 werden diese Empfehlungen nichtveroffentlicht.

(8) Stellt der Rat fest, dass seine Empfehlungen innerhalb der gesetzten Frist keine wirksamenMaßnahmen ausgelost haben, so kann er seine Empfehlungen veroffentlichen.

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(9) Falls ein Mitgliedstaat den Empfehlungen des Rates weiterhin nicht Folge leistet, kannder Rat beschließen, den Mitgliedstaat mit der Maßgabe in Verzug zu setzen, innerhalbeiner bestimmten Frist Maßnahmen fur den nach Auffassung des Rates zur Sanierungerforderlichen Defizitabbau zu treffen.

Der Rat kann in diesem Fall den betreffenden Mitgliedstaat ersuchen, nach einem kon-kreten Zeitplan Berichte vorzulegen, um die Anpassungsbemuhungen des Mitgliedstaatsuberprufen zu konnen.

(10) Das Recht auf Klageerhebung nach den Artikeln 226 und 227 kann im Rahmen der Absatze1 bis 9 dieses Artikels nicht ausgeubt werden.

(11) Solange ein Mitgliedstaat einen Beschluss nach Absatz 9 nicht befolgt, kann der Ratbeschließen, eine oder mehrere der nachstehenden Maßnahmen anzuwenden oder gegebe-nenfalls zu verscharfen, namlich

- von dem betreffenden Mitgliedstaat verlangen, vor der Emission von Schuldverschrei-bungen und sonstigen Wertpapieren vom Rat naher zu bezeichnende zusatzliche An-gaben zu veroffentlichen,

- die Europaische Investitionsbank ersuchen, ihre Darlehenspolitik gegenuber demMitgliedstaat zu uberprufen,

- von dem Mitgliedstaat verlangen, eine unverzinsliche Einlage in angemessener Hohebei der Gemeinschaft zu hinterlegen, bis das ubermaßige Defizit nach Ansicht desRates korrigiert worden ist,

- Geldbußen in angemessener Hohe verhangen.

Der Prasident des Rates unterrichtet das Europaische Parlament von den Beschlussen.

(12) Der Rat hebt einige oder samtliche Entscheidungen nach den Absatzen 6 bis 9 und 11so weit auf, wie das ubermaßige Defizit in dem betreffenden Mitgliedstaat nach Ansichtdes Rates korrigiert worden ist. Hat der Rat zuvor Empfehlungen veroffentlicht, so stellter, sobald die Entscheidung nach Absatz 8 aufgehoben worden ist, in einer offentlichenErklarung fest, dass in dem betreffenden Mitgliedstaat kein ubermaßiges Defizit mehrbesteht.

(13) Die Beschlussfassung des Rates nach den Absatzen 7 bis 9 sowie 11 und 12 erfolgt aufEmpfehlung der Kommission mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gemaß Artikel205 Absatz 2 gewogenen Stimmen der Mitgliedstaaten mit Ausnahme der Stimmen desVertreters des betroffenen Mitgliedstaats.

(14) Weitere Bestimmungen uber die Durchfuhrung des in diesem Artikel beschriebenen Ver-fahrens sind in dem diesem Vertrag beigefugten Protokoll uber das Verfahren bei einemubermaßigen Defizit enthalten.

Der Rat verabschiedet einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhorung desEuropaischen Parlaments sowie der EZB die geeigneten Bestimmungen, die sodann dasgenannte Protokoll ablosen.

Der Rat beschließt vorbehaltlich der sonstigen Bestimmungen dieses Absatzes vor dem 1. Ja-nuar 1994 mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhorung desEuropaischen Parlaments nahere Einzelheiten und Begriffsbestimmungen fur die Durchfuhrungdes genannten Protokolls.

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Gemaß Art. 121 sind die Mitgliedstaaten u. a. verpflichtet,”eine auf Dauer tragbare

Finanzlage der offentlichen Hand, ersichtlich aus einer offentlichen Haushaltslage ohneubermaßiges Defizit im Sinne des Art. 104“ zu gewahrleisten.

Artikel 121 EG-V

(1) Die Kommission und das EWI berichten dem Rat, inwieweit die Mitgliedstaaten beider Verwirklichung der Wirtschafts- und Wahrungsunion ihren Verpflichtungen bereitsnachgekommen sind. In ihren Berichten wird auch die Frage gepruft, inwieweit die inner-staatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten einschließlich der Satzungder jeweiligen nationalen Zentralbank mit Artikel 108 und Artikel 109 dieses Vertrags so-wie der Satzung des ESZB vereinbar sind. Ferner wird darin gepruft, ob ein hoher Grad andauerhafter Konvergenz erreicht ist; Maßstab hierfur ist, ob die einzelnen Mitgliedstaatenfolgende Kriterien erfullen:

- Erreichung eines hohen Grades an Preisstabilitat, ersichtlich aus einer Inflationsrate,die der Inflationsrate jener - hochstens drei - Mitgliedstaaten nahe kommt, die aufdem Gebiet der Preisstabilitat das beste Ergebnis erzielt haben;

- eine auf Dauer tragbare Finanzlage der offentlichen Hand, ersichtlich aus eineroffentlichen Haushaltslage ohne ubermaßiges Defizit im Sinne des Artikels 104 Ab-satz 6;

- Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Eu-ropaischen Wahrungssystems seit mindestens zwei Jahren ohne Abwertung ge-genuber der Wahrung eines anderen Mitgliedstaats;

- Dauerhaftigkeit der von dem Mitgliedstaat erreichten Konvergenz und seiner Teil-nahme am Wechselkursmechanismus des Europaischen Wahrungssystems, die imNiveau der langfristigen Zinssatze zum Ausdruck kommt.

Die vier Kriterien in diesem Absatz sowie die jeweils erforderliche Dauer ihrer Einhaltungsind in einem diesem Vertrag beigefugten Protokoll naher festgelegt. Die Berichte derKommission und des EWI berucksichtigen auch die Entwicklung der ECU, die Ergebnissebei der Integration der Markte, den Stand und die Entwicklung der Leistungsbilanzen,die Entwicklung bei den Lohnstuckkosten und andere Preisindizes.

(2) Der Rat beurteilt auf der Grundlage dieser Berichte auf Empfehlung der Kommission mitqualifizierter Mehrheit,

- ob die einzelnen Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen fur dieEinfuhrung einer einheitlichen Wahrung erfullen,

- ob eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen fur dieEinfuhrung einer einheitlichen Wahrung erfullt,

und empfiehlt seine Feststellungen dem Rat, der in der Zusammensetzung der Staats-und Regierungschefs tagt. Das Europaische Parlament wird angehort und leitet seineStellungnahme dem Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs zu.

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(3) Unter gebuhrender Berucksichtigung der Berichte nach Absatz 1 sowie der Stellungnah-me des Europaischen Parlaments nach Absatz 2 verfahrt der Rat, der in der Zusam-mensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt, spatestens am 31. Dezember 1996 mitqualifizierter Mehrheit wie folgt:

- er entscheidet auf der Grundlage der in Absatz 2 genannten Empfehlungen des Ra-tes, ob eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen fur dieEinfuhrung einer einheitlichen Wahrung erfullt;

- er entscheidet, ob es fur die Gemeinschaft zweckmaßig ist, in die dritte Stufe einzu-treten;

sofern dies der Fall ist, bestimmt er den Zeitpunkt fur den Beginn der dritten Stufe.

(4) Ist bis Ende 1997 der Zeitpunkt fur den Beginn der dritten Stufe nicht festgelegt worden,so beginnt die dritte Stufe am 1. Januar 1999. Vor dem 1. Juli 1998 bestatigt der Rat, derin der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt, nach einer Wiederholungdes in den Absatzen 1 und 2 - mit Ausnahme von Absatz 2 zweiter Gedankenstrich -vorgesehenen Verfahrens unter Berucksichtigung der Berichte nach Absatz 1 sowie derStellungnahme des Europaischen Parlaments mit qualifizierter Mehrheit auf der Grund-lage der Empfehlungen des Rates nach Absatz 2, welche Mitgliedstaaten die notwendigenVoraussetzungen fur die Einfuhrung einer einheitlichen Wahrung erfullen.

In einem”Protokoll uber das Verfahren bei einem ubermaßigen Defizit“ sind dann die

folgenden Referenzwerte festgelegt:

• 3 v.H. fur das Verhaltnis zwischen dem geplanten oder tatsachlichen offentlichenDefizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP),

• 60 v.H. fur das Verhaltnis zwischen dem offentlichen Schuldenstand und dem BIP.

Grundlage fur die Berechnung sind die Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-gen (VGR). Das gesamtstaatliche Defizit setzt sich zusammen aus den Finanzierungssal-den der Haushalte von Bund, Landern und Gemeinden sowie der Sozialversicherungen.Fur die Frage, ob ein ubermaßiges Defizit vorliegt oder nicht, werden konjunkturelle Fak-toren ausgeblendet. Nur das nominale Defizit spielt hierbei eine Rolle. Einzige Ausnahmeist das Bestehen einer tiefgreifenden Rezession, welche definiert ist als Ruckgang des realenBruttoinlandsprodukts um mindestens 2 v.H. (innerhalb eines Jahres). Fur die Bewertungder Haushaltslage allgemein und insbesondere die Abgabe von Empfehlungen durch denECOFIN-Rat werden alle wirtschaftlichen Rahmenbedingungen herangezogen.

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3.1.2 Der Stabilitats- und Wachstumspakt (in der noch geltenden Fassung)

(Auf der Grundlage von und mit Auszugen aus:”Fragen und Antworten (FAQs) zum

SWP“, BMF, Fassung vom 20.06.2005.)

Grundlagen:

Eine stabilitatsorientierte Finanzpolitik ist Grundvoraussetzung, um im Zusammenspielmit der auf Preisstabilitat ausgerichteten Geldpolitik der EZB die Voraussetzungen furein starkes, nachhaltiges und der Schaffung von Arbeitsplatzen forderliches Wachstumzu gewahrleisten. Als Konkretisierung von Artikel 104 EG-Vertrag trat 1997 der Sta-bilitats- und Wachstumspakt in Kraft. Er ist ein zentrales Instrument zur Sicherung derokonomischen Basis fur das Funktionieren der Wirtschafts- und Wahrungsunion (WWU).Insbesondere Deutschland als traditionell stabilitatsorientiertes Land hat die Initiativefur den Pakt ergriffen und sich maßgeblich fur ihn eingesetzt. Aber auch andere kleinereMitgliedstaaten haben den Pakt nachdrucklich befurwortet. Alle Mitgliedstaaten habenihm zugestimmt.

Der Stabilitats- und Wachstumspakt besteht aus drei Rechtsgrundlagen:

• Der Entschließung des Europaischen Rates vom 17. Juni 1997 uber denStabilitats- und Wachstumspakt aus Anlass der Annahme des Vertrages von Am-sterdam.

• Der Verordnung Nr. 1466/97 uber den Ausbau der haushaltspolitischen Uber-wachung und der Uberwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken.

• Der Verordnung Nr. 1467/97 uber die Beschleunigung und Klarung des Verfah-rens bei einem ubermaßigen Defizit vom 07. Juli 1997.

Durch die Verordnung Nr. 1466/97 werden auf Grundlage des Artikel 99 EG-Vertrag dieVorgaben und das Verfahren der multilateralen Uberwachung der Finanzpolitik der Mit-gliedsstaaten prazisiert und das so genannte

”Fruhwarnsystem“ geregelt, um erhebliche

Abweichungen vom mittelfristigen Haushaltsziel zu vermeiden (so genannter”praventiver

Arm“ des Pakts).Die Verordnung 1467/97 des Rates erlautert und konkretisiert das Verfahren bei einem

”ubermaßigen Defizit“, gestutzt auf Artikel 104 EG-Vertrag (so genannter

”korrektiver

Arm“ des Pakts).

Im Marz 2005 wurde der SWP durch einen vom ECOFIN-Rat und dem EuropaischenRat verabschiedeten Bericht uber die

”Verbesserung der Umsetzung des Stabilitats- und

Wachstumspakts“ erganzt. Die genauen Formulierungen stehen noch aus.Rechtsgrundlagen fur den Pakt sind primarrechtlich die Vorschriften des Kapitels

”Wirt-

schaftspolitik“ des EG-Vertrags (Art. 98 bis 104). Bedeutsam ist ferner das MaastrichterProtokoll uber das Verfahren bei einem ubermaßigen Defizit, in dem die Referenzwerteprazisiert sind. Die Regelungen des SWP gehoren zum Sekundarrecht.

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Der”praventive Arm“: laufende Haushaltsuberwachung

Fur jeden Mitgliedstaat ergeben sich aus dem praventiven Arm des SWP vor allem dieVerpflichtungen zur

• jahrlichen Erstellung nationaler Stabilitatsprogramme oder von Konvergenzprogram-men;

• zur Ubersendung der so genannten Maastricht-Meldung jeweils im Fruhjahr und imHerbst.

Nationale Stabilitats- und Konvergenzprogramme

Die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten der Europaischen Union zur jahrlichen Vorlage vonStabilitats- bzw. Konvergenzprogrammen ergibt sich aus der o. g. Verordnung Nr. 1466/97.Die Verordnung begrundet dies wie folgt:

”... Es ist notwendig, dass die teilnehmenden

Mitgliedsstaaten mittelfristige Programme, nachstehend ’Stabilitatsprogramme’ genannt,vorlegen. Daruber hinaus mussen die wichtigsten Angaben, die derartige Programme zuenthalten haben, festgelegt werden.“Einzelheiten zu Form und Inhalt der Stabilitatsprogramme hat der ECOFIN-Rat im Okto-ber 1998 festgelegt. Diese Richtlinien wurden zuletzt durch den

”Verhaltenskodex (

”Code

of Conduct“) zu Form und Inhalt der Stabilitats- und Konvergenzprogramme“ vom 27.Juni 2001 erganzt. Der

”Code of Conduct“ wird im Rahmen der

”Reform“ des SWP

uberarbeitet; die Details sind noch unklar.

Die Stabilitats- und Konvergenzprogramme stellen die kurz- und mittelfristige Finanzpo-litik der einzelnen Mitgliedsstaaten dar. Folgende Inhalte sind durch die oben genannteVerordnung zwingend vorgeschrieben (Art. 3 der Verordnung 1466/97):

• Erreichung des mittelfristigen Ziels eines ausgeglichenen Haushalts oder eines Uberschussessowie der Anpassungspfad in Richtung auf dieses Ziel und die voraussichtliche Ent-wicklung der Schuldenquote;

• Hauptannahmen uber die voraussichtliche wirtschaftliche Entwicklung und uberwichtige okonomische Variablen;

• Darstellung der haushaltspolitischen und sonstigen wirtschaftspolitischen Maßnah-men;

• Untersuchung der Auswirkung von Anderungen bei den wichtigsten okonomischenAnnahmen auf die Haushalts- und Verschuldenslage;

• jahrliche Aktualisierung der Stabilitats- und Konvergenzprogramme.

Die Stabilitats- und Konvergenzprogramme sind jeweils im Herbst an die Kommissionzu ubermittelt. Sie werden Anfang des jeweils darauf folgenden Jahres in den relevantenEU-Gremien ausgewertet und diskutiert. Abgeschlossen wird der Prozess durch eine Stel-lungnahme des ECOFIN-Rates zu den einzelnen Stabilitats- und Konvergenzprogrammen.

Die”Maastricht-Meldung“

Im SWP wurde zur Uberwachung der im Vertrag verankerten finanzpolitischen Refe-renzwerte (insbesondere der 3 v.H. -Defizitgrenze) ein

”Meldesystem“ eingerichtet, damit

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Kommission und ECOFIN-Rat fruhzeitig auf Abweichungen der laufenden Haushaltsent-wicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten reagieren konnen. Neben den jahrlich vorzu-legenden Stabilitats- und Konvergenzprogrammen sind die Mitgliedstaaten verpflichtet,jeweils vor dem 1. Marz und 1. September die erwarteten Defizit- und Schuldenstande deslaufenden Jahres auf der Basis der bis zu diesem Zeitpunkt liegenden Daten an die EU zuubermitteln (

”Maastricht-Meldung“). Anhand dieser Daten wird gepruft, ob und wie die

in den Stabilitatsprogrammen dargelegte mittelfristige finanzpolitische Linie umgesetztwird.

Ausgeglichener Haushalt, Abbaupfad und strukturelles Defizit

Ein ausgeglichener Haushalt im Sinne des Stabilitats- und Wachstumspaktes bedeutet,dass sich Ausgaben und Einnahmen aller offentlichen Haushalte (Bund, Lander, Ge-meinden und Sozialversicherungen) insgesamt ausgleichen. Ein ausgeglichener Haushaltwird demnach auch dann erreicht, wenn Defiziten einer bestimmten Ebene entsprechendeUberschusse der anderen Ebenen gegenuberstehen.Grundlage fur die Berechnung sind die Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-gen (VGR), die wegen methodischer Unterschiede nicht unmittelbar mit den Daten ausden Budgets der einzelnen staatlichen Ebenen verglichen werden konnen. Die Wirtschafts-und Finanzminister haben sich darauf verstandigt, dass alle wesentlichen Einmaltransak-tionen (Beispiel: UMTS-Erlose) herausgerechnet werden. Deutschland hat daher - trotzdes Uberschusses, den die VGR wegen der UMTS-Erlose fur das Jahr 2002 ausweisen- in den letzten Jahren keinen ausgeglichenen Haushalt erreicht. Gleichwohl konnte dieSchuldenquote (d. h. die Gesamtverschuldung im Verhaltnis zum Bruttoinlandsprodukt)aufgrund der UMTS-Erlose in den Jahren 2000 und 2001 reduziert werden.Als Abbaupfad wird dann die Darlegung der (jahrlichen) nominalen Abbauschritte zurErreichung eines ausgeglichenen Haushalts, zur Reduzierung der Schuldenquote oder einerDefizitquote bezeichnet.Das

”strukturelle Defizit“ ist der Teil des tatsachlichen nominellen Defizits, der nicht

auf konjunkturelle Ursachen zuruckzufuhren ist. Ein allseits akzeptiertes Verfahren zurBerechnung konjunkturbereinigter

”struktureller“ Budgetsalden existiert allerdings nicht.

Zudem sind die schon die Schatzungen des Produktionspotentials einer Volkswirtschaft,die Ausgangspunkt der Berechnungen zum strukturellen Defizit bilden, mit betrachtlichenUnsicherheiten behaftet. Dies gilt fur Vorausschatzungen ebenso wie fur vergangenheits-bezogene Aussagen. Denn: Beim Produktionspotential handelt es sich um eine rein fiktiveGroße, deren Entwicklung in der Wirklichkeit nicht beobachtet werden kann. Das bedeu-tet: Alle Verfahren zur Berechnung des Produktionspotentials, zur Abbildung von Pro-duktionslucken und damit auch alle Verfahren zur Berechnung des strukturellen Defizitssind auf mehr oder minder willkurliche Annahmen angewiesen.Anzumerken ist, dass aus der Entwicklung struktureller Defizite keine mechanistischenSchlussfolgerungen hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Finanzpolitik ge-zogen werden konnen. Strukturelle Defizite konnen lediglich als Hilfsindikator verstandenwerden.

Der”korrektive Arm“: Defizitverfahren

Fruhwarnung

Auf der Grundlage der Maastricht-Meldungen der Mitgliedstaaten sowie der Bewertungendurch die Kommission und den Wirtschafts- und Finanzausschuss verfolgt der ECOFIN-

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Rat die Umsetzung der Stabilitatsprogramme, insbesondere um zu ermitteln, ob die Haus-haltslage von dem in Stabilitatsprogramm vorgesehenen mittelfristigen Haushaltsziel odervom entsprechenden Anpassungspfad erheblich abweicht oder abzuweichen droht. Stelltder Rat ein erhebliches Abweichen fest, so richtet er als

”fruhzeitige Warnung“ vor dem

Entstehen eines ubermaßigen Defizits gemaß Art. 104 Abs. 4 EG eine Empfehlung anden betreffenden Mitgliedstaat, die notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen. DieEntscheidung erfolgt im ECOFIN-Rat mit qualifizierter Mehrheit. Der in Art. 6 Abs. 2 derVerordnung 1466/97 genannte Begriff der

”fruhzeitigen Warnung“ und der Begriff

”Blauer

Brief“ werden in der offentlichen Debatte oftmals synonym verwandt. Dabei existiert dieBezeichnung

”Blauer Brief“ nur in Deutschland, vermutlich weil er an die Schreiben

”Ver-

setzung gefahrdet“ aus der Schule erinnern soll. Eine Fruhwarnung gegenuber Deutschlandwurde bisher nicht ausgesprochen.

DefizitverfahrenDas Initiativrecht zur Einleitung des Defizitverfahrens liegt bei der EU-Kommission. Not-wendig sind belastbare Hinweise auf ein tatsachliches Erreichen bzw. Uberschreiten der3v.H.-Defizitgrenze. Auf der Grundlage eines Berichts der Kommission nach Art. 104 Abs.3 sowie einer Stellungnahme und Empfehlung an den Rat nach Art. 104 Abs. 5 entscheidetder ECOFIN- Rat, ob ein

”ubermaßiges Defizit“ im Sinne des Artikels 104 EG-Vertrag

besteht. Ein Defizitverfahren lauft folgendermaßen ab:

1. Schritt: Die Kommission erstellt einen Bericht, in dem sie die Hintergrunde fur die Ein-leitung des Defizitverfahrens erlautert (Art. 104 Abs. 3). Der Bericht wird im Wirtschafts-und Finanzausschuss (WFA) beraten. Zugleich gibt der WFA eine Stellungnahme ab. Die-se Stellungnahme wird an den Rat der Wirtschafts- und Finanzminister weitergeleitet.

2. Schritt: Der ECOFIN-Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit uber das Besteheneines ubermaßigen Defizits (Art. 104 Abs. 6). Gleichzeitig mit einer positiven Beschlussfas-sung richtet der Rat Empfehlungen an das betreffende Mitgliedsland (Art. 104 Abs. 7)und setzt ihm eine Frist von hochstens 6 Monaten fur das Ergreifen wirksamer Maß-nahmen (Art. 3 Abs. 4 der VO 1467/97). Ferner wird eine Frist fur die Korrektur desubermaßigen Defizits gesetzt. Diese Korrektur sollte in dem Jahr erreicht werden, das aufdie Feststellung des ubermaßigen Defizits folgt.

3. Schritt: Das Land hat nun innerhalb der gesetzten Frist Zeit, wirksame Maßnahmenzu ergreifen. Wird den Empfehlungen durch den Mitgliedstaat nicht gefolgt, so stellt derRat dies fest und veroffentlicht ggf. seine Empfehlungen (Art. 104 Abs. 8).

4. Schritt: Innerhalb eines Monats nach der Feststellung kann der Rat den Mitglied-staat mit der Maßgabe in Verzug setzen, innerhalb einer weiteren Frist von 2 MonatenMaßnahmen zur Sanierung des erforderlichen Defizitabbaus zu treffen (Art. 104 Abs. 9).

5. Schritt: Falls das betreffende Land diesem Beschluss nicht Folge leistet, so kann derRat wahlweise oder kumulativ folgende Maßnahmen ergreifen:

- von dem Mitgliedsland wird verlangt, vor der Emission von Schuldverschreibungenund sonstigen Wertpapieren vom Rat naher zu bezeichnende zusatzliche Angabenzu veroffentlichen;

- die Europaische Investitionsbank wird ersucht, ihre Darlehenspolitik gegenuber demLand zu uberprufen;

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- von dem Mitgliedstaat wird eine unverzinsliche Einlage bis zur Korrektur des uber-maßigen Defizits verlangt;

- es werden Geldbußen in angemessener Hohe verhangt.

Die Uberschreitung bzw. Unterschreitung der Referenzwerte ist fur die Einleitung, bzw.Beendigung des Defizitverfahrens entscheidend.

Strafzahlungen

In der Verordnung Nr. 1467/97 werden die Einleitung und Ablauf des Defizitverfahrenssowie die Art von moglichen Sanktionen naher geregelt. Strafzahlungen erfolgen nur dann,wenn ein Land dem Beschluss des ECOFIN-Rates zum Defizitabbau nicht folgt. In derRegel wird als Sanktion eine unverzinsliche Einlage verlangt, deren Hohe bei fortgesetztemFehlverhalten im Laufe des Verfahrens ansteigt. Die Einlage darf jedoch nicht 0,5 v.H. desBruttoinlandsprodukts uberschreiten. Zwei Jahre nach dem Sanktionsbeschluss wandeltsich die Einlage in der Regel in eine Geldbuße um, wenn der betreffende Mitgliedstaatdem Beschluss des Rates immer noch nicht Folge geleistet hat. Unverzinsliche Einlagenwerden zuruckgezahlt, wenn der Referenzwert unterschritten wird, bzw. das Land denEmpfehlungen des Rates Folge leistet. Strafzahlungen beziehen sich sowohl auf die Hohedes Bruttoinlandsprodukts als auch auf die Hohe des ubermaßigen Defizits.

Eingeleitete Defizitverfahren

Vor allem wegen der schwachen Wirtschaftsentwicklung in der Europaischen Union inden letzten Jahren haben zahlreiche Mitgliedstaaten den Referenzwert fur das gesamt-staatliche Defizit in Hohe von 3 v.H. des Bruttoinlandsproduktes uberschritten. Seit demUbergang der EU in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Wahrungsunion hat die Kom-mission zu vielen Mitgliedstaaten einen Bericht gemaß Artikel 104 Absatz 3 des EG-Vertrages erstellt und damit ein Defizitverfahren eroffnet. Die Kommission bietet aufihrer Homepage einen Uberblick uber die Defizitverfahren mitsamt den dazugehorigenKommissions- und Ratsdokumenten.Deutschland befindet sich gegenwartig in Schritt 3 des Verfahrens. Die EU-Kommissionhat am 19. November 2002 das Defizitverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Der ECOFIN-Rat hat daraufhin am 21. Januar 2003 das deutsche Defizit als

”ubermaßig“ im Sinne des

Vertrages erkannt und Empfehlungen nach Art. 104 Abs. 7 zur Korrektur des ubermaßigenDefizits ausgesprochen. Am 25. November 2003 lehnte der ECOFIN-Rat die Empfehlun-gen der Kommission ab, auf Basis der Artikel 104 Abs. 8 und 9 EG-Vertrag Deutschlandund Frankreich

”in Verzug zu setzen“ und damit eine neue Stufe im Defizitverfahren zu

eroffnen. Die Kommission hatte zuvor bestatigt, dass das von der Bundesregierung vorge-legte Konsolidierungspaket im Einklang mit den Empfehlungen des Rates vom 21. Januar2003 steht. Vor dem Hintergrund der am 25. November 2003 vom ECOFIN-Rat verab-schiedeten Schlussfolgerungen hat sich die Bundesregierung zur konsequenten Fortsetzungihres Konsolidierungskurses verpflichtet. Die EU-Kommission sah in diesem Vorgehen desRates einen Verstoß gegen den EG-Vertrag und verklagte den Rat am 27. Januar 2004 vordem Europaischen Gerichtshof (EuGH). In seinem Urteil hat der EuGH am 13. Juli 2004die Schlussfolgerungen des ECOFIN-Rates vom 25. November 2003 fur nichtig erklart. Erbegrundete dies mit einer Umgehung des Rechts der Kommission, dem Rat Empfehlungenzur Korrektur des ubermaßigen Defizits nach Art. 104 Abs. 7 EG-Vertrag vorzulegen. Die-se Feststellung des EuGH stellt klar, dass die Kommission allein berechtigt und zugleichverpflichtet ist, an mehrheitsfahigen Initiativen im Defizitverfahren mitzuwirken.

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Gleichzeitig ist die Kommission mit ihrem Antrag gescheitert, der Gerichtshof moge fest-stellen, dass das Ablehnen der Kommissionsempfehlungen zur In-Verzug-Setzung Deutsch-lands und Frankreichs durch den Rat rechtswidrig war. Das Urteil bestatigt, dass eineHandlungspflicht fur den Rat im Defizitverfahren nicht bereits dann ausgelost wird, wenndie Kommission Empfehlungen fur Ratsbeschlusse vorlegt. Der EuGH hat damit in sei-nem Urteil das Ermessen des Rates bestatigt und zugleich festgestellt, dass es keinenAutomatismus in den Defizitverfahren gibt. Zurzeit ruht das Verfahren. Wichtig fur denweiteren Verlauf des Verfahrens wird die Hohe des Defizits im Jahr 2005 sein.

3.1.3 Zur Reform des Stabilitatspakts

(Vgl. Auszug aus: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, April 2005)

3.2 Einige okonomische Begrundungen des SWP

Ein zentrales Ziel des Stabilitats- und Wachstumspakts ist es, zur Sicherung der Nach-haltigkeit der Staatsfinanzen beizutragen. Artikel 121 EG-Vertrag verpflichtet die Mit-glieder der Europaischen Wahrungsunion zu einer

”auf Dauer tragbare[n] Finanzlage der

offentlichen Hand, ersichtlich aus einer offentlichen Haushaltslage ohne ubermaßiges De-fizit“. Dieser Verpflichtung liegt die Pramisse zugrunde, dass eine gesunde Finanzlageerforderlich sei, um

”die Preisstabilitat zu fordern und die Bedingungen fur anhalten-

des Wachstum von Produktion und Beschaftigung zu verbessern“ (Verordnung (EG) Nr.1466/97).

Die Nachhaltigkeit der offentlichen Finanzen ist im Vertrag von Maastricht konkretisiertdurch eine Schuldenstandsquote von 60 v.H. in Relation zum nominalen Bruttoinlandspro-dukt; diese Quote entsprach dem EU-Durchschnitt im Jahr 1991. Nach Artikel 104 Absatz2 EG-Vertrag darf die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote nur dann uber dem Refe-renzwert von 60 v.H. liegen, wenn sie hinreichend rucklaufig ist und sich rasch genug demReferenzwert nahert. Wird ein jahrlicher nominaler Zuwachs des Bruttoinlandsproduktsvon 5 v.H. unterstellt, so ist eine Schuldenstandsquote von 60 v.H. mit einer Defizitquotevon 3 v.H. kompatibel. Eine geringere Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts erfordertzur Sicherung einer konstanten Schuldenstandsquote eine niedrigere Defizitquote.

Im Stabilitats- und Wachstumspakt ist das Kriterium der dauerhaften Tragfahigkeit deroffentlichen Finanzen nicht explizit quantitativ enthalten, sondern nur implizit an dem 3-v.H.-Defizitkriterium festgemacht. Der Stabilitats- und Wachstumspakt fordert lediglicheine geringe Koordinierung der Fiskalpolitiken der Mitgliedslander durch die Einhaltungder 3-v.H.-Obergrenze und durch den Prozess der multilateralen Haushaltsuberwachung.Er verzichtet auf weitergehende Festlegungen uber Hohe oder Zusammensetzung derStaatsausgaben oder Staatseinnahmen, uber die Qualitat der Altschulden, uber das Primar-defizit, uber den Schuldendienst oder die Hohe der impliziten Verschuldung und ihres Bei-trags zur Tragfahigkeitslucke. Aus der Forderung nach Tragfahigkeit der Staatsfinanzenist allerdings per se keine zwingende europaische Normsetzung abzuleiten. Es gibt jedocheine Reihe von Grunden, die einen europaischen Stabilitats- und Wachstumspakt nahelegt.

Vertrauens- und Selbstverpflichtungseffekte beim Ubergang in die Wahrungsunion warenein weiteres wichtiges Argument fur den Pakt. Die wirtschaftspolitischen Akteure sahen

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sich mit der Schaffung einer neuen Wahrung und einer neu gegrundeten Zentralbank ei-nem Vertrauensproblem ausgesetzt. Es musste der Offentlichkeit und den Finanzmarktenglaubwurdig vermittelt werden, dass die finanzpolitischen Konsolidierungsanstrengungenim Vorfeld der dritten Stufe der Europaischen Wahrungsunion von Dauer sein wurden.Ohne Regeln zur Sicherung einer soliden Finanzpolitik fallt es auch einer unabhangigenNotenbank schwer, geringe Inflationsraten und eine stabile Wahrung zu gewahrleisten.Der Pakt diente dazu, die Besorgnis vor einer instabilen Wahrung dadurch abzumildern,dass der Verpflichtung der Notenbank zur Wahrung der Preisniveaustabilitat eine Selbst-verpflichtung der Mitgliedstaaten der Wahrungsunion auf eine solide Finanzpolitik an dieSeite gestellt und institutionell auf der Gemeinschaftsebene verankert wurde. Vor demHintergrund der bevorstehenden Erweiterung der Europaischen Union haben diese Argu-mente nichts an Aktualitat verloren.

Eine wichtige okonomische Begrundung fur die Notwendigkeit eines Pakts auf europaischerEbene besteht in der Vermeidung externer Effekte. Diese konnen als Zinsexternalitatenin einer Wahrungsunion daraus resultieren, dass die einzelnen Mitgliedslander die Ko-sten ihrer durch Schuldenexpansion bedingten hoheren Kreditrisiken nicht selbst in vol-lem Umfang tragen mussen, sondern in Form eines Anstiegs der Zinsen fur den gesam-ten Euro-Raum auf die anderen Mitgliedslander teilweise uberwalzen. Der Wegfall vonWahrungsrisiken reduziert im Vergleich zu einem Regime nationaler Wahrungen denAnreiz, ubermaßige Defizite zu vermeiden, da im Euro-Raum nur Bonitats- und Liqui-ditatsrisiken einen Risikozuschlag auf den Zinssatz rechtfertigen. Inwieweit sich diese Zu-schlage auf die nationale Ebene beschranken oder sich in hoheren langfristigen Zinsen furden Euro-Raum insgesamt widerspiegeln, hangt von der Glaubwurdigkeit eines Haftungs-ausschlusses ab. Artikel 103 EG-Vertrag sieht vor, dass fur die Verbindlichkeiten einerKorperschaft innerhalb der Europaischen Union weder die Europaische Union noch dieMitgliedstaaten haften. Ist dies nicht glaubwurdig, konnen die Finanzmarkte den einzel-nen Landern keine unterschiedlichen Bonitatsrisiken zuordnen, und es wurde aufgrund derubermaßigen Defizite einzelner Lander das Zinsniveau im Euro-Raum insgesamt steigen.

Schließlich soll der Pakt vermeiden, dass es innerhalb der Wahrungsunion zu einem Span-nungsverhaltnis zwischen nationalen Kompetenzen in der Finanzpolitik und der gemein-samen europaischen Geldpolitik kommt. Durch den Abbau von Staatsdefiziten und dieEindammung der Schuldendynamik schutzt der Pakt die Europaische Zentralbank davor,dass die Finanzpolitik zur Minderung schuldenbedingter Zinsbelastung bei der Geldpo-litik Zinssenkungen einfordert. Damit erganzt der Pakt den Vertrag von Maastricht, derden direkten Ankauf von Staatsschuldpapieren durch die Europaische Zentralbank aus-schließt und in Artikel 108 der Europaischen Zentralbank in hohem Maße eine formaleUnabhangigkeit zur Wahrung der Geldwertstabilitat zubilligt. Eine unmittelbare Ein-flussnahme eines Landes auf die geldpolitischen Entscheidungen der Europaischen Zen-tralbank erscheint wegen ihrer Unabhangigkeit somit unwahrscheinlich. Die Erfahrungender letzten Jahre zeigen, dass sich die Europaische Zentralbank Versuchen politischerEinflussnahme durchaus zu entziehen vermag. Dies schließt jedoch nicht aus, dass solcheProbleme in der Zukunft an Relevanz gewinnen konnten; der Stabilitats- und Wachs-tumspakt sichert die Europaische Zentralbank vor solchen Eventualitaten. Ein zweitesmogliches Problem ergibt sich aus der Glaubwurdigkeit des Haftungsausschlusses. DieAussicht auf eine Monetisierung der Staatsschuld erhoht das moralische Risiko beim sou-veranen Schuldner und steigert die Gefahr einer unsoliden nationalen Finanzpolitik. DerPakt soll dem vorbeugen, indem er durch die Sicherstellung einer soliden nationalen Fi-

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nanzpolitik eine stabilitatsorientierte europaische Geldpolitik erleichtert. Dieser Aspektwird im nachsten Abschnitt genauer behandelt.

Die Notwendigkeit von gemeinsamen finanzpolitischen Regeln in der Wahrungsunion wirdvon Gegnern und Befurwortern des Stabilitats- und Wachstumspakts anerkannt. Es stelltsich jedoch die Frage, wie diese gemeinsamen Regeln zielfuhrend institutionell zu ver-ankern sind. Dabei ist festzuhalten, dass die Tragfahigkeit staatlicher Finanzen fur sichgenommen auch durch nationale Regelwerke garantierbar erscheint. Die Vermeidung vonKonflikten mit der Europaischen Zentralbank und die Internalisierung europaweiter exter-ner Zinseffekte legen jedoch einen europaischen Pakt als Losung nahe. Schließlich fordernder Gruppenzwang im Ministerrat und die Uberwachung der Haushaltsplanung durch dieEuropaische Kommission die Anreize zur Starkung der Haushaltsdisziplin mehr, als natio-nale Regelwerke dies tun wurden. Zudem sind Sanktionen bei wiederholtem Verstoß gegendie Haushaltsdisziplin nur sinnvoll und glaubwurdig auf europaischer Ebene organisierbar.

Anders als nationale Vorschriften wird der Stabilitats- und Wachstumspakt in der Offent-lichkeit der betroffenen Lander haufig als externe Einmischung in die Finanzangelegen-heiten souveraner Staaten kritisiert. Die gegenteilige Sicht ist aber angebracht: Der Paktschutzt finanzpolitisch verantwortungsvoll handelnde Staaten und die Europaische Zen-tralbank vor den Folgen einer unverantwortlichen Haushaltspolitik in Teilen des Euro-Raums. Er verhindert negative externe Effekte. Dieses wichtige Ziel des Pakts wird inder offentlichen Debatte nicht ausreichend gewurdigt. Auch ist anzumerken, dass Haus-haltskonsolidierung unabhangig von der Existenz des Stabilitats- und Wachstumspakts imEigeninteresse der Lander geboten ist. In der Europaischen Wahrungsunion bestehen in-folge der demographischen Entwicklung in vielen Landern erhebliche Tragfahigkeitslucken,nicht zuletzt wegen der zu erwartenden hohen Belastungen zukunftiger Generationendurch die umlagefinanzierten Systeme der Sozialen Sicherung. Eine fortgesetzte Verschul-dungspolitik verscharft diese Probleme. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass solideoffentliche Finanzen und ein hohes Wirtschaftswachstum keine Gegensatze sind. Viel-mehr ist die zutreffende Philosophie des Stabilitats- und Wachstumspakts, dass mittel-bis langfristig solide offentliche Finanzen die Voraussetzung fur einen hoheren Wachs-tumspfad schaffen.

3.3 SWP und verschuldungsbedingte Inflationsanreize

Im Folgenden soll der Zusammenhang von Staatsverschuldung und Inflation in einem Mo-dell theoretisch untersuchen. Gerade in der Diskussion des Maastricht-Vertrages wurdeja argumentiert, dass von einer ubermaßigen Staatsverschuldung Anreize zu einer inflati-onaren Politik ausgehen. Diese Befurchtung ist einer der Grunde, warum Hochstgrenzenfur Defizite und Schulden in den Maastricht-Vertrag aufgenommen wurden.

Dieses Kapitel besteht aus drei Abschnitten. Zunachst werden wir die Budgetbeschrankungdes Staates in einem monetaren Modell (also einem Modell mit Inflation und Inflati-onserwartungen) ableiten. Im zweiten Abschnitt wird gezeigt, dass eine Regierung mithohem Schuldenstand in der Tendenz hohe Inflationsraten bevorzugen wird. Im drittenAbschnitt werden diese Erkenntnisse fur die Diskussion von Verschuldungsgrenzen ver-wendet.

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3.3.1 Das Staatsbudget in einem monetaren Modell

Wir wollen zeigen, dass Inflation unter bestimmten Bedingungen ein rein monetaresPhanomen ist. Notwendige und hinreichende Voraussetzung fur einen langfristigen An-stieg des Preisniveaus ist ein entsprechendes Wachstum der Geldmenge. Ausgangspunktunserer Uberlegungen ist die sog. Quantitatsgleichung des Geldes, welche die reale Geld-nachfrage Mt/Pt als Verhaltnis des realen Einkommens Yt definiert:

(3.1)Mt

Pt

= kYt,

wobei Mt die nominale Geldmenge im Zeitpunkt t ausdruckt und Pt das Preisniveau. ZurVereinfachung wird hier ein konstanter Kassenhaltungskoeffizient k unterstellt. In derRealitat wird er jedoch vom Zinsniveau i abhangen mit ∂k

∂i< 0, da bei hohem Zinsniveau

die Opportunitatskosten der Geldhaltung steigen (vgl. unten). Differenziert man (3.1)nach der Zeit so erhalt man (vgl. S.40)

M

M− P

P=

Y

Y.

Die Inflationsrate π ergibt sich damit aus der Differenz der Wachstumsrate der Geldmengeμ und der Wachstumsrate des realen Sozialproduktes n:

(3.2) π = μ − n

Wenn man jetzt noch annimmt, dass die Wachstumsrate des realen BIP, n, nicht von derInflationsrate abhangt und außerdem, dass die Geldmenge und ihre Wachstumsrate direktvon der Zentralbank gesteuert werden, haben wir unser Ergebnis: Bei gegebenem n hangtdie Inflationsrate vom Geldmengenwachstum ab. Dies ist naturlich nur das einfachsteModell, das fur unsere Zwecke aber ausreicht. Schließlich ist dies keine Veranstaltunguber Geldtheorie, sondern zur Staatsverschuldung.

Als nachstes wird die Beziehung zwischen dem Realzinssatz r und Nominalzinssatz ibetrachtet. Angenommen ein Investor uberlegt, ob er 1 e im Zeitpunkt t in Realkapital(also Maschinen) oder in Finanzkapital anlegen soll. Bei einer Finanzinvestition erhalt erin der zweiten Periode (1 + i) e. Wenn er dagegen in Realkapital investiert, so muss erin der ersten Periode 1/Pt Maschinen kaufen, die in der zweiten Periode einen nominalen

Ertrag von (1 + r)P e

t+1

Ptabwerfen, wobei P e

t+1 der erwartete Preis der Maschinen in derzweiten Periode ist. Im Gleichgewicht muss naturlich gelten

(1 + r)P e

t+1

Pt

= 1 + i

(1 + r)

(1 +

P et+1 − Pt

Pt

)= 1 + i

(1 + r)(1 + πe) = 1 + i

1 + r + πe + rπe = 1 + i.

Da man das Produkt rπe vernachlassigen kann, vereinfacht sich dieser Ausdruck zur sog.Fischer’schen Zinsgleichung

(3.3) i = r + πe.

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Der Nominalzins entspricht dem Realzins zuzuglich der erwarteten Inflationsrate (πe).Wenn die tatsachliche die erwartete Inflationsrate ubersteigt (π > πe ) kommt es zu einerUberraschungsinflation. Bei (korrekt) antizipierter Inflation schlagt sich diese in einemhoheren Nominalzins nieder.

Nach diesen Vorarbeiten konnen wir nun die eigentlich interessierende Budgetgleichungdes Staates betrachten. Im folgenden nehmen wir an, dass die Zentralbank ein Teil desStaates ist. Es gibt zwar gute Grunde dafur, der Zentralbank gegenuber den staatlichenBehorden Unabhangigkeit einzuraumen. Aber wir wollen ja gerade sehen, was passiert,wenn die Zentralbank nicht unabhangig ist und der Staat die Geldpolitik beeinflussenkann.Mit Seignorage werden allgemein die Ertrage aus dem Geldausgabemonopol bezeichnet.Bei konsolidierter Betrachtung von Staat und Zentralbank entspricht die Seignorage denEinnahmen, die dem Staat durch sein Monopol uber die Breitstellung von Geld zufließen.Fruher ergab sich die Seignorage aus dem Munz- oder Pragegewinn des Staates. DieKosten der Pragung (im wesentlichen der Preis fur die gekauften Metalle) waren niedrigerals der Wert der Munzen. Seignorage war dann einfach die Differenz zwischen dem Wertder in Umlauf gebrachten Munzen und den Kosten der Pragung. Heutzutage fallen dieKosten der Geldproduktion nicht ins Gewicht. Die Seignorage entspricht deshalb heuteder in Umlauf gebrachten zusatzlichen Zentralbankgeldmenge, die wir mit M bezeichnen.Dann ist M die Veranderung der Zentralbankgeldmenge, welche als Geldschopfungs- oderSeignorageeinnahmen in der Budgetbeschrankung des Staates zu berucksichtigen sind1.Bei Berucksichtigung von Inflation und Seignorage lautet die staatliche Budgetgleichungnun

G + iB = D + T + M

bzw.

(3.4) (G − T ) + iB = B + M.

Zu beachten ist, dass nun im Vergleich zu den bisherigen Modellen alle Großen als no-minale Großen zu interpretieren sind und die Staatsverschuldung mit dem Nominalzins iverzinst wird. Wie schon bisher sind wir auch hier weniger an den absoluten Schulden in-teressiert als vielmehr an den Schuldenquoten und ihrer zeitlichen Entwicklung. Da es sichin (3.4) um nominale Großen handelt, mussen wir auch durch das nominale SozialproduktPY dividieren:

G

PY− T

PY+ i

B

PY=

B

PY+

M

PY

g − τ + ib =B

B

B

PY+

M

M

M

PY

g − τ + ib − μk =B

Bb(3.5)

Jetzt drangt es sich geradezu auf, die Wachstumsrate des Schuldenstandes BB

durch die-jenige der Schuldenstandsquote zu ersetzen. Den entsprechenden Zusammenhang erhalt

1In der Literatur werden mehrere Seignorage-Konzepte unterschieden, vgl. Bofinger u.a. (1996, 50ff.).Man musste eigentlich auch noch zwischen Seignorage und Bundesbankgewinn unterscheiden. Das wurdehier aber zu weit fuhren.

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man, wenn die Beziehung

b =B

PY

nach der Zeit differenziert wird:

b =BPY − B(P Y + PY )

(PY )2

=B

B

B

PY− P

P

B

PY− Y

Y

B

PY

=B

Bb − πb − nb(3.6)

Substituiert man den Zusammenhang (3.6) in Gleichung (3.5), so erhalt man nach um-stellen

(3.7) b = g − τ + (i − π − n) b − μk.

Berucksichtigt man jetzt noch die Fisher’sche Zinsgleichung (3.3), erhalt man schließlich:

(3.8) b = g − τ + [r + (πe − π) − n] b − μk.

Die Veranderung der (realen) Schuldenquote ergibt sich damit aus der Primardefizitquote(g − τ) und der Differenz von effektivem Realzins r + (πe − π) und Wachstumsrate aufdie Staatsschuld abzuglich der Geldschopfungsquote μk.Anhand der Budgetgleichung (3.8) kann man sich jetzt klarmachen, warum der Staat einInteresse an einer lockeren Geldpolitik haben konnte. Konkret hat er ein Interesse daran,die Wachstumsrate der Geldmenge M zu erhohen, indem sich der Staat direkt bei derNotenbank verschuldet. Dies hatte namlich moglicherweise gleich zwei fur ihn positiveEffekte:

1. Bei konstantem k (was aber nur eine vereinfachende Annahme ist) fuhrt ein Anstiegvon M direkt zu hoheren Einnahmen aus Seignorage.

2. Durch hohere Geldschopfung steigt die Inflationsrate, vgl. (3.2). Wenn dies zu einerUberraschungsinflation fuhrt (π > πe), fuhrt dies zu einer Reduktion des effektivenRealzinses auf die Staatsschuld. Der Staat kann sich so mehr oder weniger eleganteines Teils der realen Schuldenlast entledigen.

Sofern die Anleger die staatlichen Inflationsanreize korrekt antizipieren (πe = π), wer-den sie eine entsprechend hohere Nominalverzinsung der Staatsanleihen fordern. Dannhaben sich zwar eine hohere Inflationsrate und hohere Nominalzinsen eingestellt, die realeSchuldenlast hat sich allerdings nicht vermindert. Dieser Zusammenhang soll im folgendenModell genauer untersucht werden.

3.3.2 Inflationsanreize durch hohe Staatsverschuldung

Nach diesen ausfuhrlichen Vorarbeiten kommen wir jetzt zur eigentlich interessierendenFrage. Zu prufen ist, ob bzw. unter welchen Umstanden die Befurchtung zutrifft, dass voneiner hohen staatlichen Verschuldung Inflationsgefahren ausgehen. Dazu wird zunachst einganz einfaches Modell entwickelt, in dem sich diese Befurchtung in der Tat bewahrheitet.

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Danach wird diskutiert, inwiefern durch die Bestimmungen des Maastricht-Vertrages -wenn sie beachtet werden - solche Inflationsgefahren mehr oder weniger ausgeschlossenwerden. Das Modell geht auf Illing (1997, S. 299-307) zuruck. Ahnliche Modelle finden sichaber auch im Zusammenhang mit der Diskussion der Konvergenzkriterien bei Dornbusch(1997) und De Grauwe (1996), auf die noch einzugehen sein wird.Wir betrachten eine geschlossene Volkswirtschaft ohne reales Wachstum (n = 0) undunterstellen, dass der finanzpolitische Entscheidungstrager eine in der Zeit konstante realeSchuldenquote (d.h. b = 0) anstrebt. Die staatliche Budgetgleichung (3.8) nimmt danndie Form

(3.9) τ = g + [r + (πe − π)] b − πk

an. Auch die reale Staatsausgabenquote g = G/PY soll gegeben sein. Die Notenbankwird weiterhin als Teil des Staates betrachtet. Als staatliche Instrumentvariablen stehendann die Inflationsrate zur Verfugung (die bei n = 0 gerade mit der Wachstumsrateder Geldmenge μ ubereinstimmt) sowie die Steuerquote τ . Implizit ist damit auch diestaatliche Nettokreditaufnahme (in der Relation zum nominalen BIP) festgelegt.Die beiden Instrumente π und τ werden so eingesetzt, dass die aus der Steuererhebung undder Inflation resultierenden gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsverluste minimiert werden.Es sei

(3.10) L(τ, π) = τ 2 + απ2

die zu minmierende staatliche Zielfunktion (L fur”Loss“). Dabei gilt

∂L

∂τ> 0

∂2L

∂2τ> 0

∂L

∂π> 0

∂2L

∂2π> 0.

Wie kann man sich diese Zielfunktion klarmachen? Schon im letzten Kapitel spielten dieWohlfahrtsverluste aufgrund verzerrenden Besteuerung eine wichtige Rolle. Diese Zusatz-lasten erklaren die Abhangigkeit der Verlustfunktion von τ . Konkret lasst sich zeigen,dass die Wohlfahrtsverluste (Zusatzlasten) der Besteuerung in etwa quadratisch mit demSteuersatz variieren. Eine ahnliche Argumentation gilt fur die Inflation. Intuitiv wirddies schon bei Betrachtung der staatlichen Budgetgleichung klar. Die Einnahmen ausGeldschopfung μk (= πk bei n = 0) kann man formal uminterpretieren als Steuereinnah-men mit Steuersatz μ (= π bei n = 0) und Bemesseungsgrundlage (in Relation zum BIP)k. Man spricht deshalb auch von einer Inflationssteuer. Wie andere verzerrende Steuernruft auch die Inflationssteuer Wohlfahrtsverluste hervor, die ebenfalls approximativ mitdem Quadrat des Steuersatzes (hier: der Inflationsrate) variieren.Man kann sich das einfach verdeutlichen, wenn man einen Kassenhaltungskoeffizientenunterstellt, der uber die Funktion k(i) mit ∂k/∂i < 0 vom Nominalzins abhangt. Letzterergibt die Opportunitatskosten der Geldhaltung an. Je hoher i, desto teurer die Geldhaltung.Abbildung 3.1 zeigt die Abhangigkeit der realen Geldnachfrage (in Relation zum BIP)vom Nominalzins (bei gegebenem Sozialprodukt) graphisch. Einem gegebenen Zinssatz i0entspricht die reale Geladnachfrage(quote) k0. Die Flache A kann als Konsumentenrenteinterpretiert werden, die mit einer Geldnachfrage k0 verbunden ist. Der Nominalzins i0ist dann als Preis der Geldhaltung anzusehen.

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Abbildung 3.1: Konsumentenrente bei Geldhaltung

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In der Ausgangssituation gebe es keine Inflation (π = 0); Real- und Nominalzinssatz stim-men uberein (i = r). Wenn jetzt durch den Staat eine Inflation induziert wird und dieseauch von den Anlegern erwartet wird, erhoht sich der Nominalzinssatz (bei gegebenem r)auf

i = r + πe = r + π.

Die Wohlfahrtsveranderungen dieser Politik ergeben sich aus der Differenz der Verande-rung der Konsumentenrente und den Seignorageeinnahmen (vgl. Bofinger u.a., 1996, S.76ff.). Abbildung 3.2 verdeutlicht diesen Zusammenhang graphisch.

Abbildung 3.2: Wohlfahrtskosten der Inflation

��

� � � � ���

��

Die Konsumentenrente vermindert sich um die Flache B + C. Die Flache B (= πk1) gibtdie staatlichen Einnahmen aus Geldschopfung an, die den privaten Haushalten auf die eineoder andere Weise wieder zufließen. Per Saldo verursacht die Inflation dann einen gesamt-wirtschaftlichen Wohlfahrtsverlust in Hohe des Dreiecks C (bei linearem Kurvenverlauf).

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Dessen Flache bestimmt sich durch

1

2π(k0 − k1) =

1

2πΔk =

1

(∂k

∂iΔi

)

=1

∂k

∂iπ =

1

2π2∂k

∂i

=1

2

k

iη π2 mit η =

∂k

∂i

i

k

Damit ist verdeutlicht, daß die Wohlfahrtsverluste der Inflation (in etwa) quadratisch mitder Inflationsrate variieren.Um sich den Verlauf der Indifferenzkurven der Zielfunktion klarzumachen wird (3.10)differenziert:

dL =∂L

∂πdπ +

∂L

∂τdτ = 0.

Daraus erhalt mandτ

dπ= −∂L/∂π

∂L/∂τ= −α

π

τ< 0

Die Indifferenzkurven sind damit konkav zum Ursprung, wobei man umso hohere Wohl-fahrtskosten hat, je weiter die Kurven vom Ursprung entfernt liegen. Je hoher der Ge-wichtungsparameter α ist, desto steiler verlaufen die Indifferenzkurven (warum?), vgl.Abbildung 3.3.

Abbildung 3.3: Die Zielfunktion der Regierung

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Das staatliche Optimierungsproblem besteht jetzt in der Wahl eines Finanzierungsmixesτ, π so, dass die Wohlfahrtsverluste unter der Nebenbedingung minimiert werden, dassdie staatliche Budgetbeschrankung eingehalten wird, d.h.

(3.11) min L(τ, π) u.d.NB. τ − g − [r + (πe − π)]b + πk = 0.

Dabei ist auf die folgende (kleine) Inkonsistenz bei diesem Ansatz aufmerksam zu ma-chen: Die Zusatzlasten der Besteuerung und der Inflation entstehen nur deshalb, weil die

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Haushalte mit Substitutionsprozessen reagieren, oder technischer, weil die Bemessungs-grundlagen mit τ bzw. π variieren. Aber genau dieser Zusammenhang wird im folgenden- zur Vereinfachung! - ausgeblendet. Wir nehmen an, dass k unabhangig von i ist undauch g oder b nicht mit τ variieren. Man konnte diese Abhangigkeiten berucksichtigen.Alles wurde etwas komplizierter, aber an der grundlegenden Botschaft wurde sich nichtsandern.

Wir gehen von folgendem Entscheidungsablauf aus:

1. Die Regierung kundigt eine bestimmte Geld- oder Steuerpolitik an.

2. Die Anleger bilden Inflationserwartungen.

3. Die Regierung fuhrt eine bestimmte Geld- und Steuerpolitik durch.

Die zentrale Frage lautet, wie glaubwurdig die Ankundigung einer bestimmten staatli-chen Politik ist. Dies fuhrt unmittelbar in den Problembereich der Zeitinkonsistenz vonfinanzpolitischen Maßnahmen. Darauf kann hier im Detail nicht eingegangen werden. Derinteressierte Leser sei auf Buchholz und Wiegard (1998) verwiesen.Wir nehmen zunachst an, dass die Ankundigung einer bestimmten Politik glaubwurdigist. Angenommen also, die Regierung kundigt eine bestimmte Politik τ ∗, π∗ an. Da dieAnkundigung glaubwurdig sein soll, wird sich auch von den Anlegern erwartet. Also giltπe = π∗. Welche Politik wird nun angekundigt? Dazu losen wir das folgende Minimie-rungsproblem

minπ∗ (g + rb − π∗k)2 + α(π∗)2

Als Losung erhalt man aus der Optimalbedingung

(3.12) π∗ =k

α + k2(g + rb).

Substituiert man nun (3.12) in die Nebenbedingung des Optimierungsproblems (3.11), soerhalt man als optimale Steuerquote

(3.13) τ ∗ =α

α + k2(g + rb).

Mit den Optimallosungen (3.12) und (3.13) kann man nun den Wert der Zielfunktionbestimmen:

(3.14) L(τ ∗, π∗) =α

α + k2(g + rb)2

Abbildung 3.4 verdeutlicht die Losung grafisch. Die Nebenbedingung des gesellschaftlichenOptimierungsproblems

τ = (g + rb) − πk

lasst sich als Gerade mit Steigung dτdπ

= −k und Achsenabschnitt (g + rb) darstellen.Im Punkt C ist die optimale Kombination von Steuer- (bzw. Verschuldungs-)politik undGeldpolitik gefunden.In der Literatur wird die Optimallosung (τ ∗, π∗) bisweilen als rationales Erwartungs-gleichgewicht mit Bindungsmechanismus (manchmal auch als Ramsey-Politik [nach Frank

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Abbildung 3.4: Rationales Erwartungsgleichgewicht mit Bindungsmechanismus

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� �

Ramsey]) bezeichnen. Die Regierung ist durch irgendwelche Mechanismen - etwa grund-gesetzliche Bestimmungen - an eine einmal angekundigte Politik gebunden. Tatsachlichexistieren solche Bindungsmechnismen kaum. Die Regierung muss sich nicht unbedingtan eine einmal angekundigte Politik halten. Sie kann die Burger tauschen, indem sie et-was ankundigt, dann aber etwas anderes macht. Der interessante Punkt ist, dass solcheTauschungsmanover - Steuerlugen, Verschuldungslugen, Inflationslugen - im Interesse derBurger liegen konnten.Angenommen, der Staat kundigt die Politik π∗, τ ∗ an und die Burger glauben dieseAnkundigung, erwarten also eine Inflationsrate πe = π∗. Wurde die Regierung dann immernoch π∗, τ ∗ wahlen? Die Antwort liefert die Losung der Optimierungsaufgabe

minπ

(g + [r + (π∗ − π)]b − πk)2 + α(π)2

mit π∗ = πe. Als numerische Losung erhalt man nun

π =k + b

α + (k + b)2[g + (r + π∗)b](3.15)

τ =α

α + (k + b)2[g + (r + π∗)b](3.16)

Substituiert man (3.15) und (3.16) in die Zielfunktion (3.10), so erhalt man als Wohl-fahrtsverlust

(3.17) L(τ , π) =α

α + (k + b)2[g + (r + π∗)b]2

Abbildung 3.5 zeigt diese Tauschungslosung grafisch. Die Steigung der der Nebenbedin-gung entsprechenden Geraden im τ − π− Raum ist jetzt durch dτ

dπ= −(k + b) gegeben

- sie verlauft steiler-, ihr Ordinatenabschnitt durch g + (r + π∗)b. Man beachte, dass derPunkt (τ ∗, π∗) auch auf der neuen Budgetgeraden liegen muss. (Warum?)Die neue Optimallosung (τ , π) weist eine hohere Inflationsrate aus als vorher, d.h. π > π∗.Man beachte, dass gilt

(3.18) L(τ , π) < L(τ ∗, π∗)

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Abbildung 3.5: Gleichgewicht bei Tauschung

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Die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsverluste sind in der Tauschungslosung also geringer(oder umgekehrt: die Wohlfahrt ist hoher) als in einem rationalem Erwartungsgleichge-wicht mit Bindungsmechanismus.Das sollte einem eigentlich zu denken geben: Die Regierung lugt ihre Burger an, aber diesestellen sich dadurch besser. Ist das also eine Art von Rechtfertigung fur jegliche Art vonRegierungsluge? Naturlich nicht!Wir wollen uns zunachst einmal verdeutlichen, warum die Tauschungslosung aus gesamt-wirtschaftlicher Sicht besser ist. Man sollte ja eher das Gegenteil erwarten. Durch dieUberraschungsinflation in Hohe von (π− π∗) reduziert der Staat seine reale Schuldenlast.Der effektive Zinssatz auf den Schuldenstand b reduziert sich durch die Uberraschungsinflation.Dies bedeutet zunachst eine Umverteilung von den Anlegern (die eine geringere Verzinsungals erwartet bekommen) zum Staat. Allerdings kann der Staat aufgrund der geringerenSchuldenlast bei gegebenem g die Steuerquote von τ ∗ auf τ senken. Durch Ruckgriff aufdas Konzept der Zusatzlasten wird klar, warum dies vorteilhaft ist. Wenn die Anleger eineInflationsrate π∗ erwarten, betragt die reale Geldnachfrage (als Anteil am BIP)

k∗ = k(r + π∗).

Mit gegebenen Inflationserwartungen liegt die reale Geldnachfrage fest. Die Inflationsrateπ wirkt jetzt wie eine Steuer zum Satz π auf die gegebene Bemessungsgrundlage k∗ . DieAnleger konnen nicht mehr substituieren (ihre Entscheidung ist ja bereits gefallen). DieInflationssteuer wirkt deshalb wie eine Lump-sum Steuer, die keine Zusatzkosten mit sichbringt.Das zusatzliche

”Aufkommen“ in Hohe des schraffierten Rechtecks in Abbildung 3.6 kann

dann zur Senkung der verzerrenden Steuern eingesetzt werden, mit der Folge, daß sich dieWohlfahrtsverluste insgesamt vermindern, wenn statt (τ ∗, π∗) die Politik (τ , π) bei festenErwartungen πe = π∗ gewahlt wird. Also doch eine Rechtfertigung von Inflations- bzw.Verschuldungs- bzw. Steuerlugen?Das Problem mit der Tauschungslosung ist, dass sich rationale Burger vom Staat nicht,jedenfalls nicht wiederholt, tauschen lassen werden. Sie werden vielmehr die Inflations-anreize antizipieren und bei ihrer Erwartungsbildung von vorne herein berucksichtigen,

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Abbildung 3.6: Steueraufkommen bei Uberraschungsinflation

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daß der Staat einen Anreiz hat, die Burger zu tauschen. Die unter diesen Annahmenzustande kommende Losung (τ , π) soll als zeitkonsistente Losung (oder als rationales Er-wartungsgleichgewicht ohne Bindungsmechanismus) bezeichnet werden. Sie ist dadurchcharakterisiert, daß die Regierung fur gegebene Erwartungen πe der privaten Anleger dieoptimale Steuerpolitik und Inflationspolitik uber die Losung von

minπ

(g + [r + (πe − π)]b − πk)2 + α(π)2

wahlt. Gleichzeitig wird erwarten die Anleger jedoch die”richtige“ Inflationsrate (d.h.

πe = π) welche sich im Gleichgewicht dann wie folgt errechnet:

π =k + b

α + k(k + b)[g + rb](3.19)

τ =α

α + k(k + b)[g + rb](3.20)

Als Wohlfahrtsverlust erhalt man damit

(3.21) L(τ , π) = (α2 + α(k + b)2)

(g + rb

α + k(k + b)

)2

Um sich die grafische Losung in Abbildung 3.7 klarzumachen, muss man zunachst er-kennen, dass mit steigenden Inflationserwartungen πe die staatliche Budgetbeschrankungimmer weiter parallel nach rechts verschoben wird. Fur jede Inflationserwartung lasst sichdann eine Losung τ(πe), π(πe), konstruieren, in der sich Indifferenzkurven und Budgetge-raden mit der Steigung −(k + b) tangieren, vgl. die Punkte D,E, F .Nun muss in jedem rationalen Erwartungsgleichgewicht aber die erwartete mit der tatsach-lichen Inflationsrate ubereinstimmen. Dies bedeutet, dass rationale Erwartungsgleichge-wichte auf der durch die Punkte C und F verlaufenden Budgetgeraden liegen mussen. Alsokommt als zeitkonsistente Gleichgewichtslosung nur der Punkt F in Frage. Damit sind wiraber in der schlechtesten aller Welten. Dadurch, dass die Anleger die Tauschungsversuche

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Abbildung 3.7: Rationales Erwartungsgleichgewicht ohne Bindungsmechanismus

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der Regierung antizipieren, werden sie einen entsprechend hohen Nominalzins auf Staats-papiere fordern. Der Staat kann sich seiner Schuldenlast nicht entledigen. Weil es in einemrationalen Erwartungsgleichgewicht nicht gelingen kann, den Realzins durch Tauschungzu senken, besteht der einzige Effekt darin, dass es aufgrund der verschuldungsbedingtenInflationsanreize zu einer ineffizient hohen Inflationsrate π > π > π∗ kommt. Und wegendτdπ

= −(k + b) in der Tauschungslosung und der zeitkonsistenten Losung, nehmen dieInflationsanreize mit der Hohe der Schuldenquote zu.

3.3.3 Inflationsanreize als Rechtfertigung der Verschuldungsgrenzen desMaastricht-Vertrages?

Damit konnte man meinen, dass diese Uberlegungen als Rechtfertigung fur eine Begren-zung der Staatsverschuldung im EWS dienen. Nun beruhen alle Ergebnisse auf der An-nahme, dass der Staat durch Zugriff auf die Geldmenge die Inflationsrate beeinflussenkann. Die Frage ist deshalb zunachst, ob die EZB wirklich unabhangig ist von politischenEinflussen. Eine genauere Betrachtung des Maastricht-Vertrages zeigt nun, dass sowohldirekt als auch indirekt eine staatliche Beeinflussung der Geldmenge ausgeschlossen wird.

So ist einmal auf Art. 107 EGV hinzuweisen, der die Unabhangigkeit der EuropaischenZentralbank (EZB) regelt:

Art. 107 EG-V (Weisungsabhangigkeit der EZB)

Bei der Wahrnehmung der ihnen durch diesen Vertrag und die Satzung des EZB ubertragenenBefugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die EZB noch eine nationale Zentralbank nochein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemein-schaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen.Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedstaatenverpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder derBeschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Auf-gaben zu beeinflussen.

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Art. 104 Abs. 1 EGV schließt daruber hinaus jegliche direkten Notenbankkredite aus:

Art. 104 EG-V (Uberziehungsverbot)

Uberziehungs- oder andere Kreditfazilitaten bei der EZB oder den Zentralbanken der Mit-gliedstaaten (im folgenden als

”nationale Zentralbanken “bezeichnet) fur Organe oder Einrich-

tungen der Gemeinschaft, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskorperschaften oderandere offentlich-rechtliche Korperschaften, sonstige Einrichtungen des offentlichen Rechts oderoffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerbvon Schuldtiteln von diesen durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken.

Diese Bestimmungen gehen noch uber das deutsche Haushaltsrecht hinaus, das in begrenz-tem Umfang zumindest kurzfristige Kassenverstarkungskredite zugelassen hatte. Mankonnte sich sogar fragen, ob hier nicht des Guten zuviel getan wurde. In jedem Fall durftedie Befurchtung damit auf recht schwachen Fußen stehen, dass es zu verschuldungsbeding-ten Inflationswirkungen kommt. Dornbusch (1997) bestatigt unsere Modellergebnissenund zieht vergleichbare Schlussfolgerungen uber die praktische Relevanz verschuldungs-bedingter Inflationsanreize.Als ein Fazit kann festgehalten werden, dass die Verschuldungsgrenzen des Maastricht-Vertrages unter Bezug auf mogliche Inflationsgefahren einer ubermaßigen Staatsverschul-dung nicht wirklich uberzeugend gerechtfertigt werden konnen.Aus einem ganz anderen Grund konnten harmonisierte Verschuldungsgrenzen allerdingssinnvoll sein. Dazu soll nach den Moglichkeiten und Konsequenzen einer exzessiven Ver-schuldungspolitik eines Mitgliedslandes innerhalb einer Wahrungsunion gefragt werden.Normalerweise wird der Marktmechanismus eine disziplinierende Funktion auf das Ver-schuldungsverhalten ausuben. Auf effizienten Kreditmarkten muss sich jeder Kreditneh-mer einer Bonitatsprufung unterziehen. Eine ubermaßige staatliche Kreditnachfrage, diedie Gefahr einer Zahlungsunfahigkeit, eines

”Staatsbankrotts “, in sich birgt, wird nur mit

einem entsprechenden landerspezifischen Risikoaufschlag auf den ansonsten einheitlichenZinssatz zu befriedigen sein. Eine solche Risikopramie, die mit dem bereits erreichtenSchuldenstand und der geplanten Neuverschuldung zunehmen wird, sorgt dann schon vonselbst fur eine Begrenzung der offentlichen Kreditnachfrage. Dies gilt allerdings dann nicht,wenn die Kreditgeber davon ausgehen konnen, dass ein Land im Falle einer offentlichenSchuldenkrise mit externer Hilfe der Partnerlander rechnen kann. In diesem Fall wurdebei der Kreditgewahrung namlich auch die Bonitat der Lander berucksichtigt, die impli-zit fur die Kredite eines anderen Landes haften. Im Extremfall wurde sich dann ein ein-heitlicher unionsinterner Risikoaufschlag herausbilden. Der Kapitalmarkt kann demnachnur dann eine wirksame Disziplinierungsfunktion ausuben, wenn ein glaubwurdiger Haf-tungsausschluss anderer Partnerlander vorliegt. Art. 104b EGV enthalt nun einen solchenHaftungsausschluss(

”No-bailout “) der Gemeinschaft oder eines anderen Mitgliedstaates:

Art. 104b EG-V (No-bailout)

Die Gemeinschaft haftet nicht fur Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oderlokalen Gebietskorperschaften oder anderen offentlich-rechtlichen Korperschaften, sonstige Ein-richtungen des offentlichen Rechts oder offentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und trittnicht fur derartige Verbindlichkeiten ein... Ein Mitgliedstaat haftet nicht fur die Verbindlich-keiten ... eines anderen Mitgliedstaates und tritt nicht fur derartige Verbindlichkeiten ein.

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Die relevante Frage lautet, ob dieser Haftungsausschluss auch glaubwurdig ist. Was wurdepassieren, wenn ein Mitgliedsland tatsachlich einmal in eine verschuldungsbedingte Zah-lungskrise geraten wurde? Naturgemaß kann uber diese Frage derzeit nur spekuliert wer-den. Kritische Beobacher sehen jedenfalls einen Konflikt zwischen dem Haftungsausschlussnach Art. 104b EGV einerseits und dem in Art. 2 EGV verankerten Solidaritatsprinzip2

bzw. dem in Art. 103a Abs.2 EGV spezifizierten Beistandsmechanismus im Falle außer-gewohnlicher und unverschuldeter Ereignisse.

Art. 103a Abs. 2 EG-V

Ist ein Mitgliedstaat aufgrund außergewohnlicher Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen,von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kannder Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaatunter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Gemeinschaft zu gewahren.

Literatur:

Bofinger, P., J. Reischle und A. Schachter (1996): Geldpolitik. Munchen.

Buchholz, W. und W. Wiegard (1998): Zeit(in)konsistente Steuerpolitik, in: A. Ober-hauser, Probleme der Besteuerung I, Berlin, 9-55.

Dornbusch, R. (1997): Fiscal Aspects of Monetary Integration, American Economic Re-view, PaP, May, S. 221-223.

Illing, G. (1997): Theorie der Geldpolitik. Eine spieltheoretische Einfuhrung, Berlin. (vorallem Kapitel 2 und 9)

2In Art. 2 EGV wird als Aufgabe der Gemeinschaft u.a. formuliert, ”die Solidaritat zwischen denMitgliedstaaten zu fordern “.

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