63
Page 1 ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Der Geist der Positronik

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

ATLAN 130 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 629

Der Geist der Positronikvon Kurt Mahr

Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftragder Kosmokraten zu erfüllen, scheint außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beimentscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftragsentzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst.

Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besorgen zu müssen,folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterteKämpfe verwickelt wird.

Schließlich, gegen Ende des Jahres 3807 Terrazeit, eskaliert die Auseinandersetzung zwischen Anti-ESund Anti-Homunk auf der einen und Atlan und den Solanern auf der anderen Seite in einem solchenMaß, daß die SOL den Sturz ins Nichts wagen muß. Das Generationenschiff gelangt dabei nachBars-2-Bars, in die aus zwei ineinander verschmolzenen Galaxien bestehende Sterneninsel.

In undurchsichtiger, gefährlicher Situation erweist sich Tyari als Retterin der Anterferranter, einerZivilisation, die durch die künstlich herbeigeführte Verschmelzung der Galaxien schweren Schadengenommen hat – wie auch andere Sternenvölker.

Um den Anterferrantern weiterzuhelfen und um seine eigenen Pläne zu fördern, fliegt Atlan schließlichnach Seleterf – und dort erwartet ihn DER GEIST DER POSITRONIK ...

Page 2

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Die Hauptpersonen des Romans:

Atlan - Der Arkonide geht nach Seleterf.

Tyari, Hage Nockemann und Blödel - Atlans Begleiter.

Yurrht - Stadthaupt von Seletan.

Teffernor - Zellenführer der »Erkenner des Wahren«.

Chodhpah - Ein merkwürdiger Prospektor.

Page 3

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

1.

Efatern spürte den kalten Hauch des Todes, der ihm aus dem finsteren Stollen entgegenwehte. Erverfluchte den Augenblick, in dem er Teffernors Plan mit lauter Stimme als »schlechthin genial« gepriesenhatte. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß Teffernor von vornherein entschlossen war, die Durchführungseiner Idee demjenigen zu übertragen, der sich am beifälligsten darüber äußerte. Die runde Antigravplatteschwebte langsam auf die Mündung des Stollens zu und schob sich mit der Vorderkante in eine Ritze, dieihr Stabilität verlieh. Efatern trat auf den steinernen Boden des Stollens. Der Lichtkegel seiner Lampe fuhran kahlen, feuchten Wänden entlang, wanderte seitwärts und schoß in den dunklen Schacht hinaus. Ersah, wie die Platte sich aus dem Ritz löste und aufwärts schwebte. Nur mit Mühe erinnerte er sich anTeffernors Worte:

»Sobald du den Stollen erreicht hast, kehrt die Antigravplatte nach oben zurück. Es könnte sein, daßOBO-eins in der Zwischenzeit die Lage im Schacht sondiert. Sähe er die Platte vor dem Stollenausgang,müßte er unweigerlich Verdacht schöpfen. Sobald du zurückkehren willst, gib das Signal. Wir schickendir die Platte hinab.«

So hatte Teffernor gesprochen, aber seine Worte bedeuteten für Efatern nur geringen Trost. Er fühlte sichvon der Oberwelt abgeschnitten. Aber Teffernors Taktik ließ ihm keine Wahl. So sehr ihn die Furchtauch schüttelte, es gab für ihn nur einen Weg: vorwärts. Er packte die Lampe mit der Rechten, um diebeweglichere Linke für die Waffe frei zu haben. Dann setzte er sich in Bewegung. Dieses war der Weg,der nach Teffernors Ansicht allen Schwierigkeiten aus dem Weg ging. Er war auf den Karten, die diesublunare Anlage der Mammutpositronik OBO-1 beschrieben, nicht verzeichnet. Wahrscheinlichstammte er aus der Zeit vor vielen hundert Jahren, als OBO-1 gebaut worden war. Die Arbeiter hattenihn angelegt. Also, schloß Teffernor, konnte OBO-1 von seiner Existenz nichts wissen. In diesem Stollengab es keine jener tödlichen Hindernisse, die überall sonst den Zugang zu den Kontrollräumen derPositronik verwehrten. Teffernor selbst hatte den Gang rein zufällig entdeckt. Und jetzt schickte erEfatern, ihn zu erforschen.

Efatern war in diesen Dingen erfahren. Seit die Erkenner des Wahren vor etlichen Jahren ihre erste Zelleauf Anterfs Mond Seleterf eingerichtet hatten, war er oft in Teffernors Auftrag auf gefährlichen Missionenunterwegs gewesen. Er kannte sich. Am Anfang war die Angst vor der Gefahr. Aber je mehr er sich inseine Aufgabe vertiefte, desto ruhiger und ausgeglichener wurde er. Diesmal aber verließ ihn die Furchtnicht. Im Gegenteil: Je weiter er vordrang, desto intensiver wurde sie. Es war, als ob sich ein fremderEinfluß in seinem Bewußtsein eingenistet hätte, der versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.Efatern schritt jedoch weiter. Vor ihm war der Stollen dann plötzlich zu Ende. Efatern blieb stehen. DerSchein seiner Lampe spielte durch die Leere eines großen, kreisrunden Raumes mit hoher Decke. Ererfaßte die gegenüberliegende Wand und enthüllte eine hohe, rechteckige Öffnung, jenseits derer derStollen sich fortsetzte.

Verbissen setzte der junge Anterferranter sich wieder in Bewegung. Er gelangte bis in die Mitte desgroßen Raumes, da machte er eine erschreckende Entdeckung. Die Lampe brannte noch; er konnte essehen, wenn er direkt in den Lichtkegel blickte. Aber ihr Strahl reichte nur noch zwei Schritte weit, alsgäbe es etwas in der Luft, das ihn verschluckte.

Page 4

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Er schrie auf. Da hörte er plötzlich aus dem Dunkel eine wispernde Stimme.

»Ich habe versucht, dich zu warnen, Narr. Warum bist du nicht umgekehrt?«

Efatern wandte den Kopf hierhin, dorthin, aber nirgendwo in dieser undurchdringlichen Finsternis waretwas zu sehen.

»Wer ... wer bist du?« stammelte er voller Entsetzen.

»Ich bin der Wächter. Ich achte darauf, daß kein Unberufener sich in diesen Hallen zu schaffen macht.«

Mit Efaterns Selbstbeherrschung war es zu Ende.

»Ich kehre um!« schrie er. »Ich will mit diesen Hallen nichts zu tun haben. Laß mich gehen ...«

»Es ist zu spät, Narr«, wisperte die Stimme unerbittlich.

»Was hast du vor?« kreischte Efatern. Er ließ die Lampe fallen und hob die Arme vors Gesicht. DieWaffe im Mittelgurt hatte er vor Angst vergessen. »Ich habe dir nichts getan. Laß mich ...«

Er verstummte, als vor ihm eine Säule gedämpfter Helligkeit entstand. Im Innern der Säule befand sicheine hochgewachsene Gestalt, um anderthalb Köpfe größer als Efatern. Der Pelz des Fremden leuchtetein grellen Farben, und die großen Augen strahlten ein kaltes, gefährliches Licht aus.

Die Gestalt näherte sich dem vor Schreck erstarrten Efatern.

Der Fremde hob die Arme und griff nach ihm. In diesem Augenblick verstand Efatern, wen er vor sichhatte. An der Oberwelt hatte er sich lustig gemacht über die, die flüsternd und hinter vorgehaltener Handvon dem unheimlichen Wesen sprachen, das durch die Tiefen des Mondes geisterte. Jetzt aber wußte er,daß es ihn tatsächlich gab – den Geist der Positronik.

»Obol ...«, ächzte er, als sich die krallenbewehrten Finger um seinen Hals schlossen. Das war der letzteLaut, den Efatern in diesem Leben von sich gab.

*

»Was haben wir zu befürchten?« sagte Teffernor verächtlich. »Dieser Fremde, der sich Atlan nennt undden ein übler Sternenwind nach Anterf geblasen haben muß, kommt nach Seleterf, um sich über dierenitente Positronik zu informieren. Glaubt ihr vielleicht, er könnte sie gefügig machen?«

Page 5

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Man sagt«, antwortete Visnjak behutsam, »daß er eigenartige Kräfte beherrscht.« »Pah, Kräfte.«Teffernor machte eine wischende Handbewegung. »Wir gehen ihm aus dem Weg. Er wird sich ein paarTage lang an OBO-eins vergebens die Zähne ausbeißen und dann wieder verschwinden.«

Noch gab Visnjak sich nicht geschlagen. »Atlan war an der Entlarvung Dwins maßgeblich beteiligt«, sagteer. »Ihm haben wir es in erster Linie zu verdanken, daß die Organisation der Erkenner zerschlagen wurdeund Narrm an die Macht kam. Was, wenn er nicht nur wegen OBO-eins nach Seleterf kommt? Was,wenn Atlan die Absicht hat, uns unschädlich zu machen?«

Teffernor stand auf. Sein Gesicht war verbissen.

»Du weißt, daß ich nicht gern an Dwin erinnert werde«, sagte der Zellenführer mit kalter Stimme. »Ernannte sich Bote des Wahren, in Wirklichkeit war er ein ganz fremdes Wesen. Mag sein Geistkörper inder Weltraumkälte erstarren! Aber die Botschaft des Wahren ist ewig, und wir müssen ihr weiterhinfolgen. Eines Tages werden wir den Sieg erringen, den der Wahre uns versprochen hat.« Visnjak sah ihnverdutzt an.

»Was hat das mit Atlan zu tun?« fragte er. »Nichts«, antwortete Teffernor abweisend. »Von Atlan habenwir nichts zu befürchten.« Um deutlich zu machen, daß er über dieses Thema nicht mehr zu sprechenwünsche, wandte er sich an das dritte Mitglied der Runde. Priparrhn, der Techniker, saß im Hintergrunddes Raumes vor einem mit Geräten beladenen Tisch und wachte über die Sicherheit der Verschwörer.

»Wie steht’s, Priparrhn?« rief Teffernor. »Rührt sich etwas?«

»Nicht in zweihundert Darn Umkreis«, antwortete der Techniker.

Teffernor sah sich um. Ein triumphierendes Lächeln spielte um seine schmalen Lippen, und diesilberweißen Tasthaare verkündeten seinen Stolz, indem sie steil in die Höhe strebten.

»War keine schlechte Idee, daß wir uns dieses Raumes bemächtigten, an den sich niemand mehr zuerinnern scheint, nicht wahr?« sagte er. »Auf diese Weise haben wir einen ständigen Beobachtungspostennicht mehr als dreißig Darn vom Hauptschacht der Positronik entfernt, und nichts entgeht uns, was auchnur entfernt mit OBO-eins zu tun hat.« »Es war eine geniale Idee«, antwortete Visnjak, der dieNotwendigkeit verspürte, sich bei Teffernor wieder ins rechte Licht zu setzen. »Es war eine verteufelteMühe, den geheimen Gang bis hierher vorzutreiben. Aber es hat sich gelohnt.«

»Die Platte kommt«, meldete Priparrhn. Teffernor fuhr herum.

»Die Platte?« bellte er. »Was heißt ›die Platte‹? Hat Efatern sie angefordert?« »Nein«, antwortete derTechniker. »Die Platte, auf der Efatern hinuntergefahren ist, ist schon längst wieder oben. Da kommt einezweite. Sie trägt eine Last.«

Page 6

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Teffernor trat an die Vorderwand des Raumes. Niemand konnte sehen, was er tat, aber plötzlichentstand in der Wand ein schmaler Spalt. Draußen lag ein hell erleuchteter, hallenartiger Raum. Er warrund, und als Decke diente ihm eine flache Kugel, die mit Leuchtplatten ausgelegt war. Mehrere Zugängemündeten in die Halle. In der Mitte des Raumes öffnete sich ein Loch von mehr als fünfzehn MeternDurchmesser. Das war der obere Ausgang des Schachtes, der zu den Anlagen von OBO-1 hinabführte.Ein Geländer von einem Meter Höhe, aus beweglichen Sektionen bestehend, umgab das Loch.

»Halt die Augen offen, Priparrhn«, gebot Teffernor dem jungen Techniker. »Beim geringsten Anzeichenvon Gefahr gibst du das Alarmzeichen.«

»Gemacht«, bestätigte Priparrhn. Teffernor und Visnjak zwängten sich durch den Spalt hinaus. Sie tratenans Geländer und blickten in den Schacht hinab. Nach einer Minute erschien in der unergründlichen,finsteren Tiefe ein blasser Fleck. Er wurde größer und deutlicher. Man erkannte den Umriß einerAntigravplatte. Die Kontur eines Körpers zeichnete sich gegen den hellen Hintergrund der Platte ab.Visnjak erschrak. Der Körper lag lang ausgestreckt und bewegte sich nicht. Die Platte kam heran,schwebte auf die Schachtwand zu und verankerte sich in einer Halteritze. Der Reglose war Efatern.Grauen packte Visnjak. Efaterns Augen starrten gebrochen ins Leere. Jemand hatte ihm die Gurgelaufgerissen. Der Angriff mußte überraschend gekommen sein, denn die Waffe stak noch, offenbarunbenutzt, im Mittelgurt. Teffernor schwenkte ein Stück des Geländers beiseite. Er zog den Toten vonder Platte und nahm eine oberflächliche Untersuchung vor. Die Antigravplatte löste sich inzwischen ausder Ritze und schwebte nach unten. Teffernor richtete sich auf.

»Wir wissen, wer das war«, sagte er. »Obolorn«, antwortete Visnjak dumpf. Teffernors Tasthaarezuckten zum Zeichen der Zustimmung.

*

Nachdenklich musterte der Arkonide die mit Kratern übersäte Oberfläche des fremden Mondes.Schroffe Gebirgszüge, hier und dort von den Einschlägen schwerer Meteore unterbrochen, zogen sichkreuz und quer durch die leblose Felseinöde. Weite, ebene und nur von wenigen kleinen Kraterndurchlöcherte Flächen zeugten von vulkanischer Tätigkeit, die sich in geologisch jüngerer Vergangenheitabgespielt und Teile der Oberfläche mit einem glatten Überzug aus Magma versehen hatte. Seleterf, derMond des Planeten Anterf. Merkwürdig, dachte Atlan, wie sehr er Luna gleicht. Während dieCHYBRAIN sich unter der geschickten Hand des Piloten Uster Brick rasch nach unten senkte, tauchteam Rand des Bildes eine blasenförmige Struktur auf, wanderte ins Bildinnere und hielt an, als sie denMittelpunkt der Videofläche fast erreicht hatte. Der Kurs der CHYBRAIN verlief jetzt senkrecht zurMondoberfläche.

»Seletan«, sagte Tyari. »Die einzige Stadt des Mondes.«

Während das Schiff an Höhe verlor, bemerkte Atlan eine Anzahl kleinerer Blasen, die sich in lockererAnordnung um Seletan gruppierten. Sie markierten die Orte, an denen der Abbau brauchbarerMineralien betrieben wurde. Denn das war, seit dem Ausfall der Positronik OBO-1, der einzige Zweck,dem Seleterf noch diente – die Bereitstellung von Rohstoffen für die anterferrantische Industrie. Früher,

Page 7

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

als OBO-1 noch funktionierte, hatte die Einwohnerzahl des Mondes über zwanzigtausend betragen. Jetztaber zählte Seletan nur noch fünftausend Seelen. Von den Technikern war ein Rumpfkontingentzurückgeblieben, das sich aus zwanzig gelangweilten Spezialisten zusammensetzte. Der größte Teil derEinwohnerschaft war im Bergbau beschäftigt, der Rest machte Bürokratie.

»Hafen Seletan an Kiibrajn«, bellte und zischte eine Stimme auf Anterferrantisch aus dem Empfänger.»Landet am markierten Ort.« Drunten, am Fuß des Gebirges, etliche Kilometer von der Energiekugel derStadt Seletan entfernt, begann ein grelles rotes Licht zu flackern.

»Wird gemacht«, brummte Uster Brick und überließ es seinem Translator, die entsprechenden Worte derortsüblichen Sprache zu finden.

Sie taten sich schwer mit der fremden Sprache. Sie beherrschten sie aufgrund intensiver Hypnoschulungin Schrift und gehörtem Wort. Für die Formulierung der anterferrantischen Zisch-, Schnalz- und Bellautewaren die Sprachwerkzeuge der Solaner jedoch denkbar ungeeignet. Beim Sprechen bedienten sie sichdaher der altgewohnten und zuverlässigen Translatoren, während Hören und Lesen sich ohne Hilfsmittelbewerkstelligen ließen. Ähnliche Schwierigkeiten hatten, mit umgekehrten Vorzeichen, auch dieAnterferranter. Die Verschandelung des Namens »Chybrain« bewies es.

Im Hintergrund der Kommandozentrale warteten Hage Nockemann und sein Roboter Blödel. Siebildeten zusammen mit Tyari Atlans Einsatzteam. Seine Absicht war, die Lage in der Stadt zunächst zusondieren. Erst wenn er wußte, wieviel Hilfe bzw. Widerstand er von der seletanischen Bevölkerung zuerwarten hatte, wollte er seine eigentliche Aufgabe in Angriff nehmen: die Rekonstituierung derMammutpositronik OBO-1.

Er erwartete auf Seleterf denselben Mischmasch einander befehdender ideologischer Gruppierungenvorzufinden, der auf der Mutterwelt Anterf geherrscht hatte, bevor Dwin entlarvt wurde und die Erkennerdes Wahren in der Bedeutungslosigkeit versanken. Es gab keinen Anlaß zu glauben, daß dieNormalisierung der Verhältnisse, die auf Anterf in vollem Gang war, schon auf Seleterf übergegriffenhätte. Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Interessengruppen hatte er vor, sich auf Tyarizu verlassen. Die beruhigende, suggestive Kraft, die die geheimnisvolle Frau auf die Anterferranterausübte, hatte ihm seit der ersten Begegnung mit diesen den Weg geebnet. Er war sicher, daß es aufSeleterf nicht anders sein würde.

Das flackernde rote Licht befand sich im nördlichen Drittel eines zweihundert Quadratkilometer großenFeldes, das den Raumhafen Seletan darstellte. Mehrere Mondfähren unbedeutender Größe standen überdie weite Fläche verstreut. Uster Brick landete die CHYBRAIN unmittelbar neben der Markierung.Nachdem die Aggregate ausgelaufen waren, breitete sich die geringe Schwerkraft des Mondes im Innerndes Schiffes aus. Sie betrug ein Fünftel des gewohnten Wertes. »Hafenkontrolle Seletan an Kiibrajn«,meldete sich eine anterferrantische Stimme. »Wir schicken euch einen Evakuierungsschlauch. Bezeichnetdie Stelle, an der er angelegt werden soll. Luftmischung achtundzwanzig Prozent Sauerstoff,zweiundsiebzig Prozent inert. Angenehm?«

»Sehr angenehm«, bestätigte Uster Brick. »Luftdruck 1045 Millibar, Temperatur dreiundzwanzig Grad.

Page 8

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Angenehm?«

»Angenehm.«

»Gut. Habt ihr sonst noch Wünsche?« Atlan trat an die Konsole.

»Wir brauchen Fahrzeuge. Stellt ihr sie uns zur Verfügung, oder sollen wir unsere eigenen benützen?«

»Negativ auf zweite Hälfte der Frage. In Seletan sind nur stadteigene Verkehrsmittel zugelassen. Wirschicken euch Wagen, soviel ihr braucht.«

»Schickt uns ein Fahrzeug für vier Personen, das genügt vorerst«, sagte Atlan. »Ich wünsche, dasStadthaupt zu sprechen.« »Yurrht? Ich werde ihm deine Bitte übermitteln, Fremder.«

Damit war das Gespräch beendet. Aus der Fläche des Landefelds stieg ein wirbelnder Nebelstreif. Erwurde länger und länger und schob sich, ohne den Kontakt mit dem Boden zu verlieren, auf dieCHYBRAIN zu. Uster Brick nahm hastig ein paar Schaltungen vor, die zur Folge hatten, daß rings umdie große Schleuse im unteren Drittel des Schiffs die bunten Markierungen aufleuchteten. Dann starrte ergebannt auf den Bildschirm. Der Nebelstreif hatte inzwischen die Form einer langgestreckten, hin und hertanzenden Windhose angenommen. Als die Schleusenlampen aufleuchteten, wurde die Bewegung deswirbelnden Trichters zielsicherer. Er schob sich ruckartig auf die markierte Schleuse zu.

»Donnerwetter«, staunte Uster Brick. »Sie machen das alles mit Energie.«

Draußen war das weiße, wirbelnde Gebilde zum Stillstand gekommen. Es war zu sehen, wie es unterdem Einfluß der einströmenden Luftmassen zuckte und sich zu einem Schlauch von mehr als acht MeternDurchmesser aufblähte. Sekunden später kam die Meldung der Hafenkontrolle:

»Evakuierungsschlauch steht. Ihr könnt die Schleuse öffnen. Das gewünschte Fahrzeug ist unterwegs.«

*

Kulia Aogi saß in ihrem Versteck und versuchte, die neue Lage zu analysieren, die sich durch dieLandung des fremden Raumschiffs auf Seleterf ergeben hatte. Eines stand von vornherein fest: Vorteilbrachten ihr die Fremden nicht. Seit vier Anterf-Jahren befand sie sich hier. Behutsam hatte sie sich anihre Aufgabe herangemacht, mit Sorgfalt und Bedacht einen Schritt nach dem anderen getan, wohlwissend, daß Ungeduld ihrem Vorhaben nur hinderlich sein könne.

Der Erfolg war nicht ausgeblieben. Stück für Stück hatte sie die störrische Riesenmaschine unter ihreKontrolle gebracht. Schritt für Schritt hatte sie die Mängel beseitigt, die aus Jahrzehnten derVernachlässigung resultierten. Es war ihr gelungen, bis an die Peripherie des nichtlöschbaren

Page 9

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Gedächtnisses vorzudringen und die Instruktionen zu lesen, die dort gespeichert waren. Seitdem wußtesie, wie die große Maschine früher funktioniert hatte. Von da an drehte es sich nur noch darum, eineMethode zu finden, wie das unlöschbare Basisprogramm durch ein anderes, von ihr selbst entwickeltes,ersetzt werden könnte. Wie lange würde das noch dauern? Im schlimmsten Fall sieben Jahre, hatte siegerechnet. Zeit spielte keine Rolle. Die Feindschaft zwischen den Völkern von Bars und Farynt warJahrhunderte alt. Wer den entscheidenden Schlag führen wollte, mußte in erster Linie Geduld besitzen.»Wir schicken die geduldige Kulia«, hatten sie im Prezzar-Mydonium gesagt, und ihre Antwort wargewesen: »Geduld habe ich schon; nur müßt ihr euch darum sorgen, daß mir das Leben nicht vor derGeduld ausgeht.« Denn wie alle Prezzarerhalter stand sie in hohem Alter, und obwohl sie sich körperlichund geistig gesund fühlte, konnte man nie wissen, wann der Zeitpunkt kommen würde, da sie in dieUnaussprechliche Weite abgerufen wurde. Mit der Maschine, soweit diese ihr zugänglich war, unterhieltsie ein fast freundschaftliches Verhältnis. Sie nannte sie »Qarsinoor«, was in der Sprache ihres Volkessoviel bedeutete wie »kleiner Diener«. Manchmal verbrachte sie Stunden in einem der Kontrollräume undunterhielt sich mit Qarsinoor, der wie ein organisches Wesen zu denken und zu sprechen vermochte.

Jetzt war mit einem Schlag alles anders geworden. Dem Fremden, der sich Atlan nannte, ging einwunderbarer Ruf voraus. Dank Qarsinoors Hilfe war Kulia über alles, was sich im Raumsektor Anterfabspielte, bestens informiert. Atlan kam nach Seleterf, um OBO-1 wieder in Betrieb zu nehmen. Es hatteauf Anterf eine Art Revolution gegeben. Der ewige Streit der Ideologen war beendet, das Leben schiensich zu normalisieren. Um aber die Stabilität des jungen Staates garantieren zu können, bedurfte dieRegierung jener Dienste, die nur OBO-1 leisten konnte. Zu diesem Zweck kam Atlan nach Seleterf: Erwollte die Maschine reaktivieren.

Kulia war klar, daß sie aus der Geborgenheit ihres Verstecks nicht entscheiden konnte, welchen Einflußder Fremde auf ihre Pläne ausüben würde. Nur von ihm selbst konnte sie erfahren, ob er eine Gefahrdarstellte oder nicht. Sie würde sich an Atlan heranmachen müssen.

Vor Kulia auf dem Tisch lag ein kleines, schmuckloses Kästchen. Sie gab ihm einen Schubs und sagte:

»Marcoyn, wir müssen wieder hinaus an die Öffentlichkeit. Macht dir das Spaß?« Aus dem Kästchenantwortete eine quarrende Stimme.

»Öffentlichkeit? Viel Fremd’, wo stink’. Nix Spaß.«

Kulia lachte. Die abgehackte, vokabelarme Sprechweise ihres halbintelligenten Begleiters erheiterte siejedesmal von neuem. O ja, sie wußte, daß Marcoyn einen empfindlichen Geruchssinn besaß.

»Und wenn sie auch noch so stink’«, sagte sie nachdenklich, »es gibt keine andere Möglichkeit, an Atlanheranzukommen.«

Page 10

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

2.

Yurrht, das Stadthaupt, war eine imposante Erscheinung. Er stand an die zwei Meter groß, besaßuntypisch breite Schultern und sprach mit einer Stimme, deren Volumen Visionen einer Herdewildgewordener Löwen hervorrief. Der Prunk und das Gefolge, mit denen Yurrht sich umgab, standen inkeiner Relation zu seinem Amt als Haupt einer bescheidenen Kleinstadt, und Atlan mußte froh sein, daßihm ganz ohne Umschweife eine Audienz gewährt worden war.

Das Stadthaupt empfing die fremde Delegation in einem mit Skulpturen, Gemälden, bunten Teppichenund allerlei Schnickschnack dekorierten Saal. Yurrht saß auf einer Art Thronsessel, vor dem imHalbkreis Stühle für die Besucher aufgestellt waren – auf niedererer Ebene, versteht sich. Hinter demThron standen mehr als zwanzig Beamte minderen Ranges. Seitwärts war ein Tisch mit technischemGerät aufgestellt. Daran hantierte ein Techniker, dessen Aufgabe es war, darauf zu achten, daß jedesWort der Unterhaltung zwischen dem Stadthaupt und seinen Gästen sorgfältig aufgezeichnet wurde.

»Ihr seid also gekommen«, begann Yurrht mit dröhnender Stimme, »um OBO-1 instand zu setzen. Trautihr euch das zu?« Seine großen, irisierenden Augen war auf niemand im besonderen gerichtet. Der nachder letzten Mode eingefärbte Pelz des Anterferranters schimmerte verwirrend im Widerschein derzahllosen Lampen. Atlan hatte versäumt, mit seinen Begleitern die Taktik der Verhandlungsführung zuvereinbaren. Als er antworten wollte, kam Blödel ihm zuvor. »Das ist eine seltsame Frage«, quäkte derRobot und richtete sein einziges, großes Auge auf das Stadthaupt. »Wenn wir von vornherein sichergewesen wären, daß wir hier nichts ausrichten könnten, dann hätten wir uns die Mühe gespart, meinst dunicht auch?« Yurrht wirkte irritiert.

»Wer ist dieser ... dieser ...«, begann er. »Mein mechanischer Freund«, antwortete Atlan. »Er besitzt eineüberragende Intelligenz, dafür jedoch ein nur bruchstückhaftes Verständnis der guten Sitten.«

Yurrhts breiter Mund verzog sich zu einem verständnisvollen Grinsen.

»Geht es uns nicht allen so?« sagte er gutgelaunt. Dann wandte er sich in Richtung des Technikers unddonnerte: »Kriegst du das alles mit, Priparrhn?«

»Alles, Stadthaupt«, kam die Antwort des jungen Technikers. »Jedes Wort wird festgehalten.«

»Also«, meinte Yurrht jovial, »dann wollen wir uns den wichtigen Dingen zuwenden. Wie habt ihr euchdie Durchführung eurer Aufgabe vorgestellt?«

»Zunächst brauchen wir Informationen«, antwortete der Arkonide. »Es gibt hier einen Stab vonTechnikern, der für die Positronik zuständig ist. Ich will erfahren, wie OBO-eins früher gehandhabtwurde. Ich brauche einen Plan der unterirdischen Anlagen. Sobald wir alle erforderlichen Datengesammelt haben, wollen wir der Positronik zunächst mit Sonden zu Leibe rücken.«

Page 11

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Das ist ein bedeutender Aufwand«, bemerkte das Stadthaupt nachdenklich. »Wer soll dafüraufkommen?«

Atlan nickte Tyari zu.

»Narrm, der in diesem Augenblick die Regierungsgewalt auf Anterf ausübt«, sagte die junge Frau, die inallen Artmerkmalen Atlan so verblüffend glich, daß man die beiden für Angehörige ein und desselbenVolkes halten mußte, »erteilt dir durch mich den Auftrag, uns in jeder Hinsicht behilflich zu sein. Die Lageauf Anterf beginnt sich zu stabilisieren – zum Vorteil aller. Aber die völlige Wiederherstellung desGleichgewichts läßt sich nur erreichen, wenn OBO-eins wieder in Gang gesetzt wird.«

Yurrht musterte Tyari mit eigentümlichem Blick.

»Fremde«, sagte er schließlich, »ich weiß nicht, ob mich Narrms Aufträge etwas angehen. Dort aufAnterf haben jahrzehntelang Gruppen verschiedener Gesinnung gegeneinander gekämpft – dieselbenGruppen, die auch in der Bevölkerung von Seletan vertreten sind. Auf Seleterf ist das bislang nicht derFall. Als Stadthaupt bin ich zur ideologischen Neutralität verpflichtet. Narrm geht mich so wenig an wieDwin.«

Atlan bemerkte, wie Tyari bei den ersten Worten des Stadthaupts zusammenzuckte. Yurrht hatte aufherablassende Art zu ihr gesprochen. Von der suggestiv-beruhigenden Wirkung, die sie auf dieAnterferranter an Bord der TEUCER und auf Anterf ausgeübt hatte, war nichts zu spüren.

»In welcher Hinsicht willst du uns überhaupt behilflich sein?« erkundigte sich der Arkonide.

»Laß uns das von Fall zu Fall entscheiden«, schlug Yurrht vor. »Wenn du ein Anliegen hast, wende dichan mich. Ich entscheide dann darüber, ob ich deinem Wunsch stattgeben kann oder nicht.« Er verzog vonneuem den Mund. »Im übrigen glaube ich nicht, daß ihr viel ausrichten werdet.«

»Warum nicht?« fragte Atlan verblüfft. »Ich sage nur ein Wort«, antwortete das Stadthaupt mittheatralischer Geste: »Obolorn.«

»Was ist das – Obolorn?« fragte Blödel. »Der Geist der Positronik«, erklärte Yurrht im Tonfall einesVerschwörers.

»Der Geist der Positronik?« echote der Robot ungläubig. »Was soll der Unsinn? Wie kann einer, der sichfür fortgeschritten und aufgeklärt hält, an Geister glauben?« Yurrhts Blick suchte den Arkoniden. »DeinBlechfreund hat ein böses Maul«, sprach er voller Entrüstung. »Bring ihm entweder Manieren bei oderlaß ihn beim nächsten Mal zu Hause.«

Atlan hatte inzwischen eingesehen, daß sich aus dieser Unterredung kein nennenswerter Profit werde

Page 12

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

schlagen lassen, und griff das Stichwort auf.

»Apropos zu Hause«, sagte er. »Wo in Seletan können wir unterkommen?«

Yurrht zögerte eine Sekunde. »An sich hätte ich keinen Anlaß, jemand, der sich mir in Begleitung einesaufsässigen Roboters nähert, Gastfreundschaft zu zeigen. Aber laß mich dir zeigen, wie großmütig ich seinkann. Die Stadt Seletan unterhält seit ihrer Gründung Gastunterkünfte für offizielle Besucher. Eine solcheUnterkunft stelle ich dir zur Verfügung.«

»Ich danke dir«, sagte Atlan.

»Freilich mußt du bedenken, daß wir schon seit fünfzehn Jahren keinen offiziellen Besuch mehr hatten.Die Unterkünfte befinden sich in dementsprechendem Zustand.«

»Mit anderen Worten«, schnarrte Blödel, »verwanzt und verdreckt.«

*

»Nicht die geringste Wirkung«, sagte Tyari niedergeschlagen.

Sie stand am Fenster und blickte hinab auf die Straße. Atlan trat hinzu und legte ihr die Hände auf dieSchultern.

»Ich weiß, wie das ist«, sagte er mit freundlichem Spott. »Man hält sich für einen Halbgott, und plötzlichkommt einem einer in die Quere, der für die magischen Kräfte in keiner Weise empfänglich ist.«

Sie fuhr auf. »Nicht nur einer«, sagte sie heftig. »Sie alle waren unempfindlich. Warum ist das so?«

»Das mag Tyar wissen«, antwortete Atlan. »Als er dich schuf, stattete er dich mit gewissen Fähigkeitenaus. Unter welchen Umständen sie wirksam sind, und unter welchen nicht, das zu ermitteln, überläßt eroffenbar dir selbst.«

Die Unterkunft lag im dritten Stockwerk eines Gebäudes, das aus standardisierten Fertigteilen ausgeführtwar und seinen Nachbarn zur Rechten und zur Linken sowie den Häusern drüben auf der anderen Seiteder Straße glich wie ein Ei dem anderen.

Sie befanden sich am nördlichen Rand der Stadt. Die Straße endete, hundert Meter weiter links, voreinem rotleuchtenden Warnzaun, hinter dem sich die durchsichtige Wand der Energiekugel erhob. Wennman das Fenster öffnete und sich weit hinauslehnte, konnte man in etlichen Kilometern Entfernung dieCHYBRAIN stehen sehen. In diesem Stadtviertel machte sich deutlich bemerkbar, daß die

Page 13

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Einwohnerzahl von Seletan nur noch ein Viertel des von den Planern anvisierten Wertes betrug. DieHäuser waren durchweg unbewohnt. Auf der Straße lag fingerdick der Staub, und durch den staubigenBelag zog sich eine frische, breite Furche, die von dem Fahrzeug gezogen worden war, das die Gästehierhergebracht hatte. Der Wagen stand vor dem Haupteingang, ein geräumiger Gleiter mit einemSchwebemotor, dessen Leistung zu wünschen übrig ließ.

Die Unterkunft bestand aus acht Räumen, die kleinen Hygienezellen mit eingerechnet. Für die Zubereitungvon Speisen stand den Gästen eine automatische Küche zur Verfügung. Sie hatten auf Anterf Gelegenheitgehabt festzustellen, daß anterferrantische Nahrung schmackhaft war und sich bestens mit solanischenMägen vertrug. Kein Wunder also, daß Hage Nockemann seine Aufmerksamkeit ohne Zögern denKüchenautomaten zugewandt hatte. Er tauchte durch eine Gleittür im Hintergrund des Raumes auf undbalancierte ein Tablett mit einer Schüssel dampfenden Inhalts sowie einem Becher, in dem einegelblichrote Flüssigkeit schwappte. »Vorzüglich, vorzüglich«, murmelte er, ließ sich an dem großen Tischnieder und begann zu löffeln, als hätte er seit einer Woche nichts mehr gegessen.

»An deiner Stelle wäre ich vorsichtig, Hage«, warnte der Arkonide. »Die Einrichtungen des Quartierssind wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr gewartet worden. Wer weiß, was die Automatik dir da servierthat.« Mit einem entschiedenen Kopfschütteln wies der Wissenschaftler die Warnung zurück.

»Nichts, was so gut schmeckt«, brummte er mit vollem Mund, »kann schädlich sein.« Sprach’s undspülte den letzten Bissen mit einem kräftigen Schluck des exotisch aussehenden Getränks hinunter.

Aus einem Nebenraum trat Blödel, der Spezialrobot mit der Körperform eines überdimensioniertenOfenrohrs. Der Blick des großen, lumineszierenden Auges war auf einen kleinen Gegenstand gerichtet,den er mit den Greifwerkzeugen des rechten, zur Hälfte ausgefahrenen Armes hielt.

»Jemand spielt unehrlich«, schnarrte er. Er reichte Atlan den Gegenstand. Der drehte das Ding einpaarmal hin und her und sagte überrascht:

»Ein Hör- und Sehsensor. Ein Überwachungsgerät. Wo hast du es her?« »Aus der Wand eines Raumes,der mir großzügigerweise als Privatquartier zur Verfügung gestellt wurde«, antwortete Blödel schnippisch.

»Na klar«, knurrte Hage Nockemann. »Du nimmermüdes Genie machst in der Nacht so viel Krach, daßkein vernünftiger Mensch schlafen kann.«

»Und wer ist daran schuld?« entgegnete der Robot aufgebracht. »Wer hat mich aus Abfallmetallzusammengesetzt, so daß ich bei jeder Bewegung klappere und ...«

»Ruhe!« fuhr Atlan dazwischen. »Das braucht nicht unbedingt auf uns gemünzt zu sein. Vermutlich ist esin Seletan allgemein üblich, daß man Gäste ...«

Page 14

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Mitnichten«, fiel ihm Blödel ins Wort. »Das Ding ist erst vor kurzem angebracht worden, und zwar inhöchster Eile.« Atlan sah Tyari an. Sie verstand die unausgesprochene Frage.

»In Yurrhts Gedanken war nichts davon«, erklärte sie.

»In den Gedanken der anderen?«

»Ich habe nur Stichproben gemacht«, antwortete Tyari. »Mir ist nichts Verdächtiges aufgefallen.«

Sie war eine potente Telepathin mit einem weitaus kräftigeren Psi-Potential als Sternfeuer und sogar BjoBreiskoll. Wochenlang hatte sie aus dieser ihrer Fähigkeit ein Geheimnis gemacht. Erst vor kurzem hatteAtlan davon erfahren.

»Komm mit, Blödel«, sagte der Arkonide. »Wir müssen sämtliche Räume untersuchen.« Tyari undNockemann schlossen sich an. Im ersten Raum sah der Robot sich um. Sein Sehvermögen warleistungsfähiger und funktionierte nach anderen Prinzipien als das der Solaner. Er wies auf eine Stelle derrückwärtigen Wand, die sich in den Augen der anderen durch nichts von der restlichen Wandflächeunterschied.

»Dort«, sagte er kurz.

Er trat auf die bezeichnete Stelle zu und begann, an dem mattgelben Glasurüberzug zu kratzen. DasMaterial zerbröckelte unter seinen stählernen Greifwerkzeugen. Ein Loch kam zum Vorschein.

»Die Glasur an dieser Stelle wurde erst vor kurzem aufgetragen«, erklärte Blödel. »Ich habe einechemische Analyse der Substanz angefertigt. Sie erstarrt binnen zwei Stunden zu ihrer endgültigen Härte.Ich schätze daher, daß die Anbringung der Sensoren vor vierzig bis sechzig Minuten erfolgte.«

Hage Nockemann trat hinzu. Blödel nahm den Sensor aus dem Loch in der Wand. Er besaß keinerleiAnschluß. Was er hörte und sah, wurde mit Hilfe eines kleinen, aber komplexen Senders übertragen, derin den daumengroßen Behälter eingebaut war. Nockemann untersuchte die Wand.

»Ziemlich schlampige Arbeit«, meinte er. »Kein Wunder«, lachte Atlan. »Dem Kerl brannte die Zeit unterden Nägeln. Er mußte jede Sekunde damit rechnen, daß wir ihn überraschten. Ich frage mich nur, wie erhereinkam.«

»Nicht über die Straße, sonst hätten wir seine Spur gesehen«, meinte Tyari. »Also von oben«, schloßAtlan.

»Von oben – aber wie?« meldete sich Hage Nockemann zu Wort. »Ich stieg als erster aus demAntigravschacht. Auf dem Treppenabsatz vor unserer Tür liegt ebenfalls Staub. Ich hätte die Abdrücke

Page 15

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

sehen müssen, wenn es welche gegeben hätte.«

Blödel hatte sich inzwischen entfernt. Nach wenigen Minuten kehrte er mit weiteren sechs Sensorenzurück.

»Das sind sie alle«, erklärte er. »Jeder Raum besaß einen. Unser unbekannter Besucher hat zwarschlampige, aber dennoch ganze Arbeit geleistet. Im übrigen erlaube ich mir, meiner erlauchtenZuhörerschaft eine weitere Entdeckung zu melden«, sagte er. »Was ist das?«

»Kommt mit.«

Er führte sie in eine der beiden Hygienezellen. Er wies auf das Kachelmuster der einzigen freien Wand.Sie erkannten sofort, was er meinte. Die Wandverkleidung entsprach in ihrer Farbgebung deranterferrantischen Vorliebe für Buntheit. Lediglich eine rechteckige Fläche, zwei Meter hoch und einenMeter breit, war mit eintönig braunen Kacheln ausgelegt. Blödel drückte mit der Hand gegen eine derKacheln. Ein zischendes Geräusch ertönte, und das braune Rechteck schwenkte zur Seite. Ein Schachtwurde sichtbar. An der Seitenwand war eine simple, polymermetallene Leiter montiert. Der Schacht warfinster. Nockemann holte eine Lampe herbei. Sie überzeugten sich, daß der Schacht und die Leiter vomErdgeschoß bis hinauf zum Dach führte.

»Ein Notausgang«, staunte Atlan. »Für den Fall eines Brandes.« Er untersuchte die gekachelte Tür.»Nicht schlecht gemacht. Luftdicht. In diesem Haus braucht sich niemand vor Feuer zu fürchten.«

Er schwang sich in den Schacht und begann, die Leiter emporzusteigen. »Ich nehme an«, rief er denWartenden zu, »daß unser geheimnisvoller Gast auf diesem Weg Zutritt gefunden hat. Ich sehe mich obenum.« Jenseits des fünften Stockwerks gelangte er an ein Luk. Er stemmte es in die Höhe und blicktehinaus auf das flache Dach. Auch hier hatte sich in den langen Jahren der Vernachlässigung eine dickeStaubschicht angesammelt. Er sah die Spur sofort. Sie bestand aus zwei Serien von Fußabdrücken undkam von dem der Straße abgewandten Rand des Daches her.

Er kletterte durch die Luköffnung und folgte der Fährte. Sie führte zu einer Stelle, an der der Staub ganzund gar beiseite gewirbelt worden war, vermutlich von der Turbulenz, die ein landendes bzw. startendesFahrzeug hervorgerufen hatte. Es mußte sich um ein kleines Gefährt gehandelt haben, denn der größteDurchmesser der staubfreien Fläche betrug nicht mehr als drei Meter.

Damit hatte er genug gesehen. Er kehrte zu den Gefährten zurück und versäumte dabei nicht, dasschwere Luk zu schließen. »Wie geahnt«, sagte er. »Er kam mit einem Einmanngleiter, landete auf demDach und kletterte über die Feuerleiter herunter.« »Zeit genug hatte er«, brummte Nockemann mißmutig.»Es war gewiß kein Zufall, daß Yurrht uns ausgerechnet den lahmsten Wagen aus seinem Fahrzeugparkzur Verfügung stellte.«

»Dessen bin ich mir nicht sicher«, antwortete der Arkonide nachdenklich. »Wenn Yurrht etwas derartigesim Sinn gehabt hätte, dann wäre es Tyari nicht entgangen.«

Page 16

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

*

Der Tag-und-Nacht-Rhythmus der Stadt Seletan richtete sich nach der Rotationsdauer desMutterplaneten Anterf. Im Zenit der energetischen Kuppel schwebte ein Heliostrahler, dessenStrahlungscharakteristiken denen der Sonne Barsanter nachgebildet waren. Wenn die Nacht anbrach,wurde er abgeschaltet – nicht plötzlich, sondern so, daß eine halbstündige Periode der Dämmerungentstand. Barsanter freilich machte, da Seleterf sich nur einmal in 230 Stunden um die eigene Achsedrehte, bei diesem Spiel nicht mit. Als zusätzliche Maßnahme wurde während der Nacht also auch dieKuppel zu 90 Prozent undurchsichtig gemacht.

Atlan hatte die Ruhe nötig, aber noch Stunden, nachdem er es sich auf dem hochbeinigenanterferrantischen Bett bequem gemacht hatte, floh ihn der Schlaf. Seine Gedanken kehrten zurück zudem Augenblick, da Cara Doz, die Pilotin der SOL, das riesige Schiff in den Trichter des Nichtsgesteuert hatte, von dem eigentlich Wöbbeking hätte verschlungen werden sollen. Während der langenReise durch das Nichts war plötzlich Wöbbeking auf mentaler Ebene hörbar geworden und hatte dengespannt lauschenden Solanern die erstaunliche Geschichte zweier Galaxien erzählt, Bars und Farynt, diesich vor Jahrhunderten miteinander vereinigt hatten und seitdem die Doppelgalaxis Bars-2-Bars bildeten.Zwischen den Völkern der beiden Sterneninseln entspann sich alsbald eine ebenso törichte wie blutigeFehde, die bald dazu führte, daß sowohl in Bars wie auch in Farynt aller zivilisatorische Fortschritt zumStillstand kam. Das Ganze hätte als das Produkt einer ungnädigen Laune des Kosmos gelten können,wenn Wöbbeking nicht hätte durchblicken lassen, daß die Vereinigung von Bars und Farynt inWirklichkeit auf einen Plan zurückging, den mächtige Wesen ins Werk gesetzt hatten. Innerhalb derÜberlappungszone der beiden Galaxien, deren Hauptebenen senkrecht aufeinander standen, so daß sieaus der Ferne den Anblick eines gleichschenkeligen Kreuzes vermittelten, befand sich laut Wöbbekingder Zugang zur Namenlosen Zone, das einzige »Loch«, durch das die ins Exil verbannte SuperintelligenzAnti-ES in diesem Universum wirksam werden konnte.

Die Anterferranter waren derzeit die führende Zivilisation im Bereich der Galaxis Bars, gewissermaßendie Nachfolger der Vlahreser, die einst die hervorragende Rolle gespielt hatten – jenes Volks, aus demKik hervorgegangen war. Mit den Anterferrantern hatte die SOL Kontakt aufgenommen, nachdem sieaus dem Nichts materialisierte. Das große Schiff war übrigens beim ersten Linearflug – offenbar infolgeder abrupten Freisetzung gewaltiger Energiemengen, die sich während des Flugs durch das Nichtsaufgestaut hatten – schwer beschädigt worden und hatte sich nur mit Mühe bis nach Anterf schleppenkönnen, wo es jetzt vor Anker lag. Die Dauer der Reparaturarbeiten wurde auf mehrere Wochengeschätzt. Die Zeit, die ihm somit zur Verfügung stand, gedachte der Arkonide zu nutzen, um deranterferrantischen Zivilisation, soweit es in seinen Kräften stand, wieder auf die Beine zu helfen.

Seine Motivierung war nicht gänzlich uneigennützig. Die Anterferranter – ebenso wie ihre faryntischenGegenspieler, die Beneterlogen – empfanden die Koppelung der beiden Galaxien als widernatürlich. Inihrem Sprachgebrauch war die Redewendung vom »Krebsgeschwür Bars-2-Bars« längst zumAlltagsbegriff geworden. Sie strebten nach der Entkoppelung der beiden Sterneninseln, ein Strebenallerdings, das durch die Stagnation ihrer Technik nachdrücklich behindert wurde. Atlan seinerseits hoffte,hier an Anti-ES heranzukommen und damit an die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Nun mochtees sich recht bombastisch anhören, wenn jemand die Absicht äußerte, zwei Galaxien, jede mit Dutzendenvon Milliarden Sonnen, voneinander zu trennen. Aber wenn man Wöbbekings Bericht glauben wollte,dann waren bei der Vereinigung von Bars und Farynt geheimnisvolle Kräfte im Spiel gewesen, die in

Page 17

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

latenter Form bis auf den heutigen Tag im Innern der Überlappungszone existierten. Es ging nur darum,diese Kräfte wieder aktiv werden zu lassen und sie richtig zu nutzen.

Soweit war es allerdings noch lange nicht. Im Augenblick konzentrierte sich die Aufmerksamkeit desArkoniden darauf, wie den Anterferrantern wieder auf die Beine geholfen werden könne. Sein Ziel warzunächst die Wiederherstellung der Riesenpositronik OBO-1.

Narrm, der derzeit auf Anterf den Ton angab, hatte ihm seinen Sicherheitschef Shorrn mitgegeben.Vorsichtig, wie er war, hatte Atlan Shorrn zunächst an Bord der CHYBRAIN zurückgelassen. Er kanntedie politische Konstellation auf Seleterf nicht, und es war keineswegs selbstverständlich, daß einVertreter der Regierung in Seletan mit offenen Armen empfangen würde. Wie die Unterhaltung mit Yurrhtauswies, hatte er sich darin nicht getäuscht. Morgen allerdings, sagte er sich, während die Müdigkeit aufdie Lider zu drücken begann, würde er Shorrn in die Stadt holen.

Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken. Der Schlaf hatte ihn schließlich eingeholt.

*

Ein zischendes Geräusch weckte ihn. Er fuhr in die Höhe und glitt aus dem Bett. Dabei unterschätzte erdie Länge der Bettpfosten, verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand.Irgendwo aus der Dunkelheit kam eine anterferrantische Stimme:

»Lumpenzeug, verdammtes! Willst du mich endlich loslassen? Behandelt man so einen Gast?«

»Gäste kommen bei uns durch die Vordertür«, antwortete eine helle, durchdringende Stimme.»Außerdem erscheinen sie gewöhnlich bei Tag und nicht mitten in der Nacht. Du bist höchst verdächtig,Bursche.« Atlan grinste, während er hastig in die Montur schlüpfte. Es brauchte sich niemand Sorgen zumachen, solange Blödel wachte. Das Zischen war durch das Öffnen der Tür des Notausgangs verursachtworden. Das feine Gehör des Roboters hatte den nächtlichen Eindringling wahrscheinlich schonwahrgenommen, als er auf dem Dach das Luk öffnete.

Er schaltete die Beleuchtung des Hausflurs ein. Vor der offenen Tür der Hygienezelle stand Blödel mitseinem Gefangenen, den seine tentakelartigen, zur vollen Länge von zwei Metern ausgefahrenen Armewie Fesseln umschlangen. Der Anterferranter war ein stämmiges Geschöpf, nicht besonders groß, aberkräftig gebaut. Zornige, aber kluge Augen musterten den Arkoniden. An einem der Dreiecksohren desFremden fehlte die Spitze. Über sein Gesicht liefen mehrere Narben, auf denen der Pelz nichtnachgewachsen war. Er trug die übliche, aus drei breiten Gurten bestehende Kleidung und hatte auf allemodische Einfärbung der Körperbehaarung verzichtet.

»Wer bist du?« fragte Atlan.

»Pluuslock«, kam zischend die Antwort. »Der Leitende Bergwerksingenieur.« Atlan erinnerte sich.

Page 18

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Narrm hatte von Pluuslock gesprochen. Die ideologischen Verhältnisse auf Seleterf waren verworren undkeineswegs nur eine miniaturisierte Spiegelung der Zustände auf dem Mutterplaneten. Pluuslock, hatteNarrm gesagt, sei einer von denen, die mit ihrer Philosophie den Aktiven (jetzt nannten sie sich die Dienerder Wissenden) am nächsten stünden.

»Was führt dich zu uns?« wollte der Arkonide wissen.

»Willst du dieser verdammten Blechbüchse nicht endlich klarmachen, daß sie mich loszulassen hat?«grollte der Anterferranter. Atlan hob warnend den Finger.

»Ich rate dir, dich mit Blödel gut zu stellen, wenn du mit uns ins Geschäft kommen willst. Immerhin hat ernicht mehr als seine Pflicht getan. Man steigt bei uns nicht mitten in der Nacht über die Feuerleiter ein.«»Es blieb mir keine andere Wahl«, schnalzte Pluuslock. »Ich nehme an, daß Teffernors Spitzel ringsumauf der Lauer liegen.« Atlan nickte Blödel zu.

»Laß unseren Freund los«, gebot er. »Freund, ha!« machte der Robot verächtlich, zog jedoch gehorsamseine Arme wieder ein.

Inzwischen war es ringsum lebendig geworden. Tyari erschien unter der Tür ihres Zimmers. Atlan konntenicht anders, er mußte ihr einen bewundernden Blick zuwerfen. Sie wirkte frisch und ausgeruht, und esgab so schnell keinen Mann, der sich der Wirkung ihres Anblicks ohne weiteres hätte entziehen können.Ganz anders Hage Nockemann: Angetan mit seinem schludrigen Habitus, tauchte er schlurfendenSchrittes aus seinem Schlafgemach auf, wischte sich die Augen und erkundigte sich ungnädig:

»Welcher Tölpel weckt einen mitten in der Nacht aus dem Schlaf?«

»Ich war’s nicht«, bemerkte Blödel pikiert. Atlan führte den unerwarteten Besucher in denAufenthaltsraum – jenen, dessen großes Fenster zur Straße hinausging. Er verließ sich auf seinen Instinkt.Pluuslock erschien ihm vertrauenswürdig. Nachdem der Anterferranter sich in einen bequemen Sesselplaziert hatte, fragte er von neuem:

»Was führt dich zu uns?«

»Ich hörte, es seien Fremde unterwegs, um OBO-eins in Ordnung zu bringen«, antwortete Pluuslock.»Wir wissen hier auf Seleterf, was sich auf Anterf abgespielt hat und daß Narrm jetzt den Ton angibt.Wir begreifen auch, daß Narrm sich nur dann auf Dauer halten kann, wenn es ihm gelingt, OBO-einswieder in seinen ursprünglichen Stand zu versetzen. Meine Freunde und ich dachten also, es wäreverdienstvoll, wenn wir euch beistünden.«

Atlan nickte. »Ich bin für dein Angebot dankbar«, sagte er.

Page 19

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Was weißt du über OBO-eins?« erkundigte sich Pluuslock.

Die Frage überraschte den Arkoniden. »Ich weiß, daß es sich um ein zentralisiertes positronischesSystem handelt, das Dienstleistungen auf allen Sektoren der Technik, des Handels, des Verkehrs und derVerwaltung bringt. Die Welt, von der ich komme, besitzt eine ähnliche Einrichtung. Sie nennt sichNATHAN. Ich nehme an, daß zwischen OBO-eins und NATHAN nur geringfügige Unterschiedebestehen.«

»Warum, glaubst du, funktioniert OBOeins nicht mehr?«

»Die Zivilisation der Galaxis Bars ist im Rückschritt begriffen«, antwortete Atlan und hütete sichwohlweislich, den Begriff Bars-2-Bars zu gebrauchen, der den Anterferrantern ein Greuel war. »Wir allewissen, auf welches unheilvolle Ereignis dies zurückzuführen ist.« Pluuslock machte mit Nachdruck dieGeste der Zustimmung. »Je weiter der Zerfall fortschritt, desto weniger wurde OBO-eins beansprucht.Das war der Anfang. Später wurde die Wartung vernachlässigt. Aus den Unterlagen geht hervor, daßzwischen zwei Wartungsvorgängen zum Schluß mehrere Jahre verstrichen. OBO-eins muß letzten Endeszu dem Schluß gekommen sein, er werde nicht mehr gebraucht. Daraufhin desaktivierte er sich selbst.«

»Das ist richtig so«, bestätigte Pluuslock. »Und warum gelang es nicht, OBO-eins zu reaktivieren?«

»Vermutlich fehlte es denen, die solche Versuche unternahmen, an technischer Kenntnis.«

»Da vermutest du falsch, Fremder. Dwin und seine Erkenner des Wahren hatten zwar gegen den Verfallnichts einzuwenden. Ihnen war das Durcheinander gerade recht. Aber Narrm ist weitsichtig. Er wußtevon Anfang an, daß es ohne OBO-eins keine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen gab. Er sandteHunderte, vielleicht sogar Tausende von Experten nach Seleterf, damit sie OBO-eins wieder in Gangsetzten. Gut, ein Drittel von ihnen fiel den Erkennern zum Opfer, die zeitweise den gesamten Verkehrzwischen Anterf und dem Mond kontrollierten. Aber die restlichen zwei Drittel kamen planmäßig hier anund machten sich an die Arbeit. Nimm meinetwegen an, daß neunzig Prozent Holzköpfe waren, die ihrFach nicht verstanden. Bleiben immer noch genug, die die Positronik wieder hätten in Betrieb nehmenkönnen – wenn es möglich gewesen wäre.«

Atlan hob sich die Frage, die sich von selbst anbot, für später auf und erkundigte sich statt dessen:

»Was wurde aus den Experten?«

»Die Hälfte ging in die Unterwelt und wurde nie wieder gesehen, die andere Hälfte geriet in Panik undstürmte Hals über Kopf wieder davon.«

»Du sagst«, begann der Arkonide mit Bedacht, »es sei nicht möglich, OBO-eins wieder in Gang zubringen. Wie meinst du das?« Pluuslock verzog den breitlippigen Mund zu einem freudlosen Grinsen.

Page 20

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Wer glaubt, die Positronik sei abgeschaltet, der irrt sich. OBO-eins arbeitet, allerdings nicht imvorgesehenen Sinn. Er wehrt sich dagegen, daß man ihm die früheren Aufgaben wieder überträgt. DieExperten, die in die Unterwelt gingen, wurden deswegen nicht mehr gesehen, weil OBO-eins sie getötethat.«

»Getötet? Auf welche Weise?«

»Ich weiß nicht, ob du hören willst, was ich dir zu sagen habe«, antwortete der Anterferranter zögernd.»Es hört sich an wie der Alptraum eines Verrückten, und dafür hielt ich es auch, als es mir zum erstenMal zu Ohren kam. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Zweifel kommen mir ...«»Sprich«, forderte Atlan ihn auf. »OBO-eins ist nur eine Maschine. Wenigstens meint man das. Aberauch Maschinen haben, wenn sie nur über ein ausreichendes Maß an Intelligenz verfügen, dieMöglichkeit, ein Bewußtsein zu entwickeln, die Essenz ihres Bewußtseins in energetischer Form zukonzentrieren und sie schließlich aus der metallenen Hülle des Maschinenkörpers zu befreien.«

Atlan nickte.

»Solche Vorkommnisse sind bekannt«, sagte er. »Du meinst also, daß OBO-eins ein Geistwesen gebildethat, das nicht mehr an die physikalischen Gegebenheiten der Positronik gebunden ist, sondern ...« »DieFähigkeit besitzt, sich frei und nach Belieben zu bewegen«, übernahm Pluuslock den Gedankengang. »Ja,das meine ich. Und dieses Geistwesen ist es, das Narrms Experten auf dem Gewissen hat.«

Atlan sah dem Anterferranter fest in die Augen. »Obolorn«, sagte er.

Wenn Pluuslock überrascht war, dann ließ er es sich nicht anmerken.

»Ja, Obolorn«, antwortete er leise.

Page 21

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

3.

Die nächtliche Unterredung mit dem Leitenden Bergwerksingenieur gab Atlan zu denken. Zum zweitenMal hatte er nun von dem geheimnisvollen Obolorn gehört. War es ihm während der Unterhaltung mitYurrht noch leichtgefallen, das Gerede um den Geist der Positronik als einen Auswuchs desAberglaubens abzutun, dem eine in die Primitivität zurücksinkende Zivilisation anheimzufallen drohte, sosah er sich gezwungen, Pluuslocks sachlichen Äußerungen zumindest Beachtung zu schenken. Sein Planfür diesen Morgen war gewesen, mit Tyari und Blödel in den Stadtarchiven nach Daten zu suchen, diesich auf die Zeit unmittelbar vor dem Ausfall der großen Positronik bezogen. Jetzt wußte er, daß er nochmehr zu tun hatte. Es galt, Informationen zu finden, die das Phänomen Obolorn beschrieben.

Interessant waren überdies Pluuslocks Beobachtungen im Zusammenhang mit einer Zelle der Erkennerdes Wahren, die sich vor einigen Jahren in der Stadt angesiedelt hatte. Nach Ansicht des Ingenieurswaren die Zellenmitglieder trotz Dwins Sturz noch immer den Idealen des Wahren verschworen. Dazugehörte, daß sie einer Rekonstituierung der Mammutpositronik OBO-1 entgegenarbeiteten. SolangeOBO-1 nicht funktionierte, war Narrms Führungsanspruch in Frage gestellt. Darauf arbeiteten dieErkenner hin. Der bevorstehende Besuch Fremder war in Seletan frühzeitig angekündigt worden.Pluuslock selbst hatte keine Schwierigkeit gehabt, in Erfahrung zu bringen, daß Atlan und seine Begleiternach Seleterf kamen, um auf die Wiederherstellung der Positronik hinzuarbeiten. Teffernor, der Anführerder Zelle, mußte ebenfalls davon gehört haben. Pluuslock nahm als sicher an, daß die Zelle ein scharfesAuge auf die vier Fremden hatte. Deswegen hatte er seinen Besuch bei Nacht und Nebel gemacht.

Die Heliolampe im Zenit der Kuppel gab soeben ihren ersten Schimmer von sich, als derBergwerksingenieur sich verabschiedete. Er versprach Atlan, mit ihm in Verbindung zu bleiben. DieGruppe derer, die er als seine Gesinnungsgenossen bezeichnete, war an die einhundert Mitglieder stark.Damit, meinte der Arkonide, bot sich ihm für den Notfall eine Unterstützung, die er nicht leichtfertigausschlagen durfte.

Er verzichtete auf die entgangene Ruhe und bereitete sich auf den kommenden Tag vor. Er brauchteShorrn. Mit dem Funkgerät, das er bei sich trug, konnte er die CHYBRAIN nicht erreichen. DieEnergiekugel absorbierte Radiowellen ebenso wie Impulse der hyperenergetischen Nachrichtenstrahlung.Es gab in jedem der fünf großen Räume der Unterkunft einen Kommunikator mit Bildanschluß. Er setztedas Gerät in Betrieb und wartete, bis auf der Bildfläche das gelangweilte Gesicht eines jungenAnterferranters erschien. »Was kann ich für dich tun?« fragte er in einem Tonfall, als wäre ihm amliebsten, wenn er gar nichts zu tun brauchte. »Ich möchte mit dem Kommandanten meines Schiffessprechen«, sagte Atlan. »Der Kiibrajn?«

»Ja, der Kiibrajn«, lächelte der Arkonide. »Sie steht draußen auf dem Landefeld?« »Wo sonst?«

»Es tut mir leid, extramurale Gespräche können von Privatgeräten aus nicht geführt werden.«

»Extramural? Durch die Kuppel hindurch?« »Ja.«

Page 22

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Atlan sah sich um. »Ich befinde mich in einem städtischen Gastquartier. Ich glaube nicht, daß mein Gerätals privat bezeichnet werden kann.«

»Mein großes Bedauern, Fremder. Wenn du mit deinem Schiff sprechen willst, dann nur von derstädtischen Kommunikationszentrale aus.«

»Kannst du nicht eine kleine Ausnahme machen? Es muß dir ein leichtes sein, das Gespräch zu vermittelnund auf meinen Anschluß zu legen.«

»Geht nicht. Widerspricht den Vorschriften.«

Atlan sah den Anterferranter aufmerksam an.

»Du arbeitest für die Stadtverwaltung, nicht wahr?«

»Jawohl, ich bin Beamter.«

Atlan nickte. »Das erklärt vieles«, sagte er, bevor er die Verbindung unterbrach.

*

»Obwohl an Bord der SOL der Begriff Geld nicht existiert, wurde meine Ausbildung dennoch bezahlt,und zwar nicht zu billig«, erklärte Hage Nockemann heftig. »Mit der Freistellung von Arbeitsschichten,der Abnutzung von Lehrgerät, psychischer Belastung der Lehrkräfte und so weiter und so fort.« »Dasbezweifle ich nicht im geringsten«, erklärte Atlan. »Wenn ich nur in Dreiteufelsnamen wüßte, worauf duhinauswillst.« »Ein Galakto-Genetiker und Scientologe wird zum Telefonieren abgestellt!« prusteteNockemann empört. »Welch eine Verschwendung von Talent. Habt ihr nichts Gewichtigeres für mich zutun?«

»Wenn du lieber Archivspeicher abklapperst ...«, meinte Blödel.

»Halt den Mund, du einfältiges Ofenrohr«, giftete der Wissenschaftler. »Also gut, meinetwegen. Aber ihrnehmt mich wenigstens mit, nicht wahr? Ich muß nicht zu Fuß in die Stadt tippeln, oder?«

Sie nahmen ihn mit. Die städtische Kommunikationszentrale war leicht zu finden. Die Stadthäupter vonSeletan hatten offenbar darauf Wert gelegt, das bißchen Macht und Autorität, das ihnen zur Verfügungstand, auf möglichst demonstrative Art und Weise zu konzentrieren. Alles, was auch nur entfernt mit derStadtverwaltung zu tun hatte, war in einem zwei Straßenblöcke im Geviert umfassenden Gebiet imStadtkern untergebracht. Die Zentrale lag nur einen Steinwurf weit vom Palast des Stadthaupts entfernt.Hage Nockemann stieg eine sanft geneigte Rampe hinauf, wartete darauf, daß ein hohes Portal sichselbsttätig vor ihm öffnete, und betrat eine halbrunde Halle, die so groß war, daß sie mühelos die gesamte

Page 23

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Einwohnerschaft von Seletan hätte aufnehmen können. Zur rechten Hand lagen Kabinen mitTelekom-Geräten, in denen der Kommunikationsbedürftige seinem Anliegen nachgehen konnte. ZurLinken zog sich an der rückwärtigen Rundwand eine Theke entlang, deren fünfundzwanzig Schaltersämtlich besetzt waren – nicht von Robotern, sondern von leibhaftigen Anterferrantern. Außer denSchalterbeamten und Hage Nockemann befand sich niemand sonst in der Halle; auch die Kabinen warenleer. Der Aufwand, der hier getrieben wurde, wirkte nachgerade grotesk.

Nockemann hatte inzwischen gelernt, weibliche von männlichen Anterferrantern zu unterscheiden. Dieersteren waren zurückhaltender in der Auswahl der Farben, mit denen sie ihre Pelze schmückten. Einernatürlichen Neigung folgend, trat er auf einen Schalter zu, hinter dem ein Wesen Dienst tat, desseneinziger Pelzschmuck aus einem breiten, dunkelbraunen Streifen bestand. Die Anterferranterin sah ihminteresselos entgegen. Wenn sie seine ungewohnte Erscheinung überraschte, dann ließ sie es sich nichtanmerken. »Ich möchte mit der CHYBRAIN sprechen«, sagte Hage Nockemann.

»Kiibrajn? Das fremde Schiff draußen auf dem Landefeld?«

»Dasselbe.«

»Dein Konto?«

»Ich habe kein Konto.«

»Wie willst du für das Gespräch bezahlen?«

Hage Nockemann begann, in seinen Taschen zu kramen.

»Ich habe hier ein paar Münzmarken von Anterf«, brummte er. »Wieviel kostet ...« »Ich bin nicht sicher,ob ich Bargeld annehmen darf«, wurde er unterbrochen. »Warte.«

»Da hört sich doch alles auf!« protestierte der Wissenschaftler. Aber die Beamtin hatte bereits ihrenInterkom aktiviert. Sie blickte auf eine Anzeige, die hinter dem Aufbau der Theke gegen Einsicht durchUnbefugte geschützt war. Augenblicke später machte sie gleichgültig die Geste der Zustimmung. »Bargeldgeht«, sagte sie. »Macht dreißig Terfol.«

Nockemann hatte nur eine unklare Vorstellung vom Wert der anterferrantischen Währung, aber erkonnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß er hier ausgenommen werden sollte.

»Mädchen, ich will das Gerät nicht kaufen, sondern es nur vorübergehend benützen«, erklärte er.

»Dreißig Terfol«, lautete die unerbittliche Antwort.

Page 24

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Nockemann knallte eine Handvoll Münzmarken auf die Theke und brummte: »Hier, such dir’s raus.«

Um die Hälfte seines Münzvorrats erleichtert, war er wenige Augenblicke später auf dem Weg zu einerder fünfzig Kabinen. Zu seiner Rechten öffnete sich das hohe Portal. Ein sorgfältig gekleideterAnterferranter mittleren Alters betrat die Halle. Er wäre Nockemann wohl kaum aufgefallen, wenn ernicht ein so auffälliges Farbmuster auf dem Leib getragen hätte. Er hatte sich eine Leiter auf den Pelzgemalt. Die Holme bestanden aus breiten, leuchtend roten Balken, während die Rungen von grellblauenStrichen gebildet wurden. Kopfschüttelnd ob so viel Geschmacklosigkeit betrat der Wissenschaftler dieihm zugewiesene Kabine und erhielt im Handumdrehen eine Verbindung mit der CHYBRAIN. Erbrachte seine Anweisung an den Mann und ließ sich versichern, daß Shorrn auf dem schnellsten Weg indie Stadt kommen werde.

Als Nockemann aus der Sprechzelle trat, öffnete sich gleichzeitig die Tür einer der beidenNachbarkabinen, und zum Vorschein kam der Anterferranter, den er vor kaum zwei Minuten die Hallehatte betreten sehen. Der Wissenschaftler beäugte ihn mit mißtrauischem Blick, aber das Wesen mit derbunten Leiter auf dem Leib scherte sich nicht um den Fremden, sondern schritt auf das Portal zu undverließ die Halle.

Nach kurzem Zögern wandte Hage Nockemann sich an die Schalterbeamtin, die ihm zuvor die Hälfteseines Barbesitzes abgeknöpft hatte.

»Ihr seid hier so wenige«, sagte er, »daß jeder den anderen kennen muß. Wer ist das?« Er deutete hinterdem Anterferranter her, den man durch die dicke Glassittafel der Tür die Rampe hinabschreiten sah.

»Das ist Visnjak, der Erzmakler«, wurde ihm geantwortet. »Ein reicher und angesehener Bürger.«

Hage Nockemann entfernte sich ohne Dank. Mit dreißig Terfol, dachte er, waren das Gespräch und dieAntwort reichlich bezahlt. Draußen überlegte er sich, ob er sich dem Rest der Gruppe im städtischenArchiv anschließen oder in die Unterkunft zurückkehren solle. Ein leise grollendes Gefühl im Magenbewog ihn, sich für das letztere zu entscheiden. Er brachte mit einiger Mühe in Erfahrung, wie man esanstellen mußte, ein Mietfahrzeug herbeizurufen, und einigte sich mit dessen Chauffeur nach ausgiebigemFeilschen auf den horrenden Preis von fünfundzwanzig Terfol für eine Fahrt von weniger als dreiKilometern.

Danach war ihm völlig klar, woher die Stadt Seletan das Geld nahm, alle ihre überflüssigen Angestelltenzu bezahlen.

*

In der Automatküche bereitete er sich eine ausgiebige Mahlzeit zu. Wer den schmuddelig gekleidetenWissenschaftler, der mit seinem langen, ungepflegten Haar, im Selbstgespräch murmelnd und mit fahrigenHandbewegungen seiner Beschäftigung nachgehen sah, dem fiel es schwer zu glauben, daß unter demfleckigen Kittel das Herz eines Gourmets schlug. Hage Nockemann war als fanatischer Wissenschaftler

Page 25

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

bekannt – als einer, der nur seine Forschung kannte und sonst nichts. Nockemann machte es nichts aus,im Gegenteil: Er tat das seine, die Fiktion zu untermauern. Er fühlte sich wohl hinter der Maske desweltfremden Professors. In Wirklichkeit war er den leiblichen Genüssen des Lebens durchausaufgeschlossen.

Auf dem großen Tisch im Gemeinschaftsraum legte er sorgfältig ein Gedeck zurecht und machte sichdaran, das Zubereitete zu verzehren. Dabei stellte er zu seinem Verdruß fest, daß er heute keinenrichtigen Appetit hatte. Er analysierte seine Stimmung, wie es einem Anhänger der exaktenWissenschaften geziemte, und fand ohne Schwierigkeit den Punkt, an dem – wie die alten Terraner sichausgedrückt hätten – der Hase im Pfeffer lag. Die Begegnung in der städtischen Kommunikationszentraleließ ihm keine Ruhe. Warum hatte der Anterferranter mit der bunten Leiter auf dem Bauch sein Gesprächausgerechnet aus der Nachbarkabine geführt – wo es insgesamt doch fünfzig Sprechzellen gab? Hatte erüberhaupt Zeit gehabt, ein Gespräch zu führen? Nockemanns Verbindung mit der CHYBRAIN war janur von sehr geringer Dauer gewesen. Der Bunte namens Visnjak war nach ihm gekommen. Auch erhatte zuerst den finanziellen Aspekt der Transaktion regeln müssen. Wieviel Zeit war ihm danach nochgeblieben?

Die Unruhe ließ Hage Nockemann nicht los. Schließlich schob er das halb verzehrte Mahl beiseite undmachte sich am Interkom zu schaffen. Es kostete einige Mühe, mit begriffsstutzigen Vermittlern zuverhandeln, aber schließlich hatte er den Leitenden Bergwerksingenieur Pluuslock auf dem Kanal.Pluuslock musterte ihn ein wenig verwundert, aber durchaus freundlich.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sprudelte Nockemann hervor. »Was weißt du über einenBürger namens Visnjak?« »Oh, bei der Wissenden, eine ganze Menge«, antwortete Pluuslock. »Er isteiner der Reichsten in Seletan. Erzmakler. Es gibt kaum eine Erzladung von Seleterf nach den dreiPlaneten, von der Visnjak nicht seinen Gewinn abkassiert.«

»Den Reichtum gönne ich ihm«, erklärte Nockemann. »Was mich interessiert, ist, ob er mit Teffernor undseinen Erkennern in Verbindung steht.«

»Das munkelt man allerdings«, sagte Pluuslock ernst. »Es gibt keine Beweise. Aber man fragt sich schonseit langem, wie Teffernor seine Operationen finanziert. Warum fragst du?«

»Ich habe das Gefühl, Visnjak hat mich bei einem wichtigen Gespräch belauscht«, antwortete derWissenschaftler hastig. »Ich danke dir für deine Auskunft.«

»Warte noch ...«, bat Pluuslock, aber Hage Nockemann hatte die Sprechtaste bereits ein zweites Malgedrückt.

Kaum begann sich das Gesicht des vermittelnden Beamten auf der Videofläche abzuzeichnen, da stieß erhervor:

»Von welcher Stelle aus werden Fahrzeuge hinaus zum Landefeld geschickt, um Passagiere abzuholen?«

Page 26

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Das kommt auf die Art des Passagiers an«, lautete die Antwort. »Ist er ein offizieller Besucher? EinPrivatreisender? Ein Angehöriger der Administration? Ein Händler oder Kaufmann ...«

Hage Nockemann holte tief Luft.

»Ich weiß von alledem nichts«, unterbrach er den eifrig Redenden. »Der Bürger, um den es geht, heißtShorrn und ist einer der Mitarbeiter Narrms. Er kam mit der CHYBRAIN. Ich nehme an, man kann ihnals einen offiziellen Gast bezeichnen.«

»Einen Augenblick. Ich verbinde dich.« Mit dem einmaligen Verbinden war es nicht getan. Anscheinendhatte man in Seletan während der vergangenen Jahrzehnte nichts Besseres zu tun gehabt, als dieBürokratie bis zu einem Grad der Vollkommenheit zu entwickeln, an dem jede spontane Initiative deseinzelnen Bürgers hoffnungslos zerschellen mußte. Eine halbe Stunde verging, bis Hage Nockemannendlich mit Sicherheit wußte, daß das Fahrzeug, das Shorrn abgeholt hatte, sich bereits in der Stadtbefand – vermutlich mit Kurs auf die städtische Gästeunterkunft, in der Atlan und seine Begleiteruntergebracht waren.

Nockemann, bis an den Rand seiner Kapazität frustriert, sprang auf. Er eilte zum Fenster und blickte aufdie Straße hinab. Die dicke Glassitscheibe engte seinen Blickwinkel ein. Er ließ sie in die Höhe gleitenund beugte sich weit nach draußen, so daß er mehrere hundert Meter weit die Straße entlang sehenkonnte. Er bemerkte zwei Fahrzeuge, etliche Straßenzüge weit entfernt. Gleichzeitig war es ihm, als hättesich hinter einem Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas bewegt. Seine böse Ahnungbewahrheitete sich! Den Erkennern des Wahren lag nichts daran, daß ein Vertreter derNarrm-Administration auf Seleterf in offizieller Funktion auftrat. Alle Publizität, die Narrm und seinenDienern der Wissenden zugute kam, mußte unterbunden werden. Visnjak hatte ihn belauscht, als erShorrn von der CHYBRAIN abrief. Welch günstigeres Gelände gab es, den unerwünschten Besucheraus dem Weg zu schaffen, als hier am unbesiedelten Nordrand der Stadt? Zwei Fahrzeuge näherten sich.Das weiter entfernte war Atlans Gleiter. Hage Nockemann wußte plötzlich, was er zu tun hatte. Er zogden Minikom hervor.

»Atlan, hier Nockemann«, sagte er hastig. »Gefahr im Verzug ...«

*

Das Resultat der Datensuche war reichhaltiger ausgefallen, als Atlan erwartet hatte. Über die Qualität desInformationsmaterials bestand indes vorläufig noch keine Klarheit. Blödel hatte alles, was irgendwie mitOBO-1 während der kritischen Zeitspanne in Verbindung stand, unmittelbar von den positronischenSpeichern in sich aufgenommen. In der Unterkunft würde man in Ruhe das Gespeicherte analysieren undaufgrund der neugewonnenen Erkenntnisse einen Aktionsplan für die kommenden Tage formulieren.

Unter Blödels kundiger Lenkung bog der Gleiter auf die Straße ein, an der das Quartier lag. ZweihundertMeter voraus bewegte sich ein anderes Fahrzeug in dieselbe Richtung. Atlan wunderte sich flüchtig, werda vorhaben mochte, ihnen einen Besuch abzustatten, aber sofort wandten sich seine Gedanken wieder

Page 27

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

dem einzigen klar erkennbaren Zusammenhang zu, der sich aus den Archivinformationen bisher ergebenhatte: Das erste Auftauchen Obolorns und die Einrichtung der Erkennerzellen unter Teffernor fielenzeitlich zusammen. Gegeben das Interesse, das die Erkenner des Wahren daran haben mußten, dieRekonstituierung der Mammutpositronik zu verhindern, ließ sich daraus ein höchst interessanter und, wiees Atlan erschien, eindeutiger Rückschluß ziehen. Teffernor selbst war für die Entstehung des »Geistes«Obolorn verantwortlich.

Er schrak auf. Der Minikom sprach an. Hage Nockemann meldete sich mit schriller Stimme, die höchsteErregung verriet: »Atlan, hier Nockemann. Gefahr im Verzug. In dem Fahrzeug vor euch befindet sichShorrn. Ich rechne fest damit, daß ihm die Erkenner hier in der Nähe auflauern. Kümmert euch um ihn.Klar?«

»Klar«, antwortete der Arkonide knapp. »Blödel ...«

»Schon gemacht«, kam die Antwort. Der Gleiter machte einen Satz nach vorne, als der Robot abrupt dieGeschwindigkeit erhöhte. Ein lautes, blökendes Horn ertönte, nachdem Tyari den Schalter derSignalanlage betätigt hatte. Im Näherkommen erkannte Atlan die Umrisse zweier Gestalten in demFahrzeug vor ihnen. Eine davon wandte sich bei dem ungewöhnlichen Geräusch um. Eine grellweißeEnergiebahn stand plötzlich dicht über der Straße. Der Gleiter mit den zwei Passagieren verschwandhinter einer lodernden Flammenwand. Der Blitz einer Explosion zuckte auf. Glühende Metallsplitterfauchten wie Geschosse die Straße entlang. Qualm verhüllte die Szene.

»Anhalten!« schrie der Arkonide. »Luk auf. Kümmert euch um die beiden dort vorne.« Er ließ sich durchdie Öffnung fallen, noch bevor das Fahrzeug vollends zum Stehen gekommen war. Der Paralysator glittihm wie von selbst in die Hand. Ein halbgeöffnetes Fenster im ersten Stock eines der leeren Gebäudebezeichnete das Versteck des heimtückischen Schützen. Atlan rannte in der Deckung der Hauswandentlang und schoß durch den Eingang. Sein erster Gedanke war, daß der Attentäter über das Dach zuentkommen versuchen werde. Aber als er im Hausflur stehenblieb, um zu horchen, hörte er hastigeSchritte, die sich zur Rückseite des Gebäudes hin von ihm entfernten. Der Flur war unbeleuchtet, und jeweiter er vordrang, desto finsterer wurde es. Es ging um zwei scharfe Ecken, und plötzlich hatte erwieder Licht vor sich. Die der Straße abgewandte Seite des Gebäudes grenzte an einen verwildertenGarten, der sich mehr als zweihundert Meter weit bis zur Rückwand des gegenüberliegenden Hauseszog. Eine Gestalt mit bunten Ornamenten auf dem Pelz bewegte sich in grotesken Weitsprüngen über denwuchernden Pflanzenwuchs hinweg. Atlan schoß, aber das Zielen war zu unsicher. Der fahlgrüne Strahldes Paralysators schoß meterweit an dem Fliehenden vorbei. Der Arkonide setzte hinter ihm drein. Diegeringe Gravitation des Mondes versetzte ihn in die Lage, mit einem einzigen Sprung bis zu zwölf Meternzurückzulegen. Er verlor ein paar Sekunden, während er sich am Hintereingang des Hauses am anderenEnde des Gartens vergewisserte, daß der Attentäter ihm keine Falle gestellt hatte. Durch einenhalbdunklen Flur gelangte er zur Straßenseite – gerade rechtzeitig, um das Triebwerk eines Gleitersaufheulen zu hören. Er ließ sich fallen. Das Fahrzeug hob vom Straßenrand ab und hielt auf ihn zu. Durchdie Glasscheibe der Kanzel sah er zwei Anterferranter. Er hob den Lauf der Waffe und zielte auf den, derdas Steuer führte. Aber er kam nicht zum Abdrücken. Der Pilot des Fahrzeugs hatte es auf ihnabgesehen. Atlan erkannte im letzten Augenblick, daß er auch eine Kollision mit der Gebäudewand nichtscheuen würde. Er schnellte sich mit einem verzweifelten Satz zur Seite und kugelte durch denHauseingang. Draußen schrammte der Gleiter knirschend und kreischend an der Hauswand entlang.Sekunden später gewann er die Straßenmitte und schoß mit Höchstgeschwindigkeit davon.

Page 28

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Atlan raffte sich schnell wieder auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Dann kehrte er durchden verwilderten Garten zur Nachbarstraße zurück. In der Ferne war das schrille Winseln vonAlarmgeräten zu hören. Zwei reglose Gestalten lagen am Straßenrand. Tyari kam Atlan entgegen. Siewies zunächst auf die qualmenden Trümmer des Gleiters, dann auf die beiden Opfer. »Dem Piloten istnicht mehr zu helfen«, sagte sie. »Er ist tot. Aber Shorrn kam wie ein Wunder mit dem Leben davon. Eineinigermaßen anständiges Hospital sollte keine Mühe haben, ihn wieder zusammenzuflicken. Blödel hatden Notdienst alarmiert.« Kurze Zeit später waren zwei Fahrzeuge des medizinischen Diensts zur Stelle.Medoroboter bestätigten den Tod des Piloten und ließen dem bewußtlosen Shorrn erste Hilfeangedeihen. Die Leiche und der Verwundete wurden abtransportiert. Minuten später erschien einRaumfahrzeug und beseitigte die Trümmer des Gleiters.

Blödel bugsierte das Fahrzeug herbei, das er etliche Dutzend Meter stadtabwärts geparkt hatte. AlsAtlan mit seinen Begleitern in das Haus treten wollte, in dem ihr Quartier lag, kam Hage Nockemannihnen entgegen. »Es tut mir leid«, sagte er kleinlaut. »Ich hätte früher dahinterkommen sollen. Aber aufden ersten Blick wirkte alles so harmlos.« Er sah Atlan fragend an. »Der Attentäter hat sich aus demStaub gemacht, nicht wahr?« Der Arkonide nickte. »In der nächsten Parallelstraße wartete ein Fahrzeugauf ihn. Um ein Haar hätten sie mich über den Haufen gerannt.«

»Hast du jemand erkannt?«

»Wie sollte ich? Außer Yurrht und Pluuslock kenne ich niemand in dieser Stadt. Das Muster, das derFahrer des Gleiters auf dem Pelz trug, werde ich allerdings so rasch nicht vergessen.«

»Wie sah es aus?« erkundigte sich der Wissenschaftler hastig.

»Eine grellbunte Leiter«, antwortete Atlan. »Rote Holme, blaue Rungen.«

Hage Nockemann verzog schmerzlich das Gesicht.

»Visnjak«, murmelte er.

*

Kulia Aogi erhob sich und schritt quer durch das behaglich eingerichtete Gemach bis zur Stirnwand, wosie neben der Tür einen vom Boden bis zur Decke reichenden Spiegel angebracht hatte.

»Verzeih mir, es ist nicht Eitelkeit«, sagte sie in launigem Selbstgespräch. »Ich möchte mich nur ein letztesMal vergewissern, daß ich ohne allen Zweifel ein Beneterloge bin.« Trotz der Abrede musterte sie ihrEbenbild nicht ohne Wohlgefallen. Man sah ihr das Alter nicht an. Die hellblaue Haut war sanft, ohneFalten und Verfärbungen. Die hellen Augen blickten wach und intelligent. Die besonderen Umstände ihresEinsatzes hatten sie dazu gezwungen, das reiche, kupferrote Haar bis an die Schläfen und denNackenansatz zu trimmen, aber selbst in drastisch verkürztem Zustand wirkte ihre Frisur elegant. Kulia

Page 29

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

war 1,95 Meter groß – gerade die richtige Größe für eine Beneterlogenfrau. Es hätte sie keine Mühegekostet, einen Lebensgefährten zu finden. Wäre sie darauf aus gewesen, hätte sie sich wahrscheinlichder Bewerber kaum erwehren können. Aber das Dasein einer Prezzarerhalterin war einsam. Die Werte,nach denen ihre Artgenossinnen strebten, waren in Kulias Dasein ohne Bedeutung.

Der unbefangene Beobachter, der ihr bei der Musterung im Spiegel zusah, hätte sie ohne weiteres füreine blauhäutige Solanerin halten können. Ihre äußere Erscheinung war bis in die letzte Einzelheithumanoid. Aber die Ähnlichkeit ging nur wenig tiefer als die Haut. Skelettstruktur, Anordnung der innerenOrgane und Stoffwechsel des Beneterlogen waren von denen des Menschen grundverschieden.

Kulia kehrte zum Tisch zurück und ließ sich in einem bequemen Sessel nieder. Sie streichelte dasKästchen, das vor ihr auf der Tischplatte lag. Ihr Finger berührte die flache Erhebung, die von demeingebauten Sprengsatz herrührte, den der Kodex der Prezzarerhalter ihr auszulösen gebot, wenn Gefahrbestand, daß sie entlarvt würde. »Es geht los, Marcoyn«, sagte sie fast liebevoll. »Dieser Narr namensTeffernor leistet wertvolle Vorarbeit. Mit jeder Bewegung, die er macht, wird unser Risiko kleiner. Duhast doch keine Bedenken, mein Freund?« »Bedenk’? Quatsch«, quarrte es aus dem Kästchen.Marcoyn sprach ein zwar abgehacktes und wortarmes, aber ungemein melodisches Benetisch, als sei erauf einer der besten Schulen erzogen worden. Der Klangreichtum der benetischen Sprache gegenüberden unästhetischen Zisch-, Schnalz- und Bellauten des Anterferrantischen war einer der Gründe, warumdie Beneterlogen sich für zivilisierter hielten als ihre Gegenspieler aus der Galaxis Bars. »Nix Bedenk’«,fuhr Marcoyn fort. »Angst vor stink’.«

»Ich werde dir ein kleines Riechpulver in den Kasten stecken«, lachte Kulia. »Riechpulv’, gutt«, erklärteMarcoyn anerkennend. »Dann laß geht los.«

Kulia reagierte nicht sofort. Sie hatte sich im Spiegel betrachtet und an ihrem Ebenbild nichts auszusetzengefunden. Es zeigt die Müdigkeit nicht, dachte sie und unternahm nichts, der Niedergeschlagenheit zuwehren, die plötzlich in ihr aufstieg. Oh, bei Prezzars unerforschlicher Intuition – bin ich müde! Müde desVersteckspiels, müde der Einsamkeit, müde des ewigen Zwistes zwischen den Völkern von Farynt undBars. Wer erlöst uns aus dem ewigen Kreislauf des Widersinns? Sie gab der bedrückten StimmungGelegenheit, von ihrem Bewußtsein Besitz zu ergreifen. Sie wußte, daß die trüben Gedanken sich mit derZeit von selbst totlaufen würden. Der Vorgang hatte eine reinigende Wirkung. Nachdem dieNiedergeschlagenheit sich gelegt hatte, war sie fester denn je entschlossen, ihre Pflicht bis in die letzteEinzelheit zu tun.

Page 30

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

4.

Aus dem städtischen Heilzentrum kam die Nachricht, Shorrn habe das Schlimmste überstanden und seiaußer Lebensgefahr. Mit seiner vollständigen Wiederherstellung werde in zwei bis drei Tagen gerechnet.

Inzwischen hatte Blödel die im Archiv gesammelten Informationen in den Speicher eines Videogerätsübertragen, so daß sie jedermann zugänglich waren. Tyari übernahm es, eine erste Sichtung der Datendurchzuführen. Atlan war per Interkom im Stadtpalast vorstellig geworden und hatte erreicht, daß Yurrhtsich bereit erklärte, ihn am späten Nachmittag zu einer Besprechung zu empfangen. Hage Nockemannund Blödel waren somit vorerst ohne Aufgabe.

»Ich denke, wir werden uns ein wenig in der Stadt umsehen«, schlug der Scientologe dem Arkonidenvor.

»Nehmt euch in acht«, warnte Atlan. »Der jüngste Vorfall beweist, daß der Gegner nicht mitSamthandschuhen zufaßt. Ihr seid auf Schritt und Tritt in Gefahr.«

Hage Nockemann grinste vergnügt und schlug Blödel auf den metallenen Leib, daß es klatschte.»Deswegen nehme ich meinen Aufpasser mit«, sagte er. Dann streckte er die Hand aus. »Im übrigen bitteich um eine kleine Abschlagszahlung auf mein Gehalt ...« »Du beziehst kein Gehalt.«

»... oder was auch immer. Geld jedenfalls. Die Preise in dieser Stadt treiben einem die Tränen in dieAugen.«

Atlan machte sich auf den Weg zum Stadtpalast, nachdem er Nockemann mit Finanzmitteln versehenhatte. Man ließ ihn eine halbe Stunde warten, bevor er Yurrht zu sehen bekam. Er hatte erwartet, dasStadthaupt diesmal in weniger festlicher Aufmachung und legererer Umgebung vorzufinden, aber da warer im Irrtum. Yurrht empfing ihn im selben Saal wie am Tag zuvor, sein Pelz war womöglich noch buntereingefärbt, sein Gefolge von unvermindertem Umfang. Atlan verzichtete darauf, auf einem der Stühle zuFüßen des Throns Platz zu nehmen. Er trat bis an die erste Stufe des flachen Podests, auf dem derpompöse Sitz des Stadthaupts sich erhob, und begann:

»Ich nehme an, du hast erfahren, was meinem Begleiter Shorrn zugestoßen ist.« Ein wenig zu würdevollvollzog Yurrht die Geste der Zustimmung.

»Das habe ich in der Tat«, bestätigte er. »Es ist bedauerlich, aber in einer Zeit ideologischer undpolitischer Wirren muß mit solchen Vorfällen immer wieder gerechnet werden.«

»Mir scheint«, sagte der Arkonide ernst, »du nimmst deine Aufgabe etwas zu leicht.« Yurrht bekamgroße Augen.

Page 31

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Wie meinst du das?«

»Es ist deine Pflicht, die Gäste der Stadt zu schützen. Da du selbst weißt, wie es in wirren Zeiten zugeht,wäre es deine Aufgabe gewesen, Shorrn eine Eskorte zu geben. Ich bin hier, um dich darum zu bitten,daß bewaffnete Posten rings um unsere Unterkunft aufgestellt werden.«

»Warum? Seid ihr in eurem Quartier belästigt worden?«

»Gestern, bevor wir einzogen, drang ein Unbekannter in die Unterkunft ein und installierte audiovisuelleSpione in sämtlichen Räumen.«

Er beobachtete das Stadthaupt scharf, aber die einzige Reaktion, die Yurrhts feistes Gesicht erkennenließ, war die der Überraschung.

»Ich und meine Berater«, sagte er, »haben uns mit dieser Frage beschäftigt. Allerdings gehen unsereÜberlegungen in gänzlich anderer Richtung.«

»Und die wäre?« fragte der Arkonide knapp.

»Du und deine Begleiter, ihr übt offenbar eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf das lichtscheueElement der Stadt Seletan aus«, antwortete Yurrht feierlich. »Da wir die Lichtscheuen nicht kennen, wohlaber euch, läßt sich das Problem auf die einfachste Art beseitigen, indem wir euch der Stadt verweisen.«

Die Logik war zwar verdreht, aber auf so perplexe Weise einleuchtend, daß Atlan in der ersten Sekundekeine passende Entgegnung einfiel. Dann aber platzte er lachend hervor: »Oh, Yurrht, du bist der größteHornochse, der mir jemals vor Augen gekommen ist.« Der Translator übersetzte seine Äußerunggetreulich, indem er die anterferrantischen Worte für »Horn« und ein rinderähnliches Tierzusammensetzte. Der Affront wurde indes durch den Umstand geschwächt, daß es in deranterferrantischen Fauna kein Geschöpf dieses Namens gab. Yurrhts Augen verengten sich, seine Mienewurde drohend.

»Ich hoffe, du sprichst da nur Angenehmes aus«, grollte er. »Was ist ein Hornochse?« »In der Stunde desAbschieds werde ich es dir erklären, hohes Stadthaupt«, antwortete Atlan. »Wie steht’s? Bekomme ichden erbetenen Schutz?«

»Mitnichten«, bellte Yurrht. »Jemand, der binnen zehn Stunden die Stadt verlassen wird, bedarf desSchutzes nicht.«

Mit einem raschen Schritt nahm Atlan die zwei oberen Stufen des Podests und stand nun unmittelbar vordem Thron. Yurrht zuckte zusammen und hob entsetzt die Arme, als müsse er sich gegen Schlägeschützen. Unter dem Gefolge erhob sich halblautes Gemurmel.

Page 32

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Hör zu, du Jammerlappen«, hallte die kräftige Stimme des Arkoniden durch den Saal. »Ich stehe vor dirin meiner Eigenschaft als Narrms Abgesandter. Bis jetzt leitet Narrm nur eine vorläufige Regierung, undes bleibt dir überlassen, ob du ihn als Regierungsoberhaupt anerkennst oder nicht. Wir wissen, wieOBO-eins wieder in Betrieb genommen werden kann. Ist das erst einmal geschehen, dann geht es aufAnterf aufwärts, und niemand wird mehr an Narrms Autorität zweifeln. Er wird sich erinnern, wie seinGesandter von einem lächerlichen Stadthaupt auf Seleterf behandelt wurde. Dann, Yurrht, sieh zu, wo dubleibst.«

Wie er es an Yurrht gestern beobachtet hatte, wandte er den Kopf und rief dem jungen Techniker amSchalttisch zu:

»Kriegst du alles mit, Priparrhn?« »Alles, Stadtha... eh, Fremder«, kam die Antwort. »Jedes Wort wirdfestgehalten.« »Das ist gut so«, grinste der Arkonide. »Yurrht wird Gelegenheit finden, sich an diesesVorkommnis zu erinnern.«

Er wandte sich um und verließ den Saal, ohne daß ihn jemand zu hindern versuchte. Auf der Heimfahrtüberlegte er sich, ob er klug gehandelt habe. Die Bemerkung, er wisse genau, wie OBO-1wiederherzustellen sei, war ihm im Ärger entrutscht. Im nachhinein allerdings erschien sie ihm einnützlicher Schachzug. Es würde sich herumsprechen, daß er diese Äußerung getan hatte. Dadurchentstand Nervosität in den Reihen des Gegners. Ein nervöser Gegenspieler aber neigt dazu, Fehler zubegehen.

*

Die Gegend, auf die sich in Seletan die »Action« konzentrierte, lag im Süden der Stadt, darüber hatteHage Nockemann sich mit Hilfe des städtischen Datendiensts ausgiebigst informiert. Da er die Preise, dieman in Seletan berechnete, inzwischen zur Genüge kannte und gewöhnt war, mit Geld zurückhaltendumzugehen, beschloß er, den Ausflug zu Fuß zu unternehmen. Das trug ihm zwar ein paar gehässigeBemerkungen von seitens seines Allzweck-Faktotums Blödel ein, denn der Robot war mit seinemgelenklosen Rohrkörper und seinen kurzen Beinen für lange Spaziergänge nicht geschaffen, aberschließlich blieb Blödel nichts anderes übrig, als den Anweisungen seines Herrn und Meisters zugehorchen.

Nockemann hatte den üblichen Kleinstadttingeltangel vorzufinden erwartet und war daher von derVielfalt, der Reichhaltigkeit und nicht zuletzt der Qualität des Vergnügungsangebots überrascht. DieAnterferranter, deren Mentalität der menschlichen nahe verwandt war, betrieben das Geschäft derEntspannung offenbar mit großem Ernst und Nachdruck. Was in Seletan-Süd geboten wurde, hätte sichohne weiteres auch in einer Raumfahrtmetropole sehen lassen können. Wiederum wunderte sich derWissenschaftler, wie ein solcher Aufwand bei einer Bevölkerung von nur fünftausend profitabel seinkönne.

Den Spielhallen ging er aus dem Weg. Die Systematik der anterferrantischen Spiele hatte er noch nichtdurchschaut, sonst wäre es ihm ein Vergnügen gewesen, zu dem Geld, das er von Atlan erhalten hatte,noch einiges dazuzugewinnen. Außerdem war ihm Blödel im Weg. Gesetzt den Fall, er beteiligte sich an

Page 33

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

einem Spiel und geriet trotz seiner Unkenntnis in eine Glückssträhne. Der Verdacht fiel sofort auf denRoboter, denn auf den skurrilen Humor, der sich hinter Blödels tölpelhafter Gestalt verbarg, sprachen dieAnterferranter nicht an. Sie sahen in Nockemanns Begleiter nicht den Tolpatsch, sondern die Maschine,der es ein leichtes sein mußte, ihre Spielmechanismen zu beeinflussen.

Auch den Etablissements, in denen das älteste Gewerbe der Welt seine Waren feilbot, vermochte derWissenschaftler aus leichtverständlichen Gründen keinen Geschmack abzugewinnen. Er entschied sichschließlich für eine Art Bar und Restaurant, durch dessen offene Tür die fröhlichen Geräuschegutgelaunter Zecher und Esser auf die Straße drangen.

Der Lärm verstummte allerdings sofort, als die beiden neuen Gäste den Raum betraten. Gut hundertBlicke richteten sich ihnen entgegen, verwundert, neugierig, jedoch neutral im Ausdruck. HageNockemann sah in die Runde, und als das allgemeine Staunen nach mehreren Sekunden noch immernicht nachgelassen hatte, sagte er zu Blödel, so daß die Stimme seines Translators deutlich zu hören war:

»Es tut einem in der Seele weh, wenn man sie so starren sieht. Früher, als ihre Kultur noch blühte, warder Anblick von Fremden wahrscheinlich eine alltägliche Sache.« Das hatte Erfolg. Die Blicke senktensich, Unterhaltungen kamen wieder in Gang. Der Stich saß. Die Anterferranter gebärdeten sich, als hättensie tagaus, tagein mit fremden Intelligenzen zu tun. Hage Nockemann fand ein behagliches, zweisitzigesSpeiseabteil im Hintergrund des weiten Raumes und ließ sich dort nieder. Blödel allerdings mußtestehenbleiben. Er war nicht zum Sitzen gemacht. Der Eingang war vom Abteil aus mühelos zu übersehen.Darauf legte der Wissenschaftler wert, denn er wollte erfahren, ob der unbekannte Gegner hinter ihmherspionierte. Das allerdings erwies sich recht bald als ein hoffnungsloses Unterfangen. An der Türherrschte ein ständiges Kommen und Gehen, und wenn er hier eine Spur hätte finden wollen, dann hätteer sich Dutzende von Gesichtern einprägen müssen.

Auch hier machte sich die Knappheit an Arbeitsplätzen bemerkbar. Es gab keine Servierautomaten,sondern männliche und weibliche Bediener. Hage Nockemann bestellte sich von der Liste, die in diegläserne Tischplatte eingearbeitet war, was ihm schmackhaft erschien, dazu ein Getränk.

»Und was bekommt dieser dort?« fragte der Bediener und wies auf Blödel.

»Eine Schüssel superintegrierte Minimikrochips«, antwortete Nockemann trocken. »Das haben wirnicht«, antwortete der Anterferranter verdutzt. »Ich weiß nicht einmal, was das ist.«

»Dann bekommt er eben nichts«, brummte der Wissenschaftler und machte unmißverständlich klar, daßdas Thema damit für ihn abgeschlossen war.

Er sah sich unauffällig um, während er auf seine Bestellung wartete. Die Anwesenden schenkten ihm undseinem Begleiter keine Beachtung mehr; selten nur, daß ein neuer Gast vom Eingang zu ihnenherüberblickte. Die Menge, die sich hier eingefunden hatte, widmete sich zumeist dem Trunk. Die Zeitdes Abendessens war noch nicht gekommen. Nur hier und da saß einer, wahrscheinlich einBergwerksarbeiter, der sich vor Beginn der Schicht noch schnell den Magen füllen wollte, und löffelte aus

Page 34

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

einem Napf oder einer Schüssel. Die anterferrantischen Eßmanieren waren dazu angetan, dem Solanereinen Schauder über den Rücken zu jagen. Da wurde geschmatzt, gerülpst und mit der Zunge geschnalzt.Es war wie im europäischen Mittelalter: Wer geräuschlos aß, gab zu verstehen, daß es ihm nichtschmeckte.

Nockemanns Mahlzeit wurde serviert. Er schnupperte neugierig an dem Dampf, der aus demrechteckigen Behälter aufstieg, und hob genießerisch die Brauen, als ihm der Duft exotischer Gewürze indie Nase stieg. Er begann zu essen – mit dem einzigen Speisewerkzeug, das die anterferrantischeZivilisation kannte, einer löffelähnlichen Kelle. Dabei befleißigte er sich herkömmlicher solanischer Sitte,und das wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Er begriff augenblicklich, daß nicht alles so war, wie essein sollte, als Blödel halblaut sagte:

»Vorsicht, da kommt einer.«

Hage Nockemann schob sich den letzten Bissen des wohlschmeckenden Gerichts in den Mund und sahauf. Vor dem Tisch stand ein Anterferranter mittleren Alters, nicht übermäßig groß, aber kräftig gebaut.Als Pelzmuster trug er ein grünes X auf dem Leib, das von Ober- und Mittelgurt teilweise verdecktwurde. In den gelblich-grauen Augen leuchtete es gefährlich.

»Dir schmeckt unser Essen nicht, wie?« fragte er so laut, daß zahlreiche Gäste in der Nähe aufmerksamwurden.

»Was geht’s dich an?« brummte Nockemann. »Bist du der Koch?«

»Ich habe dich nicht schmatzen hören.« »Das tue ich nicht. Wo ich herkomme, gilt Schmatzen alsunanständig.«

Der Anterferranter stützte sich mit einer Krallenhand auf die Tischkante, mit der anderen packte er denWissenschaftler am Kragen und zerrte ihn auf die Beine.

»Unsere Tischmanieren nennst du unanständig?« schrie er. Er versuchte, zornig zu wirken, aber er warein schlechter Schauspieler. Sie haben uns also eingeholt, dachte Nockemann.

»Mach dich nicht lächerlich«, krächzte er. Der Griff des Wesens mit dem grünen X-Muster schnürte ihmdie Luft ab. »Von euren Sitten war ... überhaupt nicht ... die Rede.« »Sieh, was du dir dafür einhandelst«,bellte der Anterferranter und holte mit dem linken Arm zu einem mörderischen Schlag aus. Nockemannstand unmittelbar vor Blödel. Instinktiv begriff er den einzigen Vorteil, den er in dieser ansonstenaussichtslosen Lage hatte. Als der Schlag heranpfiff, ging der blitzschnell in die Hocke. Über ihm tat eseinen donnernden Krach, als die anterferrantische Faust mit Blödels Metallkörper kollidierte. Der Kerlmit dem grünen X gab einen schrillen, gurgelnden Schrei von sich. Hage Nockemann schnellte sich mitgesenktem Kopf in die Höhe. Der Schädel rammte dem Angreifer in den Leib. Das brachte diesen ausdem Gleichgewicht. Infolge der geringen Schwerkraft landete er schließlich in der Nähe des Fensters,durch das die Speisen gereicht wurden.

Page 35

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Überall im großen Speisesaal waren die Gäste aufgesprungen, damit ihnen keine Phase des aufregendenZwischenfalls entginge. Rufe wurden laut, Stühle polterten, jemand schrie nach dem Ordnungsdienst.Hage Nockemann stand ruhig, wie unbeteiligt vor seinem Tisch und musterte die Szene mit scharfemBlick. Er sah die fünf Anterferranter, die sich erst jetzt von ihren Sitzen erhoben, als hätten sie bislangnicht bemerkt, daß etwas Ungewöhnliches im Gang war. Sie saßen an fünf verschiedenen Tischen undtaten, als kennten sie einander nicht. Aber als sie sich jetzt durch die aufgeregte Menge schoben und sichder Eßkabine der beiden Fremden näherten, da wirkten ihre Bewegungen so koordiniert, daß HageNockemann sofort wußte, was auf ihn zukam.

»Jetzt geht’s uns an den Kragen«, flüsterte er Blödel zu.

»Hättest du geschmatzt«, sagte der Robot vorwurfsvoll.

Die fünf blieben vor dem Abteil stehen. Der größte unter ihnen, ein Kerl von beinahe zwei Metern, sagtemit harter, bellender Stimme:

»Man kann uns nicht nachsagen, daß wir Fremdenhasser sind. Aber wenn einer daherkommt wie du, miteinem von uns Streit anfängt und ihn obendrein noch zusammenschlägt, dann hört bei uns die Geduld auf.Du wirst jetzt ...«

»Nichts wird er!« donnerte eine mächtige Stimme von der Tür her. »Bist du schon wieder amUnruhestiften, Terschlakk? Du ziehst jetzt deinen Schwanz ein, Großmaul, und verschwindest auf demschnellsten Weg. Mitsamt deinen Schlägergenossen, verstanden?« Der Hüne zuckte zusammen; seineTasthaare zitterten. Hage Nockemanns erstaunter Blick ging an ihm vorbei die Gasse entlang, die dieGäste gebildet hatten. Dort, unter dem Eingang, stand ein hochgewachsener Anterferranter. Seine Augensprühten Blitze. Der, den er Terschlakk genannt hatte, wandte sich zur Seite und verschwand in derMenge. Seine Kumpane folgten ihm.

In der Nähe hörte Nockemann es raunen: »Chodhpah ...«

»... der Prospektor ...«

*

Verwundert musterte Hage Nockemann den Neuankömmling, vor dessen Wort die Schläger gekuschthatten und dessen Name von den Umstehenden mit Ehrfurcht ausgesprochen wurde. Zum ersten Mal,seit er die Spezies der Anterferranter kannte, machte eines ihrer Mitglieder einen Eindruck auf ihn, den ernicht anders als »vornehm« nennen konnte. Narrm war achtungsgebietend, seine engsten Mitarbeiterverdienten die Attribute intelligent, brillant, tatkräftig und dergleichen. Ein vornehmer Anterferranter warNockemann bisher nicht vor Augen gekommen. Dieser hier war der erste.

Durch die Gasse Schritt Chodhpah gemächlich auf das Eßabteil zu. Er lächelte freundlich und hatte die

Page 36

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Arme in menschlicher Art auf dem Rücken verschränkt. Der einzige Schmuck seines Pelzes war einkreisrunder, blauer Fleck unterhalb der linken Schulter. Seine Kleidung, aus den üblichen drei Gurtenbestehend, war einfach, aber gediegen. Er trug eine umfangreiche Tasche an der rechten Seite. DasAuffallendste an ihm waren die Augen. Sie schienen ihr eigenes, vom Rest des Körpers unabhängigesLeben zu besitzen. Sie strahlten in intensivem, fast unnatürlichem Glanz.

»Wer ein fremdes Volk besucht, soll sich dessen Sitten anpassen«, sagte er mit volltönender Stimme,mahnend zwar, aber keineswegs unfreundlich. »Das ist um so wichtiger, wenn es unter dem fremdenVolk solche gibt, die einem an den Kragen wollen und jede Gelegenheit benützen, einen Streit vom Zaunzu brechen.« Er zuckte mit der Schulter in Richtung des Ausgangs. »Wie jene dort.« Terschlakk undseine Genossen schlichen sich, von der Menge unbeachtet, durch die offene Tür davon. Derjenige,dessen Faust mit Blödel kollidiert war, hatte sich ihnen angeschlossen.

»Ich weiß deinen guten Rat zu schätzen und werde ihn befolgen«, sagte Hage Nockemann. »Aber sagemir ...«

»Von jetzt an wird er schmatzen, daß sich die Balken biegen«, fiel Blödel mit schriller Stimme ein.

»Sag mir«, nahm Hage Nockemann den unterbrochenen Satz wieder auf: »Wer bist du?« »Mein Nameist Chodhpah. Man nennt mich auch den Prospektor, denn das ist mein Beruf.«

»Du wanderst an Nachmittagen durch die Stadt und siehst zu, wo du bedrängten Fremden helfenkannst?« forschte der Wissenschaftler.

Chodhpah gab eine Reihe rasch aufeinanderfolgender Schnalzlaute von sich, das Äquivalent desmenschlichen Lachens. »Nein, mein Freund«, rief er belustigt, »ich bin nicht durch Zufall hier. Pluuslockhat mich gebeten, ein Auge auf euch zu haben. Er hat von dem Anschlag auf Shorrn erfahren und sorgtsich um eure Sicherheit. Wußtet ihr, daß Terschlakk zu Teffernors Schlägerbrigade gehört?«

»Nein. Wir kennen nur einen von Teffernors Gefolgsleuten, Visnjak.«

»Ah, Visnjak. Er ist seit heute mittag spurlos verschwunden. Wußtet ihr das?« »Nein«, antworteteNockemann abermals. »Ihr seid bemerkenswert ahnungslos«, sagte der Prospektor. Dann wandte er sichum und machte eine freundliche Handbewegung in Richtung der Gäste, die immer noch vor oder nebenihren Tischen standen und sich kein Detail der eigenartigen Szene entgehen ließen. »Es gibt nichts mehr zusehen, meine Freunde. Widmet euch den Speisen und Getränken, bevor sie schal werden.« Als übe ereine hypnotische Kraft auf seine Zuhörer aus, wandten sie sich ab und taten, wie ihnen geheißen war.Schon eine Minute später herrschte wieder fröhlicher Lärm in der großen Speisehalle, und derZwischenfall schien vergessen.

»Euch beiden«, sagte Chodhpah zu Nockemann und Blödel, »möchte ich vorschlagen, daß ihr nachHause geht. Ihr habt keine Ahnung von den Gefahren, die ringsum lauern, und würdet einer von ihnenzweifellos zum Opfer fallen. Geht nicht zu Fuß, sondern nehmt ein Mietfahrzeug.«

Page 37

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Zu teuer«, knurrte Nockemann.

»Zu teuer für dein Leben?« spottete der Prospektor. »Gewiß, in Seletan ist alles teuer. Der Bergbaubringt viel Geld ein, die Bergbauer sind reich. Sie verdienen sechs- bis siebenmal mehr als die Arbeiterauf Anterf. Das Dienstleistungsgewerbe und die Stadtverwaltung wollen leben. Sicher ist’s hier teuer.Aber ein Toter kann sein Geld nicht mehr ausgeben.«

Er geleitete sie hinaus auf die Straße und rief ein Mietfahrzeug herbei. Hage Nockemann fiel ein, daß ersich bei Chodhpah zu bedanken vergessen hatte. Er wandte sich um, aber der Prospektor warverschwunden.

*

»Alles in Ordnung«, sagte Atlan, nachdem er den Interkom abgeschaltet hatte. »Chodhpah hat sichtatsächlich mit Pluuslock abgesprochen. Es scheint, wir haben mit den Bergwerklern eine Gruppezuverlässiger Freunde gewonnen.«

»Gut«, brummte Nockemann und deutete auf die Videofläche des Datengeräts, an dem Tyari arbeitete.Draußen war es inzwischen dunkel geworden. »Wie weit sind wir. Haben wir genug, daß wir Teffernorund seine Erkenner des Wahren festnageln können?« Der Arkonide lachte auf.

»Du willst dir von ihnen nichts mehr bieten lassen, wie? Nein, ich fürchte, soweit sind wir noch nicht. Esist zwar auffällig, daß Teffernor sich gerade dann auf Seleterf ansiedelt, als zum ersten Mal das Gerüchtüber Obolorn auftaucht, aber mit diesem zeitlichen Zusammentreffen allein können wir nicht viel anfangen.Das mag Zufall gewesen sein.« »Du hörst dich an«, sagte der Wissenschaftler verärgert, »als wolltest dumir auf die schonende Art klarmachen, daß du die Erkenner nicht mehr im Verdacht hast.« »Sieh dir dieDaten an«, forderte Atlan ihn auf. »Alles, was über Obolorn bekannt ist, weist darauf hin, daß er einegewisse Kontrolle über OBO-eins ausübt. Insofern könnte er tatsächlich der Geist der Positronik sein.Wenn wir Teffernor oder einen seiner Anhänger mit Obolorn identifizieren, dann unterstellen wir ihm, daßes ihm gelungen ist, die desaktivierte Positronik wenigstens teilweise wieder in Gang zu setzen.«

»Na und?«

»Teffernor und seine Jünger sind ideologische Eiferer. Spinner würde ein skeptisches Gemüt sie nennen.Keiner von ihnen besitzt die Qualifikation, eine Positronik dieser Art auch nur zu bedienen, geschweigedenn aus dem selbstinduzierten Tiefschlaf zu erwecken.«

»Kennen wir sie alle?« fragte Nockemann. »Visnjak, hört man, ist der reichste Bürger von Seleterf. Kanner nicht Spezialisten angeheuert haben, von denen wir nicht einmal ahnen, daß sie zu den Erkennerngehören?« »Möglich, aber nicht wahrscheinlich.« Atlan hob die Schultern.

»Yurrhts Vorgänger, der sein Amt offenbar etwas ernster nahm, hat über alle Vorstöße in Richtung

Page 38

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

OBO-eins genau Buch geführt. Es existiert ein Dossier über jeden Techniker und Wissenschaftler, dersich während der vergangenen zehn Jahre an OBO-eins zu schaffen gemacht hat. Eine Verbindung zuVisnjak läßt sich nirgendwo erkennen.«

»Und doch ...«, knurrte der Wissenschaftler.

»Ein Meisterstück des Unbekannten«, fuhr Atlan fort, ohne den Einwand zu beachten, »ist ohne Zweifeldie Reaktivierung der Verteidigungsanlagen, mit denen OBO-eins sich gegen feindselige Eindringlingeschützt. Die Konstrukteure der Positronik legten Wert darauf, daß bei der Identifizierung einesUnbekannten als Feind kein Fehler unterlief. Dutzende verschiedener Meß- und Nachweismethoden, alleautomatisch funktionierend, wurden installiert, um jede denkbare Fehlerquelle auszuschließen. Es sollteunter allen Umständen vermieden werden, daß ein Harmloser, Unschuldiger den Sicherheitsmaßnahmenzum Opfer fiel.

Während der Untersuchungen, die Narrms Experten durchführten, starben Dutzende im Feuer derBlaster und Desintegratoren, mit denen die Zugänge zu den Kontrollräumen gespickt sind. Es ist demUnbekannten also gelungen, die Meßstrecken, die der Identifizierung des Eindringlings dienten, zuneutralisieren. Seitdem betrachtet OBO-eins alles als feindlich, was sich ihm nähert. Das mein Freund,erfordert ein umfangreiches technisches Verständnis. Teffernor und seinen Erkennern traue ich es nichtzu. Ich bin nicht einmal sicher, ob Narrms Experten es besessen haben.«

Hage Nockemann strich sich über das schmutziggraue Haar. Er war offensichtlich beeindruckt.

»Du sprachst davon, daß OBO-eins teilweise wieder in Gang gesetzt wurde«, sagte er. »Warum begnügtsich der Unbekannte damit?«

»Oh, er begnügt sich nicht. Er will die Positronik ganz unter seine Kontrolle bringen. Erst dann kann ersein Ziel erreichen, was immer das sein mag. Aber er braucht Zeit. An das Basisprogramm einer derartkomplexen Positronik kommt man nicht so leicht heran.« Nockemann seufzte.

»Das klingt alles so verdammt logisch«, beschwerte er sich, »daß man keine vernünftigen Einwändedagegen erheben kann. Zu schade, daß wir gegen Teffernor und seine Banditen nicht vorgehen können.Das verursacht mir Magengrimmen.« Er sah auf. »Blödel, verschaff mir etwas zu essen, einen kleinenImbiß.«

»Du hast erst vor drei Stunden eine volle Mahlzeit zu dir genommen«, hielt ihm der Robot entgegen undrührte sich nicht vom Fleck.

»Du eingebildetes Ofenrohr, meinst du, ich lasse mir von dir Vorschriften machen?« keifte derWissenschaftler. »Lauf, sonst mache ich dir Feuer unter deinem Blechhintern.« Blödel zog davon. Atlanund Nockemann sahen Tyari bei der Auswertung der Daten zu. Wenige Minuten später kehrte derRobot zurück. Er trug ein Tablett mit drei gerösteten Schnitten eines Gebäcks, das verführerisch duftete,und setzte es neben Nockemann auf den Tisch. Geistesabwesend griff der Wissenschaftler nach der

Page 39

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

ersten Schnitte und führte sie zum Mund.

»An deiner Stelle würde ich das nicht essen«, sagte Blödel.

»Häh?« Nockemann fuhr herum. Er hatte den Mund bereits offen, das Gebäck schwebte zwischen denZähnen. »Warum nicht?« »Es ist vergiftet.«

Nockemann verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen.

»Ah, bah«, machte er. »Deine Tricks kenne ich schon.«

Er schickte sich an zuzubeißen. Atlan sprang auf und schlug ihm die Hand beiseite. Die Schnitte segeltedavon.

»Heh!« protestierte der Wissenschaftler empört. »Was soll das ...«

»Vorsicht ist die Tugend der Weisen«, sagte Atlan. »Laß uns nachsehen, was Blödel meint.«

Page 40

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

5.

Blödel, mit zahlreichen Fächern und Laden in seinem metallenen Leib – eine der Laden wurde von demBakwer Wuschel als Heimstatt benützt – und einer Fülle intern installierter Analysegeräte, war einwandelndes biochemisches Labor. In der Tat war er zu diesem Zweck ursprünglich von HageNockemann konstruiert worden. Erst später war dem Galakto-Genetiker die Idee gekommen, daß dieMaschine, die ihm die Arbeit erleichterte, ebensogut als Gesprächspartner und Begleiter dienen könne.

Blödel hatte eine oberflächliche Untersuchung der Gebäckschnitten vorgenommen, als sie aus demKüchenautomaten kamen. Es war weiter nichts als eine Routinehandlung gewesen. Als er jetzt einedetaillierte Analyse durchführte, stellte er fest, daß Hage Nockemanns kleiner Imbiß eine mehrfachtödliche Dosis Akonitin enthielt.

Der Wissenschaftler war blaß geworden. »Ich hätte ... hätte das wahrscheinlich am Geschmackgemerkt«, stotterte er. »Und wärest trotzdem gestorben«, ergänzte Atlan. »Akonitin ist eines dergefährlichsten Gifte.«

Er sah auf. Tyari hatte ihre Arbeit vorübergehend unterbrochen.

»Das Versorgungssystem wurde früher von OBO-eins gesteuert«, fragte er, »nicht wahr?« »Das istrichtig«, antwortete Tyari. »Unregelmäßigkeiten in der Versorgung waren die ersten Anzeichen, mit denensich der Zusammenbruch der Positronik ankündigte.« »Wie wurde das Problem gelöst?« »Zuerst ließ dieStadtverwaltung Proviant horten und von Hand verteilen. Dann richtete sie ein halbautomatischesVerteilungssystem ein, das bis auf den heutigen Tag benützt wird.«

»Aber die Anschlüsse an OBO-eins sind nach wie vor vorhanden? Ich meine, wenn die Positronik heuteden Betrieb wiederaufnähme, würde sie die Versorgung sofort übernehmen?«

»So sieht es aus«, bestätigte Tyari. »Vorausgesetzt, die Vorräte sind nicht verdorben.« Wortlos wandteder Arkonide sich dem Interkomanschluß zu. Das verschlafene Gesicht eines Anterferranters erschien.

»Ich will das Stadthaupt sprechen«, erklärte Atlan.

»Das Stadthaupt schläft«, wurde ihm geantwortet.

»Dann wecke es! Die Stadt ist in Gefahr. Die Versorgungsleitung produziert giftigen Proviant.«

Der Anterferranter war mit einemmal hellwach.

»Warte«, rief er. »Ich versuche, Yurrht zu wecken.«

Page 41

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Er verschwand vom Bildschirm. Atlan sah auf die Uhr. Die zehn Stunden, nach deren Ablauf Yurrht ihnund seine Begleiter von Seleterf hatte vertreiben wollen, waren inzwischen verstrichen. Er hatte sich nichtgetraut, seine Drohung wahr zu machen. Yurrht erschien wenige Augenblicke später auf der Bildfläche.Sein Pelz war zerzaust, sein Blick verriet Verwirrung.

»Gift?« bellte er. »Was höre ich da von Gift?«

Atlan berichtete. Das Wort »Akonitin« war dem Translator nicht geläufig. Der Arkonide ließ sich vonBlödel die chemische Formel geben und las sie Yurrht vor.

»Mein Freund ist um Haaresbreite dem Tod entgangen«, schloß er. »Ich überlasse es dir, für dieSicherheit deiner Bürger zu sorgen.« »Ja, ja«, stieß Yurrht hastig hervor. »Das werde ich tun ...«

Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Atlan schaltete das Gerät ab. Einen Augenblick langherrschte Stille. Dann fragte Nockemann:

»Glaubst du, es war auf uns abgesehen?« »Ich nehme es fast an«, antwortete Atlan. »Bleibt nur nochherauszufinden, ob das Gift aus dem halbautomatischen Verteilungssystem der Stadtverwaltung oder ausder Versorgungsleitung der Positronik stammt.« Er war am Nachdenken; man sah es in seinen Zügenarbeiten. »Tyari, ich brauche die Schaltschemen der Versorgungsservos von OBO-eins. Du weißt, wosie zu finden sind?« Tyari schlanke Hände glitten über die Tastatur. Eine Tabelle erschien auf derVideofläche.

»Ein Verzeichnis aller Schematiken«, sagte sie. »Du kannst dir aussuchen, welche du willst.«

Auf Atlans Bitte hin überließ sie ihm den Platz vor dem Datengerät. Der Arkonide schien von einer Ideebesessen. Während er die Tasten betätigte, um die gewünschte Schematik auf die Bildfläche zu bringen,murmelte er im Selbstgespräch:

»Wenn wir herausfinden, von wo die Versorgungsleitung geschaltet wird, dann wissen wir, wo derUnbekannte sich vor kurzem aufgehalten hat.«

Sein Eifer steckte Hage Nockemann an. Er zog einen Stuhl herbei und half bei der Suche. Kurze Zeitspäter rief er Blödel hinzu und erklärte ihm, worum es ging. Das optische Wahrnehmungsvermögen desRoboters war nicht wie das eines organischen Wesens darauf angewiesen, jeder einzelnen Linie desDiagramms zu folgen. Blödel nahm das Bild integral in sich auf und verarbeitete es als Ganzes.

So beschäftigt waren Atlan und seine Helfer, daß keiner von ihnen hörte, wie der Interkom ansprach.Tyari nahm den Anruf entgegen. Dann trat sie hinter das Datengerät, so daß der Arkonide sie sehenmußte, wenn er aufblickte.

Page 42

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Gibt’s was Wichtiges?« fragte er. »Wie man’s nimmt. Die Stadtverwaltung hat zurückgerufen. Eine rechtunwirsche Stadtverwaltung, um genau zu sein.« »Und?«

»Sämtlicher ausgegebener Proviant ist mit Akonitin versetzt – in Dosen, die für unsere Begriffe rechtmassiv sind.«

»Also doch OBO-eins«, murmelte Atlan und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er schien sich anetwas zu erinnern und musterte Tyari überrascht. »Unwirsch? Wieso unwirsch? Sie sollten uns dankbarsein, daß wir sie rechtzeitig auf die Gefahr aufmerksam gemacht haben.«

»Das wären sie auch, wenn es eine Gefahr gäbe.«

Sein Blick verriet Verständnislosigkeit. »Wir haben ein wenig vorschnell von uns auf anderegeschlossen«, lächelte Tyari. »Dem Metabolismus der Anterferranter macht Akonitin nichts aus.«

*

In dieser Nacht gönnten sie sich sechs Stunden Ruhe. Sie hatten sie nötig. Atlan hatte das unbestimmteGefühl, daß morgen der entscheidende Tag sein würde. Sie hatten den Gegner aus der Reserve gelockt.Er hätte den Versuch, sie zu vergiften, nicht unternommen, wenn er sich nicht bedroht fühlte. Die Suchenach der Kontrollstelle, von der aus die Versorgungsleitung gesteuert wurde, war erfolglos verlaufen. DasSteuernetz der Mammutpositronik war vielfach verzweigt. Es gab zwölf Kontrollpositionen und eineHauptkontrolle. Jeder Kontrollposition standen sämtliche Funktionen der Positronik zur Verfügung – mitAusnahme einiger weniger, die nur von der Hauptkontrolle aus angesprochen werden konnten. Mitanderen Worten: Der Unbekannte konnte die Vergiftung der Versorgungsleitung von irgendeinem derdreizehn Schalträume aus vorgenommen haben.

Früh am nächsten Morgen unternahm es Hage Nockemann, der in dieser Sache bereits Erfahrung hatte,vom städtischen Kommunikationszentrum aus die CHYBRAIN zu verständigen und die Entsendung einerLadung Bordproviant zu veranlassen. Dem, was die Küchenautomatik servierte, war nicht mehr zutrauen.

Nockemann hatte sich mit verdächtigem Eifer bereit erklärt, den Gang zum Stadtzentrum zu unternehmen.Wahrscheinlich hatte er vor, einen Teil seines Barbesitzes in einem ausgiebigen Frühstück anzulegen.

Eine Stunde, nachdem der Heliostrahler im Zenit der Kuppel die übliche Tagesintensität erreicht hatte,brachte der junge Morgen die erste Überraschung. Atlan arbeitete im Aufenthaltsraum an demDatenmaterial, das Tyari am vergangenen Tag gesichtet und sortiert hatte, als er bei einem gelegentlichenBlick durch das große Fenster einen hochgewachsenen Anterferranter bemerkte, der gemächlich und mitweit ausgreifenden Schritten die Straße entlangkam. Sein Ziel war offenbar das Haus, in dem dasstädtische Gästequartier untergebracht war. Atlan erinnerte sich an die Beschreibung, die Nockemannund Blödel ihm am vergangenen Abend geliefert hatten: den blauen Fleck unter der Schulter, die großeUmhängetasche. Er rief den Robot herbei: »Ja«, sagte Blödel, »das ist Chodhpah, der Prospektor.«

Page 43

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Kurze Zeit später ertönte das Summen des Anmeldeservos. Der Arkonide selbst öffnete die Tür.

»Willkommen, Chodhpah«, begrüßte er den Gast. »Dein Besuch gibt uns Gelegenheit, dir unseren Dankauszusprechen.«

»Ah, du kennst meinen Namen«, staunte der Prospektor. Er besaß die wohltönendste Stimme, die Atlanbisher unter Anterferrantern gehört hatte. »Ich höre Dank. Dank wofür?«

»Dafür, daß du unseren beiden Freunden gestern nachmittag aus der Klemme geholfen hast«, antworteteAtlan.

Chodhpah machte eine beiläufige Geste. »Es war nicht der Rede wert«, meinte er. »Für jeden anderenhätte ich dasselbe getan. Geschöpfe wie Terschlakk hätten längst von Seleterf vertrieben werden müssen.Mitsamt Teffernor, von dem sie all ihre schurkischen Ideen beziehen. Aber Yurrht, unser Stadthaupt, istein Schlappschwanz.« Atlan hatte den Gast inzwischen in den Gemeinschaftsraum geführt. Während derProspektor Platz nahm, überraschte er den Arkoniden mit der Frage: »Was hältst du übrigens vonTeffernor?«

Atlan hob die Schultern.

»Er ist ein Erkenner des Wahren. Er vertritt eine Pseudoreligion, die den zivilisatorischen Rückschrittbeschleunigt. Sobald auf Anterf wieder geordnete Zustände herrschen, wird er fallen – ebenso wie Dwingefallen ist.« »Er hat es auf dich abgesehen«, sagte Chodhpah. »Er weiß, daß du hier bist, um OBO-einswieder in Betrieb zu nehmen. Dem Wahren, so verkündet er, liegt nichts daran, daß die Positronikwieder zu arbeiten beginnt.«

»Er wird mich nicht hindern können«, erklärte Atlan mit Überzeugung.

»Es gibt Bürger«, fuhr Chodhpah nachdenklich fort, »die sehen aufgrund der Thesen, die Teffernorverkündet, einen Zusammenhang zwischen ihm und Obolorn. Du hast von Obolorn gehört?«

»Von kaum etwas anderem, seit ich auf Seleterf gelandet bin«, lächelte der Arkonide. »Nach meinerAnsicht gibt man Teffernor damit zuviel Kredit«, meinte Chodhpah. »Wer oder was Obolorn inWirklichkeit auch immer sein mag – er besitzt offenbar Fähigkeiten, die man bei dem Zellenführer derErkenner vergebens suchte.«

»Ganz meiner Meinung«, bestätigte Atlan. Der Prospektor sah sein Gegenüber aufmerksam an. DemBlick seiner funkelnden Augen war nicht zu entnehmen, was er empfand, aber Atlan hatte das Gefühl, ersei überrascht.

»Welchem erfreulichen Umstand haben wir deinen Besuch zu verdanken?« erkundigte er sich leichthin.

Page 44

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Ich wollte erfahren, wie es euch geht«, antwortete Chodhpah. »Die Gefahr ist allgegenwärtig, und ichhabe vor, über euch zu wachen, wie es Pluuslock mir aufgetragen hat.«

Atlan berichtete von dem Attentat des vergangenen Abends. Er wies mit Nachdruck darauf hin, daß mitGift vermengte Nahrung überall in Seletan nachgewiesen worden war, und schloß: »Für mich steht damitfest, daß das Toxikum in die zentrale Versorgungsleitung eingeführt wurde – jene, die unter der Kontrolleder Positronik steht. Und ich vermute, der unbekannte Attentäter weiß genau, daß Akonitin zwar für unstödlich, für die Anterferranter jedoch unschädlich ist.« »Das spricht um so mehr dafür, daß nichtTeffernor euer wirklicher Gegner ist«, meinte der Prospektor. »So viel Umsicht besitzt er nicht.«

Im übrigen schien er dem Vorfall keine besondere Bedeutung beizumessen. Während der nun folgendenUnterhaltung betrat Tyari den Raum. Der Besucher wurde ihr vorgestellt; Chodhpah begrüßte sie nachbester anterferrantischer Sitte. Tyari hielt sich nur wenige Minuten auf. Sie habe zu tun, behauptete sie.Atlan wunderte sich insgeheim, denn alles, womit sie sich denkbarerweise hätte beschäftigen können, lagdort vor ihm auf dem Tisch. Er versuchte, mehr über den Prospektor zu erfahren. Der jedoch war mitAngaben zur eigenen Person sparsam.

Chodhpah verabschiedete sich nach einer knappen Stunde. Unter der Tür prallte er unversehens mitHage Nockemann zusammen, der soeben von seinem Ausgang zurückkehrte. Die beiden begrüßteneinander wie alte Freunde. Dann schwang der Prospektor sich in den Antigravschacht und war einenAugenblick später verschwunden.

*

Als Atlan in den Aufenthaltsraum zurückkehrte, war Tyari bereits zur Stelle. Sie wirkte verstört.

»Nichts«, sagte sie. »Kein einziges Quant Mentalenergie. Er muß ein Roboter sein.« Der Arkonidestutzte. Er hatte, ohne lange darüber nachzudenken, Chodhpah für einen typischen Anterferrantergehalten, der sich lediglich durch einen anscheinend bemerkenswerten Lebenslauf von seinenArtgenossen unterschied. Unter Anterferrantern war die Fähigkeit der mentalen Abschirmung noch nichtbeobachtet worden – was nicht unbedingt etwas zu sagen hatte, denn die Zeit, Beobachtungenanzustellen, war knapp gewesen. Chodhpah – ein Roboter? Atlans fragender Blick wanderte zu Blödel.

»Nichts da«, erklärte der Allzweckrobot mit schriller Stimme. »Ich hätte positronische Impulse odersonst etwas registrieren müssen. Chodhpah machte auf mich einen völlig normalen Eindruck.«

Atlan empfand ein plötzliches Unbehagen. Warum hatte Chodhpah – gesetzt den Fall, er besaß dieseFähigkeit tatsächlich – sich die Mühe gemacht, seine Gedanken abzuschirmen? Wußte oder ahnte er, daßsich in der Gruppe der Fremden ein Telepath befand? Mit einemmal hatte der Arkonide das Bedürfnis,mehr über den geheimnisvollen Prospektor zu erfahren. Er wußte, an wen er sich zu wenden hatte. Wennes auf Seleterf überhaupt jemand gab, der mit Chodhpah näher vertraut war, dann konnte es nurPluuslock sein. Er kam jedoch vorerst nicht dazu, Verbindung mit dem Bergwerksingenieur aufzunehmen.Ungeachtet des Mangels an Kooperation, den Yurrht gestern an den Tag gelegt hatte, war der

Page 45

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

CHYBRAIN die Genehmigung zum Antransport von Proviant für die vier in der Stadt stationiertenBesatzungsmitglieder offenbar ohne Umschweife erteilt worden. Ein Gleiter fuhr vor dem Haus vor. EinMann in der Standardmontur der SOL stieg aus und förderte aus dem Lastenabteil des Fahrzeugs einemit Behältern vollgehäufte Schwebetrage zutage. An der rötlichen, durchsichtig schimmernden Haut desUniformierten erkannte Atlan den Buhrlo, aber erst als er mit der Trage vor der Wohnungstür stand, saher, daß es Seko Neros war, ein überaus fähiger Techniker, der zusammen mit acht seiner Artgenossendarum ersucht hatte, den Einsatz auf Seleterf mitmachen zu dürfen. Was sich die Buhrlos davon erhofften,war klar: häufigere Gelegenheit zu Weltraumspaziergängen. Ihre bevorzugte Freizeitbeschäftigung, die fürden Metabolismus der Weltraumkinder gleichzeitig eine Lebensnotwendigkeit darstellte, hatte in letzterZeit umständehalber drastisch eingeschränkt werden müssen.

Seko grüßte freundlich und erkundigte sich: »Wohin mit dem Zeug?«

Blödel dirigierte ihn in die Küche. Die Trage kippte zur Seite und entlud ihre Last auf den Boden. AlsSeko sich umwandte und in Richtung des Ausgangs schritt, folgte sie ihm wie ein treuer Hund.

»Ich hoffe, das reicht euch eine Zeitlang«, sagte er.

»Wenn der Chef- und Oberscientologe es fertigbringt, ein wenig an sich zu halten«, erklärte Blödelvorlaut, »müßten wir ein paar Tage damit auskommen.«

»Konzentratnahrung, pah!« machte Nockemann verächtlich. »Vor meinem Appetit ist das Zeug sicher.«

»Wie steht’s an Bord, Seko?« erkundigte sich Atlan.

»Wie üblich«, antwortete der Buhrlo. Er lächelte, aber unter dem Lächeln blieb ein Ausdruck derSchwermut. »Alles langweilt sich, außer uns. Wir können wenigstens nach Lust und Launespazierengehen.«

Durch das Fenster sah Atlan ihm nach. Der Gleiter setzte sich in Bewegung, wendete und schwebtestadteinwärts die Straße entlang. Die Geschichte der Buhrlos war ein trauriges, tragisches Kapitel in denAnnalen der SOL. Als die Solaner die Kontrolle über ihr Schiff erhielten und mit dem festen Vorsatz, niewieder den Fuß auf die Oberfläche eines Planeten zu setzen, die Fahrt durch die Endlosigkeit desUniversums antraten, da waren die ersten Buhrlokinder als die Vertreter einer neuen Art, als die wahrenWeltraummenschen, begeistert begrüßt worden. Man sah in der Entstehung der neuen Spezies einenWink des Schicksals, der zu verstehen gab, daß man sich auf dem richtigen Weg befand. Nur zu baldhatte sich herausgestellt, daß die Natur mit der Schaffung der Buhrlos einen Fehltritt getan hatte. Siewaren weder Weltraum- noch Schiffsbewohner. Ihr Leben erforderte einen ständigen Wechsel zwischendem klimatisierten Innern der SOL und dem Vakuum des Weltraums. Obwohl die Buhrlos unterBedingungen zu überleben vermochten, die für den Menschen sofort und absolut tödlich gewesen wären,war die Toleranzspanne der Umweltparameter, die dem Buhrlo ein erträgliches Dasein ermöglichte,weitaus enger, als der normale Solaner sie erforderte. Und dann kam Hidden-X. In seinerunbeherrschten Rachsucht hatte es die gesamte Spezies seiner Feinde zum Untergang verdammen wollen.

Page 46

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Es infizierte zwei Besatzungsmitglieder der SOL mit einem Toxin, das unfruchtbar machte und durchbloßen Hautkontakt übertragen werden konnte. Dies, so schwor sich der Herr des Spiegels, war dieletzte Generation Solaner, mit der er sich herumzuschlagen brauchte. Aber in seiner blinden Wut hatte ereinen Fehler begangen. Die zwei infizierten Solaner waren Buhrlos. Auf die Weltraummenschen wirktedas Gift in der geplanten Weise, aber die normalen Solaner waren dagegen immun.

Über drei Standardjahre lag es inzwischen zurück, daß die Morszek-Dermalgie sich unter den Buhrlosauszubreiten begonnen hatte. Ein sofortiger, drastischer Geburtenrückgang war die Folge gewesen.Heute geschah es nur noch höchst selten, daß ein lebensfähiger Buhrlo zur Welt kam. Die Natur bemühtesich, ihren Fehler zu korrigieren, und hatte Hidden-X zu ihrem Werkzeug gemacht. Aus den Vorräten,die Seko Neros gebracht hatte, wurde ein Frühstück bereitet. Hage Nockemann hielt sich an sein Wortund aß zurückhaltend. Das mochte allerdings auch damit zu tun haben, daß er in der Stadt bereitsausgiebig gefrühstückt hatte. Atlan drängte die Ungeduld. Er hatte den letzten Bissen kaum im Mund, dahantierte er schon am Interkom und versuchte, Pluuslock zu erreichen. Aus der Abbaukuppel, in der ersich nach Auskunft des städtischen Bergwerksamts befand, wurde gemeldet, daß er vor einigen Minutenin Richtung Stadt aufgebrochen sei. Nein, man wisse nicht, was er in der Stadt wollte, und er sei auchunterwegs nicht zu erreichen.

Aber der Morgen hatte seine Überraschungen noch nicht erschöpft. Eine Viertelstunde später hieltabermals ein Fahrzeug vor dem städtischen Gästehaus. Ihm entstieg Pluuslock, der LeitendeBergbauingenieur.

*

»Nein, er untersteht mir nicht«, sagte der Anterferranter. »Er untersteht überhaupt niemand. Wie undwarum er nach Seleterf gekommen ist, weiß niemand. Er ist Prospektor, und zwar einer der genialsten,die es im edlen Handwerk des Bergbaus je gegeben hat. Er riecht abbauwürdige Vorkommen. Er findetSpalten, die jedes normale Auge übersieht, und kriecht im Innern des Mondes herum, als wäre er dageboren.«

»Wovon ernährt er sich?« wollte Atlan wissen. »Betreibt er selbst Bergbau?« »Keineswegs. Er istgewöhnlich wochenlang unterwegs. Während dieser Zeit bekommt ihn niemand zu sehen. Nach seinerRückkunft wendet er sich zuerst an mich. Gewöhnlich hat er zehn bis zwanzig neue Abbauorte gefunden.Ich lasse sie untersuchen, und wenn ich sie der Industrie zur Ausbeute vorschlage, will er ein kleinesHandgeld haben. Es ist sehr bescheiden. Ganz selten kommt es vor, daß ich einen seiner Funde für nichtder Mühe wert halte und er sich dann direkt an die Industrie wendet. Bei solchen Gelegenheiten, dasgestehe ich offen, bin ich ein paarmal böse auf die Nase gefallen.« »Obwohl er ein so wichtiger Scout ist,hast du ihm den Auftrag gegeben, über unsere Sicherheit zu wachen?« fragte Atlan. Pluuslock verzog dasGesicht. »Das ist eine merkwürdige Sache«, sagte er. »Deswegen bin ich hier. Ich habe ihm keinenAuftrag gegeben, könnte das auch gar nicht. Er selbst fragte mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn ersich ein wenig um euch kümmerte. Was sollte ich sagen? Er ist ein freier Bürger und kann tun und lassen,was ihm beliebt. Er brauchte meine Zustimmung nicht, aber ich gab sie ihm trotzdem. Ist er euch in dieQuere gekommen? Hat er euch belästigt?« »Ganz im Gegenteil. Gestern nachmittag hat er zwei meinerFreunde vor einer Bande Schläger bewahrt, die anscheinend Teffernor auf sie gehetzt hatte.«

Page 47

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Pluuslock gab mit kurzen Schnalzlauten seiner Heiterkeit Ausdruck. »Ja, das kann er. Ohne Waffe, ohnePrügelei – nur mit der Kraft seiner Stimme. Die Seletaner haben Respekt vor ihm.«

Hage Nockemann und Blödel hatten sich in einen der Nebenräume zurückgezogen. DerGalakto-Genetiker tat ein wenig geheimnisvoll; er schien an einem Projekt zu arbeiten, das zumindest erselbst für wichtig hielt. Tyari war der Unterhaltung schweigend gefolgt. Sie hatte sich längst damitabgefunden, daß ihr die Wirkung, die sie auf dem Mutterplaneten auf die Anterferranter ausgeübt hatte,abhanden gekommen war. Entweder hatte es sich nur um eine vorübergehende Befähigung gehandelt,oder es herrschten auf Seleterf besondere Bedingungen, die sie nicht zur Geltung kommen ließen. Ab undzu warf sie, ohne daß Pluuslock es bemerkte, Atlan einen beruhigenden Blick zu. Der Ingenieur dachte,was er sagte. Er log nicht.

»Chodhpah besitzt eine merkwürdige und äußerst seltene Fähigkeit«, begann der Arkonide, nachdem ersich mehrere Sekunden den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie sich das heikle Thema auf möglichstunverfängliche Weise angehen ließe. »Er kann seine Gedanken verbergen.«

Pluuslock sah verwundert auf. »Woher willst du das wissen?« fragte er. »Kannst du Gedanken lesen?«

»Ich nicht. Tyari kann es.«

Pluuslock zuckte zusammen.

»Sie ... sie liest meine Gedanken?« stieß er unsicher hervor.

»Das tut sie nicht.« Ihr Götter, verzeiht mir diese Lüge! »Sie kann, ohne den Inhalt deiner Gedanken zurKenntnis zu nehmen, erkennen, daß sich in deinem Bewußtsein eine normale Denktätigkeit abspielt. BeiChodhpah konnte sie das nicht.«

Pluuslock schien halbwegs beruhigt. »Was macht ihr daraus?« fragte er. »Wir wissen es nicht. Hältst dues für möglich, daß Chodhpah ein Roboter ist?« Pluuslock fuhr sich mit der Hand über das zernarbteGesicht.

»Ein Roboter, der blutet?« meinte er, und als er Atlans verständnislosen Blick bemerkte, fuhr er fort:»Eines Tages hatte Chodhpah einen besonders ergiebigen, aber auch sehr schwer zugänglichen Abbauortgefunden. Er kam, um ihn mir zu zeigen. Wir mußten tief in eine Höhle hinabsteigen. Das Gestein geriet inBewegung. Wir wurden verschüttet. Meine Techniker retteten uns. Seit jener Zeit trage ich diese Narben.Als wir an die Oberfläche zurückgebracht wurden, war Chodhpah genauso blutverschmiert wie ich.«

»Aber er hat keine Narben.«

»Keine Narben«, brummte Pluuslock. Hage Nockemann betrat den Raum. Er wirkte so ernst, daß Atlan

Page 48

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

unwillkürlich aufmerksam wurde.

»Gibt’s was?« fragte er.

Der Wissenschaftler produzierte ein winziges, dünnes Glassitplättchen und hielt es dem Arkonidenentgegen. Atlan sah einen Fleck durchsichtiger Klebmasse, die verwendet wurde, Objekte für diemikroskopische Untersuchung auf dem Objektträger zu fixieren. Darunter befand sich ein dünner Faden– nein, kein Faden: ein Haar.

»Sprich, Hage«, drängte er.

»Du erinnerst dich, daß ich unter der Tür mit Chodhpah zusammenstieß«, begann Nockemann. »Ichbenutzte die Gelegenheit, unbemerkt ein kleines Büschel Haare aus seinem Pelz zu reißen.«

»Wozu das?« fragte Atlan überrascht. »Ich hatte einen Teil der Nacht und den ganzen Morgen über ihnnachgedacht. Er kam mir ... wie soll ich das ausdrücken? ... nun, zu unanterferrantisch vor. SeineAusdrucksweise war zu gewählt, seine Stimme zu melodisch, sein Benehmen zu makellos.« Er sah deneigentümlichen Blick in Pluuslocks Augen und fügte hastig hinzu: »Nicht, daß ich die Anterferranter fürungebildet oder schwerfällig hielte, beileibe nicht! Aber Chodhpah – er war irgendwie anders. So anders,daß mir der Verdacht kam, er könnte ein maskierter Fremder sein. In diesem Fall, dachte ich mir, wäreder Pelz eine Maske. Bei der ersten Gelegenheit rupfte ich ihm ein paar Haare aus. Blödel hat sie unterdem Mikroskop untersucht und biochemisch analysiert.« Er sprach nicht weiter.

»Hage«, sagte Atlan drohend. »Wenn du nicht sofort mit der Sprache herausrückst ...« »Das Haar ist sotot wie ein Stück Granit. O nein, es ist nicht synthetisch. Der Pelz hat irgendwann einmal einem echtenAnterferranter gehört. Aber das muß Jahre weit zurückliegen, mindestens vier, schätzt Blödel.« Atlanwandte sich an Pluuslock.

»Seit wann kennst du Chodhpah?«

»Seit vier bis fünf Jahren«, antwortete der Bergbauingenieur. »Er kam damals von ... Zumptorf, glaubeich, dem äußersten der drei besiedelten Planeten.«

»Etwa um dieselbe Zeit, als Obolorn zum ersten Mal von sich hören machte«, sagte Atlan nachdenklich.Er stand auf, verharrte eine Zeitlang schweigend und offenbar in tiefem Nachdenken. Dann fuhr er fort:»Es wird Zeit, daß wir uns um OBO-eins kümmern. Ich habe das Gefühl, unser Widersacher sieht sichbedrängt. Wir müssen ihm das Handwerk legen, bevor er in Panik gerät und Unheil anrichtet.«

Page 49

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

6.

Der Arkonide hatte keine Entschuldigung gelten lassen. In aller Eile war Yurrht aus seinem Arbeitszimmergetrommelt worden. Es blieb ihm nicht einmal Zeit, sein Gefolge zu versammeln. Auch der jungeTechniker, dessen Aufgabe es war, die weisen Worte des Stadthaupts und die weniger weisen seinerGäste aufzuzeichnen, war abwesend. »Ich protestiere gegen dieses würdelose Geschäftsgebaren«, bellteYurrht, kaum daß er auf seinem Thronsitz Platz genommen hatte. »Die Garde ist unterwegs ...« »Sei still,Fant«, sagte Atlan ohne Schärfe und doch so, daß das pompöse Stadthaupt auf der Stelle verstummte.»Die Stadt hat etwas Besseres verdient als dich. Sobald ich nach Anterf zurückkehre, werde ich Narrmbewegen, daß er dich ersetzt. Zuvor jedoch erhältst du Gelegenheit, etwas Nützliches zu tun.« »Ich habenicht vor ...« keifte Yurrht. »Das ist mir gleichgültig. Hauptsache, du tust es. Der Zugang zu OBO-einssteht unter städtischer Kontrolle?«

»Natürlich. Unter wessen sollte er ...« »Gut. Du wirst ihn für uns öffnen.« »Ich werde ...«

»Mehr noch. Du wirst mit uns kommen. Ich rate dir, dich weniger zeremoniell zu kleiden. Soweit ichgehört habe, ist es dort unten finster und staubig, die Rampen sind steil und die Schächte tief.«

Yurrht riß den Rachen auf, daß die mit Goldplättchen belegten Reißzähne im Licht des Saales glänzten,und schnappte nach Luft. »Ich werde mich nicht ...«, gurgelte er. »Pluuslock, Blödel – geleitet dasStadthaupt zu seinen Gemächern und seht zu, daß der ehrwürdige Yurrht Kleidung anlegt, die unseremVorhaben angemessen ist.« Die beiden Genannten schritten die drei Stufen des Podests hinauf, packtenden Empörten unter den Armen und zogen ihn auf die Beine. Yurrht protestierte mit krächzender Stimme,aber als er erkannte, daß es seinen Bedrängern ernst war, ging sein Geschrei in Gejammer über.

Unter dem Eingang des Saals erschienen mehrere Anterferranter mit dem charakteristischen Pelzmusterder städtischen Garde. Atlan, Tyari und Hage Nockemann griffen nach den Waffen. Daraufhin zogen sichdie Gardisten fluchtartig zurück. Kurze Zeit später tauchte, von Pluuslock und Blödel eskortiert, Yurrhtwieder auf. Er hatte sich offenbar in sein Schicksal ergeben. Er trug simple, zweckmäßige Gurte anstelleder bunten, mit allerhand Krimskrams behängten Bänder, und seine Füße steckten in derben Sandalen.»So ist’s recht«, lobte Atlan. »Ich hoffe, alles Weitere geht ebenso glatt. Wir brauchen Lampen, ein paarMeßgeräte, Kommunikationsmittel ...«

Das Stadthaupt leistete keinen Widerstand mehr. Eine Gruppe von Gardisten wurde herbeigerufen. Siemußten die Waffen niederlegen, dann schickte Yurrht sie, die Dinge zu besorgen, die der Arkonide ihnenaufzählte. In der Zwischenzeit begab Hage Nockemann sich zum städtischen Kommunikationszentrumund setzte eine Meldung an die CHYBRAIN ab.

»Alles klar«, meldete er, als er zurückkehrte. »Uster Brick schickt eine Gruppe von dreißig Mann. Siebeziehen im Stadtpalast Quartier.«

»Ich habe eine Menge zuverlässiger Freunde«, sagte Pluuslock. »Ich meine, wir sollten sie herbeirufen.Zu sechst stellen wir keine ernst zu nehmende Streitmacht dar.« »Laß sie, wo sie sind«, wies Atlan das

Page 50

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Anerbieten zurück. »Wir wissen nicht, wie es dort unten sein wird. Jedem von uns traue ich die nötigeUmsicht zu, unnötiges Risiko zu vermeiden. Wenn wir einen Haufen Unerfahrener mit uns schleppen,vergeuden wir unsere Zeit damit, sie zu beaufsichtigen.« Er wandte sich an Yurrht.

»Zeig uns den Weg, edles Stadthaupt«, sagte er spöttisch.

*

Die Halle lag fünfzig Meter unter der Oberfläche des Mondes. Sie war rund und von einer mitLeuchtplatten ausgelegten, flachen Kuppel überdacht. In der Mitte des Bodens gähnte ein finsteres Lochvon fünfzehn Metern Durchmesser. Am Rand des Loches entlang zog sich ein Geländer, das ausbeweglichen Sektionen bestand. Auf dem Weg hierher hatte Yurrht erklärt, wie der Transport durch denSchacht funktionierte. Zwei der Pfosten, an denen das Geländer befestigt war, enthieltenSchaltvorrichtungen, mit denen Antigravplatten unterschiedlicher Größe aus einem seitwärts desSchachtes gelegenen Depot abgerufen und auf ein bestimmtes Ziel programmiert werden konnten. Atlanverstand das Prinzip aufgrund der Informationen, die er aus dem gesichteten Datenmaterial gewonnenhatte. Er kniete vor einem der beiden Pfosten nieder und inspizierte das Schaltschema. Für jedes der vonhier aus erreichbaren Ziele gab es eine Drucktaste. Die Zielbezeichnung besagte dem Arkoniden nichts.Auch Yurrht wußte hier nicht Bescheid. Der Abruf der Antigravplatten erfolgte durch Betätigung eineroder mehrerer Kontaktflächen, mit denen Größe und Anzahl der Platten spezifiziert werden konnten.

Atlan war noch in den Anblick der Kontrolleiste vertieft, als er Blödel sagen hörte: »Ich habe denTranslator ausgeschaltet. Achtet auf unsere beiden Begleiter, daß sie sich unauffällig verhalten. Wirwerden beobachtet.«

Yurrht, der neben Atlan kauerte, sah den Arkoniden fragend an. Er hatte erwartet, daß ihm die Wortewie üblich durch den Translator übersetzt würden.

»Was sagt er?« erkundigte er sich mißtrauisch.

»Sei still«, antwortete Atlan, nachdem er den Translator vorsorglich auf geringere Lautstärke regulierthatte. »Der Robot hat etwas Verdächtiges beobachtet.«

Er lugte hinter dem Pfosten hervor und sah, daß Tyari sich um Pluuslock kümmerte. Es wirkte alles rechtunauffällig.

»Hinter der Wand, der ich den Rücken zuwende, liegt ein Raum«, sagte Blödel. »Der Eingang istsorgfältig getarnt und mit einem komplizierten positronischen Riegel versehen. Wer weiß etwas überdiesen Raum?« Atlan vermittelte Blödels Worte an Yurrht weiter. Der Anterferranter machte die Gesteder Verneinung.

»Unsinn«, sagte er halblaut. »Dort gibt es keinen Raum. Die gesamte Stärke der Wand haben wir

Page 51

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

gebraucht, um diese Halle zu stützen.«

Atlan desaktivierte den Translator. »Der Raum ist unbekannt«, erklärte er auf Interkosmo.

»Folge mir«, forderte der Robot ihn auf. Er schritt zum Hintergrund der Halle. Seine empfindlichenSensoren hatten ermittelt, wo sich die Spiongeräte befanden. Die Ecke, in die er sich zurückzog, konnteoffenbar nicht eingesehen werden.

»Ich schlage folgendes vor ...«, sagte er zu Atlan.

*

»Mit Efaterns Unglück fing es an«, sagte Teffernor bitter. »Seitdem haben wir nur noch Rückschlägeerlitten.«

»Die Fremden sind schuld«, schnalzte Visnjak. Er sah mitgenommen aus. Seit über einem Tag hauste erin diesem unterirdischen Raum und sehnte sich nach dem luxuriösen Komfort seines Hauses. »Wir habensie unterschätzt.«

»Und das, obwohl wir unseren Informanten unmittelbar an der Quelle sitzen haben.« Teffernors Blickwanderte zu dem kleinen Schalttisch, an dem Priparrhn, der Techniker, saß.

»Ich habe berichtet, was ich hörte«, sagte er. »Ich habe deine Anweisung befolgt und im Quartier derFremden in aller Eile ein Abhörsystem eingebaut, obwohl ich sicher war, daß sie es finden würden. Ichglaube nicht, daß du Anlaß hast, über mich zu klagen. Halte dich an Visnjak, der sich mit demPelzschmuck eines Gecken ans Steuer eines Fluchtfahrzeugs setzte, obwohl er damit rechnen mußte, daßer im Kommunikationszentrum schon erkannt worden war. Oder an Terschlakk, der mit mehrerenLeuten vor einem einzigen Gegner den Schwanz einzieht.«

»Der Gegner war Chodhpah!« bellte es aus dem Hintergrund des Raumes, wo Terschlakk es sichbequem gemacht hatte. »Jedermann weiß ...«

»Ruhe!« zischte Teffernor. »Wir haben nichts davon, daß wir uns gegenseitig beschimpfen. Wir ...«

Mit einem weiten Sprung stand Teffernor neben seinem Tisch. Auf der Videofläche war die Halle mitdem Schachtmund zu sehen. Aus einem der Korridore nahten sechs Gestalten, vier Fremde und zweiAnterferranter. »Yurrht, der Schlappschwanz«, grollte Teffernor. »Er hat sich überreden lassen, mit denFremden zu gehen. Was sie hier wollen?« »Durch den Schacht einfahren«, antwortete Priparrhn. »SichOBO-eins aus der Nähe ansehen. Gerechte Wahrheit! Das könnte bedeuten, daß wir sie in ein paarStunden los sind!« »Ich sage es noch einmal«, erklärte Visnjak: »Unterschätzt die Fremden nicht. Eskönnte sein, daß sie schlauer sind als die Wissenschaftler, die vor ihnen eingefahren sind.« »Still, der

Page 52

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Robot spricht.«

Sie hörten die Worte einer fremden Sprache. Sie wurden nicht übersetzt. Teffernors Mißtrauen erwachte.Er achtete auf Yurrht und den zweiten Anterferranter, in dem er inzwischen Pluuslock, denBergbauingenieur, erkannt hatte. Sie verhielten sich ruhig. Es schien sie nicht zu stören, daß sie nichtverstanden, was der Robot sagte.

»Kann er unsere Abhörgeräte wahrnehmen?« fragte Teffernor besorgt.

»Möglich«, antwortete Priparrhn ungerührt. »Aber ich meine ... schau, wohin geht er jetzt?«

Der Roboter schritt seitwärts und verließ das Blickfeld der Aufnahmegeräte. Wenige Augenblicke späterfolgte ihm der Fremde mit den silbernen Haaren, der sich Atlan nannte. Teffernor verglich ihn mit derFrau, die in Pluuslocks Nähe stand. Auch ihr Haar war von silbrigem Schimmer, auch ihre Augenleuchteten rötlich. Die beiden schienen Bruder und Schwester zu sein, oder wenigstens doch Angehörigederselben Spezies. Auf Anterf hatten Narrms Aktive in der geheimnisvollen Frau die Wissende zuerkennen geglaubt. Es ging ihr der Ruf voraus, daß sie kraft ihres Blickes Streit schlichten undWiderspenstige fügsam machen könne. Selbst Dwins Erkenner des Wahren hatten sich ihrem Einflußnicht entziehen können. Teffernor dagegen empfand nichts Außergewöhnliches. Gerüchte, dachte er.Wahrscheinlich hat Narrm sie verbreiten lassen, um die Welt glauben zu machen, er sei unüberwindlich.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Priparrhn. Teffernor schrak aus seinen Gedanken auf. Der Techniker beugtesich nach vorne und nahm eine Schaltung vor. In diesem Augenblick geschah es. Ein scharfer Knall warzu hören. Teffernor fuhr in die Höhe und starrte fassungslos auf das kleine Loch, das sich in derVorderwand des Raumes gebildet hatte. Es hatte glühende Ränder und befand sich genau dort, wo dieverborgene Verriegelung angebracht war. Des Riegels beraubt, schwang die Tür selbsttätig zur Seite.Teffernor warf sich herum. Fort von hier! war der Gedanke, der ihn beherrschte.

»Keine Bewegung!« gellte hinter ihm eine scharfe Stimme.

Teffernor erstarrte. Ohne es sehen zu können, wußte er mit Sicherheit des Instinkts, daß die Mündungeiner Waffe auf ihn zielte.

*

Blödels Plan war erfolgreich. Ein einziger, sauber gezielter Schuß drang durch die Wand, hinter der dergeheime Raum lag, und zerstörte die Verriegelung der getarnten Tür. Die Positronik des Riegels reagierteauf die übliche Weise: Sie aktivierte den Öffnungsmechanismus. Das alles spielte sich in weniger als dreiSekunden ab. Der Gegner hatte sich vom ersten Schock der Überraschung noch nicht erholt, da drangenAtlan und der Robot bereits in den verborgenen Raum ein. »Sieh da, unser Freund Priparrhn«, lächelteder Arkonide spöttisch. »Weiß Gott, die Erkenner hatten einen direkten Draht zur Stadtverwaltung.Kriegst du das alles mit, Priparrhn? Du wußtest, wo das Stadthaupt uns unterzubringen gedachte. Es wardir ein leichtes, uns vorauszueilen und die Spionanlage zu installieren, nicht wahr? Und zu denken, daß ich

Page 53

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

ein paar Minuten lang den armen Yurrht in Verdacht hatte!« Sein Blick wanderte weiter. »Und du dort,Bürger mit der bunten Leiter auf dem Pelz – Visnjak, ich erkenne dich wieder. Dein Untertauchen hat dirnichts genützt. Die Gerichtsbarkeit wird sich mit dir befassen. Und wen haben wir hier?« »Das istTeffernor«, erklärte Yurrht, der inzwischen hinzugetreten war.

»Und der dort hinten ist Terschlakk«, krähte Hage Nockemann.

»Da haben wir sie alle beisammen«, amüsierte sich Atlan, »die gesamte Hautevolee der Erkenner desWahren. Terschlakk, dir hat Chodhpah, der Prospektor, eine blamable Niederlage zugefügt, nicht wahr?Nun, mein Freund, heute erhältst du Gelegenheit, die Scharte auszuwetzen.«

Er wandte sich um und rief: »Schafft sie nach draußen. Durchsucht sie nach Waffen. Sie kommen mituns.«

»Wo ... wohin geht ihr?« stotterte Teffernor, den eine unangenehme Ahnung beschlich.

»Nach unten. Zu OBO-eins«, lautete die Antwort.

»Nein ...«

Blödel schob den protestierenden Zellenführer durch die schmale Öffnung der Geheimtür. Er ging nichtsonderlich sanft mit ihm um, und Teffernor begriff rasch, daß es ihm um so schlimmer ergehen würde, jewiderspenstiger er sich anstellte. Er hörte auf zu schreien und schritt gehorsam vor dem Robot her.

Mit Hilfe der Kontrollsäule rief Atlan vier Antigravscheiben des größten Kalibers aus dem Depot ab. Sieschwebten aus dem Dunkel des Schachtes herauf. Die vorderste verankerte sich in einer Ritze, die in dieSchachtwand eingearbeitet war; die anderen warteten seitwärts. Atlan wandte sich an Teffernor.

»Ich dachte mir, daß die Erkenner sich bemühten, hinter die Geheimnisse der Positronik zu kommen«,sagte er. »Ihr wart von Anfang an darauf bedacht, daß OBO-eins entweder niemals wieder oder nur ineurem Sinn tätig werden würde. Viel Erfolg habt ihr nicht gehabt; Obolorn kam euch zuvor. Aber ihrkennt euch dort unten besser aus als wir. Wohin sollen wir die Platten steuern?« Teffernors Gesicht warstarr. Er blickte über das weite Rund der Schachtöffnung hinweg, als habe er Atlans Worte nicht gehört.»Gut, wie du willst«, winkte der Arkonide ab. »Ihr hättet mit uns fahren können, wenn ihr zurZusammenarbeit bereit gewesen wäret. Wir haben nicht vor, eurer Verstocktheit zuliebe in ObolornsKreuzfeuer zu laufen. Ihr fahrt vor uns her. Sobald Obolorn euch unter Beschuß nimmt, wissen wir, daßwir die gefährliche Zone erreicht haben.«

Teffernors Tasthaare begannen zu zittern. Visnjaks große Augen glänzten wie im Fieber. Blödel zog eineSektion des Geländers beiseite. Atlan machte eine auffordernde Geste.

Page 54

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Warte noch«, keuchte Teffernor. »Wir kennen uns nicht so gut aus, wie du denkst. Wir dachten, wirhätten einen alten, vergessenen Gang gefunden, durch den man leichter an OBO-eins herankäme. Wirschickten einen der Unseren nach unten. Aber unsere Rechnung ging nicht auf. Efatern kam tot zurück.«»Tot? Wie? Erschossen? Verbrannt?« »Jemand hatte ihm den Hals aufgerissen«, ächzte Teffernor.»Obolorn, nehmen wir an.« Der Arkonide stieß einen halblauten Pfiff aus.

»Ein Weg also, auf dem Obolorn sich auf seine automatischen Abwehranlagen nicht verlassen kann,sondern von Hand eingreifen muß. Das interessiert uns, Erkenner. Stellt das Ziel entsprechend ein.«

*

Die vier Scheiben sanken gemächlich in die Tiefe. Die vorderen zwei waren leer. Die Maßnahme warsicherlich nicht ausreichend, Obolorn zu täuschen. Aber automatische Sicherheitsmechanismen, wenn esin diesem Schacht solche gab, mochten sich davon irreführen lassen. Auf der dritten Antigravplattekauerten Atlan und Tyari mit Yurrht, Teffernor und Visnjak. Hage Nockemann, Pluuslock und Blödel, inder Gesellschaft von Priparrhn und Terschlakk, bildeten mit der vierten Platte die Nachhut.

Vor dem Stollen, den Teffernor bezeichnet hatte, wurde angelegt. Zuerst die leeren Platten. Sieverharrten je drei Minuten im Ankerschlitz und schwebten sodann beiseite, um dem folgenden FahrzeugPlatz zu machen. Die Schaltung war so vorgenommen worden, daß die Platten in der Nähe desStollenausgangs warteten. Atlan legte Wert darauf, daß der Rückweg offen blieb.

Er ordnete seine Truppen. Teffernor und Visnjak erhielten je eine Lampe und marschierten an der Spitze.Das gefiel ihnen nicht, aber der Arkonide wies ihren Protest mit barschen Worten zurück. An zweiterStelle kamen er selbst, Blödel und Pluuslock. Hinter sich hatten sie Terschlakk und Priparrhn; Tyari,Nockemann und Yurrht machten den Abschluß.

Die erste halbe Stunde des Marsches verlief ereignislos. Schließlich öffnete sich der Stollen in einengroßen, runden Raum. Auf dem Boden lag eine Lampe, und rings um die Lampe gab es braunroteSpuren einer eingetrockneten Flüssigkeit.

»Bis hierher«, schnalzte Teffernor dumpf, »ist Efatern gekommen.«

Der Stollen führte auf der anderen Seite des Raumes weiter. Atlan warf Blödel einen fragenden Blick zu,aber der Robot reagierte nicht darauf. Er war am Horchen. Seine empfindlichen Sensoren drangen weitin die Finsternis vor und registrierten jeden verdächtigen Impuls, jedes Energiequant, das nicht ausnatürlichen Quellen stammte. Solange er nicht sprach, bestand keine unmittelbare Gefahr. Er würde sichmelden, wenn er Anzeichen verspürte, daß OBO-1 sich zu Wehren begann. Zwanzig Minuten spätergelangten sie wiederum in einen kreisförmigen Hallenraum. Er war größer und höher als der, in demEfatern den Tod gefunden hatte, aber auf den ersten Augenblick genauso kahl. Auch hier fanden sieetwas – als sei einer vor ihnen hergezogen und hätte in regelmäßigen Abständen Gegenstände fallenlassen, um seine Fährte zu markieren. Aber dieser Fund war keine traurige Mahnung an das grausigeSchicksal eines Unglückseligen, der hier unten den Tod gefunden hatte. Was sie hier vor sich hatten,

Page 55

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

stellte eine Teillösung des Rätsels dar, dem sie auf der Spur waren.

Die Lichtkegel ihrer Lampen spielten über den formlosen, dicht behaarten Gegenstand. »Ein Pelz!« stießTeffernor hervor. »Ein Anterferranterpelz«, bestätigte Hage Nockemann.

Er kniete nieder und begann, das Fell auszubreiten. Der Schädel wirkte ungemein lebensecht. Zwar wardas irisierende Funkeln der Augen erloschen, aber das Licht der Lampen brach sich hundertfach in denaus einer flexiblen Plastiksubstanz gefertigten Augäpfeln und erzeugte einen gespenstischen, unheimlichenEffekt. Der Schädel, innen hohl, war in zwei Hälften gespalten, eine vordere und eine hintere. Zweihauchdünne, in der Farbe des Pelzes gehaltene Selbstklebstreifen bewirkten, sobald der Unbekannte indie Maske geschlüpft war, einen sicheren und unsichtbaren Verschluß. Nockemann klappte die vordereSchädelhälfte beiseite. Drei kleine, kästchenförmige Behältnisse wurden sichtbar, zwei in unmittelbarerNähe der Augen, das dritte oberhalb des Mundes. »Mit den oberen beiden«, murmelte derWissenschaftler, »hat er seine Augen leuchten lassen. Das untere ist vermutlich ein Translator, zumindestjedoch ein Modulator. Damit erzeugte er seine wohlklingende Stimme.« Der Pelz war sauber verarbeitetund so hergerichtet, daß er von einem Wesen passender Größe mit einem Minimum an Mühe angelegtwerden konnte. Zuverlässige Klebesäume fügten die Bestandteile der Maske nahtlos zusammen. Atlankonnte sich eines leisen Schauders nicht erwehren, als er sich auszumalen versuchte, wie vor vier oderfünf Jahren einem Anterferranter die Haut vom Leib gezogen worden war. Welch barbarische Art, sicheine Maske zu verschaffen!

»Eine bestialische Tarnung«, sagte Tyari, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Aber wie konnte esgeschehen, daß sie mehrere Jahre lang von niemand durchschaut wurde? Ich meine, wenn sich einFremdwesen an Bord der SOL einschliche und als Maske eine menschliche Haut trüge, dann würdesicherlich über kurz oder lang ...«

»Erstens«, fiel ihr der Arkonide ins Wort, »ist die Maske mit großem Sachverstand und einem hohenMaß an Sorgfalt präpariert.« Er wies auf mehrere blasenförmige Beutel, die zum Vorschein gekommenwaren, als Nockemann den Pelz wendete. »Sieh dort. In diesen Behältern befand sich das Blut, dasChodhpah vergoß, als er mit Pluuslock unter dem Felsrutsch begraben wurde. Wenn wir mehr Zeithätten, fänden wir wahrscheinlich auch Vorrichtungen, die die natürliche Körperausdünstung derAnterferranter nachahmten. Zweitens bedenke die Lage auf Anterf. Infolge des Zerfalls gibt es keinenennenswerte interstellare Raumfahrt mehr. Fremdwesen auf Anterf und den angeschlossenen Weltensind äußerst selten. Die Anterferranter sind an die Anwesenheit Fremder nicht mehr gewöhnt. Wer wieeiner der Ihren aussieht, ist einer der Ihren.«

»Hinzu kommt«, ergänzte Pluuslock, »daß Chodhpah sich immer nur kurze Zeit sehen ließ. Zwischenzweien seiner Auftritte vergingen jeweils mehrere Wochen, in denen er sich angeblich draußen imGelände herumtrieb und nach neuen Fundstätten suchte.« Hage Nockemann hatte den Pelz inzwischenvollständig nach innen gewendet. Unterhalb der linken Schulter glänzte im Schein der Lampen der blaueFleck, das Erkennungszeichen des Prospektors.

»Wir wissen jetzt, was er nicht ist«, sagte Atlan. »Es wird Zeit, daß wir herausfinden ...«

Page 56

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Er unterbrach sich mitten im Satz. Grelles Licht flutete plötzlich von der Decke. Ein trockener, berstenderKnall zerriß die Stille. Die schimmernde Wand eines Energiefelds flackerte auf.

*

Yurrht gab einen seltsam trillernden Schrei von sich, den Ausdruck höchsten Entsetzens. Atlan sah ihn indie Knie gehen und die Arme heben.

Der Arkonide sah sich um. Die schimmernde Wand umgab sie auf allen Seiten. Das grelle Licht, das vonder Decke herabströmte und sich in der Energieschicht tausendfach brach, machte es schwer, denVerlauf der Wand zu verfolgen, aber Atlan zweifelte keine Sekunde, das das energetische Feld allseitiggeschlossen war. Es war über sie gestülpt wie eine Käseglocke.

Eine volltönende, melodische Stimme war plötzlich zu hören. Sie schien aus dem Nichts zu kommen undsprach anterferrantisch, jedoch mit einem klingenden Akzent, der den Sprecher als Fremdwesenidentifizierte. »Ihr habt Chodhpah, den Prospektor, also entlarvt. Er muß in der Versenkungverschwinden, ein anderer seinen Platz einnehmen. Aber das ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist allein,daß die Aufgabe zu Ende geführt wird.«

Unter der Mündung des Stollens, durch den Atlans Gruppe ihren Weg hatte fortsetzen wollen, erschieneine hochgewachsene Gestalt in fremdartigem Gewand. Von der Schulter baumelte ihr an einem Riemenein kleines, schmuckloses Kästchen. Quasi automatisch zog der Verstand die Parallele zu derUmhängetasche, die Chodhpah stets mit sich getragen hatte. Was Atlan aber weitaus mehr faszinierte,waren die lichtblaue Hautfarbe und das kupferrote Haar des Fremden.

Ein Beneterloge! Ein Mitglied der führenden Zivilisation der Galaxis Farynt. Er war kaum überrascht. Seiter wußte, daß das Wesen, das sich als Chodhpah ausgab, eine Maske trug, war ihm klar gewesen, daßes sich nur um einen Agenten der Gegenseite handeln konnte. Die Gegenseite aber, aus der Sicht Anterfs,das waren die Völker der Galaxis Farynt. Dwin hatte sich als Bheynder entpuppt. Aber die Spezies derBheynder war praktisch ausgestorben und spielte in der Auseinandersetzung zwischen Farynt und Barskeine Rolle. Wer sonst aber hätte auf Selterf im Auftrag der faryntischen Völker agieren sollen? EinBeneterloge, hatte Atlan gemeint, und seine Vermutung erwies sich als richtig.

Mehr als schlechthin ein Beneterloge, verbesserte er sich: ein Prezzarerhalter. Die Bedeutung des kleinenKastens war ihm bekannt. Er enthielt ein pseudointelligentes Wesen, mit dessen Hilfe sein BesitzerVerbindung zu anderen Prezzarerhaltern herstellte. Das Kästchen, oder vielmehr seinen Inhalt, nannteman einen Fetisch. Die Kommunikation erfolgte auf telepathischer Basis und war unabhörbar. Tyari hattediese Informationen gesammelt, als eine benetische Flotte die SOL und die TEUCER angriff und sie dieGedanken des Prezzarerhalters Vling belauschte. Vling war ein besonderer Beneterloge, und seineGedanken hatten sich, während Tyari sich mit ihm befaßte, verwundert um die seltsamen Befehle gedreht,die er von einem zunächst noch unbekannten Wesen namens EGEN erhielt, und um die »WiederfindungPrezzars«.

Page 57

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Was ist die Aufgabe, fragt ihr?« begann die klingende Stimme von neuem. »Ihr kennt die Antwortebenso gut wie ich. Bars-2-Bars, die Mißgeburt eines ungnädigen Schicksals, darf in der jetzigen Formnicht bestehen bleiben. Die Völker von Farynt haben dies erkannt, und auch ihr, die Bewohner von Bars,habt euch zu dieser Ansicht durchgerungen. Bars und Farynt müssen entflochten, der ursprünglicheZustand wiederhergestellt werden. Solange wir unser Dasein in ständigen Kriegen gegeneinandervergeuden, läßt sich die Entflechtung nicht bewerkstelligen. Erst wenn der eine oder der andere den Siegdavongetragen hat, kann man daran denken, die Trennung der beiden Galaxien vorzubereiten. Wir, dasVolk der Beneterlogen, wollen die Sieger sein. Dieser Wunsch erfordert, daß wir den mächtigstenunserer Gegner, das Volk von Anterf, nach Möglichkeit schwächen. Ich, Kulia Aogi, bin hier, um zuverhindern, daß die anterferrantische Zivilisation von neuem erstarkt. Um Ordnung in euer Haus zubringen, bedürft ihr der Hilfe der Positronik, die ihr OBO-eins nennt. Ich habe mich in den Tiefen diesesMondes eingenistet, um zu verhindern, daß ihr OBO-eins jemals wieder in Betrieb nehmt. Ich binObolorn. Ich habe die Maschine zu meinem Sklaven gemacht. Niemals wird es euch gelingen, sie wiederunter euren Willen zu zwingen.«

Atlan mußte sich korrigieren. Die benetische Spezies war auf verblüffende Weise menschenähnlich. Dieweiblichen Formen Kulias, so wenig ausgeprägt sie auch sein mochten, hätten ihm nicht entgehen dürfen.Er warf einen Blick zur Seite. Was er sah, stellte ihn zufrieden. Blödel hatte das Gebot der Stundeverstanden. Er stand in unmittelbarer Nähe der energetischen Wand.

»So sagst du«, rief er, »daß OBO-eins wieder funktionsbereit ist?«

»Ja, Fremder, das ist er«, antwortete die Prezzarerhalterin. »Wenn es nur darum ginge, die Positronik aufder Grundlage ihres ursprünglichen Basisprogramms arbeiten zu lassen, könnte sie mit ein paarSchalterdrucken wieder in Betrieb genommen werden.« Ein freudloses Lächeln huschte über dasschlanke, exotische Gesicht. »Aber darum geht es nicht. OBO-eins erhält ein neues Basisprogramm.Daran arbeite ich, und da ich nach eurer Beseitigung mit keinen weiteren Störungen rechne, werde ichbald zum Ziel gekommen sein.«

»Du nennst mich einen Fremden«, sagte Atlan. »Ja, das bin ich. Ich komme von einer Welteninsel, dieviele Millionen Lichtjahre von hier entfernt ist. Da sowohl die Völker von Bars, als auch die von Faryntauf eine Entflechtung der beiden Galaxien hinstreben, erscheint es mir als Unvoreingenommenem, es wärevorteilhafter, wenn die Farynter und die Barser sich miteinander verständigten und gemeinsam auf dasZiel hinarbeiteten, als daß sie sich gegenseitig in sinnlosem Kampf zerfleischten.«

»Du bist ein Idealist, Fremder«, lächelte Kulia Aogi. »Uns ist darum zu tun, die Entflechtung so schnellwie möglich herbeizuführen. Der schnellste Weg aber ist der der Gewalt. Und außerdem geht es dabeium Prezzar.«

»Das ist eine lächerliche ...«

»Genug jetzt!« Die bisher so wohlklingende Stimme war plötzlich scharf und schneidend. »Jahrelang hatjeder den Tod gefunden, der der Positronik zu nahe kam. Mir als einzelner blieb keine andere Wahl. DieLegende um Obolorns Grausamkeit mußte ausgebaut und gestärkt werden, bis sich eines Tages niemand

Page 58

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

mehr getrauen würde, in die Tiefen von Seleterf vorzudringen. Ob ich persönlich euren Tod wünscheoder nicht, spielt keine Rolle. Die Sache erfordert, daß ihr sterben müßt.« Aus den Falten ihres Gewandsbrachte sie einen dünnen, silbern schimmernden Stab zum Vorschein und richtete ihn auf die energetischeWand. »Habt keine Angst. Euer Ende kommt rasch und fast schmerzlos. Das Energiefeld zieht sich umeuch zusammen ...« Von der Seite her kam ein halblautes, klapperndes Geräusch. An Blödels metallenemLeib war eine Lade ausgefahren. Irritiert hielt Kulia inne. Verwirrt musterte sie das kleine, dunkleHaarknäuel, das an der Seite des Roboters entlanghuschte und mit einer Geschwindigkeit, der das Augekaum zu folgen vermochte, auf die energetische Wand zuschoß. Wuschel, der Bakwer, stieß einenschrillen Schrei des Triumphs aus. Seine helle Stimme gellte:

»Energie, herzhafte, wohlschmeckende Energie! Ich fresse sie auf!«

Und da er keinen Translator trug, wurden seine Worte nicht übersetzt.

»Sterbt!« schrie Kulia Aogi.

Aus der Spitze des Stabes schoß knisternd und zischend ein vielfach gezackter Blitz auf das Energiefeldzu.

*

Das Feld begann zu flackern. Nach Kulias Plan hatte es schrumpfen sollen, bis es die Gefangenenberührte und sich durch ihre Körper entlud. Aber durch Wuschels blitzschnelles Eingreifen hatte sich dieLage geändert. Mit der unglaublichen Gefräßigkeit seiner Art war es dem Bakwer gelungen, eine Öffnungdurch die schimmernde Wand des Feldes zu beißen. Sie war klein, kaum daß eine menschliche Fausthindurchgepaßt hätte, aber sie brachte die energetische Struktur der Feldhülle ins Wanken. Anstatt inRichtung der Kreismitte zu schrumpfen, wo die Gefangenen standen, zog sich das Feld um die vonWuschel geschaffene Lücke zusammen. Es flackerte und knallte. Blitze schossen durch die Halle.Durchdringender Ozongeruch machte sich bemerkbar. Kulia Aogi stand starr wie eine Statue und begriffnicht, was sich vor ihren Augen abspielte. Das Feld brach zusammen – aber die Gefangenen bliebenunverletzt.

»Wuschel, das Kästchen!« schrie Tyari. Das kleine Knäuel schoß davon. Kulia schwenkte den silbernenStab zur Seite. Ein Blitz entlud sich krachend. Aber Wuschel war flink. Der tödliche Schuß verfehlte ihn.Mit unheimlicher Geschwindigkeit schoß er an Kulias faltigem Gewand in die Höhe. Zwei rasche Bisse,und das Kästchen mit dem Fetisch fiel klappernd zu Boden.

Atlan war in Bewegung. Er hielt die Mündung des Paralysators auf Kulia gerichtet. »Niemand braucht zusterben ...«, schrie er. Jemand prallte mit voller Wucht gegen ihn. Es war Teffernor, der erkannt hatte,daß man, wenn er vor Gericht erschien, sich wohlwollend an die tapfere Rolle erinnern würde, die er beidieser Auseinandersetzung gespielt hatte. Der Aufprall brachte den Arkoniden aus dem Gleichgewicht. Erstrauchelte. Kulia sah ihre Gelegenheit. Der Stab wippte herum. Eine grellweiße Lichtflut ... diedonnernde, fauchende Entladung eines Blasters. Die Prezzarerhalterin stand in einen Mantel aus

Page 59

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

zuckenden Flammen gehüllt. Noch einmal war durch die wabernde Glut ihr Gesicht zu sehen – eine starreMaske aus Verwunderung, Furcht und Schmerz.

Als die Flammen in sich zusammensanken, war Kulia Aogi nicht mehr. Die Prezzarerhalterin, die, auf sichallein gestellt, den Wiederaufstieg der anterferrantischen Zivilisation hatte verhindern wollen, war demSchicksal anheimgefallen, das sie anderen zugedacht hatte.

Atlan wandte sich schwerfällig um. Tyari hatte den Blaster noch schußbereit in der Hand; der orangeroteFunke des Abstrahlfelds glühte. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. »Ich wollte es nicht«, stammeltesie. »Es ... es tut mir leid. Aber mir blieb keine andere Wahl.«

Atlan schritt auf sie zu und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß es«, sagte er sanft. »Wir hätten sie vieles fragen können. Aber sie hat sich das Urteil selbstgesprochen.«

Es klapperte. Wuschels durchdringende Stimme krähte:

»Wenigstens haben wir diesen hier noch!« An einem Rest der zerbissenen Riemens zerrte er dasKästchen mit dem Fetisch hinter sich her.

*

Sie kehrten an die Oberwelt zurück. Atlan setzte einen Hyperkomspruch nach Anterf ab. Er forderteNarrm auf, eine Gruppe von Computerexperten nach Seleterf zu schicken. OBO-1 warte darauf, wiederin Betrieb genommen zu werden. Gleichzeitig forderte er ein Detachement der anterferrantischen Flottean, das die sublunaren Anlagen nach den technischen Einrichtungen absuchen sollte, die Kulia Aogi dorthinterlassen hatte. Vieles, was mit der Tätigkeit der Prezzarerhalterin zusammenhing, war ungeklärt. DieLegende von Chodhpah, dem Prospektor, mußte bis ins letzte Detail entmystifiziert werden, wenn dieAnterferranter sich in Zukunft vor ähnlichen Vorstößen des Gegners sicher fühlen wollten. Die Zelle derErkenner des Wahren wurde aufgelöst. Teffernor und seine Gefolgsleute würden sich vor Gerichtverantworten müssen, sobald die anterferrantische Justiz wieder ins Lot gebracht worden war. Sie sahenmilden Strafen entgegen – mit Ausnahme Visnjaks und des Attentäters, der Shorrn verletzt und seinenChauffeur getötet hatte. Shorrn genas nach zwei Tagen und wurde an Bord der CHYBRAIN gebracht.Der Kreuzer rüstete sich zum Start.

Hage Nockemann und Blödel hatten sich des Fetischs angenommen. Das Kästchen, in dem dasFremdlebewesen stak, erwies sich als ein höchst kompliziertes Gebilde, eine Meisterleistungminiaturisierter Technik. Es enthielt nicht nur eine Versorgungsanlage für den Fetisch, sondern danebeneine mit hochbrisanten Chemikalien gefüllte, hermetisch versiegelte Kapsel, deren Zweck den beidenScientologen erst offenbar wurde, als ihnen eine winzige Probe des Kapselinhalts infolge einerUnachtsamkeit Nockemanns mit beachtlicher Licht-, Geräusch- und Qualmentwicklung um die Ohrenflog. Es handelte sich also um einen Sprengsatz. Nockemann erinnerte sich an eine Reihe von

Page 60

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Eindrücken, die Tyari gewonnen hatte, als sie den Beneterlogen Vling telepathisch belauschte. Es wardamals nicht ganz klar geworden, woran er in einem Anflug von Niedergeschlagenheit dachte. Gedankenan Selbstvernichtung und Tod hatten sich durch sein Bewußtsein bewegt. Die Entdeckung der Kapselklärte die Zusammenhänge auf. Die Prezzarerhalter waren offenbar gehalten, sich selbst und ihren Fetischzu vernichten, sobald die Gefahr bestand, daß sie einem Gegner unterlagen. Wie die Sprengladunggezündet wurde, konnten die beiden Forscher zunächst nicht ermitteln. Hage Nockemann nahm an, daßes auf telepathischem Weg geschähe.

Der Fetisch selbst war ein kugelförmiges Gebilde von fünf Zentimetern Durchmesser. Eine zähe,rosafarbene Haut bedeckte den Körper des fremdartigen Wesens. Acht winzige Beinchen ragten aus derUnterseite der Kugel. In halber Höhe des Körpers gab es eine muskulöse Öffnung, die derNahrungsaufnahme und – Hage Nockemann vernahm es mit Entsetzen, als der Fetisch seine erstenWorte von sich gab – dem Sprechen diente. Das seltsame Geschöpf beherrschte zwei Sprachen:benetisch und anterferrantisch. Das letztere hatte offenbar Kulia Aogi ihm beigebracht, während jenerlangen, einsamen Monate, in denen er ihr einziger Gesprächspartner war. Der Fetisch war minimalintelligent. Er verstand den Sinn einfacher Fragen und wußte darauf zu antworten. Nachdem Nockemannund Blödel in Erfahrung gebracht hatten, wie man es anstellen mußte, um ihn in eine Unterhaltung zuverwickeln, riefen sie den Arkoniden herbei.

»Frag ihn etwas«, sagte Hage Nockemann. Atlan wandte sich verwunderten Blicks an das kleine,rosarote Geschöpf und fragte: »Wie ist dein Name?«

»Nam’ Marcoyn«, quarrte er.

»Woher kommst du?«

»Komm’ du? Nix komm. Immer hier.« »Was weißt du über Kulia Aogi?« »Kulia tot. Nix sag EGEN.«

Atlan stutzte. Was bedeutete das? EGEN sollte nicht davon erfahren, daß Kulia Aogi den Tod gefundenhatte?

»Wer ist EGEN?« wollte er wissen. »EGEN Herr. Befehl alles. Groß’ Kommandant nix weiß wo.«

Atlan sah die beiden Scientologen fragend an.

»Auf diesen EGEN kommt er immer und immer wieder zu sprechen«, erklärte Nockemann. »Er muß imReich der Beneterlogen eine wichtige Rolle spielen. Eine Art König oder Diktator. Die Redewendung›Nix weiß‹ kommt des öfteren vor. EGEN hält sich offenbar im Hintergrund.«

Atlan musterte den kleinen, fleischfarbenen Ball mit nachdenklichem Blick.

Page 61

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

»Paßt gut auf ihn auf«, sagte er. »Es darf ihm nichts geschehen. Er wird uns noch manche Informationliefern.«

Er kehrte zur Kommandozentrale zurück, um den Start der CHYBRAIN zu überwachen. Es würde nochzwei bis drei Wochen dauern, überlegte er, bis die SOL wieder soweit hergestellt war, daß sieunbedenklich eingesetzt werden konnte. Infolge der jüngsten Ereignisse war Anterf zu einem relativsicheren Hafen geworden. In wenigen Stunden würde OBO-1 wieder in Betrieb genommen werden.Eine Stabilisierung der Verhältnisse im Barsanter-System konnte nicht ausbleiben.

Er ging kein unnötiges Risiko ein, wenn er die Zeit nutzte, sich um die Beneterlogen zu kümmern. DiePrezzarerhalter mit ihren Fetischen faszinierten ihn. Telepathische Kommunikation über interstellareDistanzen war ihm bisher nur selten begegnet und gewöhnlich auf Einzelwesen beschränkt. Hier aber gabes eine ganze Gruppe, eine Bevölkerungsschicht, die sich kraft des Geistes untereinander verständigte.Den Fetischen wohnte ein beachtliches Psi-Potential inne. Atlas zweifelte keine Sekunde daran, daßKulia Aogis Mentalstrahlung nur deswegen von Tyari nicht hatte registriert werden können, weil Marcoynseine Besitzerin abschirmte. Er begann, sich einen Plan zurechtzulegen. So vertieft war er in seineGedanken, daß er den Start der CHYBRAIN nur unterbewußt erlebte. Je länger er an seinem Planarbeitete, desto mehr erregte ihn die Aussicht, aufs neue in völlig unerforschtes Gebiet vorzustoßen, indas geheimnisvolle Reich der Beneterlogen und Prezzarerhalter, tiefer in die Überlappungszone derbeiden Galaxien, in Richtung des Ortes, an dem der Korridor begann, der zu Anti-ES führte ...

ENDE

Page 62

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html

Weiter geht es in Band 131 der Abenteuer der SOL mit:

Die Spur nach Farynt

von Horst Hoffmann

Impressum:

© Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Chefredaktion: Klaus N. Frick

© Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit

Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Page 63

ABC Amber ePub Converter Trial version, http://www.processtext.com/abcepub.html