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Der gerechte Steuerstaat Review by: Peter Selmer FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 52, H. 2 (1995), pp. 234-262 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40912660 . Accessed: 12/06/2014 16:31 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to FinanzArchiv / Public Finance Analysis. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.34.79.208 on Thu, 12 Jun 2014 16:31:03 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Der gerechte Steuerstaat

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Der gerechte SteuerstaatReview by: Peter SelmerFinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 52, H. 2 (1995), pp. 234-262Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40912660 .

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Literatur

Der gerechte Steuerstaat*

von

Peter Selmer

1. Einleitung

Der Zustand der deutschen Steuergesetzgebung ist seit langem Gegen- stand kritischer Betrachtung. So war schon vor vier Jahrzehnten bei Ottmar Bühler nachdrücklich von ihr als einer „zerfahrenen Gelegenheits- und Flickgesetzgebung" * die Rede. Zwischenzeitlich ist die Klage vielseitiger und vernehmlicher geworden, wenn vom geltenden Steuerrecht als einem „Steuerchaos, Steuerdschungel, Steuerdickicht, Steuerirrgarten, Steuer- labyrinth" 2 gesprochen wird, wenn vor einiger Zeit ein „weitgehend patho- logischer Befund eines unübersichtlichen, teilweise widersprüchlichen, stän- dig geänderten Gesetzesrechts" 3 und neuerdings sogar ganz allgemein ein „Verfall der Steuergesetzgebung"4 registriert wird. Die Fülle der Beispiele aus der Gesetzgebungspraxis verbietet eine Aufzählung. Hier sei für die jüngere Zeit nur auf den sprunghaften Verlauf der Quellenbesteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen sowie auf das gleichermaßen irritierende Hin und Her bei der Neuregelung der steuerlichen Erfassung von Veräuße- rungsgewinnen und beim Zustandekommen des Jahressteuergesetzes 1996 verwiesen.

Es gibt zahlreiche Gründe für die allenthalben sichtbaren Mängel der Steuergesetzgebung. Ein vor allem gewichtiger dürfte darin liegen, daß das Steuergesetz sich, mehr noch als die Gesetze anderer Teil-Rechtsordnun- gen, funktionell zunehmend vom längerfristig angelegten Rechtsgesetz zum kurzatmigen Maßnahmegesetz gewandelt hat. Damit nimmt es teil an des-

* Zu Klaus Tipke: Die Steuerrechtsordnung. Köln 1993. Dr. Otto Schmidt. 3 Bände. Zusammen CI, 1593 Seiten. DM 295.-.

1 Vgl. Bühler (1955/56, S. 32). Die Nachweise des vorliegenden Beitrages beschränken sich auf im Text in Bezug genommene und auf solche Schriften und Entscheidungen, die von Tipke nicht mehr berücksichtigt werden konnten.

2 Vgl. Tipke (1989, S. 865). 3 P. Kirchhof (1987, S. 3217). 4 Knobbe-Keuk (1989, S. 1762).

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sen geläufigen Eigenschaften wie an seiner prägenden Situationsgebunden- heit und der daraus resultierenden Wandlungsoffenheit und beschränkten Verläßlichkeit, dies alles nicht selten verbunden mit einer deutlichen Sy- stem- und Prinzipiengleichgültigkeit oder doch -Inkonsequenz. Sie wird nicht eben gemindert durch die Regeln der Zustimmungsbedürftigkeit in Art. 105 III GG und in diesem Zusammenhang den Zwang zum politischen Kompromiß mit einem in seinem Selbstverständnis merklich gewandelten Bundesrat. Dem mit alledem einhergehenden Schwund der Rechtsidee im Steuerrecht, gleichermaßen spürbar in der Einlösung ihrer Grundpostulate der Gerechtigkeit wie der Rechtssicherheit, entspricht eine verbreitete Be- schränkung der Finanz- und Steuerrechtsdogmatik - insbesondere der ge- setzesvorbereitenden Dogmatik - auf eine reine Verfassungsrechtsdogma- tik. Mit anderen Worten: Es geht häufig nicht so sehr darum, in einem eigentlich steuerrechtsdogmatischen Sinne „richtige" Ordnungsgedanken und Strukturen zu entwickeln, aufzuzeigen oder zu vertiefen, sondern darum, Gesichtspunkte zu präsentieren, die unter größtmöglicher Freiheit der Rechtspolitik und damit des einfachen Gesetzgebers dem Grundgesetz - möglicherweise gerade noch - gerecht werden 5. Nicht nur reduziert sich damit die Steuerrechtsdogmatik in wesensfremder Verengung auf Verfas- sungsinterpretation; sie denaturiert insoweit auch zur reinen Vermeidungs- strategie zwecks Umschiffung verfassungsrechtlicher Klippen. Nicht selten ersetzt deshalb gerade im Steuerrecht die Judikatur des Bundesverfassungs- gerichts die system- und prinzipienausgerichtete Denkform der Dogmatik.

Klaus Tipke, Präzeptor und mahnendes Gewissen der steuerrechtswis- senschaftlichen Gemeinde Deutschlands, gehört zu denjenigen, denen die offenbare Regellosigkeit der Steuergesetzgebung, ihr mangelndes Beharren auf durchgängigen Prinzipien seit jeher besonders schmerzlich im Bewußt- sein ist. Schon 1971 stellte er die Frage: „Steuerrecht - Chaos, Konglomerat oder System?" 6, um fortan nicht nur in seinem wohlbekannten „Steuer- recht" 7, sondern auch in einer Fülle von Einzelveröffentlichungen uner- müdlich einem gerechten, d. h. aber regelhaften und plausiblen Steuerrecht das Wort zu reden. Im Jahre 1981 legte er mit seiner Schrift „Steuergerech- tigkeit in Theorie und Praxis" eine Zwischenbilanz seiner Überlegungen vor8. Diese werden nunmehr in seiner dreibändigen „Steuerrechtsord- nung" fortgeführt, vertieft und in eine übergreifende Gesamtbetrachtung unseres Finanz- und Steuerrechts sowie seiner exekutiven und judikativen Umsetzung verwoben. In eine bestimmte Schublade paßt das Werk nicht.

5 Hierzu und zum Folgenden näher Selmer (1990, S. 227 ff.). 6 Vgl. Tipke (1971, S. 2 ff). 7 Seit der 12. Aufl. (1989) fortgeführt von Lang; vgl. zuletzt Tipke und Lang (1994). 8 Tipke (1981, passim).

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Es enthält gleichermaßen Züge einer Monographie über Steuerethik wie solche einer allgemeinen Steuerrechtsdogmatik und eines klassischen Steuerrechtslehrbuches. Durchgehend in seinem Mittelpunkt steht das The- ma „Steuergerechtigkeit und Steuerrechtfertigung". Mit diesen beiden Be- griffen ist zugleich stichwortartig der jeweilige Schwerpunkt der Bände I und II umrissen, während der III. Band, etwas heterogener angelegt, der föderativen Steuer- und Finanzverfassung, den Grundlagen der Steuer- rechtsanwendung und dem Rechtsschutz sowie einem kritischen Blick auf die Gestalter der Steuerrechtsordnung gewidmet ist.

2. Steuerrecht und Steuergerechtigkeit unter der grundrechtlich-rechtsstaatlichen Verfassung des Grundgesetzes

2.Î. Ausgangspositionen Dem an einer Fülle von Beispielen exemplifizierten Befund eines desola-

ten Zustandes des Steuerrechts setzt Tipke schon in seinem Vorwort (Bd. I, S. Vfif.) die klare Aufforderung entgegen, über den „chaotischen Steuerplu- ralismus" hinweg wieder ad fontes zu gehen: „Wer in die zweifellos beste- hende Unordnung des Steuerrechts Ordnung bringen will, kann dies nur durch Prinzipien tun und durch deren Entfaltung dafür sorgen, daß mehr Klarheit, mehr Einsicht, mehr Übersicht, mehr Verständnis für die Zusam- menhänge entsteht. Jedoch darf es dabei eben nicht bloß um irgendeine Ordnung gehen, sondern es muß eine gerechtigkeitsbezogene Ordnung er- strebt werden." Diese Aufforderung richtet sich nicht etwa nur an die „Ideenverwalter" der Wissenschaft, sondern an alle an den Grundlagen der Steuerrechtsordnung Arbeitenden - die mit der Vorbereitung von Steuerge- setzen Befaßten ebenso wie die Beamten und die Richter. Dabei geht es dem Autor keineswegs um eine fragwürdige Aushebelung des positiven Gesetzes durch die Rechtsanwendung, wie denn mit Recht auch die strikte Bindungs- kraft des parlamentarischen Gesetzes für die Steuerpflichtigen und die Un- zulässigkeit einer Steuerverweigerung (etwa aus Gewissensgründen) nicht in Frage gestellt werden. Tipke geht es vielmehr vor allem um die Überwin- dung einer ihm zutiefst suspekten - in ihrer Verbreitung von ihm aber überschätzten - gesetzespositivistischen Grundhaltung, um die Anregung zum kritischen „Denken" über das auszulegende Gesetz hinaus. Hinzuzu- fügen ist freilich, daß er es hierbei nicht bewenden läßt. Denn er weist dem Bundesverfassungsgericht, das (mehr noch als bisher schon?) anzurufen er Finanzrichtern und Steuerpflichtigen nachdrücklich empfiehlt, die Aufgabe zu, verstärkt von seiner Macht Gebrauch zu machen, die richterlichen Steuergerechtigkeitsideen auch durchzusetzen (Bd. I, S. VI ff., 153 ff., 289 ff.).

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Die Frage, was Steuergerechtigkeit bedeutet und - nicht minder wichtig - wem die entsprechende Definitionskompetenz zusteht, bildet damit not- wendig den dogmatischen Schwerpunkt des Werkes und insbesondere sei- nes I. Bandes. Dabei fühlt sich Tipke im Ausgangspunkt entscheidend ethischen Prinzipien verpflichtet, unbeschadet seiner Einsicht, daß über Gerechtigkeit „von Ethikern (Philosophen, Theologen, Sozialwissenschaft- lern), nicht selten ebenso prätentiös wie dunkel, vieles geschrieben worden ist, was kaum Wirklichkeitsbezug hat, jedenfalls nicht bis zur Wirklichkeit des Steuerrechts vorgedrungen ist". Indes nimmt Tipke, sehr viel entschie- dener noch als in seiner Steuergerechtigkeitsschrift von 1981 9, für das von ihm schon im Vorwort als „Fundamental- oder Basisprinzip der Besteue- rung" hervorgehobene Leistungsfahigkeitsprinzip jetzt in Anspruch, mehr zu sein als ein unbeweisbares Axiom oder ein irrationales subjektives Be- kenntnis. Denn es gebe auch eine „ethische Rationalität", soll heißen: Auch Prinzipien, Regeln, Maßstäbe der Ethik seien „in Grenzen begründbar, mit Vernunftgründen plausibel zu machen" (Bd. I, S. VIII). Vom Boden dieses Grundbekenntnisses Tipkes her mag sodann allerdings überraschen, daß die allgemeine, d. h. die rechtsgrundsatzunabhängige ethische Rechtferti- gung des Leistungsfähigkeitsprinzips mit ihrer schließlichen Verweisung in eine eher knappe Passage am Schluß des ersten Bandes (S. 479) deutlich zurücktritt hinter die positive Ethik der materiellen Verfassung, insbesonde- re der Grundrechte. Gerade diese werden von Tipke später (Bd. I, S. 259 ff., 423 ff.) ausführlich auch auf ihre Eignung überprüft, die Überzeugungs- kraft seiner Vorstellungen von Steuergerechtigkeit zu stärken (vgl. dazu unter 2.4).

2.2. Wesen und Eingrenzung des Steuerrechts

Tipke eröffnet indes seinen I. Band zunächst mit einer weit ausgreifenden Darlegung der wissenschaftsorganisatorischen Grundlagen des Steuer- rechts, die sich nach einer Standortbestimmung des heutigen Steuerrechts und der Steuerrechtswissenschaft ausführlich der Entwicklung der letzteren zuwendet und durch eine Bibliographie ergänzt wird. Schon in seiner ein- führenden Skizze des Phänomens „Steuern" weist er dabei auch auf die Erscheinung des modernen Steuerstaates hin, anders als die klassisch- liberale Finanzpolitik die Steuergesetze nicht nur zu fiskalischen Zwecken, sondern weitgehend auch zu wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischer Len- kung einzusetzen 10. Aus dieser Einsicht erwächst (nicht erst im vorliegen- den Werk) bei Tipke eine folgenschwere Weichenstellung seiner Steuer-

9 Tipke (1981, S. 57 ff.). 10 Vgl. dazu aus finanzwissenschaftlicher Sicht zuletzt instruktiv Pohmer (1993, S. 577 ff.).

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rechtsdogmatik, klammert er doch das steuerliche Lenkungsrecht vom Steuerrecht aus: Sei eine Norm „eine bloß in die Technik eines Steuerge- setzes eingekleidete, wirtschaftslenkende Norm, insbesondere eine Verscho- nungs-Subventionsnorm (Subvention durch Steuerermäßigung, Steuerver- günstigung)44, so sei diese Norm keine Steuer-, sondern als Lenkungsnorm dem Wirtschaftsrecht, Sozialrecht oder anderen Rechtsbereichen zuzuord- nen (Bd. I, S. 6, 79, 83, 123).

Das Unterfangen, die fiskalischen und die außerfiskalischen Normen im Steuerrecht - bei Tipke „Fiskalzwecknormen44 und „Sozialzwecknormen44 genannt - verschiedenen rechtlichen Systemen zuzuordnen, hat vor allem Auswirkungen auf den Einzugsbereich der (nur) für Steuern geltenden Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes (Art. 105 f.). Tipke fordert denn auch für „echte Lenkungssteuern44, bei denen die Einnahmeerzielung nur ein, wenn auch nicht unwillkommenes Nebenprodukt ist, unter Absehen von einer zu erwägenden Doppelzuständigkeit ausschließlich eine Kompe- tenz für die sachliche Regelung (aus Art. 73 ff. GG). Der auch vom Bundes- verfassungsgericht vertretenen Gegenmeinung, die bis zu einer durch den Begriff der „erdrosselnden44 Wirkung bezeichneten Grenze auf dem Steuer- charakter von Lenkungsnormen beharrt11, hält er eine Vernachlässigung der gebotenen Differenzierung zwischen „Substantiell-Relevantem und Technisch-Irrelevantem44 entgegen. Für den von ihm mit Recht so bezeich- neten Regelfall, daß einzelne Lenkungsvorschriften in ein Steuergesetz ein- gestreut sind, rüttelt Tipke zwar am Steuercharakter der Finanzzweckteile des Gesetzes nicht, fordert aber - konsequent -jedenfalls für alle Lenkungs- normen allein die (nichtsteuerliche) Sachkompetenz. Nur dort, wo „mit einem Gesetz tatsächlich ein Doppelzweck (ein fiskalischer und ein nicht- fiskalischer) verfolgt44 wird, sollen ihm zufolge beide Zwecke kompetenziell abgedeckt sein (Bd. Ill, S. 1062).

Das Problem eines Unterlaufens der grundgesetzlichen Sachkompetenz- ordnung durch steuerinterventionistische Normen darf gewiß nicht ver- nachlässigt werden 12. Dem Ansatz Tipkes, das steuerliche Lenkungsrecht schon begrifflich vom Steuerrecht auszugrenzen, ist indes lebhaft zu wider- sprechen. Abgesehen von der gegebenenfalls drohenden Unordnung im Bereich der Ertragszuweisung und Abgabenverwaltung ist ihm zunächst entgegenzuhalten, daß er den Einsatz der Steuer zur Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung zu Unrecht als bloße „technische Äußerlichkeit44 und nicht als ein (seinem eigenen Regime unterliegendes) Mittel des Interven- tionsstaates ausweist und daß er im Zusammenhang damit eine immanente

11 Bundesverfassungsgericht (1963, S. 161; 1974, S. 80). 12 Vgl. zu ihm, am Beispielsfall der Verpackungssteuer, zuletzt Bundesverwaltungs-

gericht (1995, S. 59).

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Eigenschaft der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung, i.e. das subjektiv Zweckhafte, Finale, ohne weiteres zu einer begrifflichen Voraussetzung des eingesetzten Mittels (der Steuer) erhebt. Hinzu kommt, daß der Ansatz Tipkes zu in der Praxis kaum behebbaren Zuordnungsschwierigkeiten führt. Denn es ist kaum einmal verläßlich zu entscheiden, ob eine Norm „wenigstens nebenzwecklich noch der Deckung des Finanzbedarfs (dient)" - und damit nach Tipke im Hinblick auf § 3 1 1 letzter Halbsatz AO noch eine steuerrechtliche ist - oder „die Einnahmeerzielung nur ein, wenn auch nicht unwillkommenes, Beiprodukt" ist - was die Norm aus dem Steuer- recht in die gelenkte Sachmaterie verbannen soll (vgl. Bd. I, S. 79, 123; Bd. Ill, S. 1062). Auch angesichts der Darlegungen Tipkes möchte ich des- halb an meiner, vom Bundesverfassungsgericht13 sodann übernommenen früheren Grundlegung festhalten, derzufolge der Steuercharakter erst dann verlorengeht, wenn nach Lage der Dinge die Finanzfunktion der Abgaben- erhebung in eine reine Verwaltungsfunktion mit Befehlsqualität im gelenk- ten Sachbereich umschlägt14. Für Steuervergünstigungen gilt im Ergebnis nichts anderes. Sie sind ohne Rücksicht auf ihre Zielsetzung steuerbegriff- lich grundsätzlich als unselbständiger Annex der Ertragstatbestände zu begreifen, die sie modifizieren oder ergänzen.

Nachdrücklich beizupflichten ist dagegen dem Bestreben Tipkes, einer Aushebelung der Sachgesetzgebungszuständigkeiten durch steuerinterven- tionistische Normen vorzubeugen (Bd. Ill, S. 1060 ff.). Diesem Kollisions- problem (nicht Mißbrauchsproblem), dem angesichts des Sachkompetenz- reichtums des Bundes (vgl. Art. 73 ff. GG) praktische Bedeutung nur für Steuergesetze der Länder zukommt, kann allerdings ohne Restriktion des überkommenen verfassungsrechtlichen Steuerbegriffs Rechnung getragen werden: Greift ein Landesgesetzgeber durch ersichtlich sachregelungsorien- tierte Steuervorschriften in ein Gebiet der konkurrierenden Zuständigkeit des Bundes aus Art. 74 GG über, so muß er sich angesichts der bundes- staatsrechtlichen Pflicht zur Bundestreue kompetenzrechtlich auch so be- handeln lassen, als sei er auf diesem Gebiet (auch) mit einer sachlich-recht- lichen Normierung tätig geworden 15. Das kann (nicht muß) unter Berück- sichtigung des (entsprechend heranzuziehenden) Art. 72 I GG im Einzelfall dazu führen, daß die lenkende Steuernorm eines Landes ganz oder teilweise durch eine entsprechende Sachregelung des Bundes verdrängt wird und insoweit zurückzutreten hat (s.a. Art. 31 GG). Das Bundesverfassungsge- richt wird zu dieser umstrittenen Problematik demnächst abschließend Stel- lung nehmen müssen, nachdem die unterlegenen Steuerpflichtigen gegen

13 Bundesverfassungsgericht (1974, S. 81). 14 Vgl. Selmer (1972, S. 122; 1992, S. 32). 15 Vgl. bereits Selmer (1972, S. 164).

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den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. 8. 1994 16 zu der auf Art. 105 Ha GG gestützten Verpackungssteuer der Stadt Kassel Verfas- sungsbeschwerde erhoben haben.

2.3. Prinzipien formaler Rechtsstaatlichkeit

Bei seiner Einschätzung des aus dem Rechtsstaatsprinzip sich ergebenden Beitrags zu einer gerechtigkeitsorientierten Steuerrechtsordnung steht Tipke negativ vor allem die ins Formelle gewendete Gerechtigkeitsidee des im vergangenen Jahrhundert sich entfaltenden Gesetzgebungsstaates vor Au- gen. Gerechtigkeit, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung wurden von diesem in der Tat rechtstheoretisch als miteinander in Harmo- nie stehend gedacht. Noch 1926 war es für Otto Mayer „der alles beherr- schende Rechtssatz, der hier von vornherein gleiches Recht für alle" und damit Gerechtigkeit gewährleistete 17. Auch unter dem Regime des Grund- gesetzes blieb dieser Gedanke zunächst noch beherrschend, bevor mit einer gewissen Phasenverschiebung die materiell scheinbar „offene Flanke"18 der Verfassung gegenüber dem Steuerstaat unter dem entschiedenen Ein- fluß des Bundesverfassungsgerichts19 nach und nach stärker abgesichert wurde. Der Fruchtbarmachung des hier in Rede stehenden „materialen Gehalts des Rechtsstaatsprinzips" gilt vor allem das Interesse Tipkes. Von ihm erwartet er mit Recht den wichtigsten Beitrag zur Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit im Steuerrecht (Bd. I, S. 136, 142). Dabei richtet er sich unter Hinweis auf die Grundrechtsbindung auch des Gesetzgebers (Art. 1 III GG) sowie auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG) schon vorab vehement gegen jeden Versuch, die materiale Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht mangels „Sachkriterien oder sachgerechter Kriterien für die Steueranknüpfung" von vornherein zu minimalisieren und damit den steuerlichen Gerechtigkeitsbegriff im wesentlichen wiederum nur formell zu bestimmen (Bd. I, S. 138 ff.).

Die hier allenthalben sichtbar werdende Abneigung Tipkes gegen einen „wertungsfreien Gesetzespositivismus" (Bd. I, S. 141), gegen eine „Dikta- tur der Parlamentsmehrheit" (Bd. I, S. 153) ist gewiß nicht in Frage zu stellen. Sie scheint mir freilich gelegentlich überbordend auf einen heute nicht mehr vorhandenen Gegner zu zielen, so etwa, wenn mehrfach nachdrücklich einem - doch wohl durchgehend als abwegig empfundenen - „beliebigen Diktat" des Steuergesetzgebers eine scharfe Absage erteilt wird (Bd. I, S. 141, 153). Die Befürchtung, Tipke könne auf dieser Grund-

16 Vgl. oben Fußnote 12. 17 O. Mayer (1926, S. 87). 18 Ballerstedt (1958, S. 39). 19 Vgl. grundlegend Bundesverfassungsgericht (1957, S. 55).

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läge und angesichts eines dem „Ideal des sparsamen Staates" in der Tat immer weniger verpflichteten Parlaments (Bd. I, S. 153) die das demokra- tische Prinzip und die Rechtssicherheit verbürgende Kraft des Gesetzes vielleicht allzu gering gewichten, erfüllt sich indessen nicht. Ungeachtet seiner abgrundtiefen Skepsis in die Gerechtigkeit schaffende Wirksamkeit des formellen Steuergesetzgebungsverfahrens (Bd. I, S. 153 ff.; Bd. III, S. 1441 ff.) fordert Tipke nicht nur strikten Gesetzesgehorsam (Bd. I, S. 154 f.). Er entfaltet auch in einer tief eindringenden Darstellung in ein- drucksvoller Weise alle wesentlichen Elemente „formaler Rechtsstaatlich- keit" und ihre im Rechtsleben gewonnene praktische Effizienz (Bd. I, S. 149-250).

Eine Vernachlässigung dieser Prinzipien wäre auch schwerlich zu vermit- teln. Dies gilt um so mehr, als schon die dem Rechtsstaatsprinzip entspre- chende „Gesetzmäßigkeit der Besteuerung" über ihre formale Komponente hinaus durchaus auch einen materiellen Aspekt enthält. Denn sie gewährlei- stet mit der Rechtssicherheit zugleich ein Stück Steuergerechtigkeit, indem sie nicht nur als Vorbehalt des Gesetzes (bei Tipke zumeist: Gesetzesvorbe- halt) die Auferlegung von Steuerlasten und die Gewährung von Steuerver- günstigungen einem Gesetz vorbehält, sondern diesem Gesetz auch den unbedingten Vorrang vor Willensäußerungen von Regierung und Finanz- verwaltung einräumt. Tipke erteilt denn auch mit Recht, dabei die gleich- heitsdienliche Seite des Gesetzmäßigkeitsprinzips allerdings vernachlässi- gend, gesetzlosen Steuerschuldherabsetzungen und Freibetragsgewährun- gen durch die Exekutive ebenso eine Absage wie Steuervereinbarungen, wobei er auch die von der Judikatur seit einiger Zeit tolerierte Verständi- gung über die tatsächlichen Grundlagen der Besteuerung 20 überzeugend in kritischen Augenschein nimmt (Bd. I, S. 102f., 168). Geringer gewichtet Tipke dagegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz; weniger hier, d.h. in der unvermeidbaren Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, sieht er ein Problem als in der „übergroßen Quantität (Normenhypertro- phie)" und der „mangelnden Qualität" der Vorschriften (Bd. I, S. 174 f.).

Auch dem Vertrauensschutz als der für den Steuerbürger entscheidenden Ausprägung rechtsstaatlicher Rechtssicherheit wendet sich Tipke ausführ- lich zu, dabei mit einer inzwischen verbreiteten Meinung21 das Bundesver- fassungsgericht22 treffend dazu auffordernd, bei der rechtsstaatlichen Beurteilung rückwirkender Steuergesetze für periodische Steuern nicht an die technische Entstehung der Jahressteuerschuld, sondern an die Sachver-

20 Vgl. grundlegend Bundesfinanzhof (1985, S. 354; 1991, S. 45). 21 Vgl. eindringlich im nachfolgenden Sinne erstmals Seltner (1974, S. 90 f.); zuletzt Vogel (1990, S. 55). 22 Vgl. grundlegend Bundesverfassungsgericht (1961 a, S. 277 f.; 1961 b, S. 282f.; 1964, S. 142 f.).

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haltsverwirklichung als maßgebenden Zeitpunkt für die Gewichtung des Vertrauensschutzes anzuknüpfen (Bd. I, S. 186 ff.). Der hier, wie später auch bei der Bewertung belastender Ex-nunc- Verschärfungen von Steuer- gesetzen und ihrer Anwendung (Bd. I, S. 195 ff., 201 f.), kräftig zur Geltung gebrachte Gedanke der Rechtssicherheit wird freilich allzu einseitig wie- derum nur der formalen Rechtsstaatlichkeit zugeordnet, während sein Be- zug zum grundrechtlichen Gleichheits- und Freiheitsschutz ausgeklammert bleibt. Vielleicht hätte eine Aufdeckung der Ambivalenz der Rechtssicher- heit Tipke auch zu einer von seiner hiesigen Sicht etwas abweichenden Einschätzung des - umstrittenen - steuerlichen Analogieverbots veranlaßt. Tipke (Bd. I, S. 202 ff.) begreift dieses von einer beachtlichen Meinung im Schrifttum23 getragene Verbot allein als Ausdruck „positivistischer Tradi- tion" und „formaler Rechtsstaatlichkeit", der er die lückenfüllende Analo- gie als der „Gleichmäßigkeit der Besteuerung und damit der Steuergerech- tigkeit" dienend gegenüberstellt - eine Gegenüberstellung, die so in der Tat nur „zugunsten der Analogie" ausfallen kann, zumal Tipke ihr den bestür- zenden Befund zugrunde legt, daß sich die Steuerpflichtigen ohnehin „durchweg nicht auf den Gesetzestext" als mögliche Rechtslage und Sicherheitsgrundlage für Steuerplanung verließen (Bd. I, S. 225-227). Ob diese Sicht die „Realität" (Bd. I, S. 230) der heutigen Lage uneingeschränkt treffend widerspiegelt, mag dahinstehen. Daß sie eine rechtsstaatlich über- zeugende Antwort auf einen rechtsstaatlich bedenklichen Zustand darstellt, erscheint immerhin fragwürdig.

2.4. Prinzipien materialer Rechtsstaatlichkeit, insbesondere Steuergerechtigkeit durch Gleichbehandlung

Unbeschadet der von Tipke wohl unterschätzten Bedeutung der „forma- len" Seite des Rechtsstaatsprinzips, der das schon in den Grundrechten selbst angelegte rechtsstaatliche Übermaßverbot und das Steuergeheimnis entgegen Tipke (Bd. I, S. 232, 234) übrigens nicht zugehören, erfährt die Steuergerechtigkeit ihre entscheidende Prägung gewiß durch die Prinzipien „materialer Rechtsstaatlichkeit". Sie stellt Tipke daher überzeugend in den Mittelpunkt seiner Rechtsstaatslehre des Steuerrechts. Da naturgemäß jede materielle Gerechtigkeitsordnung, also auch die des Steuerrechts, leitender Grundorientierungen bedarf, trifft er vorab die sodann immer wieder er- neuerte und variiert ausgebreitete Feststellung: „Gerechtigkeit schaffen heißt daher zunächst: Prinzipien oder Regeln oder allgemeine Maßstäbe aufstellen" (Bd. I, S. 283). Wer aber ist hierzu berufen? Daß die sachgerech-

23 Zu dessen jüngstem Bild vgl. Birk (1994, S. 112ÍT.); zur Entwicklung der Judikatur Selmer (1984, S. 970).

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ten Prinzipien verbindlich zu kreieren jedenfalls der (einfache) Gesetzgeber nicht berufen ist, liegt bei Tipke auf der Hand; er hält einen entsprechenden Positivismus angesichts der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers auch für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar (Bd. I, S. 291 , 335 ff.). Scheint dies die Steuergerechtigkeitsfrage wesentlich als eine Verfassungsrechtsfrage auszu- weisen, so wird doch alsbald hier und später deutlich, daß Tipke die Steuer- gerechtigkeit im Sinne einer „auf die Sache bezogenen, sachangemessenen Gerechtigkeit" durchaus (auch) als ein vor- und überverfassungsrechtliches Postulat begreift (Bd. I, S. 284 ff., 286 ff., 478 ff.). Wenn er seine Aufmerk- samkeit im folgenden unter dem Stichwort „Steuergerechtigkeit durch Gleichbehandlung" zunächst nachdrücklich auf die Aussagekraft des ver- fassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 I GG) richtet (Bd. I, S. 31 Iff., 322 ff.), zeigt sich freilich, daß er von der Verfassung entschei- dende Hilfestellung für seine Steuergerechtigkeitskonzeption erhofft.

Nun leidet die Anwendungskraft des Art. 3 I GG 24 gewiß darunter, daß die Vorschrift wie für andere Bereiche so auch für das Steuerrecht keine ausdrücklichen Wertungsvorgaben enthält. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf bekanntlich nicht selten (wenngleich keineswegs durchgehend: vgl. unter 2.5) mit der Willkürformel25 reagiert, die grundsätzlich jeden hinreichend sachgerechten Grund als differenzierungslegitimierend genü- gen läßt. Gelegentlich hat es einen Vergleichsmaßstab zwar gefordert, des- sen Auswahl im Rahmen eines weiten Ermessens aber dem Gesetzgeber überlassen; diesem wird allerdings abverlangt, der von ihm selbst statuier- ten Sachgesetzlichkeit grundsätzlich treu zu bleiben 26. Die Literatur ist von alledem zumeist nicht weit entfernt. Bisweilen, so besonders pointiert von Kruse 27, wird dem Steuerrecht ganz generell die Eigenschaft abgesprochen, aus sich heraus sachgerechte Kriterien als Anknüpfungspunkt zur Verfü- gung zu stellen. Tipke tritt dem mit großer Entschiedenheit entgegen (Bd. I, S. 339 ff., 352 ff.). In der Tat: Ein gesetzgeberisches Arbeiten mit dem Gleichheitssatz ohne sachgerechte Prinzipien bedeutet als Prinzipienlosig- keit Mißbrauch der gesetzgeberischen Gestaltungsmacht und einen Grund- verstoß gegen den Gleichheitssatz. Damit stellt sich wiederum notwendig die Frage nach den systemkonstituierenden Prinzipien des Steuerrechts und der sie betreffenden Definitionskompetenz, wobei es Tipke jenseits aller sachgerechten „Subprinzipien" vor allem auf das Durchstoßen zum „Fun- damentalprinzip" des Steuerrechts als Vergleichsmaßstab ankommt. Billigt

24 Vgl. zu Entwicklung und Stand der Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes aus jüngerer Zeit Huster (1994, S. 541 ff. m. weit. Nachweisen). 25 Zu ihr vgl. grundlegend Bundesverfassungsgericht (1951, S. 52). 26 Vgl. näher zu den Auswirkungen des allgemeinen Gleichheitssatzes auf das Steuer- recht in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zuletzt Sachs (1994, S. 75 ff.). 27 Vgl. Kruse (1990, S. 322 ff; 1991, S. 45 ff).

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244 Peter Selmer

er insoweit dem Gesetzgeber auch einen Wertungsspielraum (Beurteilungs- spielraum) zu, so macht er doch (wie schon im Vorwort) von vornherein keinen Hehl daraus, daß für ihn „ein solcher Maßstab im Leistungsfahig- keitsprinzip gefunden worden" sei (Bd. I, S. 347 ff.)· Vor der Konsequenz, dieses Prinzip ausdrücklich als verfassungskräftigen Vergleichsmaßstab für die gesamte Steuergesetzgebung aufzudecken, scheut Tipke hier bemer- kenswerterweise zurück. Statt dessen entnimmt er dem Gleichheitssatz, damit dann doch wieder auch andere Gestaltungsmöglichkeiten unterstel- lend, die in der Tat unabweichbare Forderung an den Gesetzgeber, „das sachgerechte Prinzip, für das er sich entschieden hat, system- oder wer- tungskonsequent zu Ende aus(zu)führen", es sei denn, die Durchbrechung werde ihrerseits wiederum „selbst von einem sachgerechten Prinzip" getra- gen (Bd. I, S. 354, 356).

Nur in der Konsequenz seiner vorrangigen Entscheidung, das gesamte steuerliche Lenkungsrecht vom Steuerrecht begrifflich auszugrenzen, liegt es offenbar, wenn Tipke im vorliegenden Zusammenhang für Lenkungs- normen einen „anderen Maßstab der Sachgerechtigkeit" gelten lassen will als den des Leistungsfahigkeitsprinzips (Bd. I, S. 364). Indes: Wie der Wei- chenstellung, so vermag ich auch der letzteren Annahme nicht beizupflich- ten. Gerade hier wird deutlich, wie hoch der Preis ist, den Tipke für die propagierte Anerkennung des Leistungsfahigkeitsprinzips als Fundamen- talprinzip des Steuerrechts zu zahlen bereit ist. Die Aussonderung der Len- kungsnormen aus letzterem Gebiet dient zwar der scheinbaren Stringenz und Ausnahmslosigkeit jenes Prinzips, hat aber mit dessen damit verbunde- ner gänzlicher Verbannung aus dem steuerlichen Lenkungsrecht eine höchst fragwürdige Folge. Gerade angesichts der Bedeutung, die dem Leistungsfa- higkeitsprinzip als Lastenverteilungsgrundsatz gewiß zukommt, erschiene eine Betrachtungsweise wohl überzeugender, bei der das Prinzip auch bei steuerlichen Lenkungsnormen gewissermaßen „mit im Spiele" bleibt und möglicherweise auch auf die Beantwortung der Frage einwirkt, ob die je- weilige Norm in bezug auf den angestrebten Lenkungszweck geeignet, vor allem aber erforderlich und verhältnismäßig ist28.

Schärfere Konturen entwickelt der im allgemeinen Gleichheitssatz ange- legte Grundsatz der Steuergerechtigkeit naturgemäß dort, wo er nicht iso- liert, sondern in Verbindung mit einem weiteren Verfassungssatz anzuwen- den ist. Das arbeitet Tipke in Übereinstimmung mit dem Bundesver- fassungsgericht29 vor allem für die Besteuerung von Ehe und Familie, die

28 Zum Verhältnis von Gleichheit und Verhältnismäßigkeit zuletzt Huster (1994, 542 ff.). 29 Zu dessen Judikatur zu Kinderfreibetrag/Kindergeld und persönlichem Existenz- minimum vgl. eingehend jetzt auch Söhn (1994, S. 372 ff.); s.a. Arndt und Schumacher (1994, S. 1219ff).

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durch Art. 6 I GG des besonderen staatlichen Schutzes versichert werden, eingehend heraus (Bd. I, S. 377 ff.); dabei erfährt auch das Ehegattensplit- ting eine tief auslotende (im Ergebnis überzeugend befürwortende) Erörte- rung. Tipke vernachlässigt hier freilich den bedingenden Zusammenhang, wenn er feststellt, daß sich an dem „miserablen Zustand des Steuerrechts" nichts ändern werde, wenn das Bundesverfassungsgericht sich darauf be- schränke, „sich in Familien-Steuersachen zu engagieren" (Bd. I, S. 359; s. a. Bd. Ill, S. 1488). Mit Recht überraschen wird manchen sodann, daß Tipke die Steuerprogression, insbesondere den progressiven Einkommensteuer- tarif, auch unter der Einwirkungskraft des verfassungsrechtlichen Sozial- staatsprinzips (Art. 20 I, 28 I 1 GG) für zulässig und möglich, anders als das Bundesverfassungsgericht30 aber nicht für gleichheitsrechtlich zwingend geboten hält (Bd. I, S. 411 f., 41 8 f.).

Über den Gleichheitssatz hinaus entfaltet auch der freiheitliche Rechts- staat eine Schutzfunktion gegenüber der Besteuerung, ob man sie nun ter- minologisch der „Steuergerechtigkeit" zuordnet oder nicht (Tipke, Bd. I, S. 425: „nicht unzweifelhaft"). Die Wirksamkeit dieser Schutzfunktion ist allerdings, soweit es um Fiskalzwecknormen geht, gering zu veranschlagen. Denn das grundrechtlich-rechtsstaatliche Übermaßverbot greift gegenüber dem steuerlichen Zweck der Einnahmeerzielung für die Erfüllung öffentli- cher Aufgaben ins Leere; ausgenommen hiervon bleibt (was bei Tipke, Bd. I, S. 233 i.V. mit S. 440 nur im Zusammenhang deutlich wird) der Billig- keitsgedanke der Unzumutbarkeit, der vor allem für einen Erlaß gem. §§163, 227 AO verfassungsrechtliche Bedeutung gewinnen kann. Im übri- gen läßt es daher auch Tipke, abgesehen von der durch die Menschenwürde (Art. 1 I GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 1 1 GG) gewährlei- steten Unantastbarkeit des Existenzminimums, bei dem Verbot bewenden, durch Steuern (unter Zugrundelegung einer durchschnittlichen Wirkung) den „ökonomischen Exitus" einer beruflichen Tätigkeit (Art. 121 GG) oder eine „Vermögenskonfiskation" (Art. 141 GG) zu bewirken (Bd. I, S. 427, 439, 456). Der verfassungsrechtsdogmatische Hintergrund dieser Grenzziehung, für Tipke überdies nicht von besonderem Interesse (Bd. I, S. 454 f.), bleibt allerdings im dunkeln; nur für das Erbrecht stellt er unter Hinweis auf Art. 19 II GG - mit Recht - fest, daß es auch durch die Erb- schaftsteuer nicht „in seinem Wesensgehalt angetastet" werden dürfe.

30 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1958, S. 68 f.).

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246 Peter Selmer

2.5. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip sozial gerechter Besteuerung

Das Leistungsfahigkeitsprinzip - nicht im schlichten Sinne der Leistungs- ais Zahlungsfähigkeit, sondern im Sinne eines Steuerverteilungs- und Steuergestaltungsprinzips - hat in den letzten Jahren nach der Finanzwis- senschaft31 zunehmend auch die Rechtswissenschaft32 beschäftigt. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits hat es bisweilen (vgl. aber auch unter 2.4) als ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit bezeichnet, daß die Besteuerung nach der (wirtschaftlichen) Leistungsfähigkeit ausgerichtet wird 33; es hat aber auch hier hinzugefügt, daß die Verfassung (Art. 3 I GG) zur reinen Verwirklichung dieses Prinzips nicht verpflichte34. Tipke legt demgegenüber in seinen Grundlegungen, wie sich zeigte, das Leistungs- fahigkeitsprinzip immer wieder nachdrücklich als „das" sachgerechte Fun- damentalprinzip der Besteuerung zugrunde (Bd. I, S. VIII und passim), ohne dies zunächst näher auszuführen. Die Begründung nachzuholen, un- ternimmt er unter dem Titel „Auf der Suche nach einem sachgerechten Fundamentalprinzip der Besteuerung" erst am Schluß des I. Bandes, dabei eine Fülle von Material aus dem In- und Ausland vor dem Leser ausbrei- tend (S. 478 ff.).

Die dort vorangestellte These Tipkes, dem Leistungsfahigkeitsprinzip zufolge sei die „individuelle Steuerbelastung nach der Fähigkeit zu bemes- sen, Steuerleistungen aus dem Einkommen im Verhältnis zum Einkommen erbringen zu können" (Bd. I, S. 478), könnte wohl, aber sollte nicht mißver- standen werden. Sie bedeutet, wie in vielfältigen Zusammenhängen deutlich wird, keineswegs eine Beschränkung des Prinzips auf die Einkommensteuer (Bd. I, S. VIII u. passim), sondern ist Folge seiner Einsicht in die „funda- mentale Sachgesetzlichkeit des Steuerrechts", daß Steuern überhaupt „nur aus dem Einkommen oder dem Vermögen als gespeichertem Einkommen" erbracht werden können (Bd. I, S. 337). Es geht also um die leistungsfähig- keitsgerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast - und zwar ersichtlich im Sinne einer grundsätzlichen Geltung des Leistungsfahigkeitsprinzips für alle (direkten und indirekten) Steuern (Bd. I, S. VII, 496 u. passim). Immer- hin wird eine gewisse Abmilderung der bislang eher puristischen Grundhal- tung sichtbar, wenn jetzt von den ferner eingeführten Prinzipien zwar das Kopf Steuerprinzip für unzulässig erklärt wird („ . . . in einem Sozialstaat

31 Vgl. für viele aus jüngerer Zeit Andel (1992, S. 268 ff.). 32 Vgl. seit dem Erscheinen des vorliegenden Werkes noch Wittmann (1993, S. 35 ff.); Söhn (1994, S. 372 ff.); Rodi (1994, S. 25 ff., 32ff., 64ff., 237f.); s.a. Fußn. 37.

33 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1976, S. 120; 1977, S. 29; 1982, S. 342ff.). 34 Bundesverfassungsgericht (1976, S. 120).

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selbst als Mindeststeuer kaum zu rechtfertigen"), wohl aber dem Äquiva- lenzprinzip für bestimmte Steuern - die Kraftfahrzeugsteuer, die Mineralöl- steuer, (z.T.) die Hundesteuer, bemerkenswerterweise aber nicht für die Gewerbesteuer - eine rechtfertigende Kraft beigemessen wird (Bd. I, S. 477; Bd. II, S. 823 ff., 933, lOOOff., 1013f.; Bd. Ill, S. 1112).

Der verfassungsrechtlichen Begründung des Leistungsfahigkeitsprinzips vorangestellt hat Tipke eine ethische Rechtfertigung, die unter Hinweis auf das „allgemeine Rechtsbewußtsein", die „praktische Vernunft", die „Sach- gerechtigkeit" und „Akzeptanz" des Prinzips seine Rolle als rücksichtsvolle „Klugheitsregel" und ähnliche Gesichtspunkte (Bd. I, S. 479) die Eingangs- these (s.o. unter 2.1) von der „ethischen Rationalität" des Prinzips zu konkretisieren sucht. Dabei scheut er nicht davor zurück, dem Leser das Leistungsfahigkeitsprinzip auch durch seine Umkehrung („Teile jedem zu, was ihm nicht zusteht", „Besteuere jeden ohne Rücksicht auf seine Lei- stungsfähigkeit" u.a.) sowie die Formulierung das Prinzip leugnender Praktiken („Freie Willensentscheidungen, beliebige Einfalle von ,Elefan- tenrunden', ,Koalitionsrunden' werden ... als Gesetz vorgeschlagen und beschlossen", „Gesetz werden muß, was bei der nächsten Wahl einen Netto- zuwachs an Stimmen verspricht", „Gruppen, die nachdrücklich etwas ver- langen, müssen es bekommen" u. a.) gedanklich näher zu bringen. Unter Ausbreitung einer Fülle von Material geht Tipke sodann der „verfassungs- rechtlichen Fundierung" des Leistungsfahigkeitsprinzips nach (Bd. I, S. 487 ff.). Nach einer instruktiven Wiedergabe das Prinzip anerkennender ausländischer Verfassungen und einem knappen (in Fußnoten verwiesenen) Aufriß des Meinungsstandes in Ökonomie und Recht kommt er alsbald zum Kern.

Unbeschadet des grundgesetzlichen Fehlens einer Art. 134 WRV („Alle Bürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentli- chen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei") entsprechenden Bestimmung sieht Tipke das Leistungsfahigkeitsprinzip auch heute verfassungsrechtlich gesichert, „insbesondere durch das Sozialstaatsprinzip mitfundiert" (Bd. I, S. 390 ff.). Es sorge, anders als das Kopfsteuer- und das Äquivalenzprinzip, für die Freistellung eines menschenwürdekonformen Existenzminimums (Art. 1 I GG) sowie als „Schutzprinzip" dafür, daß durch die Steuerlast die Berufs- und die Eigentumsfreiheit (Art. 12 1, 14 I GG) sowie der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 I GG) nicht unzulässig verkürzt würden. Davon, das Leistungsfahigkeitsprinzip ausdrücklich als durchgehend einzig verfas- sungsgerechten Vergleichsmaßstab für die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) im Steuerrecht anzuerkennen, sieht Tipke hier aber ebenfalls ab, fragt dann allerdings sogleich: „Welches andere Prinzip ist denn - von Ausnahmen abgesehen - sachgerecht?" (Bd. I, S. 499, Fußn. 86; s.a. Bd. Ill, S. 1491).

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248 Peter Seltner

Tipkes mit großer Entschiedenheit vorgetragenen und vielfältig belegten Einsichten könnte ohne weiteres zugestimmt werden, verstünde er die ver- fassungsrechtliche Forderung nach einer leistungsfahigkeitsgerechten Be- steuerung als eine solche an die Ausgestaltung des Gesamtsteuersystems. Insoweit bildet das Leistungsfahigkeitsprinzip jedenfalls unter dem Regime unseres sozialen Grundrechtsstaates in der Tat nicht nur ein ethisches Axiom, sondern ein verfassungskräftiges Fundamentalpostulat, gleich- heitsrechtlich also sozusagen einen geborenen Vergleichsmaßstab. Das Lei- stungsfähigkeitsprinzip muß, mit anderen Worten, von Verfassungs wegen im Gesamtsteuersystem beherrschend hervortreten und diesem seinen prä- genden Stempel aufdrücken. So wäre der umweltschutzorientierte Umbau unseres Steuersystems zu einem sog. „Ökosteuersystem" nicht nur der gel- tenden Finanzverfassung (Art. 105, 106 GG) inadäquat, sondern stünde auch zu materiellen Verfassungspositionen in Widerspruch35. Zweifel blei- ben indes an der von Tipke grundsätzlich verfolgten durchgängigen Verfas- sungsgeltung des Leistungsfahigkeitsprinzips für (prinzipiell) alle Steuern. Hierfür vermag ich dem Grundgesetz keinen überzeugenden Beleg zu ent- nehmen. Art. 106 GG, dem Tipke freilich jeden Steuergerechtigkeitsgehalt abspricht (vgl. dazu unter 3.1), spricht sogar eher für das Gegenteil, wenn er unter den auf Bund und Länder zu verteilenden Steuererträgen ausdrück- lich auch das Aufkommen solcher Steuern aufführt, die nicht oder nur höchst mittelbar auf die individuelle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichti- gen Rücksicht nehmen. Hiervon abgesehen: Wenn Tipke (Bd. I, S. 494) den Spielraum, den auch er dem Gesetzgeber läßt, nur leistungsfahigkeitsimma- nent verstanden wissen will („ . . . was im Sinne des Prinzips vertretbar, diskutabel ist, muß hingenommen werden"), so löst er das Spannungsver- hältnis von Demokratiegrundsatz und gerechter Besteuerung verfassungs- rechtlich vielleicht doch etwas allzu einseitig im Sinne gerade seiner Vorstel- lungen.

Diese Bedenken sollen gewiß nicht an dem von Tipke überzeugend her- ausgearbeiteten Fundamentalcharakter des Leistungsfahigkeitsprinzips und dessen leitender Bedeutung für das Steuersystem rütteln. Richtig ist ferner, daß sich anderweitige Besteuerungsprinzipien im sozialen Rechts- staat des Grundgesetzes gegenüber dem Leistungsfahigkeitsprinzip jeweils überzeugend artikulieren müssen, um vor dem allgemeinen Gleichheitssatz Bestand zu haben. Auch darf schließlich durch ihre Zugrundelegung die führende Stellung des Leistungsfahigkeitsprinzips im Gesamtsteuersystem nicht angetastet werden; gegebenenfalls ist diese Stellung durch parallele steuergesetzliche Maßnahmen zu sichern. Im übrigen allerdings sollte das Augenmerk, statt auf eine reine Verwirklichung des Leistungsfahigkeits-

35 Vgl. Selmer (1992, S. 30f.).

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prinzips im gesamten Steuerrecht, mehr auf eine systemgerechte, folgerich- tige und konsequente Durchführung des Prinzips dort gerichtet sein, wo sich der Steuergesetzgeber grundsätzlich für dieses Prinzip entschieden hat. Hier vor allem dürfte ein auch vom Bundesverfassungsgericht noch nicht hinreichend ausgeschöpftes Reservoir verfassungsrechtlicher Kontrolle am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes liegen36. Gesetzesinterne Durch- brechungen des einmal gewählten Leistungsfahigkeitsprinzips sollten ein- mal von gleichrangigen (nicht nur willkürfreien) Sachgründen getragen werden. Sie sollten darüber hinaus, worauf in allgemeinerem Zusammen- hang auch Tipke hinweist (Bd. I, S. 354 ff.; s.a. S. 346, 498, Fn. 86), im Sinne dieser Sachgründe geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Das Leistungsfahigkeitsprinzip tritt also nur insoweit zurück, als die Legi- timationskraft des Durchbrechungsaspekts reicht37.

3. Das System gerechtfertigter Steuern

3.1. Steuerrechtfertigung und gerechtfertigte Steuern

Hat Tipke mit dem I. Band die ethischen und rechtlichen Grundlagen des ihm vorschwebenden Steuersystems gelegt, so werden im II. Band in einer breiten systematischen Darlegung alle real existierenden Steuern des deut- schen Steuerrechts darauf untersucht, „ob und inwieweit sie selbst und ihre Bemessungsgrundlagen sich - einzeln und in ihrer Kumulation - durch das Leistungsfahigkeitsprinzip als sachgerechte Fundamentalregel rechtferti- gen lassen" (Bd. II, S. 548). Nach Überzeugung Tipkes gewinnt jeder ge- setzliche Steuereingriff seine Rechtfertigung mithin ausschließlich aus der (durch das Leistungsfahigkeitsprinzip bestimmten) materiellen Gerechtig- keit des Eingriffs (Bd. I, S. 532). Dieser Feststellung kommt grundlegende Bedeutung zu, weil Art. 106 GG die verschiedenen, auf Bund und Länder zu verteilenden gegenwärtigen Steuern ausdrücklich aufführt und die Ver- fassungsinterpreten38 hierin zumeist (mit Recht) auch verbrieft sehen, daß die genannten Steuern in ihrer herkömmlichen Gestalt sämtlich als grund- sätzlich (auch materiell) verfassungsmäßig anzuerkennen sind. Zu den we- sentlichen und auch in späteren Passagen des Werkes immer wieder her- ausgestellten Vorgaben der Steuerrechtfertigungstheorie Tipkes gehört, daß

36 Zurückhaltender noch Selmer (1990, S. 233). 37 Zu dem vor einiger Zeit gemachten (aus vielerlei Gründen fragwürdigen) Vorschlag des Karl- Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler (Schemmel und Borell, 1992, S. 69, 84), das Leistungsfahigkeitsprinzip ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen, vgl. Schneider (1994, S. 58); Tipke (1994a, S. 58 ff.); Rodi (1994, S. 237f.); zuletzt Schemmel (1995, S. 39 ff.). 38 Zuletzt Vogel (1993, S. 1124).

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er letztere These ausdrücklich zurückweist: Art. 106 habe keinerlei „ethi- schen Gehalt". Er setze die von den Grundrechten beeinflußte gerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die Steuerpflichtigen voraus, regele sie aber nicht; daher bleibe aufgegeben, „nicht nur einzelne Steuervorschriften, sondern auch die einzelnen Steuern darauf zu prüfen, ob sie den Grund- rechten entsprechen" (Bd. I, S. IX; Bd. II, S. 528 ff., 908 ff., 959; Bd. III, S. 1088 ff.).

Nun ist das Bestreben Tipkes, sich für die von ihm ins Auge gefaßte „Entwicklung eines sachgerechten Steuersystems" (Bd. |I, S. 1017 ff.) wei- testgehenden Freiraum zu verschaffen, gewiß verständlich. In der Sache kann ihm nur beschränkt gefolgt werden. Wohl trifft zu, daß die Finanzaus- gleichsregelung des Art. 106 GG keine Aussage über die materiell gerechte Lastenverteilung auf die Steuerbürger enthält. Das steht indes zu der An- nahme einer grundsätzlichen Verfassungskonformität der in jener Regelung genannten Steuern und Steuerarten keineswegs in Widerspruch. Diese An- nahme bedeutet weder, Art. 106 GG zu einem „pseudoethischen Götzen" zu verklären, noch, einem „von den Grundrechten losgelösten Verfassungs- positivismus" zu verfallen (Bd. II, S. 529, 909). Sie trägt vielmehr nur dem Prinzip der Einheit der Verfassung und damit der Notwendigkeit Rech- nung, alle Verfassungsnormen so zu interpretieren, daß Widersprüche zu anderen Verfassungsnormen vermieden werden39. Diese Harmonisierung von Steuerverfassung und Grundrechten ist überdies keineswegs gleichzu- setzen mit einer Verewigung des gesamten geltenden Steuersystems (s. aber Tipke, Bd. III, S. 1092ff.; Bd. II, S. 529). Der einfache Gesetzgeber hat vielmehr die von Tipke postulierte Freiheit, dieses System umzugestalten, weitgehend auch unter dem Regime der hier vertretenen Auffassung; das gilt zumal, wenn mit einer mit Recht im Vordringen begriffenen und auch von Tipke (aaO.)40 geteilten Ansicht neue Steuern eingeführt werden kön- nen, die sich den Steuerkategorien des Art. 106 GG nicht zuordnen las- sen41. Warum Tipke für die Ertragsberechtigung an solchen Steuern eine Ergänzung des Art. 106 GG, also eine reformerschwerende Verfassungs- änderung fordert (Bd. II, S. 529; Bd. Ill, S. 1095), anstatt die Regelungsbe- fugnis darüber an die Zuständigkeit zu ihrer gesetzlichen Einführung zu knüpfen42, vermag schließlich nicht recht einzuleuchten.

Der eigentliche Leistungsfahigkeitstest Tipkes, der (S. 549-1016) den umfangreichen und auf eine Fülle von Detailfragen eingehenden Schwer-

39 Zu dieser Notwendigkeit (für viele) näher Hesse (1991), S. 27. 40 Vgl. ferner noch Tipke (1994b, S. 437 ff.). 41 Vgl. Selmer (erstmals 1972, S. 144f., 154f.; zuletzt 1992, S. 37ff. m. weit. Nachw.); Selmer, Brodersen und Nicolaysen (1989, S. 53 f.). 42

Vgl. hierfür die in Fn. 41 Genannten.

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Der gerechte Steuerstaat 251

punkt des II. Bandes bildet, kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Im Vordergrund steht dabei naturgemäß die ungemein ausführlich erörterte Einkommensteuer (Bd. II, S. 549-722), die Tipke (aaO., S. 560) überdies zum Anlaß nimmt, noch einmal ausdrücklich auf die Doppelfunk- tion des Leistungsfahigkeitsprinzips hinzuweisen, einerseits „Rechtferti- gungsgrund für einzelne Steuern zu sein", andererseits auch „Maßstab für die Verteilung der Gesamtsteuerlast". Das Ergebnis (Bd. II, S. 718, 743): Die Einkommensteuer (wie die Körperschaftsteuer) ist grundsätzlich ge- rechtfertigt, weil das Einkommen ein besonders geeigneter Maßstab steuer- licher Leistungsfähigkeit ist; Tipke attestiert ihr allerdings viele Unzuläng- lichkeiten in der Einzelausgestaltung, die einer Überprüfung am Maßstab des Leistungsfahigkeitsprinzips nicht standhalten43. Hier wie auch bei der Würdigung der anderen Steuern arbeitet Tipke eine schier unglaubliche Fülle an Material in seine Darstellung ein, das für die weitere Durchdrin- gung der Gerechtigkeitsidee im Steuerrecht von kaum zu unterschätzender Bedeutung sein dürfte. Auf grundsätzliche Kritik Tipkes stoßen vor allem die Vermögensteuer, die Grundsteuer, die Gewerbesteuer, die betriebliche Versicherungsteuer und die besonderen Fiskalzweck- Verbrauchsteuern (Bd. II, S. 771 ff., 800ff., 809ff., 822ff., 946 ff., 952ff., 1008 ff.). Sie ließen sich „nicht als gerecht rechtfertigen" und sollten deshalb aufgehoben wer- den (Bd. II, S. 1019 ff.; Bd. III, S. 1094). An die Stelle rechtsformabhängi- ger Steuern sollte eine rechtsformneutrale, wettbewerbsneutrale Unterneh- mensteuer treten (Bd. II, S. 1025 ff.; Bd. Ill, S. 1094). Als in seinem Sinne „gerechtfertigte" Steuern anerkennt Tipke neben der Einkommensteuer und der selbständigen Unternehmensteuer die Erbschaft- und Schenkung- steuer als Annex zur Einkommensteuer, die Umsatzsteuer (als allgemeine Einkommenverwendungsteuer) und die Grunderwerbsteuer als Annex zur letzteren (Bd. II, S. 745 ff., 887 ff., 937 ff., 1019ff., 1039). Neben diesen Fis- kalzwecksteuern verbleiben nach Überzeugung Tipkes als nicht dem Lei- stungsfähigkeitsprinzip unterliegende Lenkungssteuern: Steuern auf Trink- alkoholika, auf Tabakwaren, auf Mineralöl und die Hundesteuer; Raum sieht er auch für Umweltschutz- Verbrauchsteuern (Bd. II, S. 979 ff., 996 ff., lOOOff., 1039; Bd. Ill, S. 1095).

Der von Tipke gerade bei der dogmatischen Würdigung der Einzelsteu- ern entfaltete Material- und Gedankenreichtum, gipfelnd in einem Vor- schlag zur Neuordnung und Systematisierung des Stoffes in einem Steuer- gesetzbuch (Bd. II, S. 1047 ff.), wird sich erst der künftigen, tiefer eindrin- genden wissenschaftlichen Beschäftigung voll erschließen. Diese wird näher zu erwägen haben, ob den kritischen Überlegungen und Schlußfolgerungen Tipkes vollen Umfangs gefolgt werden kann. Hier ist ihm vor allem zu

43 Vgl. kritisch zur Entwicklung der Einkommensteuer zuletzt Lang (1993).

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attestieren, daß er, gründend auf der Basis seiner zuvor dargelegten Grund- überzeugungen, der Frage der materiellen Rechtfertigung der bei uns erho- benen Einzelsteuern mit einer Akribie und Gründlichkeit nachgegangen ist, die man als steuerrechtswissenschaftlichen Glücksfall verbuchen darf. Auch erscheinen, leistungsfähigkeitsimmanent beurteilt, seine kritischen Wertungen weitgehend als wohlbegründet und in der Sache, bei allem im- mer wieder spürbaren Missionsgeist, durchaus als angemessen. Keineswegs der Kritik unterliegt auch, daß Tipke eine Fülle von Einzelregelungen der Steuergesetze wegen fehlender Konsequenz und Folgerichtigkeit in der Um- setzung des zugrundeliegenden Ausgangsprinzips für verfassungswidrig er- klärt. Der von ihm ersichtlich verfochtenen These freilich, die mangelnde Rechtfertigung einer Steuer am Maßstab des Leistungsfahigkeitsprinzips bedeute grundsätzlich schon für sich allein auch die Verfassungswidrigkeit der Steuer wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, vermag ich aus mehrfach dargelegten Gründen nicht beizupflichten. Das Bundesverfassungsgericht, auf dem die Hoffnungen Tipkes im wesentlichen ruhen, wird sich überdies schon aus funktionell-rechtlichen Gründen44 schwerlich zum aktiven Gestalter einer durchgehend vom Leistungsfahig- keitsprinzip beherrschten Steuerrechtsordnung machen lassen wollen. So wird Tipke, wenn ich recht sehe, für die Durchsetzung seiner insgesamt überzeugenden Steuergerechtigkeitslehre vor allem auf deren rechtspoli- tische Ausstrahlungskraft auf den Gesetzgeber vertrauen müssen. Sie sollte, entgegen der immer wieder durchdringenden Resignation des Autors, nicht von vornherein gering veranschlagt werden.

3.2. Gerechte Steuerverteilung und -Verwaltung Nicht nur die Verteilung der Steuerlasten auf die Bürger, auch die födera-

tive Steuerverteilung, d.h. die Verteilung der Steuergesetzgebungs- und Steuervereinnahmungsbefugnisse auf Bund und Länder, besitzt eine emi- nente Gerechtigkeitsfunktion. Allerdings steht insoweit eine genuin bundes- staatliche Ausprägung des Gerechtigkeitsprinzips in Rede, gerichtet auf die Sicherstellung einer Finanzordnung, die Bund und Länder am Finanzauf- kommen sachgerecht beteiligt und im Rahmen des gesamtstaatlich Mögli- chen finanziell in die Lage versetzt, die ihnen verfassungsrechtlich zukom- menden Aufgaben (vgl. Art. 104 a I GG) auch wahrzunehmen. Der auf das Staat/Bürger- Verhältnis gerichteten Themenstellung des vorliegenden Wer- kes liegt dieser Aspekt freilich etwas ferner. Zumal angesichts der Weigerung Tipkes, aus Art. 105, 106 GG Steuergerechtigkeits- oder Steuerrechtferti- gungsargumente abzuleiten (s. vorstehend unter 3.1), ist es daher nicht ver-

44 Zu ihnen zuletzt Hesse (1995, S. 267).

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wunderlich, daß die den III. Band einleitenden Kapitel zur bundesstaat- lichen Finanzverfassung sich überwiegend auf eine Bestandsaufnahme des gesicherten Rechtszustandes beschränken, soweit die Darlegungen nicht schon (wie die zum Steuerbegriff und zur Steuergesetzgebung) nur bestäti- gende Fortführungen der in den ersten beiden Bänden ausgeformten Grundlegungen bilden (Bd. HI, S. 1052 ff., 1084 ff). Auch bei der hier plazier- ten Erörterung der sog. Sonderabgaben gibt Tipke sich im wesentlichen mit der (nicht durchweg überzeugenden45) Judikatur des Bundesverfassungsge- richts46 zufrieden. Seine Schlußfolgerung, daß die Finanzierung spezifischer Aufgaben durch Sonderabgaben (oder durch Gebühren/Beiträge) sachge- rechter sein könne „als die Finanzierung von allem und jedem durch die Allgemeinheit der Steuerbürger", trifft auf der Grundlage der vom Gericht für Sonderabgaben entwickelten rigiden Zulässigkeitsvoraussetzungen grundsätzlich zu. Ob allerdings die zunehmend in den Vordergrund des Interesses rückenden Umweltabgaben47 „wohl überwiegend" als Sonder- abgaben, d. h. außerhalb der für Steuern geltenden Kompetenzregeln nach Maßgabe der Sachgesetzgebungszuständigkeiten (Art. 73 ff. GG), gestaltet werden können, wie Tipke (Bd. HI, S. 1073 f.) meint, erscheint denkbar frag- würdig. Denn bei nahezu allen erwogenen Umweltabgaben spielt nebenher auch das Moment der Einnahmeerzielung eine Rolle - was jedenfalls auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unausweichlich die von ihnen in der Regel nicht zu erfüllende Zulässigkeitsvoraussetzung der Gruppennützigkeit des Aufkommens48 aktualisiert.

Daß auch der Länderfinanzausgleich (Art. 106, 107 GG)49 bei Tipke nur auf mäßiges Interesse stößt, liegt naturgemäß nahe. So beschränken sich seine, gemessen an der liebevollen Vertiefung jeden Details der übrigen Steuerrechtsordnung, eher kargen Ausführungen im wesentlichen auf die überaus knappe Vermittlung der Verfassungsrechtslage und ihre einfachge- setzliche Umsetzung. Aus der für das Verständnis der tatsächlichen Verfas- sungsrechtslage unentbehrlichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts werden zwar die Leitsätze des Urteils vom 26.6.1986 wiedergegeben (Bd. HI, S. 11 23 f.); das zweite Urteil zum Länderfinanzausgleich vom 27. 5. 1992 50 wird demgegenüber aber nicht mehr berücksichtigt. Tipkes Vorschlag schließlich, den „intransparenten, überkomplizierten" geltenden

45 Vgl. Selmer (1992, S. 44 ff.). 46 Vgl. zuletzt (zum sog. „Kohlepfennig") Bundesverfassungsgericht (1995a, S. 381). 47 Zu deren grundrechtlichen und finanzverfassungsrechtlichen Problemen vgl. aus jüngerer Zeit Selmer (1992, S. 44 ff.); Lang (1992, S. 63 ff.); F. Kirchhof (1992, S. 112ff.); P. Kirchhof (1993, S. 16ff.); Kloepfer (1994, S. 161 ff.). 48

Vgl. zu dieser Voraussetzung zuletzt Bundesverfassungsgericht (1990, S. 180). 49 Zur jüngsten Neuordnung des Länderfinanzausgleichs vgl. Selmer (1994, S. 331 ff.). 50 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1992, S. 148 ff.).

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Finanzausgleich in der Weise zu vereinfachen, „daß alle Länder mit einer grundsätzlich gleichen Finanzausstattung versehen werden" (Bd. III, S. 1126), stößt auf Bedenken. Er widerstreitet nicht etwa nur, wie Tipke meint, der „Bundesstaatsideologie", sondern verletzt in rechtlich erhebli- cher Weise das bundesstaatliche Prinzip des Grundgesetzes, das eine derar- tige Nivellierung von Verfassungs wegen ausschließt51. Auch läßt er außer acht, daß unbeschadet einer zuvor gebotenen angemessenen Einebnung des Gefälles zwischen den alten und den neuen Bundesländern die verfassungs- politischen Tendenzen des Bundesstaates - nicht ohne Grund - deutlich in Richtung zu mehr Eigenverantwortlichkeit der Länder und damit zu mehr Konkurrenzföderalismus weisen52.

Der in Art. 108 GG gründenden Verwaltung der Steuern und in diesem Zusammenhang der Anwendung und Durchsetzung der Steuerrechtsnor- men kommt für die Verwirklichung einer gerechten Steuerrechtsordnung besondere Bedeutung zu. Tipke trägt dem, unbeschadet seines tiefgreifen- den Mißtrauens in den demokratischen Willensbildungs- und Gesetzge- bungsprozeß, Rechnung, indem er sich im Anschluß an die Skizzierung der zugrundeliegenden rechtlichen Daten (formelle und materielle Gesetze, Ver- waltungsvorschriften, höchstrichterliche Rechtsprechung) in tief ausloten- der Weise den Fragen einer effizienten und gleichmäßigen Sachaufklärung zuwendet (Bd. Ill, S. 11 38 ff., 11 85 ff). Dabei steht auf der Grundlage einer Fülle von Beispielen für die fragwürdige Gesetzestreue der Bürger die be- rechtigte und sich auch im Zinssteuerurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1991 53 widerspiegelnde Einsicht im Vordergrund: „Ohne Kontrollen gibt es auch in einem Rechtsstaat gewiß keine gleichmäßige Besteuerung" (Bd. Ill, S. 1208). Der Umfang dieser - grundsätzlich gewiß verfassungskon- formen - Kontrolle richtet sich freilich ausschließlich nach der Gesetzeslage. Diese läßt aber gegenwärtig eine „Kontrolle entsprechend dem Kontrollbe- dürfnis" (Bd. Ill, S. 1213, 1220, 1226) jedenfalls nicht beliebig und „ohne besondere Voraussetzungen" (Bd. Ill, S. 1210) zu. Sie bindet vielmehr die Anwendung der nach der Abgabenordnung zur Verfügung stehenden Auf- klärungsmaßnahmen (Auskunfteinholung, Kontrollmitteilungen u.a.) durch- gehend an die Ausübung eines pflichtgemäßen Ermessens und in diesem Rahmen auch an die Gebote der Sachgerechtigkeit sowie der Erforderlich- keit und Verhältnismäßigkeit. Das schließt eine Aufklärung ins Blaue, damit auch eine stichprobenartige Kontrolle de lege lata aus (s. aber Bd. III, S. 1209, 1213). Zu fordern ist vielmehr ein hinlänglich begründeter Anlaß, über dessen Voraussetzungen freilich in Rechtsprechung und Literatur Mei-

51 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1986, S. 387, 398; 1992, S. 215). 52 Vgl. Seltner (1993, S. 14ff., 39ff.). 53 Bundesverfassungsgericht (1991, S. 239, 273 ff.).

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nungsverschiedenheiten bestehen54. Tipke seinerseits hält in diesem Zu- sammenhang Aufklärungsmaßnahmen jeder Art immer dann für zulässig, „wenn die Finanzbehörde aufgrund allgemeiner Erfahrungen mit ähnlichen Fällen oder Fallgruppen" oder - wie es etwas sibyllinisch heißt - „aufgrund der Aktenlage des Falles ein Aufklärungs- oder Kontrollbedürfnis ... be- jaht" (Bd. Ill, S. 1208).

Eine der gleichmäßigen Anwendung des materiellen Steuerrechts hinder- liche Bestimmung hat der Gesetzgeber selbst etabliert: Er übernahm den auf das Jahr 1949 zurückgehenden sog. Bankenerlaß, 1979 durch den Bundes- minister der Finanzen neu gefaßt, im Zusammenhang mit der Einführung der Quellenbesteuerung durch das Steuerreformgesetz 1990 als §30a („Schutz von Bankkunden")55 in die Abgabenordnung und hat ihn auch nach Entfallen der damaligen Quellenbesteuerung in dieser Form bis heute aufrechterhalten. Tipke unterzieht dies einer scharfen Kritik (Bd. III, S. 1211 ff.), dabei auch - durchaus mit Recht - allen extremen datenschutz- rechtlichen Bemäntelungen eine Absage erteilend („pseudo-rechtsstaatli- ches Kauderwelsch"). Vor allem mit dem - m. E. allerdings nur grundsätzli- chen - Verbot von Kontrollmitteilungen auf der Grundlage von Außenprü- fungsfeststellungen bei Kreditinstituten (s. § 194 III AO) durch § 30 a III AO sieht Tipke die Finanzverwaltung eines ihrer wirksamsten Mittel zur Sach- verhaltsaufklärung beraubt, darin mit dem Bundesverfassungsgericht in dessen Einschätzung des früheren Bankenerlasses56 übereinstimmend. Nicht ohne Grund fordert er daher den Gesetzgeber auf, das gesamte Be- steuerungsverfahren künftig stärker auf gleichmäßige Effizienz und am Kontrollbedürfnis auszurichten: „Soweit der (sc. zu bevorzugende) Quellen- abzug nicht in Betracht kommt, sind Kontrollmitteilungen und Außenprü- fung wirksame Mittel."

Die Einführung des 30%igen Zinsabschlags und die gleichzeitige Einfüh- rung erhöhter Sparerfreibeträge57 konnte Tipke nicht mehr berücksichti- gen. Durch die mit letzteren verbundene Freistellung von etwa 80 ν. Η. der Steuerpflichtigen hat die Vollzugsproblematik erheblich an Gewicht verlo- ren. Entscheidend wird somit gegebenenfalls sein, ob das Bundesverfas- sungsgericht sich davon überzeugen lassen wird, daß die nach § 30 a III AO (nur, aber immerhin) bei begründetem Anlaß zulässige Ausschreibung von

54 Bereits die bloße „Möglichkeit" der Verwirklichung eines Steuertatbestandes als eingrifTslegitimierend anerkennend jetzt der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (1993, S. 2135 f.); deutlich zurückhaltender etwa der I. Senat des Bundesfinanzhofs (1989, S. 98). 55 Vgl. zu dieser Bestimmung zuletzt Hamacher (1992, 110 ff.). 56 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1991, S. 278 ff.). 57 Zur Neuregelung der Zinsbesteuerung vgl. Birk (1993, S. 97 ff.).

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Kontrollmitteilungen58 angesichts der auf ein Fünftel geschrumpften Zahl der Steuerfälle die Durchsetzbarkeit der Zinsbesteuerung bei vollzugs- freundlicher und damit verfassungskonformer Anwendung hinreichend sichert. Die Einnahme einer solchen Position erschiene mir vertretbar, Tipke wohl weniger (?).

In den unmittelbaren Einzugsbereich einer wirksamen Anwendung der Steuergesetze fallen auch die mit ihrer Auslegung zusammenhängenden Fragen, denen Tipke mit Recht gleichermaßen Aufmerksamkeit zuwendet (Bd. III, S. 1229 ff.). Angesichts des sein Werk wie ein roter Faden durchzie- henden Bestrebens, durch die Form zum materiell Wesentlichen vorzu- stoßen, verwundert nicht, daß dabei die teleologische Methode, d.h. die Auslegung nach dem Normzweck, besonders in den Vordergrund tritt (Bd. Ill, S. 1246, 1255 ff., 1283 ff.). Während indes die teleologische Interpre- tation steuerlicher Lenkungsnormen keine Schwierigkeiten bereitet, schei- nen sich die (noch) den Regelfall bildenden Fiskalzwecknormen einer sol- chen Betrachtung zu entziehen, ist doch die primär in Betracht kommende Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs als Auslegungskriterium ersicht- lich ungeeignet. Tipke arbeitet freilich in Auseinandersetzung mit den ge- genläufigen Meinungen überzeugend heraus, daß auch das den materiellen Steuernormen innewohnende „Lastenverteilungsprogramm" in die Ausle- gung einzubeziehen ist, mag man dieses Programm nun terminologisch ebenfalls als „Zweck" bezeichnen oder nicht. Hinzu kommt, daß sich der eigentliche Zweck von (Fiskalzweck-)Steuernormen häufig nicht im engeren Fiskalzweck erschöpft, sondern als Subprinzipien bereichsspezifisch weitere Zwecke aufweist. So ermöglicht etwa erst die entsprechende Berücksichti- gung des Grundsatzes der Wettbewerbsneutralität eine (wirtschaftlich) sachgerechte Beantwortung der Frage, ob und inwieweit öffentliche Unter- nehmen als Betriebe gewerblicher Art Steuersubjekte im Sinne der Steuerge- setze sind, wie Tipke in Übereinstimmung mit einer auch von mir vertrete- nen Auffassung59 näher darlegt (Bd. Ill, S. 1265 ff.).

3.3. Steuerrechtsschutz und Schutz des Steuerrechts

Der in Art. 19 IV GG garantierte Steuerrechtsschutz gegen Rechtsverlet- zungen der Finanzverwaltungen ist einer der wenigen Bereiche unserer Steuerrechtsordnung, der nicht auf grundlegende Kritik Tipkes stößt. Die- ser hält ersteren - mit Recht - sogar für „vergleichsweise ideal geregelt" (Bd. Ill, S. 1373). Die Überlastung der Gerichte und die damit einherge-

58 Vgl. auch den Anwendungserlaß des Bundesministers der Finanzen zu § 30a AO vom 23.3.1993 (1993, S. 651). 59 Vgl. Selmer und Schulze-Osterloh (1978, S. 381 ff.).

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hende überlange Verfahrensdauer sieht er hauptsächlich vom - Konflikt- stoff schaffenden - Gesetzgeber verursacht (Bd. Ill, S. 1377). Das trifft gewiß zu. Tipke entwickelt freilich im folgenden seinerseits Vorstellungen, deren Verwirklichung die Lasten der Finanzgerichte zusätzlich um einiges vermehren dürfte. Zuzustimmen ist ihm gleichwohl in seinem Vorschlag, den Rechtsschutz gegen die Belastung mit indirekten Steuern - insbeson- dere mit Umsatzsteuer oder einer besonderen Verbrauchsteuer - vom Steuerschuldner auf den Steuerträger auszuweiten, auf den die Steuer er- folgreich überwälzt wurde (Bd. Ill, S. 1392 ff.). Letzterer wird bislang man- gels rechtlicher Selbstbetroffenheit nicht als klagebefugt angesehen. Tipke widerspricht dem für den Fall, daß das Gesetz die Überwälzung ausdrück- lich oder stillschweigend zuläßt, nachdrücklich und schlägt (mangels Vor- liegen eines Verwaltungsaktes) als statthafte Klageart die vorbeugende Lei- stungsklage vor - gerichtet darauf, „rechts- oder verfassungswidrige Ver- waltungsakte gegen den Steuerschuldner zu unterlassen, da die Folgen we- gen der vom Gesetz zugelassenen Überwälzung den Steuerträger treffen" (Bd. Ill, S. 1393). Hinzuzufügen ist, daß der von Tipke nicht mehr zu be- rücksichtigende Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 11.10.1994 zum sog. Kohlepfennig 60 die (angestrebte) Belastung des abgabetragenden Endverbrauchers entgegen bisheriger Gerichtspraxis nunmehr ebenfalls ausdrücklich als rechtlich erheblich hervorhebt.

Auch der von Tipke im vorliegenden Zusammenhang unter Hinweis auf die Grundrechte (vor allem Art. 31, 121 und 14 I GG) propagierten Aus- weitung der - im öffentlichen Wirtschaftsrecht längst anerkannten - Kon- kurrentenklage auf das Steuerrecht (Bd. Ill, S. 1394 ff.) kann grundsätzlich beigepflichtet werden, sofern die grundrechtsunmittelbare Klagebefugnis zurückhaltend gehandhabt wird. Entschieden zu weit ginge es aber wohl, mit Tipke jedem Steuerpflichtigen über die bestehenden Rechtsschutzmög- lichkeiten hinaus ganz allgemein ein aus dem Gleichheitssatz abzuleitendes und finanzgerichtlich durchsetzbares Recht gegen jeden anderen Steuer- pflichtigen auf Erfüllung seiner gesetzlichen Steuerpflicht zuzusprechen (Bd. Ill, S. 1396 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat hier einen durchaus angemessenen Mittelweg gewiesen, als es in seinem Zinssteuerurteil nur, aber immerhin ein Recht steuerehrlicher Pflichtiger anerkannte, unter be- stimmten Voraussetzungen eine unter Verstoß gegen das Gebot gleich- mäßiger Anwendung der Steuergesetze verfügte Belastung als rechts- und verfassungswidrig abzuwehren61.

Auf die Darlegungen Tipkes zum Schutz der Steuerrechtsordnung durch das Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht (Bd. Ill, S. 1402 ff.),

60 Vgl. oben Fn. 46. 61 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1991, S. 272, 274f., 284f.).

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von denen angesichts der großen Stoffmasse „Steuerrecht" und seiner Kompliziertheit den Überlegungen zur Erheblichkeit von Steuerrechtsirr- tümern besonderes Interesse zukommt (Bd. Ill, S. 1421 ff.), kann hier nur verwiesen werden.

4. Gestalter der Steuerrechtsordnung

Den Abschluß des Werkes bildet, abgesehen von einer ungemein ausführ- lichen Zusammenfassung (Bd. Ill, S. 1521 ff.), ein Abschnitt über die aktu- ellen oder doch potentiellen Gestalter der Steuerrechtsordnung, als die Tipke neben dem Gesetzgeber die Steuerverwaltung, die Finanzgerichte, die Steuerberater, das Bundesverfassungsgericht und die Steuerrechtswis- senschaft in Erwägung zieht (Bd. Ill, S. 1440 ff). Sie alle erinnert Tipke in einem mahnenden Finale nachdrücklich an ihre Aufgabe, bei der Ausge- staltung einer gerechten, d. h. prinzipienfesten und entschieden vereinfach- ten Steuerrechtsordnung62 mitzuwirken, dabei die Positionen der bisheri- gen Abschnitte aufgreifend und zu einem eindrucksvollen Schlußakkord verdichtend. Daß dabei wiederum die Frage beherrschend in den Vorder- grund tritt, ob die Gestaltungsprärogative eher beim Steuergesetzgeber oder beim Bundesverfassungsgericht liegt, war zu erwarten. Angesichts der von Tipke wohlbegründeten Skepsis in die Fähigkeit des Parlaments, zu einer kooperativen Steuergesetzgebungskoalition der Sachlichkeit und Sachgerechtigkeit zu finden (Bd. Ill, S. 1471, 1513, 1558), überrascht denn auch die Schlußfolgerung nicht: „Daher sind Steuergerechtigkeitsfragen beim Bundesverfassungsgericht besser aufgehoben als im Parlament" (Bd. Ill, S. 1493).

Daß Tipke auf der Grundlage dieses in seiner Allgemeinheit fatalen Befundes das Bundesverfassungsgericht nachdrücklich noch einmal zu einer stärkeren „Aktivierung des Gleichheitssatzes" auffordert (Bd. III, S. 1489 ff.), erscheint konsequent. Gleichwohl muß diese Aufforderung jedenfalls dort, wo nicht ein besonderer Verfassungssatz (wie der Schutz von Ehe und Familie in Art. 6 1 GG) einen verfassungskräftigen Vergleichs- maßstab liefert, unter dem Regime eines demokratisch gewählten parla- mentarischen Gesetzgebers mit einem Fragezeichen versehen werden. Diesem Gesetzgeber wesentlich nur die Freiheit einer „vertretbaren" Aus- führung des Leistungsfahigkeitsprinzips einzuräumen (Bd. Ill, S. 1491), bedeutet bei der dem Prinzip von Tipke zugesprochenen Allgemeingültig- keit (für grundsätzlich alle Steuern) eine allzu rigide Eingrenzung seines Gestaltungsspielraums. Das schließt freilich keineswegs aus, daß das

62 Zum Thema der Steuervereinfachung zuletzt eindringlich Isensee (1994, S 3 ff.).

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Bundesverfassungsgericht die Zügel künftig deutlich straffer anzieht als bisher. Die von Tipke in allgemeinerem Zusammenhang (s. o. unter 2.4) aufgenommene Forderung, bei der gesetzlichen Ausführung des (jeweils) systemtragenden Prinzips folgerichtig und widerspruchsfrei zu verfahren, bietet hierfür aber einen geeigneteren - und sehr wohl verschärfungs- fahigen - Ansatz als das allzu puristische Beharren auf einer durchgängigen Geltung des Leistungsfahigkeitsprinzips, so fundamental dieses Prinzip auch für die Verteilung der Gesamtsteuerlast von Verfassungs wegen ist (vgl. o. unter 2.5).

5. Schlußbemerkung

Der gerechte Steuerstaat ist kein Zustand, sondern eine immer aufs neue zu verwirklichende Aufgabe des Gemeinwesens. Tipke hat mit seiner drei- bändigen „Steuerrechtsordnung" einen großartigen, wohl den seit langem wichtigsten Beitrag zu ihrer rechtswissenschaftlichen Bewältigung gelei- stet63. Sein kompromißloses Unterfangen, das Steuerrecht aus dem Zu- stand einer gewissen rechtspolitischen Beliebigkeit und seinem dadurch bewirkten desolaten Zustand herauszuholen und auf die konsequente Wah- rung übergreifender Gerechtigkeitsprinzipien einzuschwören, wird Steuer- rechtsgeschichte machen. Letzteres Unterfangen wie auch der ungemeine Reichtum der originellen Anregungen und Anstöße des Werkes zu allen erörterten Einzelfragen des Steuer- und Steuerverfassungsrechts werden in den kommenden Jahren Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzung sein. Dabei wird, wohl ganz im Sinne Tipkes, Widerspruch gegen manche seiner Thesen auch andernorts nicht ausbleiben. Nachdrücklich zu wünschen ist, daß sich der in erster Linie geforderte parlamentarische Gesetzgeber unter dem Eindruck der Steuergerechtigkeitslehre Tipkes als schließlich doch prinzipienoffen erweist, damit zugleich dessen pessimistische Vorhersage widerlegend. Das gilt insbesondere für den Fall, daß sich das Bundesverfas- sungsgericht weigern sollte, anstelle des Gesetzgebers den Part des Gestal- ters einer gerechten Steuerrechtsordnung in dem ihm von Tipke zugedach- ten Ausmaß zu übernehmen. Hierfür spricht allerdings manches 64.

63 Vgl. auch die umfangreichen Würdigungen von Vogel (1993, S. 1121 ff.) und Sachs (1993, S. 283 ff). 64 Entgegen obiger Erwartung sind jetzt freilich die jüngsten Beschlüsse des Bundes- verfassungsgerichts zur Vermögen- und zur Erbschaftsteuer (1995 b, S. 2615; 1995 c, S. 2624) mit ihren konkreten Festlegungen (die man sich als Ergebnis parlamentarischer Arbeit gewünscht hätte) recht tief in den Gesetzgebungsbereich vorgedrungen; vgl. krit. hierzu die abweichende Meinung des Richters Böckenförde (1995 b, S. 2620).

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Prof. Dr. Peter Selmer Seminar für Finanz- und Steuerrecht Universität Hamburg Schlüterstraße 28 D-20146 Hamburg Deutschland

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