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Der Herrschaftsanspruch der Vernunft in Recht und Moral bei Kant von Friedrich Kaulbach, Münster Die folgende Darstellung geht darauf aus, das geläufige Bild von der Unter- scheidung, die Kant in seiner durch die kritischen Werke geprägten Denkepoche zwischen Recht und Moral durchführt, zu differenzieren und Folgerungen für die Einsicht in gemeinsame Strukturen zu ziehen. Ich gliedere die Darstellung in drei Abteilungen, deren erste sich mit dem Unterschied zwischen rechtlicher und mora- lischer Gesetzgebung im Zusammenhang mit der Differenz zwischen Moralität und Legalität befassen wird. Dabei tritt als Gesetzgeberin praktische Vernunft auf, die im zweiten Abschnitt im Hinblick auf ihren Herrschafts- und Machtanspruch betrachtet werden soll. In diesem Zusammenhang wird sie sich als Wille zur Selbstverwirklichung der bürgerlichen Rechtsgesellschaft und des Individuums er- weisen. Der dritte Abschnitt wird die auf den ersten Blick paradoxe These zu rechtfertigen suchen, daß nicht nur im Recht, sondern auch in der Moral in spezifischer Weise der Herrschaftsanspruch der Vernunft und ihr Wille zur Macht zur Wirkung kommt. Kant macht bekanntlich zwischen Moral und Recht einen prägnanten Unter- schied. Er beruft sich dabei oft auf einen ändern Unterschied, den die Namen „Moralität" und „Legalität" bezeichnen. Dabei handelt es sich um verschiedene Weisen, Handeln zu motivieren: während Moralität verlangt, daß der aufgege- benen Pflicht allein aus dem Grunde zu folgen sei, weil sie Päiditcbarakter hat, besteht die Eigenart legalen Verhaltens darin, der Vorschrift buchstabengetreu zu gehorchen, nicht unbedingt weil sie Gesetz ist, sondern weil man Nachteile oder Sanktionen vermeiden will oder sich sonst Erfolg von seinem Handeln ver- spricht. Nach Kantischer Terminologie ist der Unterschied zwischen Moralität und Legalität im „Bestimmungsgrund" gelegen, den der Handelnde für sein Vor- gehen wählt. Ob jemand moralisch oder legal gehandelt hat, wird in der Ant- wort auf die an ihn gestellte Frage erkenntlich, „warum" er seine Pflicht erfüllt hat: lautet die Antwort, er habe „aus Pflicht" gehandelt, so darf man ihm mora- lisches Handeln bescheinigen, während alle anderslautenden Begründungen und Motivationen als Symptom legalen Handelns aufzufassen sind. Vorausgesetzt ist Brought to you by | University of Tennessee Knoxville Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/6/14 5:14 PM

Der Herrschaftsanspruch der Vernunft in Recht und Moral bei Kant

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Der Herrschaftsanspruch der Vernunftin Recht und Moral bei Kant

von Friedrich Kaulbach, Münster

Die folgende Darstellung geht darauf aus, das geläufige Bild von der Unter-scheidung, die Kant in seiner durch die kritischen Werke geprägten Denkepochezwischen Recht und Moral durchführt, zu differenzieren und Folgerungen für dieEinsicht in gemeinsame Strukturen zu ziehen. Ich gliedere die Darstellung in dreiAbteilungen, deren erste sich mit dem Unterschied zwischen rechtlicher und mora-lischer Gesetzgebung im Zusammenhang mit der Differenz zwischen Moralitätund Legalität befassen wird. Dabei tritt als Gesetzgeberin praktische Vernunft auf,die im zweiten Abschnitt im Hinblick auf ihren Herrschafts- und Machtanspruchbetrachtet werden soll. In diesem Zusammenhang wird sie sich als Wille zurSelbstverwirklichung der bürgerlichen Rechtsgesellschaft und des Individuums er-weisen. Der dritte Abschnitt wird die auf den ersten Blick paradoxe These zurechtfertigen suchen, daß nicht nur im Recht, sondern auch in der Moral inspezifischer Weise der Herrschaftsanspruch der Vernunft und ihr Wille zur Machtzur Wirkung kommt.

Kant macht bekanntlich zwischen Moral und Recht einen prägnanten Unter-schied. Er beruft sich dabei oft auf einen ändern Unterschied, den die Namen„Moralität" und „Legalität" bezeichnen. Dabei handelt es sich um verschiedeneWeisen, Handeln zu motivieren: während Moralität verlangt, daß der aufgege-benen Pflicht allein aus dem Grunde zu folgen sei, weil sie Päiditcbarakter hat,besteht die Eigenart legalen Verhaltens darin, der Vorschrift buchstabengetreu zugehorchen, nicht unbedingt weil sie Gesetz ist, sondern weil man Nachteile oderSanktionen vermeiden will oder sich sonst Erfolg von seinem Handeln ver-spricht. Nach Kantischer Terminologie ist der Unterschied zwischen Moralitätund Legalität im „Bestimmungsgrund" gelegen, den der Handelnde für sein Vor-gehen wählt. Ob jemand moralisch oder legal gehandelt hat, wird in der Ant-wort auf die an ihn gestellte Frage erkenntlich, „warum" er seine Pflicht erfüllthat: lautet die Antwort, er habe „aus Pflicht" gehandelt, so darf man ihm mora-lisches Handeln bescheinigen, während alle anderslautenden Begründungen undMotivationen als Symptom legalen Handelns aufzufassen sind. Vorausgesetzt ist

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Herrschaftsansprudi der Vernunft bei Kant 391

natürlich bei diesem Fragespiel, daß der Antwortende seine Lage illusionslos undvollkommen ehrlich beschreibt, was bei uns armen Menschenkindern, die auskrummem Holz gemacht sind, in den seltensten Fällen geschieht.

Hierzu mag Kant selbst in einigen repräsentativen Sätzen gehört werden. Da-bei fällt auf, daß er bei der Abgrenzung der Moral vom Recht nicht in der Weisevorgeht, daß er verschiedene Gesetze, sondern Arten der Gesetzge£«wg unter-scheidet1. Praktische Vernunft kann mit ihrer Gesetzgebung für den Menschenverschiedenartige Intentionen verbinden: dadurch kommt der Unterschied zwi-schen moralischer und juridischer Gesetzgebung zustande. Die Pflichten nach derrechtlichen Gesetzgebung, so heißt es in der Einleitung in die Metaphysik derSitten, können

„nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nidit verlangt, daß die Idee dieserPflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelndensei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit demGesetz verbinden kann. Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innereHandlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern gehtauf alles, was Pflicht ist, überhaupt. Aber eben darum, weil die ethische Gesetzgebungdie innere Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in ihr Gesetz mit einschließt,welche Bestimmung durchaus nicht in die äußere Gesetzgebung einfließen muß, so kanndie ethische Gesetzgebung keine äußere (selbst nicht die eines göttlichen Willens) sein,ob sie zwar die Pflichten, die auf einer ändern, nämlich der äußeren Gesetzgebung beruhen,als Pflichten in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt"2.

Gesetzgebungen seien nicht im Hinblick auf den Inhalt des Gebotenen oderVerbotenen zu unterscheiden, sondern hinsichtlich der „Triebfeder". Ethisch heißtdie Gesetzgebung, „welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleichzur Triebfeder macht". „Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit-einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbstzuläßt, ist juridisch"

Daraus resultiert, daß praktische Vernunft bei ihrer Gesetzgebung, die sie andas menschliche Subjekt adressiert, einen ethischen oder einen juridischen Sinnverbindet, je nach dem Anspruch, den sie an die innere Verfassung stellt, in wel-cher dieses zum gegebenen Gesetz Stellung nimmt. Es kommt nicht auf die ver-schiedenen Inhalte des Gesetzes an, sondern auf die vom menschlichen Subjektgeforderten Weisen des Stellungnehmens gegenüber dem Pflichtinhalt: verlangtder gesetzgeberische Wille der praktischen Vernunft, daß das ihm unterworfenemenschliche Subjekt die gebotene Pflicht auf Grund ihres Pflichtcharakters befolgt,so ist der Fall der ethischen Gesetzgebung gegeben: sind auch andere Triebfedernals die Idee der Pflicht selbst zugelassen, dann handelt es sich um juridische Gesetz-gebung.

x Vgl. meine Untersuchung: Moral und Recht in der Philosophie Kants, in: Recht undEthik — zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Blühdornund Joachim Ritter, Frankfurt 1970, S. 48.

2 VI, S. 219. (Es wird durchgehend nach der Akademie-Ausgabe zitiert.)

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392 Friedrich Kaulbadi

Es mag hier darauf aufmerksam gemacht werden, daß diese Unterscheidung mitderjenigen zwischen Moralität und Legalität nicht zusammenfällt; denn dieseNamen bezeichnen verschiedene Stellungen des Menschen zum Gesetz, währendjene verschiedene Ansprüche der Gesetzgebung an den Menschen bedeuten: diebeiden Unterschieds-paare gehören verschiedenen Blickrichtungen und Perspek-tiven an. Kant hat in seiner praktischen Philosophie mit methodischem Bewußt-sein von zwei verschiedenen Blickrichtungen Gebrauch gemacht: von derjenigen,die ihren Anfang beim Gesetz der praktischen Vernunft wählt und sich von hieraus an den Adressaten des Gesetzes, das menschliche Subjekt, wendet. Die anderePerspektive nimmt eine umgekehrte Richtung: sie geht vom menschlichen Sub-jekt aus und richtet den Blick auf das Gesetz der praktischen Vernunft. Kant willdurch den Gebrauch der beiden Perspektiven deutlich machen, daß Selbstgesetz-gebung (Autonomie) einer ändern Blickrichtung angehört als SeVostverpflichtttng,und daß beides zusammengenommen erst das Ganze der praktischen Situation desMenschen ergibt3. So sieht die methodische Lage auch in dem Falle der Unter-scheidung zwischen Recht und Moral aus: diese Unterscheidung ist als zu der-jenigen Perspektive gehörig zu betrachten, welche die Richtung von der prak-tischen Vernunft und ihrem Gesetz zum menschlichen Subjekt hin nimmt: derUnterschied selbst ergibt sich durch die verschiedenen Ansprüche der Gesetz-gebung an das menschliche Subjekt.

Die umgekehrte, vom Menschen in die Richtung zur Gesetzgebung hinzeigendePerspektive läßt die Art und Weise erkennen, in der sich das Subjekt dem Gesetzverpflichtet: in dieser Denk- und Blickrichtung ergibt sich z.B. der Unterschiedzwischen Moralität und Legalität.

Diese Überlegung läßt erkennen, daß der Unterschied, der zwischen Moral undRecht festgestellt wurde, nicht ohne Einschränkung auf denjenigen von Moralitätund Legalität zurückgeführt oder durch ihn erklärt werden kann: denn die Paaregehören jeweils verschiedenen Perspektiven und Standpunkten an. Während derStandpunkt der praktischen Vernunft und ihrer Gesetzgebung seine Aufmerksam-keit darauf lenkt, ob praktische Vernunft als moralische, auf das Innere desMenschen hinzielende Instanz, oder bloß als juridischer Gesetzgeber auftritt, gehtes einem vom menschlichen Subjekt ausgehenden Denken darum, ^u unterscheiden,ob dieses wirklich zum gegebenen Gesetz eine moralische oder eine legale Stellungeinnimmt, ob es dem Gesetzescharakter als solchen oder dem mit der Gesetz-gebung verbundenen Sanktionsanspruch Motivationskraft einräumt.

3 Der abwechselnde Gebrauch der Perspektiven in der Moralphilosophie dient Kant dazu,Unterschied und zugleich Zusammenspiel von Autonomie und Selbstverpflichtung zubegreifen. Nachdem er die Zirkelhaftigkeit des Weges von der Freiheit zum Ver-pflichtetsein dem Gesetz gegenüber und von diesem zur Freiheit sichtbar gemacht hat,erklärt er: „Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nämlich zu suchen: ob wir, wennwir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursache denken, nicht einen ändernStandpunkt [mit einer anderen Perspektive, der Verfasser] einnehmen, als wenn wiruns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen,uns vorstellen" (IV, S. 450).

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Herrsdiaftsansprudi der Vernunft bei Kant 393

„Man nennt die bloße Obereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlungmit dem Gesetz ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben die Legalität (Gesetz-mäßigkeit), diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich dieTriebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben"4.

Alle Pflichten gehören darum, weil sie Pflichten sind, auch zur Ethik: selbstwenn sie dem juridischen Bereich entspringen. Die Einhaltung eines Vertrages istnicht nur juridische, sondern auch ethische Pflicht: aber der Unterschied zeigt sichin der „Gesetzgebung*, d. h. in dem in der Gesetzgebung vorgesehenen Anspruchan das Subjekt und in der Art und Weise, in welcher sich dieses als verpflichtetversteht. Alle Pflichten gehören bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik:

„aber ihre Gesetzgebung ist darum nicht allemal in der Ethik enthalten, sondern vonvielen derselben außerhalb derselben. So gebietet die Ethik, daß ich eine in einem Ver-trage getane Anheischigmachung, wenn mich der andere Teil gleich nicht dazu zwingenkönnte, doch erfüllen müsse: allein sie nimmt das Gesetz (pacta sunt servanda) und diediesem korrespondierende Pflicht aus der Rechtslehre als gegeben an. Also nicht in derEhtik, sondern im ius liegt die Gesetzgebung, daß angenommene Versprechen gehaltenwerden müssen. Die Ehtik lehrt hernach nur, daß wenn die Triebfeder, welche diejuridische Gesetzgebung mit jener Pflicht verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weg-gelassen wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei... Es istkeine Tugendpflicht, sein Versprechen zu halten, sondern eine Rechtspflicht, zu derenLeistung man gezwungen werden kann. Aber es ist doch eine tugendhafte Handlung(Beweis der Tugend), es auch da zu tun, wo kein Zwang besorgt werden darf. Rechts-lehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedenenPflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oderdie andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet"5.

Festzuhalten ist, daß der Unterschied von Moral und Recht schon aus demGrunde nicht mit demjenigen von Moralität und Legalität identisch gesetzt werdendarf, weil beide verschiedenen Perspektiven angehören. Weil Legalität eine Ver-haltensform des Subjekts gegenüber dem Gesetz überhaupt ist, fällt sie nichtunbedingt mit juridischer Gesetzgebung zusammen: vielmehr gibt es auch ein lega-les Verhalten gegenüber einer vom Sittengesetz befohlenen Pflicht. Kant würdevon ihm sagen, daß das Subjekt in diesem Falle nicht aus Pflicht, sondern nurpflichtmäßig bzw. pflichtgemäß handle. Er erklärt, daß Legalität „entwederjuridisch oder ethisch" sei6. Der Kaufmann z. B., der aus reinem Wohlwollen fürseine Kunden deren Übervorteilung vermeidet, handelt zwar nicht moralisch,sondern legal, sofern er nicht „aus" Pflicht, sondern nur pflichtgemäß handelt.Seine Legalität braucht aber nicht im juridischen Sinne verstanden zu werden,denn es könnte durchaus sein, daß er sich auch dann so verhalten würde, wenner keine rechtlichen Folgen einer Übervorteilung seiner Kunden zu gewärtigenhätte, was immer dann erreichbar ist, wenn man den Betrug raffiniert genug macht.

4 VI, S. 219.* VI, S. 219—220.6 XIX, S. 154, Refl. 6764. Weitere Belege: Vgl. meine Untersuchung Moral und Redt in

der Philosophie Kants, aus: Recht und Ethik — zum Problem ihrer Beziehung im19. Jahrhundert, hg. von J. Blühdorn und J. Ritter, Frankfurt 1970, S. 47.

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394 Friedrich Kaulbach

Nicht nur moralische Legalität ist denkmöglich, sondern auch juridische Morali-tät. Obgleich bei Kant davon keine Rede ist, so lassen seine Voraussetzungen dochdiesen Gedanken zu: am nächsten kommt er ihm in den Überlegungen, in denener die Übernahme rechtlicher Pflichten in die Ethik erörtert. Geht man in demFalle, in welchem juridische Pflichten auf eine ethische Sprache gebracht werden,von der Möglichkeit aus, daß eine Art von- Püidiigesinnung schon im Bereicheder Befolgung juridischer Gesetze denkbar ist, so hat man so etwas wie juridischeMoralität im Blick. Als Fall von juridischer Moralität scheint mir der Zustand inFrage zu kommen, der in heutigen aktuellen Debatten als Verfassungstreue bzw.Verfassungsfeindschaft benannt wird. Treue, Untreue, Freundschaft und Feind-schaft sind moralische Kategorien, die auch dazu gebraucht werden, um die Stel-lung eines Bürgers zu seiner Verfassung, also um seine Verfassungsgesmnimg zucharakterisieren.

Die als juridische Moralität bezeichnete Zwischenform zwischen ethischer Mora-lität und juridischer Legalität führt deshalb zu gedanklichen und praktischenSchwierigkeiten, weil sie einerseits der Rechtssphäre und dem dieser eigentümlichenPrinzip des äußeren Zwanges und der Sanktionen angehört, andererseits aber denCharakter von Gesinnung hat, in deren Bereich das praktische Individuum allei-niger Souverän ist und auf die Gewalt auszuüben keiner Instanz das Recht zusteht.Die Überlegungen, die durch diese Situation gefordert werden, weisen auf dennächsten Abschnitt hin, in welchem es um den Herrschaftsanspruch der praktischenVernunft geht.

II

Um für diese Überlegungen die nötigen Voraussetzungen herzustellen, mußzunächst der Zusammenhang zwischen praktischer Vernunft und ihrer Gesetz-gebung einerseits und Herrschaft und Zwang andererseits erörtert werden.

Man kann die Funktion der Rechtsgesetzgebung darin sehen, daß sie Figurendes Verhaltens beschreibt, die eine normierende Wirkung auf das Handeln der demGesetz Unterworfenen ausüben. Das Gesetz bestimmt z. B., welches Verhaltens-muster ich beachten muß, wenn ich einen Vertrag schließen, mich beschweren odereine Sache erwerben will. Das allgemeine Rechtsprinzip beschreibt eine Rechts-ordnung, derzufolge der freie Gebrauch „deiner Willkür mit der Freiheit vonjedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen" kann7. In diejuridische Gesetzgebung sei nicht die Forderung miteingeschlossen, daß ich um derVerbindlichkeit willen meine Freiheit auf Bedingungen „selbst" einschränken solle.Es wird mir nur gesagt, daß meine Freiheit „in ihrer Idee darauf eingeschränktsei und von ändern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe.. ."8. Das Rechts-7 VI, S. 231.8 Die reditliche Gesetzgebung besdireibt ein ideal-typisches Verhalten, woraus sich dann

für midi die Form des Imperativs ergibt, wenn ich mich zu rechtlichem Verhaltenentsdiließe.

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Herrsdiaftsansprudi der Vernunft bei Kant 395

gesetz verlangt von mir primär Legalität, aber keine Moralität. Das Handlungs-muster, auf welchem es besteht, beschreibt es mit einem Grad von Genauigkeit,der hinreicht, daß damit dem Rechtsprechenden ein Maßstab an die Handgegeben wird, an welchem er das wirkliche Verhalten von Bürgern zu messenvermag. Dieser Maßstab befähigt juridische Urteilskraft, eine einzelne Handlungentweder unter eine normgerechte Handlungsfigur zu subsumieren und sie alsjuridisch „richtig" oder sie als von dieser Figur abweichend und daher als demRechte zuwider zu erklären. Juridische Vernunft beschreibt, wie die Figuren aus-sehen, an denen wirkliche Handlungen gemessen werden. Sagt man ihr normativenCharakter nach, so darf dieser, wie im Kant-Zitat erkennbar wird, nicht in derBedeutung eines moralischen Sollens aufgefaßt werden, sondern muß so ver-standen werden, wie man etwa von einem Normalverhalten spricht, dessenFiguren man beschreiben und darauf hin beurteilen kann, ob sie der Norm ent-sprechen oder nicht. Das Recht beschreibt die normalen Handlungsfiguren, die derBürger zu beachten hat, wenn er rechtgemäß und normgerecht leben will: aberes spricht nicht einen Imperativ des Inhalts aus, daß er diese Figuren realisierensoll. Damit steht im Zusammenhang, daß das Recht „mit der Befugnis zu zwingenverbunden" sei9. Erzwungen kann und darf eine die Handlungsmuster normie-rende Gesetzgebung werden, in der auch die Möglichkeit besteht, das wirklicheVerhalten im Hinblick auf seine Normgemäßheit zu bemessen und zu beurteilen.Moralität und Gesinnung aber dürfen äußerem Zwang nicht ausgesetzt werden.Moralisches Handeln geschieht nicht im Blick auf eine beschreibbare Handlungs-norm, sondern durch Orientierung meiner Maxime an einer allgemeinen Gesetz-gebung; daher kann es im Hinblick auf seine Angemessenheit dem Gesetz gegen-über nicht nach einem äußeren Maßstab gemessen und beurteilt werden: es geschiehtgemäß einer selbstgefundenen und in Selbstverpflichtung angenommenen Maxime.

Die Rechtfertigung für das Recht, als Machtinstanz aufzutreten, beruht inseiner Mission, die Freiheit der Willkür eines jeden „mit jedermanns Freiheitnach einem allgemeinen Gesetze zusammen" zu verbürgen. Was Unrecht sei, seiein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen; Zwang aber ist

„ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: Wenn ein gewisserGebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i.Unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung einesHindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend,d.i. Recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut,zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft"10.

Zwang und Macht im Recht sind also von Grund aus rechtlich und gerecht-fertigt: sie charakterisieren das Recht als sich verwirklichende Institution derpraktischen Vernunft. Das mit dem neuzeitlichen Vernunftbegriff gegebene Pro-blem, welches in einer Vernunftphilosophie immer wieder zu lösen ist, besteht

9 VI, S. 231.10 VI, S. 231: Zwang als rechtlicher ist primär Gegen-Zwang.

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396 Friedrich Kaulbach

darin, wie Vernunft zur Herrschaft über die Wirklichkeit kommt; diesem Problemgeht in der Rechtsphilosophie dasjenige parallel, wie das Vernunftrecht Geltungund Macht gewinnen kann. In der Vernunft selbst ist der Anspruch auf Herrschaftangelegt: er entspricht nicht einem Interesse, welches zur Vernunft hinzukommenwürde. Das strikte, völlig äußere Recht, welches die Legalität in Reinkultur zeigt,läßt erkennen, daß der Zwang nicht gleichsam von außen hinzutritt. Man darfdas Recht nicht als aus zwei Stücken zusammengesetzt denken; es ist nicht aus demGesetz und der Befugnis dessen, der durch seine Willkür den ändern verbindet,diesen dazu zu zwingen11, zusammengesetzt, sondern Recht und Recht zum Zwangsind eines.

Es ist die Eigentümlichkeit der juridischen Vernunft, ihren Herrschaftsanspruchin der Form eines „allgemein wechselseitigen Zwanges" durchzusetzen. Das Rechteines Gläubigers z. B., von seinem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu ver-langen, bedeutet nicht, daß er ihm seine Pflicht, die Schuld zu bezahlen, „zuGemüte führen" kann, um ihn dazu zu bringen, sich selbst zu dieser Leistung zuentscheiden. Vielmehr ist der Schuldner durch das Recht des Gläubigers untereinen Zwang gestellt, der ihn zur Ableistung seiner Schuld nötigt. „Recht undBefugnis zu zwingen bedeuten also einerlei"12. Anders gesagt: der Zwang istunmittelbar mit dem Recht verbunden.

Dadurch ergibt sich eine gewisse Analogie mit den Bewegungsfiguren und Kraft-wirkungen innerhalb der physischen Welt.

„Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechsel-seitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit ist gleichsam die Konstruk-tion jenes Begriffs, d. i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nachder Analogie der Möglichkeit freier Bewegung der Körper unter dem Gesetze der Gleich-heit der Wirkung und Gegenwirkung"™.

Der Zwang kann sich nur auf die Befolgung der äußeren Verhaltensfigurenerstrecken, die allgemein gültig beschrieben, öffentlich bekanntgemacht und ver-stehbar gemacht werden können, so daß jeder sich danach einzurichten vermag.Die normierenden Figuren üben eine einschränkende Wirkung auf das Handeln

11 VI, S. 232.12 VI, S. 232.13 VI, S. 232. Das sieht zunächst so aus, als ob der Begriff des Rechts in derselben Weise

konstruierbar sei, wie etwa derjenige des Dreiecks, einer Zahl oder eines physischenKräfteverhältnisses. Aber es ist wichtig, das: „gleichsam" im Zitat zu beachten, um zuerkennen, daß die im Bereich der Rechtsbegriffe in Anspruch genommene Konstruktioneinen ändern Stellenwert hat, als es bei der Darstellung der mathematischen unddynamischen Begriffe in der Anschauung a priori der Fall ist. Nicht der Begriff desRechts wird hier konstruiert: denn seine Bedeutung ist nicht die einer Figur. Nur derTeil im Recht ist konstruierbar, in welchem dessen zwingende Bedeutung ausgespro-chen wird. Diese kommt in der Form von normativen Handlungsfiguren zur Sprache.„... So ist's nicht sowohl der Begriff des Rechts, als vielmehr der unter allgemeineGesetze gebrachte, mit ihm zusammenstimmende durchgängig wechselseitige und gleicheZwang, der die Darstellung jenes Begriffs möglich macht" (VI, S. 233).

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Herrsdiaftsansprudi der Vernunft bei Kant 397

den Einzelnen aus: durch sie wird sein Handeln in Geleise gebracht, deren Ein-haltung erzwungen werden kann.

Der Anspruch der Befolgung erzwingbarer Verhaltensfiguren und der vomRecht repräsentierten Macht verliert seine Berechtigung von der Grenze an, an wel-cher die Selbstbestimmung des Subjekts beginnt. „... Sich aber einen Zweck vor-zusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil esein innerer Akt des Gemüts ist); obgleich äußere Handlungen geboten werdenmögen, die dahin führen, ohne doch daß das Subjekt sie sich zum Zweck macht"14.Die selbständige Zwecksetzung kann nicht durch Gesetze reguliert werden, welchedurch Vorschreiben normativer Verhaltensfiguren verpflichten und sogar zu zwin-gen berechtigt sind. Wenn ich mir den Zweck gesetzt habe, den ändern Menschenzu achten, so ist damit nicht zugleich eine Regieanweisung für die Gesten, die ichdabei zu vollziehen habe, gegeben. Es gibt auf moralischem Felde nicht, wie aufdem juridischen ein „Schema", welches die Konstruktion von erzwingbaren Ver-haltensfiguren vollzieht. Eine zu dem von mir gesetzten Zwecke gehörige Gestikist hier nicht vorgeschrieben. So erkenne ich das zu Tuende nicht durch das Stu-dium der vorgeschriebenen Verhaltensfigur, sondern auf dem Wege eines Denkens,welches Kant als Orientierung bezeichnet. Der orientierende Weg des Denkenswird im kategorischen Imperativ etwa so beschrieben, daß man sich in eine Welthineinzudenken habe, die zweckmäßig verfaßt ist, und daß man sich fragen solle,ob die. Maxime, deren Realisierung man erwägt, in den Zusammenhang dieserWelt passen würde. Der vom Recht ausgehende Zwang erstreckt sich nur auf das„Maschinenwesen" der Polizei, bei welchem es nicht um die Motive des Handelns,sondern um die Erfüllung vorgeschriebener Bewegungsbilder geht. Der Zwanghat in dem Bereich Gültigkeit, den Kant vom Standpunkt der Moral aus in ab-schätziger Weise beschreibt, wenn er das bloß äußerliche und gleichgültige Verhält-nis des Subjekts zum Gesetz als zu einem „bloßen Mechanismus" des Gesetzesgehörig beschreibt, bei dem „wie im Marionettenspiel alle gut gestikulieren, aberin den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde"15. Aber die Rechts-gesinnung, die Moralität gegenüber dem Rechtsgesetz kann und darf nicht er-zwungen werden: sie ist nicht rechtlicher, sondern nur moralischer Begründungzugänglich.

Wer aufgefordert würde, die mit dem Gebrauch der Namen totalitär undTotalitarismus verbundene Bedeutung zu kennzeichnen, so würde er den mitdiesen Namen angesprochenen Herrschaftswillen, der auf das Ganze, auch dasInnere des Menschen, Anspruch macht und ihm keine Luft zum freien Atmenbeläßt, zweckmäßig dadurch charakterisieren, daß er dessen Bestehen auf einerKontrolle der Gesinnung, des „Bewußtseins" der Subjekte hervorhebt. Im totali-tären Verhalten werden Methoden der Kontrolle und Beurteilung auf das Ge-biet der freier Entscheidung und Orientierung vorbehaltenen Moralität über-

14 VI, S. 239.15 Mit dieser Untersdieidung zwisdien Geist und Budistaben diarakterisiert Kant den

Untersdiied zwisdien Moralität und extremer Legalität (V, S. 152).

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tragen, die sonst nur dem Recht und seinem Zwangsverfahren legitim sind.Kontrolle der Gesinnung und des Bewußtseins setzt Möglichkeit des Prüfens undBeurteilens, d. h. einen allgemeinen Maßstab voraus, dessen Handhabung miterlernbarer Technik eingeübt werden kann. Dieser Maßstab kann nur vom „Buch-staben", nicht vom „Geist" eines Gesetzes oder einer Doktrin her bestimmt sein.Als solche Maßstäbe, die von Inquisitoren aller Richtungen gehandhabt werden,bieten sich bestimmte Satzformeln an, die als vorgeschriebene Handlungsfigureneines sprachlichen Handelns angesehen werden können und die von der totali-tären Politik als Bekenntnisse, d. i. als in normgerechter Sprechhandlung gesche-hende Versicherungen einer normgerechten Gesinnung gewertet werden. Von derFrage her, wie juridische Moralität wie etwa Verfassungstreue beobachtbar, kon-trollierbar, beurteilbar und beeinflußbar ist, und welche Maßstäbe dabei zu hand-haben sind, ergeben sich für eine liberale demokratische Gesellschaftsordnung danngroße schwierige moralische und rechtliche Probleme, wenn diese um ihre Selbst-erhaltung gegen solche zu kämpfen hat, die den von ihr vertretenen Herrschafts-anspruch nicht als den des Rechtes und der Freiheit anerkennen, sondern ihn an-geblich als den einer ökonomisch und politisch interessierten Klasse entlarvenwollen.

Kant hat bei seinen Aussagen über diesen Fragenkreis eine politische Situationim Auge, die weniger brisant ist, als diejenige, die durch Wörter wie Verfassungs-treue bzw. Verfassungsfeindschaft angedeutet werden. Die von Kant ins Augegefaßte Situation ist die des Verhältnisses zwischen dem „rechtlich-bürgerlichen(politischen) Zustand der Rechtsgesellschaft zum ethisch-bürgerlichen Zustand, inwelchem sich die dieser Gesellschaft Angehörigen zugleich auch befinden". Dererste Aspekt schließt die Gültigkeit „öffentlicher Rechtsgesetze (die insgesamtZwangsgesetze sind)", ein, während im ethisch-bürgerlichen Zustand zwangsfreie,d. h. bloße Tugendgesetze herrschen. Es ist die Frage, wieweit das öffentlicheRechtsgesetz in die individuelle Sphäre vordringen darf, wenn es sein Interessean der Gesinnung der Verfassung gegenüber wahrnehmen will. Die Anfangssitua-tion ist, daß sich in einem „schon bestehenden politischen gemeinen Wesen" alleBürger als solche zunächst im ethischen Naturzustande befinden, den Kant socharakterisiert: er sei eine öffentliche wechselseitige „Befehdung der Tugendprin-zipien und ein Zustand der inneren Sittenlosigkeit, aus welchem der natürlicheMensch sobald wie möglich herauszukommen sich befleißigen soll"16. Bürger, diesich im ethischen Naturzustande befinden, müssen sich äußere Einschränkungenvon selten des bürgerlichen Rechtes gefallen lassen und dürfen nichts tun, was „derPflicht ihrer Glieder als Staatsbürger widerstreite". Aber der Anspruch des Rechtsund seines Zwanges darf nicht auf Kontrolle oder gar auf Veränderung der Gesin-nung selbst abzielen: es dürfen nur moralische Triebkräfte in Frage kommen, wel-che den moralischen Fortschritt der Bürger in Gang setzen und ihre Entwicklungaus einem ethischen Naturzustande heraus in den eines ethischen gemeinen Wesens,

18 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 3. Stück, VI, S. 95—96.

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Herrschaftsanspruch der Vernunft bei Kant 399

also einer sittlichen Gemeinschaft bewirken. Daß die politische Rechtsgesellschaftseine Bürger zwingen sollte, in ein „ethisches gemeines Wesen zu treten", zu des-sen Grundzügen auch Verfassungstreue zählen würde, wäre ein Widerspruch (inadjecto); weil das letztere schon in seinem Begriff die Zwangsfreiheit bei sichführt. Wünschen kann es wohl jedes politische gemeine Wesen, daß

„in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüter nach Tugendgesetzen angetroffen werde;denn wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innereanderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Ver-langte bewirken. Wehe aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichteteVerfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade dasGegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsichermachen. — Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebendeBefugnis des letzteren betrifft, völlig frei: ob er mit anderen Mitbürgern überdem auchin eine ethische Vereinigung treten oder lieber im Naturzustande dieser Art bleibenwolle .. ."17.

Das gemeine Wesen im ethischen Sinne, welches sich im Zuge der Moralisierungder Menschen bildet, schließt die Personen zusammen, die nach selbstgegebenenGesetzen handeln. Auch die Methode der Erkenntnis jeweils meiner Pflicht istautonom: d.h. ich selbst muß meine Pflicht, die für mich gilt, erkennen. Es istauch in meine Freiheit gestellt, ob ich sie in legaler oder moralischer Gesinnungerfülle. Da aber das böse Prinzip im Menschen nicht weniger vertreten ist als dasgute, kommt es zu der Situation, daß beide um die Herrschaft im Menschenkämpfen und daß praktische Vernunft als Ursprung des Guten Macht und Zwangeinzusetzen hat, um sich im Menschen zu behaupten. Auf diese Weise tritt imZusammenhang mit dem Herrschaftsanspruch der Vernunft auch innerhalb derMoralität, zu der kein rechtlicher Zwang Zugang hat, ein Herrschafts-, Macht-und Zwangsprinzip eigentümlich moralischer Art auf. Es geht um die Frage, wiesich erkannte Pflicht durchzusetzen und moralische Gesinnung sich zu verwirklichenvermag. Dabei kommt die Kategorie der Herrschaft unter neuen Voraussetzungenin den Blick: sofern praktische Vernunft als Herrscherin und zugleich Richterinunseres Inneren deklariert wird. So kommt es dazu, daß unter der Voraussetzungscharfer Trennung zwischen juridischer und ethischer Gesetzgebung auch der Be-reich der ethischen Gemeinschaft nach dem Modell einer Rechtsgesellschaft ange-sehen und beurteilt wird, an deren Spitze das Denken einen „moralischen Welt-herrscher" stellt, der als oberster Gesetzgeber und zugleich Richter in moralischenDingen „ein Herzenskündiger" sein muß, „um auch das Innere der Gesinnungeneines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem,was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen. Dieses ist aber der Begriff vonGott als einem moralischen Weltherrscher"18.

Im folgenden Abschnitt mögen im Zeichen des Herrschaftsprinzips der VernunftStrukturen der moralischen Verfassung in Analogie zu denen der rechtlichenGesellschaft sichtbar gemacht werden.

17 VI, S. 95—96. 18 VI, S. 99.

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III

Das Bild der Kantischen Moralphilosophie wurde durch solche Interpreten ein-seitig schon von früh an bestimmt, die in ihm den Exponenten einer Auffassungsahen, die man als Nullpunkt-Theorie bezeichnen kann. Darunter werde dieBehauptung verstanden, daß die moralische Geschichte eines Menschen in jedemAugenblick von vorne anfängt; daß sie eine Abfolge von vielen einzelnen Hand-lungsaugenblicken ist, in deren jedem immer aufs neue moralische Reflexion gefor-dert wird, um das Sollen erkennbar zu machen. Auf Grund der Reflexion ergibtsich unter der Voraussetzung «der Nullpunkt-Theorie eine Willensentscheidung,welche den Handlungsablauf in Gang bringt. Der angeblichen nullpunkttheoreti-schen Position Kants gegenüber hat man das Prinzip zur Geltung gebracht, wel-che ich als das des „praktischen Seins" bezeichnen möchte. Man hat gegen dasPrimat des Kantischen „Sollens" argumentiert, daß die einsame Erkenntnis desSollens zu ohnmächtig sei, um im Subjekt selbst und außerhalb seiner verwirk-licht werden und sich durchsetzen zu können. Denker, die diese Art von Gegner-schaft gegen Kant konstruiert haben, stellten sich mit ihrer Argumentation in diebedeutsame Tradition, zu der auch Spinoza mit seiner These zu rechnen ist, daßein bloßes moralisches Wissen ohnmächtig ist, wenn es nicht gelingt, für seineVerwirklichung Leidenschaften und Affekte zu interessieren.

Es soll hier betont werden, daß ein Wortführer dieser Tradition in Kant keinenGegner findet, sondern im Gegenteil einen mächtigen Verbündeten. Die erste Frageseiner Moralphilosophie war die nach der Quelle der Pflicht im Moralgesetz undder Methode ihrer Erkenntnis. Gleich danach kommt als zweite Frage: WelcheBedingungen sind für die Durchsetzung und Verwirklichung des moralischenGesetzes in Gesinnung und Handlung zu bedenken? Diese zweite Frage hatte dieHerrschaft der moralischen Vernunft über den Menschen zum Thema. Um siezu beantworten, wird das moralische Denken auf einen Weg geführt, auf welchemihm das praktische Sein in Gestalten wie denen der Pftiditgesinnung, der Tugendals dauerhafter moralischer Verfassung, des moralischen Interesses, vor allem derAchtung vor dem Sittengesetz und damit auch vor der Person des ändern begegnet.Auch das „Gewissen" gehört in dieses Ensemble von Kategorien des praktischenSeins. Das Bewußtsein eines „inneren Gerichtshofes im Menschen (vor welchemschuldigen) ist das Gewissen"19. Jeder Mensch hat ein Gewissen und findet sichdurch einen „inneren Richter" beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt(mit Furcht verbundene Achtung) gehalten, „und diese über die Gesetze in ihmwachsende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst willkürlich macht, sondernes ist in seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zufliehen gedenkt"20.

Die in die Richtung der Herrschaft der moralischen Vernunft und ihrer Ver-wirklichung und des „praktischen Seins" weisenden Überlegungen stellt Kant

19 VI, S. 437. 20 VI, S. 438.

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Herrschaftsanspruch der Vernunft bei Kant 401

gelegentlich auch unter das Thema: „Triebfeder", die richtig zu beschreiben fürden Moralphilosophen gleich der Auffindung des „Steines der Weisen" sei.

„Wenn ich durch den Verstand urteile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt nochsehr viel, daß ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe. Urteilen kann derVerstand freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, daß es eine Triebfederwerde, den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen"21.

Der auf die Verwirklichung des Sollens und den Einsatz der Kraft, die dasSollen zur Herrschaft bringt, abzielende Gedankengang kann unter die DeviseKants gestellt werden, daß das Tier Mensch eines Herrn bedarf, „der ihm deneigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabeijeder frei sein kann, zu gehorchen"22. Der Mensch sei ein Tier, das, wenn es unterändern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig habe. Dieser Herr heißt: Vernunft.

Auch der Begriff Tugend fällt unter das Thema der Herrschaft der Vernunftüber die moralische Verfassung des Menschen.

Ist diese Verfassung hergestellt, so befindet sich der Mensch nicht mehr amNullpunkt der Geschichte seiner Handlung, sondern denkt und handelt vomFundament eines praktischen Seins aus, zu dessen Bildung er selbst beigetragen hat.Andererseits wirkt sich dieses praktische Sein nicht wie ein naturhafter Zwangauf Denken und Handeln des Subjekts aus, sondern gibt die Voraussetzung fürÜbergänge zu neuen Stufen und Perspektiven der Reflexion und der Entscheidung.Tugendverfassung ist Ergebnis einer Geschichte des Kampfes der praktischen Ver-nunft mit den natürlichen Affekten und zugleich Ansatzpunkt für weiteres Fort-schreiten.

„Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an. —Das erste folgt daraus, weil sie, objektiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleichwohlaber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht ist. Das zweite gründet sich, subjektiv,auf der mit Neigungen affizierten Natur des Mensdien, unter deren Einfluß die Tugendmit ihren einmal für allemal genommenen Maximen niemals sich in Ruhe und Stillstandsetzen kann, sondern, wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt: weil sittlicheMaximen nicht so wie technische auf Gewohnheit gegründet werden können (denn diesesgehört zur physischen Beschaffenheit seiner Willensbestimmung), sondern, selbst wenn ihreAusübung zur Gewohnheit würde, das Subjekt damit die Freiheit in Nehmung seinerMaximen aus einbüßen würde, welche doch der Charakter einer Handlung ausPflicht ist"23.

Kant stellt den Begriff der Tugend mit folgenden Worten vor:

„Da aber der Mensch doch ein freies (moralisches) Wesen ist, so kann der Pfliditbegriffkeinen ändern, als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten,wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) abgesehen ist, denn dadurchallein wird es möglich, jene Nötigung (selbst wenn sie eine äußere wäre) mit der Freiheit

21 Menzer: Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924, S. 54. Vgl. hierzu KonradGramer, Hypothetische Imperative? in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie,hg. von Manfred Riedel, Bd. I, Freiburg 1972, S. 179.

22 VIII, S. 23..» VI, S. 409.

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der Willkür zu vereinigen, wobei aber alsdann der PflichtbegrifF ein ethischer seinwird"24.

Sofern es sich um Nötigung bzw. Zwang im ethischen Umkreis handelt, kannnur ein „Selbstzwang" von der Art eines Zwanges „nach einem Prinzip derinneren Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung zu seiner Pflicht nach demformalen Gesetz derselben" in Frage kommen25. Pflichten enthalten einen Begriffder Nötigung durch das Gesetz:

„die ethische eine solche, wozu nur eine innere, die Rechtspflichten dagegen eines solcheNötigung, wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist; beide also eines Zwanges,er mag nun Selbstzwang oder Zwang durch einen ändern sein: da dann das moralischeVermögen des ersteren Tugend und die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung für dasGesetz) entspringende Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann, obgleichdas Gesetz eine Rechtspflicht aussagt"26.

Wie Kant in der Religionsphilosophie vom Kampf des guten Prinzips mit dembösen und von dem Anspruch der Herrschaft jedes der beiden Prinzipien über denMenschen spricht, so ist auch sein Tugendbegriff im Horizont des Themas: Herr-schaft der Vernunft über den Menschen zu verstehen. Mächtig widerstrebendeKräfte sind in der menschlichen Natur angelegt: die wilde freie Willkür ist schwerzu bezähmen und bietet „Hindernisse der Pfliditvollziehung im Gemüt des Men-schen". Gleichwohl gibt praktische Vernunft die Strategie an, wie der Kampf zuführen ist und wie sie auf dem Wege praktischen Denkens das richtige Herrschafts-verhältnis im Subjekt zu verwirklichen vermag. Der Mensch muß von seinemVermögen überzeugt sein, die Vernunft in ihm nicht erst „künftig, sondern gleichjetzt (zugleich mit dem Gedanken)" zur Herrschaft zu bringen und „das zu kön-nen, was das Gesetz unbedingt befiehlt, das er tun soll". Vermögen und überlegterVorsatz, die Vernunft über den wilden Naturzustand in uns zur Herrschaft zu

24 VI, S. 379—380. In Schillers Wilhelm Teil ist von „Selbstherr" die Rede.25 VI, S. 394. Hierzu auch VI, S. 383: „Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht

wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist,jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht." Daß Tugend als Verfassung inFrage kommt, in welcher der Mensch kraft seiner Vernunft Herr über sich selbst wirdund die Macht über sich selbst gewonnen hat, resultiert aus folgenden Sätzen: „Tugendbedeutet eine moralische Stärke des Willens. Aber dies erschöpft noch nicht den Begriff;denn eine solche Stärke könnte auch einem heiligen (übermenschlichen) Wesen zukom-men, in welchem kein hindernder Antrieb dem Gesetz seines Willens entgegenwirkt;das also alles dem Gesetz gemäß gerne tut. Tugend ist also die moralische Stärke desWillens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nötigungdurch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetzausführenden Gewalt selbst konstituiert" (VI, S. 405).

26 VI, S, 394. In Erklärungen Kants zu Baumgartens Initia philosophia practicae werdender rechtliche und der moralische Zwang in Parallele gesetzt. So in 6494: „Coactiopragmatica vel moralis... Cogi non potest moraliter, nisi per motiva moralia quatenuspotest sensu morali. e. g. cogo aliquem moraliter, si sub conditione vel ethica veliuris, e. g. miseriam aliorum aliqui sub occulos tonendo vel datam videm in animumrevocando, impello..." Vgl. auch Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nachfrühen Quellen, Frankfurt 1971, S. 231.

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bringen, heißt Tugend. An anderer Stelle heißt es, daß Tugend die „Stärke derMaxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht" sei27. Je größer die Hinder-nisse im Menschen sind, die überwunden und überwältigt werden müssen, um soeindeutiger und deutlicher zeigt sich die Kraft der Tugend: ihre „Regierung" istdie der Freiheit28. Der Zwang geht in diesem Falle nicht von irgendwelchen Natur-neigungen aus, die andere Neigung zu überwinden hätten, sondern von der Ver-nunft. Alle Pflichten enthalten das Prinzip der „Nötigung" durch das Gesetz.Es gibt eine Analogie zum Recht, zu dessen Definition der Zwang gehört, durchwelchen Menschen zur Einhaltung von Verhaltensfiguren genötigt werden können.Aber der Unterschied ist der, daß die „ethischen" Pflichten nur „innere" Nötigungzulassen und es verbieten, äußeren Zwang auf Gesinnung oder auf die diesemimende Gestik auszuüben. Sorgt innere Nötigung dafür, daß Rechtspflichteneingehalten werden, so ist in diesem Fall die „äußere" Gesetzgebung nicht nötig.Aber zu legalem Verhalten ist andererseits die innere Gesetzgebung und die vonihr ausgehende Nötigung nicht notwendig: hierzu genügt „äußere Gesetzgebung"und der in ihr angelegte Zwang. In beiden Gesetzgebungen, der moralischen wieder legalen, „liegt der Begriff eines Zwanges, er mag nun Selbstzwang oder Zwangdurch einen ändern sein", zugrunde. Im ersteren Falle handelt es sich um Tugend,während es beim zweiten Fall um ein rechtliches Verhalten zu tun ist.

Die durch die Herrschaft der Vernunft über den „inneren" Menschen und überdie „äußere" gesellschaftliche Sphäre gegebene Parallelität zwischen Moral undRecht hat weitergehende Strukturanalogien zur Folge. Im Bereich der Moral seider Mensch der „geborene Richter über sich selbst"29. Jeder Pflichtbegriff enthalteobjektive Nötigung durchs Gesetz und gehöre dem „praktischen Verstande" an,der die Regeln gibt.

„ Die innere Zuredinung aber einer Tat, als eines unter dem Gesetz stehendenFalles gehört zur Urteilskraft..., welche, als das subjektive Prinzip der Zurechnungder Handlung, ob sie als Tat (unter einem Gesetze stehende Handlung) geschehen sei odernicht, rechtskräftig urteilt; worauf denn der Schluß der Vernunft (die Sentenz), d. i. dieVerknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurteilung oder Los-sprediung) folgt, welches alles vor Gericht..., als einer dem Gesetz Effekt verschafFendenmoralischen Person, Gerichtshof genannt, geschieht."

Dieser innere Gerichtshof ist das Gewissen.Mit dem Stichwort: „Urteilskraft" wird man zur Überlegung darüber aufge-

fordert, ob sich deren Funktion in der Rechtssphäre von der Rolle unterscheidet,die sie im ethischen Bereiche spielt. Es ist daran zu erinnern, daß juridische Urteils-kraft die Aufgabe hat, wirklich geschehene, empirische Verhaltensfiguren unter

27 VI, S. 394.28 VI, S. 407: „Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in

einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich'selbst Herr zu sein(imperium in semitipsum), d. i. seine Affekten zu zähmen und seine Leidenschaftenzu beherrschen —*

*> VI, S. 438.

27*

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allgemeine vom Gesetz beschriebene und vor-geschriebene Handlungsfiguren zusubsumieren. Man könnte im Hinblick auf die Aufgabe der Tugendlehre, verschie-dene Tugendcharaktere, wie Liebe, Zuverlässigkeit, Tapferkeit, Verschwiegenheitusw. idealtypisch zu beschreiben, denken, daß hier entsprechend wie in der Rechts-sphärc allgemeine Handlungsbilder als Normen des Verhaltens vorgezeichnet wer-den, unter die empirisch besondere Verhaltensweisen subsumierbar sind. Wenn daszutrifft, dann gibt es auch in der Moralphilosophie eine Art von „Konstruktion"von Bewegungsbildern des Handelns.

Aber bei näherer Betrachtung ist festzustellen, daß im Bereich der Moralphilo-sophie das Prinzip des transzendentalen Schemas, wie es in der Kritik der reinenVernunft entwickelt wird, noch weniger anwendbar ist als im Bereich des Rechts.Denn eine Tugend ist keine Handlungsfigur, sondern höchstens das Bild einesHandlungscharakters, einer festgewordenen Disposition zur Ausführung vonHandlungsfiguren. Das Charakterbild der Tugend wird durch Beschreibung einertypischen iHandlungsgesc^/cÄfe gezeichnet, ist aber nicht wie vom Recht vor-geschriebene Handlungsfigur eine in der Raum-Zeitphantasie (Einbildungskraft)anschaubare Figur. Daher ist es das Geschäft der moralischen Urteilskraft, nichtein empirisch gegebenes, besonderes Handlungsbild unter ein allgemeines Schemazu subsumieren, sondern einen sich in einer Handlungsgeschichte zeigenden Cha-rakter als Fall einer allgemeinen Struktur praktischen Seins zu erkennen undanzusprechen.

Einen gewissen Höhepunkt in der Reihe derjenigen Bestimmungen, die zumpraktischen Sein gehören, stellt das Kantische Lehrstück von der Achtung vor demSittengesetz bzw. vor der Person des ändern dar. Kant bezeichnet diese alsmoralisches „Gefühl". In der Ethik-Tradition spielt das, was man Gefühl nennt(sentiment, feeling, neuerdings: emotion), vor allem die Rolle derjenigen Kraft,die der vom Verstande geleisteten Erkenntnis des Sollens und der Pflicht Stärke,Temperament und die lebhafte „Farbe der Entschließung" verleiht, um es mitShakespeares Worten zu sagen. Das wird besonders in der Tradition der engli-schen Moralphilosophie deutlich, von der Kant in seiner Anfangszeit das Prin-zip des Gefühls übernommen hat. Später hat er sich auf den Standpunkt derVernunft begeben, aber im Zusammenhang mit der Frage nach der Triebkraftder Vernunft dem Gefühl eine wichtige Rolle vorbehalten.

Achtung wird als Zustand der Vernunftherrschaft im Subjekt beschrieben. Sieist eine Verfassung des Subjekts, welcher gemäß dieses schon von vornherein inder Frage, ob vernunftgemäß oder gegen die Vernunft zu handeln sei, entschiedenist: hat sich die Achtung einmal gebildet, so wird das praktische Sein des Han-delnden von der Vernunft beherrscht. Sie bestimmt das praktische Sein des Han-delnden, auf Grund dessen in sein Denken und Tun eine gewissen Notwendigkeit,Verläßlichkeit und Fraglosigkeit kommt. Er verhält sich jetzt nicht der Vernunftund ihren Geboten gegenüber indifferent oder gar ablehnend; im Interesse derVernunft ist vielmehr eine Vorentscheidung getroffen. So, wie in der Gesellschaftdie bürgerlich-rechtliche Verfassung als Grundlage für ein von der Vernunft gere-

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geltes Denken und Handeln fungiert, so erweist sich die Aditung im Aufbau despraktischen Bewußtseins als Zustand des Subjekts, in welchem Vernunft von ihmBesitz ergriffen hat.

Achtung wird nicht als naturgegebenes Gefühl deklariert, denn dann würde sienicht die Macht der Vernunft über das Subjekt garantieren. Soll sie als Ver-schmelzung von Vernunft und Gefühlsmacht im Subjekt gedacht werden, dannmuß ihre Bildung durch Vernunft, ihr „Vernunftgewirkt-seinc< feststehen. Daherkommt es nicht nur darauf an, die Funktion der Achtung als Durchdringung vonVernunft und Gefühlskraft im praktischen Sein des Subjekts und seinem Handelnzu begreifen, sondern auch die Bildung der Achtung durch Vernunft zu erklären.

Vernunft kommt im Subjekt durch Bildung der Achtung zur Herrschaft: Ach-tung bringt Verläßlichkeit und Sicherheit des Verhaltens im Sinne praktischer Ver-nunft zustande. Um sie zu bilden, gebraucht diese eine Strategie der Selbstver-wandlung in Gefühl, denn es gilt, über die natürlichen Triebkräfte der Selbstliebeund des noch schlimmeren „Eigendünkels" Herr zu werden. Wenn man dieseStrategie zur Gewinnung der Herrschaft und damit zur Bildung der Achtungallgemein charakterisieren will, so ergibt sich: sie besteht in der Entwertung undVer-ächtlichmachung des Gegners. Als Kehrseite der Achtung zeigt sich Ver-achtung der natürlichen Antriebe, die dadurch zugleich entmachtet werden. Derauf diese Weise bewirkte Zustand ist „moralisch": er ist nicht naturgegeben, son-dern Ergebnis eines „Kampfes". Die Geschichte der Bildung der Achtung wird vonKant so beschrieben: in ihrer ersten Phase beginnt sie damit, daß wir uns alsKnechte unserer sinnlichen Natur erfahren. Die „Materie des Begehrungsver-mögens" und damit die „Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder derFurcht", sind zunächst mächtig über uns und „drängen" sich zuerst „auf"30. Ver-setzen wir uns aber auf den Boden81 der praktischen Vernunft und wählen ihreMaßstäbe, so geschieht eine Umwertung aller Werte. Damit sind die Vorausset-zungen geschaffen, die „Unterdrückung" unseres intelligiblen Selbst durch dieTriebkräfte der Natur in einer „Revolution der Denkart" zu beenden. Es stelltsich eine Verfassung her, in welcher wir Achtung vor dem Gesetz und Ver-achtung des pathologischen Herrschaftsverhältnisses in uns zeigen. Von dem jetztgewonnenen Stande des Bewußtseins aus ergibt sich eine gegenüber der vorigenRang- und Herrschaftsordnung, in der die Naturtriebe des Egoismus und derSelbstsucht diktieren, umgekehrte Machtstruktur. Jetzt gilt, daß kein natürlichesGefühl im Subjekt vor dem vernunftgegebenen Gesetz als Bestimmungsgrund„vorhergehe", es sei denn allein die „Achtung". Demgemäß geht in dieser Rang-ordnung auch keine „Materie" der Pflicht vor der Form der Gesetzlichkeit vor-her: die Achtung hat durch eine Um-oriemierung der Gefühlsantriebe die Kraft

80 V, S. 74.51 Heimsoeth macht in Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der

reinen Vernunft, 4. Teil, Berlin/New York 1971, S. 744, darauf aufmerksam, daßdie Rede vom „Boden* der praktischen Vernunft bei Kant terminologische Bedeut-samkeit hat.

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in sich aufgesogen, die diesen eigentümlich ist und diese Kraft in den Dienst derVernunftherrschaft gestellt. Sie kann „praktisch gewirkt" heißen, weil sie Ergeb-nis und zugleich Prinzip des Standnehmens auf dem Boden der Vernunft ist. DasBewußtsein „einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz" ist „gleich-wohl mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durcheigene Vernunft, angetan wird, verbunden..." In diesem Zusammenhang fälltauch das Wort: „Nötigung". Die „objektiv-praktische" Handlung sei Pflicht unddiese „nötige" das praktische Subjekt. Das sinnlich affizierte Subjekt erfährt da-durch einen „Zwang", sofern es seine natürliche Freiheit der Vernunft und damitder intclligiblen Freiheit zu opfern und sich ihrem Gesetz zu unterwerfen hat.Die Kehrseite des so hergestellten Knechtseins ist, da es sich um Herstellung derMacht der eigenen Vernunft handelt, Herrschaft über die Natur in mir. DieseHerrschaft bedeutet Disziplinierung und wird durch die Unlust erkauft, welchedie unter Zwang genommene sinnliche Natur spüren läßt. Könnte aber ein ver-nünftiges Geschöpf jemals dahinkommen, alle moralischen Gesetze zu lieben,also sie

„völlig gerne zu tun, so würde das soviel bedeuten, als, es fände sich in ihm auch nichteinmal die Möglichkeit einer Begierde, die ihn zur Abweichung von ihnen reizte; denn dieÜberwindung einer solchen kostet dem Subjekt immer Aufopferung, bedarf also selbstZwang, d. i. innere Nötigung zu dem, was man nicht ganz gerne tut."

Es ist im Hinblick auf Überlegungen Nietzsches zum Zusammenhang zwischenWillen zur Macht und Umwertung der Werte aufschlußreich, daß von Kant dasZur-Macht-kommen der Vernunft im menschlichen Subjekt durch die Achtung alsProzeß verstanden wird, in welchem der Umsturz der Machtverhältnisse im Sub-jekt durch Umwertung geschieht. Diese wird durch den Übergang auf den Bodender praktischen Vernunft und ihrer Maßstäbe erreicht: die bisher in der Wertunghochstehenden Naturtriebe des Egoismus und der Selbstsucht werden entwertetund damit entmachtet. Habe der Mensch eine „sittliche Stufe" erreicht, so istseine Verfassung durch die Achtung für das Gesetz bestimmt32. Er befindet sich ineinem „moralischen Zustand", der nicht als Naturzustand gegeben, sondern Ergeb-nis eines „Kampfes" ist. Von dieser eigentümlich-moralischen Zwangssituation ausist es zu verstehen, wenn Kant sagt, daß praktische Vernunft ihr „eigentümlichesGesetz, auch ihr eigentümliches Gericht..." habe33.

Das Fazit ist, daß das Subjekt die Macht der Vernunft in seinem Bereiche da-durch herstellt, daß es durch Orientierung an der Idee einer gesetzlich verfaßtenWelt — Kant spricht von intelligibler Natur — die Maßstäbe gewinnt, nach denenes seine eigenen Triebkräfte bewertet, beurteilt, interpretiert und dadurch die derVernunft gemäßen Machtverhältnisse in sich herstellt. So unterwirft es seineeigene Selbstliebe^ einer inneren Jurisdiktion und durchdringt sie auf diese Weisemit Vernunft.

32 V, S. 84.33 V, S. 89.

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Herrsdiaftsanspruch der Vernunft bei Kant 407

Resümierend sei gesagt: Am Leitfaden des Themas „Herrschaft der praktischenVernunft" wurde die gemeinsame Wurzel der moralischen und der juridischenGesetzgebung von einer bisher kaum beachteten Seite her bloßgelegt. Zugleichwurden die verschiedenen Weisen charakterisiert, in denen beide Gesetzgebungendie Vernunft mächtig und wirksam werden lassen. Während der mit dem Rechtverbundene Zwang auf den Menschen von „außen" wirkt, stellt der Mensch inder Moral eine Herrschaftsordnung in seinem Innern selbst her, indem er in sichAchtung vor dem Vernunftgesetz und zugleich vor dem Mitmenschen durch Ver-achtung der anarchischen Antriebe ausbildet und diese dadurch entmachtet. Sosind die Konsequenzen zu denken, die sich unter Voraussetzung des KantischenModells von der praktischen Vernunft und ihrem Herrschafts- und Wirkungs-willen, des von ihr gegebenen Gesetzes und der im kategorischen Imperativ mit-gelieferten Methode der Erkenntnis des Gesetzes und der Auffindung meinerPflicht ergeben. In ihnen zeigt sich das Bild von Kants Einschätzung der Herr-schaftsmöglichkeiten der Vernunft in Recht und Moral.

Zum Abschluß mag eine Frage erörtert werden, die sich im Zuge der Überlegungstellt, daß die Gesellschaft Interesse an einer moralischen Verfassung ihrer Bürgerhat und dieser Herrschaft verschaffen will. Es hat sich ergeben, daß der Herr-sdiaftsanspruch der moralischen Vernunft zugleich die Bildung einer sicheren,stabilen und zu fraglosem, berechenbaren und entschiedenen Handeln fähigenVerfassung der Person zum Ziele hat. Der Name: Moral wird meist in diesemSinne einer gefestigten, verläßlichen Denk- und Handlungsstruktur gebraucht undfällt mit der „Sittlichkeit" Hegels zusammen, der diese von der Moralität alseinem sich auf moralische Reflexion berufenden Handlungscharakter unterscheidet.Von diesen Überlegungen her ergibt sich die Möglichkeit, die auch von Kantvertretene These von der gesellschaftsbegründenden und -erhaltenden Funktioneiner Moral apriorisch zu begründen34 und die Auffassung einer Gesellschaft zurechtfertigen, daß wenigstens eine Minimalmoral der Bürger für den Bestand der

34 Die Motivation für den durch das Recht gewährten Sdiutz der als gesellschaftserhaltendinterpretierten Moral muß sidi nidit utilitarisdier Argumente bedienen, wie sich z. B.bei P. Delvin, The Enforcement of Morals, 1965, und T. Parsons, The Social System,1951, zeigt. Bei Parsons (S. 41) heißt es: „Diese Einbeziehung eines Systems gemein-samer Werthaltungen in die internalisierte Bedürfnisstruktur der einzelnen Personen istdas zentrale Phänomen der Dynamik sozialer Systeme. Daß die Stabilität eines sozialenSystems vom Grad einer soldien Interpretation abhängt, kann man als das fundamentaleDynamiktheorem der Soziologie bezeichnen." Die Problematik der Rechtfertigung desvom Recht erhobenen Ansprudis auf Sdiutz einer praktizierten Moral durch Berufungauf deren gesellschaftserhaltende Funktion erörtert H. L. A. Hart in: Soziale Bindungund die Durdjsetzung der Moral, in: Recht und Moral, übersetzt und eingeleitet vonN. Hoerster, Göttingen 1971, S. 87 ff. Hart nennt die erörterte Theorie etwas irre-führend „Verfallstheone", weil sie in einer Moral das Band der Gesellschaft sieht, diesidi demgemäß mit dem Verschwinden dieser Moral auflösen würde. Er zieht sichselbst dadurch zu enge Grenzen, daß er nur empirische Begründungen für die Thesezuläßt, daß eine Moral als zusammenhaltendes Band der Gesellschaft angesehen wer-den müsse.

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Gesellschaft notwendig sei und in dem Falle geschützt werden müsse, in welchemsie in Gefahr ist, zersetzt zu werden. Wie würden die Maßnahmen dieses Schutzesnach Kantischer Voraussetzung aussehen müssen? Daß die der juridischen Ver-nunft zu Gebote stehende Macht auf die Herrschaftsverhältnisse moralischer Ver-nunft nicht einwirken kann und darf, steht fest. In diesem Punkte ist nur derWeg des Dialogs gangbar, von dem heute viel die Rede ist. Der Dialog will nichtnur Informationen oder Wissen vermitteln: seine gesellschaftlich-moralische Be-deutsamkeit besteht vielmehr darin, der Vernunft Macht im moralischen Sinne zuverschaffen: daher ist es irreführend, vom „herrschaftsfreien" Dialog zu sprechen.Gerade dann, wenn ich im Rahmen spezifischer Rationalität der praktischen Ver-nunft Normen argumentativ rechtfertige, stelle ich mich auf den Boden dieserVernunft und ihrer Herrschaft.

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