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Vili. DIE HYLAS-EPIGRAMME DES AUSONIUS (EPIGR. 9 7 - 9 8 RIESE) In der Sammlung Epigrammata de diversis rebus des Ausonius finden sich neun Epigramme über Mythen von unglücklich Liebenden (97-105 RIESE): Hylas und die Nymphen, Narziss und Echo, Hermaphrodit und Salmacis sowie Apollo und Daphne. Naturgemäss beleuchten die Epi- gramme nur die entscheidenden Momente, und vom Geist Marüals ge- prägt, tun sie es aus zynisch-rationaler Distanz, so dass die Liebesaffä- ren nicht nur zwiespältig (WEBER 68), sondern geradezu pathologisch wirken. Dieser Umstand wird noch dadurch verschärft, dass die Altehr- würdigkeit der Mythen von mindestens je zwei Epigrammen unter- schiedlicher Perspektive demontiert wird. 1 1 Von den Narziss-Epigrammen beleuchtet das erste die Unsinnigkeit der se- xuellen Fehlorientierung (epigr. 99), das zweite die zerstörerische Kraft überwäl- tigender Schönheit (epigr. 100) und das dritte die oft tödliche Vergeblichkeit hartnäckigen Begehrens (epigr. 101). Die Hermaphrodit-Gedichte (epigr. 102f.) heben die Impotenz der Sagengestalt hervor (das zweite mehr skeptisch als be- hauptend), und von den Gedichten über Apollo und Daphne macht sich das er- ste (epigr. 104) in zweideutiger Sprache über die Gedankenlosigkeit des Gottes, das zweite (epigr. 105) über die von Daphnes Rinde lustig. - Vgl. noch die Kalblütigkeit der Venus in epigr. 94 RIESE (Suaslsti, Venus,...). Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 12/15/13 9:34 PM

Der Hylas-Mythos in der antiken Literatur () || VIII. DIE HYLAS-EPIGRAMME DES AUSONIUS (EPIGR. 97–98 RIESE)

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Page 1: Der Hylas-Mythos in der antiken Literatur () || VIII. DIE HYLAS-EPIGRAMME DES AUSONIUS (EPIGR. 97–98 RIESE)

Vili. DIE HYLAS-EPIGRAMME DES AUSONIUS (EPIGR. 9 7 - 9 8 RIESE)

In der Sammlung Epigrammata de diversis rebus des Ausonius finden sich neun Epigramme über Mythen von unglücklich Liebenden (97-105 RIESE): Hylas und die Nymphen, Narziss und Echo, Hermaphrodit und Salmacis sowie Apollo und Daphne. Naturgemäss beleuchten die Epi-gramme nur die entscheidenden Momente, und vom Geist Marüals ge-prägt, tun sie es aus zynisch-rationaler Distanz, so dass die Liebesaffä-ren nicht nur zwiespältig (WEBER 68), sondern geradezu pathologisch wirken. Dieser Umstand wird noch dadurch verschärft, dass die Altehr-würdigkeit der Mythen von mindestens je zwei Epigrammen unter-schiedlicher Perspektive demontiert wird.1

1 Von den Narziss-Epigrammen beleuchtet das erste die Unsinnigkeit der se-xuellen Fehlorientierung (epigr. 99), das zweite die zerstörerische Kraft überwäl-tigender Schönheit (epigr. 100) und das dritte die oft tödliche Vergeblichkeit hartnäckigen Begehrens (epigr. 101). Die Hermaphrodit-Gedichte (epigr. 102f.) heben die Impotenz der Sagengestalt hervor (das zweite mehr skeptisch als be-hauptend), und von den Gedichten über Apollo und Daphne macht sich das er-ste (epigr. 104) in zweideutiger Sprache über die Gedankenlosigkeit des Gottes, das zweite (epigr. 105) über die von Daphnes Rinde lustig. -Vgl. noch die Kalblütigkeit der Venus in epigr. 94 RIESE (Suaslsti, Venus,...).

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298 Die Hylas-Epigramme des Ausonius

Die Hylas-Epigramme

De Hyla quem nymphae rapuerunt (epigr. 97 R.)

Adspice, quam blandae necis ambitione fruatur

letifera experiens gaudia pulcher Hylas.

oscula et infestos inter moriturus amores

ancipites patitur Naidas Eumenidas.

Das Gedicht beginnt im Ton des überlegenen Betrachters eines Bil-des (adspice: "schau nur") und weist gleich auf das Paradox, dass Hylas mit den erotischen Freuden (gaudia) seinen Tod herbeiführt (die gaudia sind letifera), obwohl er diesen ja nicht oder zumindest nicht im voraus wünscht. Hylas erscheint so als unreifer, naiver Schönling,2 der nicht ahnt, was die Folgen seines Tuns und Lassens sein könnten. Die ambitio necis kann zwar auch so verstanden werden, dass er für den Liebesgenuss bewusst und gern den Preis des Todes zahlt, sozusagen nach dem Motto "amare ninfe e poi morire", doch passt das gar nicht zu seiner Rolle in den uns bekannten Darstellungen des Mythos, wo er immer das ahnungslose Opfer ist, das über seine Entführung furchtbar erschrickt und sich nur trösten lässt, weil sich sein Tod als Schein er-weist3 Hier aber ist der Tod wohl echt, wie die Ausdrücke necis (1), letifera (2), infestos (3) und moriturus (4), ancipites Naidas (4) und Eumenidas (4) nahelegen. Das folgende Epigramm bestätigt das, weil es besagt, dass es nach dem Raub weder einen menschlichen noch einen göttlichen Hylas geben wird, den die liebestollen Nymphen gemessen könnten.

2 Vgl. den ahnungslosen, wenn nicht naiven, Hylas in MART. 3,19, wo am An-fang von Vers 4 ebenfalls die Formulierung pulcher Hylas vorkommt.

3 Entsprechendes gilt von der Parallelstelle, die KAY 277 zitiert: CLAUD, carm. min. 30,165 (sua crudeles gauderent pignora mortis I ambitione peti), wo es dar-um geht, dass gewisse Könige sich darüber freuten, dass die Freier ihrer schönen Töchter sich faktisch um ihren Tod bewarben, weil sie kaum Chancen hatten, im Alles-oder-nichts-Spiel der Wettkämpfe zu bestehen.

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Die Hylas-Epigramme des Ausonius 2 9 9

Es ist bemerkenswert, dass Hercules in diesem Gedicht keine Rolle

spielt. Wenn die gegebene Deutung zutrifft, liegt das wohl darin be-

gründet, dass der im doppelten Wortsinn zu verstehende Untergang des

Knaben schon tragisch genug ist. Die Tragik zeigt sich vor allem im er-

sten und im letzten Vers. Im ersten Vers sticht die Wortgruppe blandae

necis ambitione hervor, die wegen der grammatischen Doppeldeutigkeit

des Genetivs einmal das (unbewusste) Streben nach einem auf Verfüh-

rung beruhenden Tod, dann aber auch das Umworbenwerden durch

diesen Tod, sprich durch die Nymphen,4 bezeichnen kann. Im letzen

Vers weisen die beiden rahmenden Wörter ancipites und Eumenidas auf

die Doppelnatur der Nymphen, die wie mild gestimmte Furien einer-

seits Vergnügen und anderseits den Tod bringen; und der Tod ist hier,

wie gesagt, objektiv das, was bleibt. Subjektiv mag der Genuss das Letzte

sein, aber er ist mit dem Schwinden der Wahrnehmung, die ihn trägt,

verbunden.

Mit all dem soll nicht bestritten werden, dass das Gedicht auch ein

Psychogramm der Ekstase, des Gefühls seliger Ohnmacht ist.5 Doch die-

ser Zug scheint wegen der zahlreichen und teilweise düsteren Hinweise

auf den Tod nicht im Vordergrund zu stehen.6

4 Siehe dazu KAY 277f.: "Ausonius also intends an etymological pun on the

derivation of the noun from the verb ambire, in that the nymphs physically en-

circle and embrace Hylas; interestingly ambitio is only attested with the physical

sense of circuitus in Late Latin (...).

5 Das Englische hat dafür ein treffendes, weil alle Aspekte umfassendes

Verb: to swoon, und im Französischen wird der Orgasmus auch la petite mort ge-

n a n n t

6 Das zeigt auch die v o n KAY 2 7 7 erwähnte Parallelstelle MART. 3 , 6 4 , 2 (blandasque mortes gaudiumque crudele), wo die böse Überraschung, die die

hungrigen Sirenen für ihre Liebhaber bereithalten, durch den Hinkiambus unter-

malt wird. KAY ist beim ersten Hylas-Epigramm allerdings anderer Auffassung:

"The epigram is remarkable for its foreshadowing of a Wagnerian ecstatic death,

virtually death as orgasm. It was an ambivalence which pleased Ausonius, be-

cause he uses it again in the very different context of epigr. 1 1 5 . Careful asso-

nance enhances the effect fmoriturus / amores'; 'Naiadas / Eumenidas'), as does

the paradoxical emphasis on pleasurable death ('blandae / fruatur / gaudia /

oscula / amores')."

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300 Die Hylas-Epigramme des Ausonius

Nymphis quae Hylam merserunt (epigr. 98 RIESE)

Furitis procaces Naides

amore saevo et irrito:

ephebus iste ños1 erit

"Effektvoll untermalt vom 'aggressiven' iambischen Metrum" (WEBER

69), werden diesmal die Nymphen angesprochen, so dass man wie-derum an die Betrachtung eines Bilds denken kann.

Das erste Wort ( furitis) knüpft an das letzte des vorigen Epigramms (Eumenides) an, allerdings ohne dessen diplomatischen Charakter zu wahren: Die Najaden, die nur aus der Sicht ihres Opfers Eumeniden sind, werden vom unbeteiligten Betrachter als unverschämt zudringli-che Furien wahrgenommen. Der anklagende Ton geht aber bald in ei-nen strafenden über, weil sich das unbeherrschte Liebesverlangen der Nymphen als nutzlos ( i r r i to ) erweist: wie offenbar das reale oder virtu-elle Bild erkennen liess, verwandelt sich der Jüngling am Ende in eine Blume.

7 Die überlieferte Lesart flos sollte gehalten werden. WEBER 70, Anm. 81 argumentiert dafür: "Es scheint mir ein wichtiger Aspekt von Metamorphosen zu sein, dass etwas der ursprünglichen Gestalt Wesensgleiches entsteht - und hier ist die Blume die adäquate Verkörperung des Schönen." KAY, der das Problem 278f. diskutiert, liefert liefert dazu drei Argumente: "(1) Hylas' fate after his death is not a fixed or well-established part of his myth (...); (2) Ausonius can introduce mythological variants apparently his own elsewhere (...); and (3) if Hylas did metamorphose into something watery like a spring, that would have suited the Naiads, whose amor need not then be irrltus." Es gibt aber noch weitere Gründe: (a) die Hylas-Blume leitet zu den Narziss-Epigrammen über, so wie das commoriri von Narziss und Echo die Hermaphrodit-Epigramme vorbereitet und vielleicht das inesse des vir im Hermaphrodit eine Analogie zum Bedecktwerden Daphnes durch die Baumrinde Im letzten mythologischen Epigramm darstellt; (b) Epigramme brauchen unerwartete Pointen; (c) auf dem realen oder gedachten Gemälde kann die Verwandlung in Wasser oder in die Quelle, die ja schon vor seinem Tod vorhanden ist, kaum dargestellt gewesen sein, sehr wohl aber die in eine Blume; (d) AUSON. Parent 23,15f. apostrophiert ein verstorbenes Kind als ños und ephebus: quam tener et primo, nove flos, decerperis aevo, I nondum purpureas cinctus ephebe genas.

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Die Hylas-Epigramme des Ausonius 301

Der abschliessende Vers, die Pointe des Gedichts, macht vollends klar, dass es für Hylas kein menschliches Seelenleben nach dem Tod gibt (darauf deutet schon die Ersetzung seines Namens durch den all-gemeinen Ausdruck ephebus) und schon gar keines, das die im ersten Epigramm genannten Freuden einschlösse.

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