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Der Jude von New York

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Leseprobe aus dem avant-verlag

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Page 1: Der Jude von New York
Page 2: Der Jude von New York

Copyright © 1998 Ben KatchorCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 avant-verlag

Übersetzung & Buchgestaltung: Kai Pfeiffer

Page 3: Der Jude von New York

[ 1 ]

an einem lauen augustnachmittag im jahre 1830 treffen sich die herren pepsin und shadrach, gegenwärtig manager des “new world theater” mit ihrer künstlerischen belegschaft, um das repertoire für die kommende spielzeit festzulegen.

die wahl eines “indianischen” stücks wird dem bühnenbildner, mr. samson gergel, überlassen.

“das naturkind

oder

“tuscatomba”?

das shakespeare-stück der saison gehört zu den liebsten der her-ausragenden tragödin, mrs. jelmoth.

das “patriotische” stück wird eines aus der feder des musikalischen leiters sein, mr. pruinrose.

“macbeth”

“über den

wasserfall

und wieder

zurück”

über die komödie der saison gibt es keine diskussion. exemplare eines neuen stücks, “der jude von new york”, werden verteilt.

mr. gergel, einziger jude der kompanie, ist nur zu vertraut mit diesen “hebräischen” komödien.

er war es, der die zum brüllen komische szene “ankunft des messias” in dem dauerbrenner “unser jude vom ersten stock” inszenierte.

und so durchforscht er während der verbleiben-den tage dieses langen sommers das skript nach möglichkeiten für jene effekte, die daspublikum am meistenbegeistern werden.

Page 4: Der Jude von New York

[ 2 ]

an nämlichem augustnachmittag im jahre 1830 entsteigt ein stark nach tierblut und urin riechender mann dem dampfschiff aus albany.

er mietet ein zimmer für die nacht,

nathan

kishon

geht zurück zum schiff, um seine truhe zu holen

und versucht dann zu schlafen. vor seinem geistigen auge zieht eine prozession von militärkompanien und freimaurerverbänden vorbei, gefolgt von einer gestalt in einer mit hermelin besetzten richterrobe aus karmesinroter seide.

ein goldenes medaiLlon kennzeichnet diese gestalt als den gouverneur und richter von israel, mordecai m. noah.

ein trupp aus indianern und würdenträgern der regierung folgt ihm durch die hauptstrasse von buffalo, new york.

während die prozession eine kathedrale betritt, lässt eine blaskapelle den grossen marsch aus “judas makkabäus” erklingen, wovon er erwacht.

er verlässt das hotel, um sich einen flecken gras zum schlafen zu suchen.

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[ 3 ]

nach einer abendlichen versammlung des shearith batsal bestattungsver-eins ...

wandert isaac azarael, zwischenhändler in orientalischen knöpfen, zu den docks des nordhafens, um nach der ankunft eines bestimmten schiffes ausschau zu halten.

dreihundert

pfund

perlmutt z

u

vier cent

das

pfund ...

auf einem kleinen flecken gras vor dem hotel gibraltar sieht er eine schlafende gestalt, gewickelt in ein leintuch.

ein

nackter

indianer!

er erinnert sich an das bruchstück eines vortrags, den er einst angehört hatte.

sie alle

gleichen den

juden, in ihrer er-

scheinung wie ihrer

stimme, denn sie

haben grosse nasen

und sprechen

durch den

rachen ...

er examiniert das gesicht und findet eine vertraute anordnung der züge.

der arme

mann ... ohne

bett noch

kleidung ...

ein klipper gleitet leise stromaufwärts

und mr. azarael spurtet los, um einen blick auf den an seinen bug ge-malten namen zu erhaschen.

vielle

icht

die

“palam

abron”

Page 6: Der Jude von New York

[ 4 ]

samson gergel, bühnenbildner des “new world theater”, beendet die erstlektüre der neuen komödie für die kommende spielzeit ...

“der jude

von

new york”! das

ist nichts

weiter als e

ine

kaum verh

üllte

burleske ü

ber

das bisheri

ge

leben des

major

mordecai no

ah.

der schauspieler,

daizy, wird sich in eine

karikatur dieses

bedeutenden bürgers

verwandeln - ein

“schmierenmajor” mit einem

“ghettobuckel”, den man

noch von der höchsten loge

aus sehen kann. Für seine

patriotische hingabe

wird der protagonist

des opportunismus

bezichtigt ...

seiner

geistigen freizügigkeit

wegen ist er als lüstling

verschrien. die geschäfts

-

leitung hat völlig neue

szenerien angekündigt: ein

e

seeschlacht, ein tunesi-

sches landschafts-

panorama,

etc.

ich

kann nur

ver-

suchen,

den sinn

des publ

ikums fü

r

tiefere

wahrheite

n

durch me

in bühne

n-

bild zu

erwecke

n.

der rest

ist sac

he

der just

iz.

dreitausend dollar an

latten und gips wird

major noahs feinden

einen unterhaltsamen

theaterabend

verschaffen.

gergel geht zu seinem diwan zurück und imaginiert weiter, wie sich der vorhang hebt, um die für die erste szene des 1. akts eingerichtete bühne zu enthüllen ... eine strasse in philadelphia um 1789,

in der der schmierenmajor als dreijähriges kind gesehen haben will, wie der betagte benjamin franklin spazieren geführt wurde.

für den 2. akt, 2. szene, rekonstruiert gergel das chestnut street theater in phila-delphia um 1800, wo der schmieren-major als knabe seine lebenslange freundschaft mit dem theater begann.

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[ 5 ]

wie manch anderem vertreter seines berufsstandes, gelingt es dem schauspieler maynard daizy, aus der menge hervorzustechen, indem er sich mit einem überdimensionierten hut und einem gehrock in einem ungewöhnlichen blassgrünen farbton ausstattet.

wenn er sich gerade nicht auf der bühne befindet, verbringt er seine zeit in diversen öffentlichen speisesälen.

ich hole

die mahl-

zeiten nach,

die ich als

junger mann

versäumt

habe.

zwischen zwei löffeln schildkröten-suppe macht er sich einige gedanken zu seiner nächsten hauptrolle: dem schmierenmajor in der neuen komödie “der jude von new york”.

da gab es zum

einen gardiners

shylock in

philadelphia ...

ein motten-

zerfressener

exot direkt

aus dem alten

testament

und dann

zum anderen

morrays schlaf-

fer kleiner

bediensteter in

“unser jude vom

ersten stock”

im olympia

tatsächlich war daizy im richtigen leben lediglich zwei juden begegnet ...

diesem

hausierer in

albany ... ein

menschlicher

packesel

und samson

gergel, dem

bühnenbild-ner

die suppe

hier ist recht pikant.

danke,

aber ich habe

bereits ...

Page 8: Der Jude von New York

[ 6 ]

eine einzelne, drei pfund schwere zunge genügte als beweismittel, um nathan kishon der “arglisti-gen täuschung und sorglosen durchführung einer rituellen pflicht” für schuldig zu befinden.

ist

das

nun

fünf

jahre

her?

er war von einem schlachter namens spitz angestellt worden, um eine bestimmte anzahl an tieren für den juden-markt zu verarbeiten.

zusätzlich zu seinem lohn erhielt kishon die zungen der von ihm geschlachteten tiere.

den grossteil dieser organe verkaufte er sofort, zwecks aufbesserung seiner einkünfte.

der unterschied in färbung und konsistenz zwischen einer koscheren und einer nicht koscheren zunge ist offensichtlich.

wo haben

sie die

gekauft?

aber da die jüdische lehre sich in der stadt zu dieser zeit auf einem tiefpunkt befand,

bist

du

kishon,

der

shoykhet

?

wurden die zungen ohne unterschied in dasselbe fass geworfen, bis es voll war.

es war ein

spitzbübi-

scher

lieferjunge ..

.

der harmlose

streich eines

kindes ...

wie dem auch sei, “ein israelit, der sich am ritual versündigt hat, ist immer noch ein israelit.”

sie

wollen

mich meiner

existenz

berauben.

“ich bin es le

id,

eine nation v

on

sieben millione

n

menschen, reic

h

und intelligen

t,

durch die welt

wandern zu se

hen,

ohne eine hei

m-

statt, die si

e ihr

eigen nennen

könn-

ten, und die

der

wiederherstell

ung

eines vergang

enen

landes trach

ten, das

nicht einmal eine

m

achtel raum böte,

wenn sie es mor-

gen wiedererlangen

würden.”

Page 9: Der Jude von New York

[ 7 ]

ein mann in einem wasserdichten gummianzug wandert am ufer des north river entlang ...

“der 1.

grund für die

schlussfolgerung,

dass die indiani-

schen stämme

hebräischen

ursprungs

sind ...”

und liest sich selbst aus einer feuchten, alten broschüre vor.

“... liegt

in ihrem

glauben an

die

symbolische

reinigung d

urch

das wasser

: die

bewohner utic

ans

gaben dem wasser

,

mit dem sie i

hre

kinder tau

ften, die

bezeichnung

wasser

der erneue

rung.”

“die

indianer

von utican

beschworen

ihn, den sie

für den wahren

und lebend

igen

gott hielte

n, und

von dem sie k

ein

götzenbild

fer-

tigten.”

“der 2

.

grund

für

die an

nahme,

dass es

sich be

i

der rel

igion de

r

indiane

r um j

uda-

ismus ha

ndelt,

ist

ihr geb

rauch d

er

beschn

eidung.”

“3.,

dass sie

einen

messias er-

warteten.” “der

4.,

dass vie

le

der mit

der

ausübung

ihrer

religiös

en riten

verknüpf

ten

wörter of

fensicht

-

lich aus

dem he-

bräische

n abgele

itet

sind.”

“5., d

ass

las

casas,

der bis

chof v

on

chiapa

diese

ansich

t teilt

e,

der üb

er die b

esten

mittel

verfü

gte, um

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tatsac

he

nach

zuweise

n.”

“6. dass

die jud

en

selbst, e

inige

der bedeu

tendsten

rabbiner

wie

menasse be

n israel

und monte

sinos

eingeschlo

ssen, es

in

verbalen

verlaut

bah-

rungen so

wie

schriftli

ch behaup

tet

haben.”

da ist ein

kleines le

ck in

meinem anz

ug.

wahrschein

lich auf-

grund ein

es fehlers

an diesem

wasser-

dichten pe

rlmutt-

knopf.

Page 10: Der Jude von New York

[ 8 ]

isaac azarael, ein zwischen-händler in orientalischen knöpfen, wartet ungeduldig auf die ankunft der “palambron”.

zwei

tage

verspä-

tung

ihm fällt ein mann auf, den eine vollständige reihe perlmuttknöpfe ziert.

ich

befürchte

dasschlimm-

ste

“der 7. ist

die ähnlich-

keit vieler

zeremonien

und rituale

der indianer

mit denen der

juden.”

“der 8. sind

die überein-

stimmungen,

die man

zwischen den

indianischen

und hebräischen

moralgesetzen

findet.”

einentotal-verlust

“der 9. ist

die den mexi-

kanischen und

peruanischen

traditionen

entnommene

erkenntnis, dass

die indianer über

das

im pentateuch

enthaltene gesch

icht-

liche wissen

verfügten.”

“10. die spuren

jüdischer

geschichte,

traditionen,

gesetze, gewohn-

heiten, sitten,

die in mexikanischen

malereien zu

finden

sind.”

auf der anderen seite des flusses,

“11. die häufigkeit

von opferritualen

unter den indianern,

und die religiöse

weihung des blutes

und des fetts

der opfer.”

in einer derben kneipe,

“12. der

architektonische

stil ihrer tempel.”

trinkt ein indianer ein glas whisky.

“und zum 13. die

fransen, welche die

indianer an ihrer

oberbekleidung

tragen.”

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DIE ZEHN STÄMME ISRAELSHistorisch erkannt als die Urbevölkerung der westli-

chen Hemisphäre, von Mrs. Simon“Siehe, ich war allein gelassen – wo waren denn

diese?”Jesaja XLIX. 21.

Herausgegeben von der Gesellschaft zur Rückführung der israelitischen Völker

Corner Street, London 1830

Misteralls Charaktere & Szenen in DER JUDE VON NEW YORK, entnommen der Komödie vonProf. V. Solidus mit einem ausdrücklich für obiges Stück verfassten Buch8 Tafeln der Charaktere, 36 Szenen und Bühnen-Situationen

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DER JUDE VON NEW YORKBesessen von einer utopischen Vision rief Mordecai Noah, ein New Yorker Politiker und Ama-

teudramatiker im Jahre 1825 alle verlorenen Stämme Israels auf, sich zu einer Insel nahe Buffalos zu begeben, mit der Hoffnung, so einen jüdischen Staat zu errichten. Sein fehl geschlagener Plan, eine bloße Fussnote der jüdisch-amerikanischen Geschichte, ist der Ausgangspunkt für Ben Katchors bril-liant imaginiertes Epos, das sich einige Jahre später auf den Strassen New Yorks entfaltet.

Ein in Ungnade gefallener koscherer Schlachter, ein Importeur religiöser Artikel und Strumpf-waren für Damen, ein Pilger, der mit Erde aus dem Gelobten Land hausieren geht, ein moderner Kabbalist, ein Mann mit dem Plan, den Erie-See mit Kohlensäure zu versetzen – dies sind nur einige der Charaktere, die sich durch Katchors Universum bewegen, und deren Lebenswege sich miteinander verknüpfen in dem ihnen gemeinen Bemühen, einen Platz in der Neuen Welt zu fi nden, eben als diese einem wirtschaftlichen Rausch verfällt, der unsere Helden genauso leicht in die Zukunft tragen, wie bankrott zurücklassen kann.

PRESSESTIMMEN“Katchors Karneval eines neunzehnten Jahrhunderts voller Geschäftemacher, Pilger und Kab-

balisten ist ein wahres Vergnügen: Man spürt, dass dies ein Werk einzigartiger, surrealer Vision ist, und zugleich glaubt man, dass alles davon wahr sein muss.” – The New Yorker

“Katchors Bildfi ndungen eignet eine magische Qualität, die »Der Jude von New York« über die Welt unserer Vorväter hinaus ins Reich zeitloser Fiktion trägt.” – The Village Voice

BEN KATCHORBen Katchor schreibt seit Beginn der achtziger Jahre in Bildern, und dies fast ausschließlich über

die Stadt, in der er lebt und arbeitet: New York. Während Katchor selbst diese Stadt wohl wie kein Zweiter bis in ihre ephemersten Details kennt, so ist doch jede seiner Comic-Seiten Neuland für ihn und den Leser, denn Katchors gezeichnetes New York unterliegt einer subtilen Verschiebung, die es zu einem objektiv surrealen, zugleich aber ganz alltäglich und vertraut wirkenden Ort machen. Ben Katchors Comics sind eine geträumte Dokumentation.

Die Gesamtheit seiner Bildliteratur veröffentlicht er zunächst in meist wöchentlichen Comic Strip-Serien mit Titeln wie »Julius Knipl«, »The Cardboard Valise«, »Hotel & Farm«, oder »Shoe-horn Technique«. Teile von ihnen sind in den Büchern »Cheap Novelties: The Pleasures of Urban Decay«, »Julius Knipl, Real Estate Photographer« und »The Beauty Supply District« gesammelt erschienen.

Neben seinen Comics schrieb er die Musiktheater-Stücke »The Slug Bearers of Kayrol Island, or, The Friends of Dr. Rushower«, sowie »The Carbon Copy Building« und »The Rosenbach Company«, für die er auch jeweils das Bühnenbild entwarf.

In der ersten Ausgabe der Anthologiereihe »Plaque« (avant-verlag) fi nden sich ein Interview mit Ben Katchor, sowie ein Auswahl an Strips seiner Serie »Hotel & Farm«.

Erscheint Frühjahr 2009www.avant-verlag.de