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24 spiegel special geschichte 3 | 2008 DER KAMPF DER SYSTEME SIEGER UND BESIEGTE Noch feiern die Welt- kriegs-Verbündeten ge- meinsam: Im zerstörten Berlin sind britische Solda- ten zur Verleihung eines Ordens an zwei hohe Sowjet-Militärs angetreten.

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SIEGER UND BESIEGTENoch feiern die Welt-kriegs-Verbündeten ge-meinsam: Im zerstörtenBerlin sind britische Solda-ten zur Verleihung einesOrdens an zwei hohe Sowjet-Militärs angetreten.

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GLÜCK IMUNGLÜCK

Die Konturen der großen Konfrontationzwischen Ost und West zeichneten sich

schon ab, als die Supermächte noch gegenHitler verbündet waren. Das besiegte

Deutschland lag auch im Zentrum desNachkriegsdramas – und machte in seinemwestlichen Teil unter Führung von Kanzler

Adenauer aus der Not eine Tugend.

Von Georg Bönisch

Der „Alte von Rhöndorf“, wie seine Untertanen ihn mit an-hänglichem Respekt nannten, war ein gewiefter Politiker. Da-bei war Konrad Adenauer nicht gerade ein Meister zise-lierter Rede. „Je einfacher denken“, sagte er einmal, „ist oft

eine wertvolle Gabe Gottes.“ Intellektuelle mögen sich geschüttelt haben ob dieser Sprachschnitzerei. Das einfache Volk verstand.

Es verstand, dass es mit Adenauer aufwärtsging – und aufwärts hießwestwärts, einfach gedacht.

Es verstand wohl auch, dass sich die Bundesrepublik ohne Ade-nauer vermutlich anders entwickelt hätte. Vielleicht früh wieder-vereinigt, aber dann nur zu den Bedingungen Moskaus. Oder auch wieÖsterreich: zwar nach Westen orientiert, aber neutral.

Eines aber begriffen die meisten Menschen nicht: dass ihr Kanzler nurwenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der totalenNiederlage, nach der völligen moralischen Diskreditierung durch dieVerbrechen des Hitler-Regimes, davon sprach, dass das Land wieder Sol-daten brauche.

Seine Berater auf diesem Politikfeld, allesamt und zwangsläufig hohe Offiziere der aufgeriebenen Wehrmacht, errechneten ihm schon die notwendige Kopfstärke, ehrgeizig wie in früherer Zeit. Fechten war zwar offiziell noch verboten, weil diese Sportart als „militä-risch“ galt, genauso wie das Segelfliegen. Aber Adenauer, der nie als Soldat gedient hatte (und dem als bekennendem Rheinländer ei-gentlich auch die Neigung dazu hätte völlig abgehen müssen), trieb die Planungen für den Aufbau einer Armee zügig voran. Er scheute sich nicht, solcherlei Arbeit einer kleinen Behörde zu übertragen, die eine Art Tarnnamen trug: „Zentrale für Heimatdienst“, „ZfH“. Sol-

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CHRONIK 1945–1949

17. Juli bis 2. August 1945 In Potsdam einigensich die Siegermächte USA, Sowjetunion undGroßbritannien auf Grundsätze ihrer Besatzungs-politik in Deutschland (Teilung, Demilitarisierung,Reparationen, Umgang mit Kriegsverbrechern).Frankreich stimmt später dem Abkommen unterVorbehalt zu.

6. und 9. August 1945 Amerikanische Atom-bomben zerstören Hiroshima und Nagasaki und töten dabei bis Ende des Jahres etwa 140000 Men-schen.

9. Februar 1946 Sowjet-Diktator Stalin spricht öffentlich vom fortdauernden Antagonismus zwi-schen Kapitalismus und Kommunismus, der erstmit dem weltweiten kommunistischen Triumphüberwunden werden könne. Das US-Nachrichten-magazin „Time“ nennt dies „die kriegerischsteÄußerung irgendeines führenden Staatsmannes“seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Hiroshima nach der Zündung der Atombombe

22. Februar 1946 US-Diplomat George F. Kennan schickt aus Moskau das „Lange Telegramm“an seine Regierung, das die sowjetische Politik seitKriegsende analysiert und die Außenpolitik von Prä-sident Harry S. Truman stark beeinflusst. Kernsatz:„Der Weltkommunismus ist ein bösartiger Parasit,der sich nur noch von krankem Gewebe ernährt.“

5. März 1946 Winston Churchill prägt in einerRede in Fulton, Missouri, das berühmte Sprachbildvom „Eisernen Vorhang“, der Europa von derOstsee bis zur Adria teile.

April bis Juli 1946 Bei der zweiten Außenminis-terkonferenz über Deutschland in Paris schlägt US-Außenminister James Byrnes den wirtschaftlichenZusammenschluss der vier Besatzungszonen vor.Sowjet-Außenminister Wjatscheslaw Molotow be-

harrt auf den Reparationsansprüchen seiner Regie-rung und führt mit der Abreise seiner Delegationden Abbruch der Konferenz herbei.

Januar 1947 Die amerikanische und die britischeBesatzungszone vereinigen sich zur Bizone undbilden den Kern der späteren Bundesrepublik.

12. März 1947 In einer Grundsatzrede ver-kündet Präsident Truman die später sogenannteTruman-Doktrin: Die USA bieten vom Kommunis-mus bedrohten Staaten wie Griechenland undTürkei Hilfe an.

5. Juni 1947 Der „Marshallplan“ für den Wieder-aufbau Europas wird angekündigt. Die UdSSRlehnt ihn ab und zwingt auch Polen und die —SSRdazu.

30. September 1947 Gründung des Kommu-nistischen Informationsbüros (Kominform) im polnischen Szklarska Poreba.

Februar 1948 Kommunistischer Umsturz in derTschechoslowakei.

Juni 1948 Mit dem Ausschluss der KP Jugo-slawiens aus dem Kominform wird der Bruchzwischen den Parteichefs Tito und Stalin offiziell –der erste Riss im Ostblock ist da.

24. Juni 1948 Die Sowjetunion reagiert auf dieWährungsreform in den Westsektoren mit einerBlockade Berlins zu Lande und zu Wasser. ZweiTage später beginnt die britisch-amerikanischeLuftbrücke, die West-Berlin bis zur Aufhebung derBlockade im Mai 1949 aus der Luft versorgt.

August/September 1948 Im Süden der korea-nischen Halbinsel ruft Syngman Rhee die RepublikKorea, im Norden Kim Il Sung die DemokratischeVolksrepublik Korea aus.

4. April 1949 In Washington wird der Nato-Ver-trag unterzeichnet.

23. Mai 1949 Mit der Verkündung des Grund-gesetzes wird die Bundesrepublik Deutschland gegründet.

29. August 1949 Erste erfolgreiche Zündungeiner sowjetischen Atombombe.

1. Oktober 1949 In China ruft Mao Zedongnach dem Sieg der Kommunisten im Bürgerkriegdie Volksrepublik aus.

7. Oktober 1949 Gründung der DDR.

SPALTUNG DER WELT

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che Camouflage ist sonst nur bei Geheimdienstenüblich.

Und der Christdemokrat schmetterte jedwede Kri-tik ab – wenn es ihm nötig schien, auch mit rechtmarkigen Worten. Deutschland, teilte er im Septem-ber 1950 „vertraulich“ einer nordrhein-westfälischenLandtagsabgeordneten und Parteifreundin mit, dür-fe „selbstverständlich ... nicht irgendwie zur Ver-größerung der Kriegsgefahr beitragen“. Doch „so,wie die Dinge jetzt liegen“, nämlich ohne eigeneVerteidigung, „reizen wir geradezu und fordern dieSowjetregierung und die Ostzonenregierung auf, un-ser Land in Besitz zu nehmen“.

Die CDU-Dame, die sich ihm als „eingeschriebenerPazifist seit 1924“ vorgestellt und Neutralität eingefor-dert hatte, wurde von Adenauer auch über die schreck-lichen Folgen eines Ost-Griffs nach dem Westen be-lehrt: Dann würden „unsere Männer in die Armee ge-presst oder ebenso wie Frauen und Kinder zur Arbeitabtransportiert“. Neutralität, mahnte er, könne einLand „nur dann bewahren, wenn es stark genug ist, dieNeutralität gegenüber jedermann zu verteidigen, sonstbleibt diese Neutralität auf dem Papier“.

Schon in seiner ersten Grundsatzrede als Vorsit-zender der CDU in der britischen Besatzungszone,am 24. März 1946, hatte Adenauer konstatiert, Staatund Macht seien untrennbar verbunden, und Machtzeige sich am „sinnfälligsten und eindrucksvollsten“im Heer. Dieser Ton musste den Strategen der US-Armee durchaus gefallen haben. Denn sie spieltenschon früh mit dem Gedanken, Deutschland schnellin ein westeuropäisches Sicherheitssystem zu inte-grieren.

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Offiziell freilich hieß es jedoch, man wolle die seitden Tagen der Potsdamer Konferenz vereinbartePolitik der Entmilitarisierung energisch weitertrei-ben. Nach außen zürnten die Amerikaner deshalb,als Kanzler Adenauer, etwa in einem Interview mitder französischen Zeitung „L’Est Républicain“, dieBereitschaft erklärte, einen deutschen Beitrag zurVerteidigung Westeuropas leisten zu wollen.

Für den CDU-Vormann bedeutete der „insgehei-me Sinneswandel“ (so der Publizist André Uzulis)der Amerikaner die große Chance, der Bundesrepu-blik in der internationalen Politik eine stärkere Position zu verschaffen – eben mit Hilfe von Streit-kräften. Wichtig war ihmeine eigenständige deut-sche Beteiligung, wie im-mer diese auch aussehenmochte, in einem mi-litärisch wirkungsvollen,geschlossen agierendenwestlichen Bündnis.

Schon das „DeutscheBüro für Friedensfra-gen“– so eine ebenfallsin die Irre führendeAmtsbezeichnung – hat-te sich seit 1947 mit derWiederbewaffnung be-fasst. Dabei war es offi-ziell seine Aufgabe, dieAlliierten zum Beispielbei der Entnazifizierungzu unterstützen. Und der

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WIEDERBEWAFFNUNGIn Andernach üben Solda-ten der gerade neu gegrün-deten Bundeswehr im März1956 an einem ausgedien-ten amerikanischen Panzer.

VERBÜNDETEIm Juni 1956 trifft deramerikanische PräsidentHarry S. Truman in BonnKanzler Konrad Adenauer.

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Chef der Zentrale für Heimatdienst, der Panzer-truppen-General a.D. Gerhard Graf von Schwerin,durfte ganz offen agieren. Ihm schwebte als Kern einer künftigen Armee eine Art „mobile Bundes-gendarmerie“ vor, die im „nationalen Notfall“ – ge-dacht war an einen Überfall sowjetischer Truppen aufWestdeutschland – invasionsgefährdete Zonen eva-kuieren oder Aufstände niederschlagen sollte.

Natürlich sei es sinnvoller, führte der ZfH-Leiter ineinem Memorandum aus, „10 bis 12“ Panzerdivisio-nen aufzustellen, schon der Feuerkraft wegen. Exakt12 Divisionen war die spätere Bundeswehr stark.

Nur wenige Wochen nach Schwerins Vorschlagbrach der Korea-Krieg aus. Zwar unterstützte Mos-kau lediglich den kommunistischen Norden des Lan-des im Kampf gegen den Süden, dem wiederum Wa-

shington half. Doch weil die Sorge umging, dieKreml-Einmischung könne den dritten Weltkrieg aus-lösen, galt nun plötzlich als beschlossen, was bis da-hin nur diskret auf informeller Ebene verhandeltworden war: Soldaten für Deutschland – für einLand, das genau im Zentrum der ideologisch-politi-schen Konfrontation des Kalten Krieges lag.

Damit war zugleich jener Weg der Deutschen zuEnde, den Historiker als außen- und innenpolitischen„Sonderweg“ beschrieben haben.

Einerseits ist damit der bewusste Verzicht auf Nähezum Westen gemeint. Die schien schon wegen derTraditionsfeindschaft zum unmittelbaren NachbarnFrankreich problematisch. Thomas Mann unterstelltein seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ sogareine Sympathie Deutschlands für das „ungefüge Russ-

KONFERENZ VON JALTAIm Seebad Jalta auf derHalbinsel Krim einigen sich im Februar 1945 derbritische Premier WinstonChurchill, US-PräsidentFranklin D. Roosevelt undder sowjetische DiktatorJosef Stalin auf eine Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen.

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land“. Andererseits hatteder Kurs gegen die bür-gerlichen Demokratiendes Westens in Deutsch-land obrigkeitsstaatlicheEntwicklungen befördert– und so alle früheren Be-strebungen zunichte ge-macht, die auf eine stabi-le parlamentarische De-mokratie zielten.

So gesehen, schreibtder Zeitgeschichtler Man-fred Görtemaker, sei Ade-nauer „kein einsamerPrediger in der Wüste“gewesen, sondern nur der„wirkungsmächtigste Ex-ponent“ neuen Denkens– nämlich der Rückkehrin die Gemeinschaft West-europas. Diese Rückkehrsei maßgeblich beschleu-nigt worden durch denKonflikt der Supermächteund die amerikanischeOfferte, Deutschland mitviel Geld wieder „zu ei-nem ehrenvollen Platz un-ter den freien und fried-liebenden Nationen“ zuverhelfen: es einzubezie-hen in den europäischenWiederaufbau.

Insofern ergab sichaus dem Unglück desKalten Krieges für diejunge BundesrepublikDeutschland, obwohl siedie Konfrontation derSupermächte unmittel-barer als viele andereStaaten zu spüren be-kam, auch eine einzigar-tige historische Chance.

Dass diese Chance genutzt wurde, warDeutschlands Glück imUnglück des Kalten Krie-ges.

Dessen Konturen hat-ten sich bereits abge-

zeichnet, als Amerikaner, Briten und Russen nochvereint Hitlers Reich des Bösen bekämpften. Der ers-te Termin für die Planung eines konzertierten Vor-gehens fand Mitte Januar 1943 in der marokkani-schen Metropole Casablanca statt. Stalin freilich bliebin der Sowjetunion, die er nicht einmal für einen Tagglaubte allein lassen zu können – deshalb beschlossenUS-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britischePremierminister Winston Churchill als Duo, Hitler-Deutschland niederzuringen, bis zur bedingungslosenKapitulation, „unconditional surrender“.

Zehn Monate später folgte die Konferenz von Te-heran, diesmal mit Stalin. Herauskam, dass nicht nurdie militärischen Anstrengungen in Ost und in Westerheblich forciert, sondern auch über die Zukunftdes besiegten Deutschland nachgedacht werden

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solle. Das Ergebnis war der Tei-lungsplan.

Aber die Großen drei, wieRoosevelt, Stalin und Churchillnunmehr hießen, sprachen auchüber Polen, dessen Grenze Rich-tung Westen verschoben werdenkönnte. Und der sowjetische Gene-ralissimus stellte in Aussicht, denAmerikanern bei deren Kampf ge-gen die Japaner zu helfen. Der fran-zösische Publizist Raymond Cartierresümierte, man habe sich getrenntals „Freunde, die durch die ge-meinsame Sache, die gemeinsameGesinnung und das gemeinsameZiel verbunden“ gewesen seien.

Er irrte. Eine Solidargemein-schaft dieser Art hat es nie gege-ben. Wenn sie im Ansatz vorhan-den gewesen sein sollte, dannnutzte sie sich schnell ab.

Das wurde bei der Konferenzvon Moskau im Oktober 1944deutlich. Auf diesem Gipfel fehlteRoosevelt, ihn vertrat sein hart-leibiger Botschafter in der So-wjetunion, Averell Harriman. UndChurchill verhandelte in eige-ner Sache, „nach Art imperialerMachtpolitik“ vergangener Zeiten– so der Kölner Historiker JostDülffer. Um Demokratie oder dasRecht auf Selbstbestimmung ginges da am wenigsten. Auf einemSchmierzettel notierte Churchillzum Beispiel die ihm nützlich er-scheinende Aufteilung des Bal-kans: Rumänien – 90 Prozent so-wjetischer Einfluss, Bulgarien – 75Prozent, Jugoslawien – 50 Prozent.

Griechenland hingegen sollte,umgekehrt proportional zu Rumä-nien, nur zu 10 Prozent unterMoskaus Einfluss und zu 90 Pro-zent unter dem Englands stehen.Bei Polen waren sich der britischePremier und Stalin nicht einig, esschien so, als liefe alles auf eineFifty-fifty-Regelung hinaus. Das le-gendär gewordene Papier, auf demChurchill wie ein BasarhändlerStalins künftiges Machtgebiet skiz-zierte, ist bis heute erhalten – einebenso groteskes wie folgen-schweres Dokument alliierter Sie-gergeschichte.

Formal gesehen hatten solche Abmachungen kei-nerlei Bindewirkung. Politisch jedoch waren sie ernstgemeint. Und ihr tieferer Sinn für Churchill lag aufder Hand: Er wollte Großbritannien im Mittelmeer-raum, an der südlichen Flanke Europas, gehörig Ein-fluss verschaffen. Das konzedierte Stalin gern, daChurchill im Gegenzug mit den kleineren Nationen,an denen er machtpolitisch kein Interesse hatte, um-sprang wie mit minderjährigen Internatsschülern.„Der Adler“, sagte er in der ihm eigenen, blumi-gen Sprache, sollte „die kleinen Vögel ruhig singen

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VERTREIBUNGNach Kriegsende werdendie Deutschen aus derTschechoslowakei ver-trieben. Der Straßenrandwird zur Schlafstätte, inlangen Trecks ziehen dieMenschen nach Westen.

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lassen und sich nicht darum kümmern, weshalb siesingen“.

Auf bilateraler Ebene konnte die Welt allerdingsnicht neu aufgeteilt werden. Entscheidend war, wasder mächtigste Mann auf dem Erdball zu sagen hatte – Roosevelt. Schon im Sommer 1944 hatte deramerikanische Präsident den schnauzbärtigen So-wjetführer aufgefordert, endlich konstruktiv an derZukunft mitzubauen. Nach langem Tauziehen überden Schauplatz der nächsten Sieger-Konferenz setz-te Stalin Jalta durch, den einstigen Nobelkurort derZaren auf der Krim. Dort wachsen Palmen und Zy-pressen – und auf dem Weg nach Jalta konnte je-dermann sehen, was die Truppen Hitlers auf ihremMarsch Richtung Osten angerichtet hatten: Tod undVerwüstung.

Schon in Jalta wurde im Februar 1945 beschlossen,was wenige Monate später auf der Konferenz vonPotsdam förmlich abgesegnet wurde: DeutschlandsAufteilung in vier Besatzungszonen. Churchill freilichmachte sich Sorgen um die Deutschen – weniger alsmitfühlender Zeitgenosse denn als Ökonom. DieRussen bestanden nämlich auf Reparationen in Mil-liardenhöhe. Das Land wäre ausgeblutet. Der Britewandte ein: „Wenn man ein Pferd reiten will, mussman es mit Heu und Hafer füttern.“ Stalin entgeg-nete: „Das Pferd darf uns nicht angreifen.“ Er hegtedie Befürchtung, ein aufgepäppeltes Deutschlandkönnte schnell wieder gefährlich werden.

Im Wortgeplänkel zweier Gewinner des Kriegeswar bereits angelegt, was bald zur Spaltung Deutsch-lands und der Welt führte – und bei den Super-

NATO-TREFFENIm Pariser Palais de Chaillottreffen sich im Oktober1954 Vertreter der 14 Nato-Staaten und gebenihr Einverständnis, dass dieBundesrepublik Deutsch-land als neues Mitglied in das Militärbündnisaufgenommen wird.

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mächten einen langjährigen, oft dramatischen „Me-chanismus wechselseitiger Fehlwahrnehmungen“ (soder Historiker Wilfried Loth) in Gang setzte.

In Jalta wollten die Siegermächte der Welt ge-meinsam eine neue Ordnung geben. Tatsächlich wur-de ein Grundkonsens über eine künftige Völker-gemeinschaft erreicht, aus dem die Uno hervorging.Am weiteren Verlauf der Geschichte änderte dieseOrganisation aber keinen Deut. Denn die von Sie-germächten und künftigen Weltpolizisten formulier-te „Erklärung über das befreite Europa“ war bereitsbei der schriftlichen Ausfertigung Makulatur. Dashier verbriefte Bekenntnis zum Recht aller Völker,„sich die Regierungsform, unter der sie leben wer-den, selbst zu wählen“, war angesichts der vollzoge-nen Aufteilung der Machtsphären rein rhetorischerNatur und kaum mehr einlösbar.

Wissenschaftler streiten darüber, ob bereits in Jalta, also noch vor dem Ende des „heißen“ Krieges,oder erst später die Welt endgültig geteilt und die Kon-frontation des „kalten“ Krieges determiniert wurde.Der Gedanke einer „friedlichen Koexistenz“ von Ka-pitalismus und Kommunismus, argumentiert etwa derHistoriker Dülffer, sei nicht von vornherein aussichts-los gewesen. Zur Eskalation und „zum Auseinander-leben der vormaligen Anti-Hitler-Koalition“ sei es erstüber „die vielfältigen konkreten politischen Ausle-gungsfragen“ gekommen. Eine Rolle spielte auch derfrühe Tod Roosevelts, der Verfechter einer Koopera-tionspolitik war und Konfrontation eher scheute.

Sein Nachfolger Harry S. Truman war von ande-rem Kaliber. Die Ausbreitung des Kommunismus inEuropa wollte er unbedingt verhindern. Stalin hattein Jalta vieles kassiert – halb Polen beispielsweise,dazu weite Teile Ostpreußens, Rumäniens, Finnlandsund der Tschechoslowakei. So wurden etwa 85 Mil-lionen Menschen zwangsweise Sowjetbürger. Dieweitere Expansion jenseits einer gedachten Liniezwischen Stettin und Triest schien nur eine Frageder Zeit sein. Karl Marx hatte diese Linie schon einJahrhundert zuvor als quasi natürliche WestgrenzeRusslands beschrieben, und Churchill sollte sie baldden „Eisernen Vorhang“ nennen.

Aus Sicht aller Gegner Stalins war in der Mitte deseuropäischen Kontinents und an dessen Peripherieein dramatisches Machtvakuum entstanden. Sie be-fürchteten, dass es das oberste Ziel der Sowjets sei,ihre Herrschaft in diesem Vakuum zu verankern.

Erst einmal mussten sich die Alliierten auf ihrerletzten Gipfelkonferenz, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 in Potsdam stattfand, über das end-gültige Schicksal jenes Landes klarwerden, das genauinmitten dieses Vakuums lag – Deutschland. Kurzzuvor hatten die vier Oberbefehlshaber der Sieger-mächte, zu denen nun auch Frankreich gehörte, dieNiederlage Deutschlands für völkerrechtlich ver-bindlich erklärt und die „Übernahme der Regie-rungsgewalt“ proklamiert.

Potsdam, der symbolische Ort preußischen Sol-datentums, fixierte nicht nur die gemeinsame Politikgegenüber Deutschland, die als D-Programm be-kannt geworden ist – Demilitarisierung, Denazifizie-rung, Demokratisierung, Dezentralisierung, Deindu-strialisierung. In Potsdam wurde auch die Vertrei-bung von Millionen Deutschen aus den Ostgebietenbeschlossen. Aber es ging nicht nur um ein Maß-nahmenpaket gegen den Kriegsverlierer. Potsdamsteht auch für etwas anderes: für den Beginn der öf-

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fentlichen Kollision zwischen östlicher Macht undwestlichen Mächten.

„Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Rus-sen regieren zu wollen, ist ein Wahn“, donnerte derUS-Diplomat George Kennan. Schließlich seien dieAmerikaner im besiegten Land die „Konkurrentender Russen“. Ein „ebensolcher Wahn“ sei es zu glau-ben, die Alliierten könnten sich „eines schönen Tages höflich zurückziehen“ und dann werde ausder Asche ein „gesundes und friedliches, stabilesund freundliches Deutschland steigen“.

Kennan plädierte konsequenterweise dafür, dieWestzonen schnell „zu einer Form von Unabhängig-keit zu führen, die so befriedigend, so gesichert, soüberlegen ist, dass der Osten sie nicht gefährden“könne. Konrad Adenauer pflichtete ihm bei, wenn erauch der Sache eine etwas andere Wendung gab.Vor ausländischen Pressevertretern sagte er am 9. Oktober 1945: „Der von Russland besetzte Teil(ist) für eine nicht zu schätzende Zeit für Deutsch-land verloren.“ Und Londons Premier Churchill er-kannte, ganz Pragmatiker: „Wie die Dinge gegen-wärtig stehen, sind zwei Deutschlands im Entstehen– das eine mehr oder weniger organisiert nach demrussischen Modell bzw. im russischen Interesse, dasandere nach dem der westlichen Demokratie.“

Während US-Außenminister James Byrnes immernoch für die Bereitschaft zu Kompromissen mit Mos-kau warb, erklärte ihmPräsident Truman, er ha-be es satt, die „Sowjetsin Watte zu packen“.Byrnes’ französischerAmtskollege GeorgesBidault riet diesem ernst-haft, gegenüber dem Os-ten wirklich Standhaf-tigkeit zu zeigen – sonstwerde man „bald die Ko-saken auf der Place de laConcorde“ haben.

Wie nötig aus west-licher Sicht die Politikder „Eindämmung“desKommunismus war, dienun als strategischeLeitlinie galt, zeigt sichan zwei Beispielen. AlsWashington ein knap-pes Jahr nach Potsdameine Lockerung derZwangsmaßnahmen inDeutschland anregte,um dessen Bürgerneine schnellere wirt-schaftliche Entwicklungzu ermöglichen, lehnte Moskau dies strikt ab.Die Regierungen derUSA und Großbritanniens werteten das als Indiz,dass – so der Historiker Gerhard Wettig – „das so-wjetische Verlangen nach gründlicher Entmilitarisie-rung Deutschlands nichts als ein Vorwand war, derdie Verfolgung kommunistischer Ziele kaschierte“.

Kurz zuvor hatte Stalin in einer Rede die fortdau-ernde Konfrontation zwischen Kapitalismus und Kom-munismus beschworen und betont, sie werde so langeneue Kriege hervorbringen, bis der Kommunismus

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„Kalter Krieg“Als Urheber desBegriffs gilt der Finanz-fachmann BernardBaruch, der die US-Präsidenten WoodrowWilson, Franklin D.Roosevelt, Harry S.Truman und den briti-schen Premier WinstonChurchill beriet. ImApril 1947 sagte er inColumbia: „Lassen wiruns nicht täuschen –heute befinden wir unsmitten in einem kaltenKrieg.“ Die Formulie-rung wurde dannweiterverbreitet durcheine Broschüre des US-Publizisten WalterLippmann. Ihr Titel:„Der Kalte Krieg“.

KOMMUNISTENFURCHTAuf Plakaten wurde in denfünfziger Jahren für dieWiederbewaffnung Deutsch-lands geworben. Andern-falls würde der Kommunis-mus – hier dargestellt als rote Flut – auch nachWesten vordringen.

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den Kapitalismus als weltwirtschaftliche Organisations-form abgelöst habe. Beobachter verstanden das alsHinweis auf „weltrevolutionäre“ Eroberungsabsichten.

Die Tonlage verschärfte sich noch. „Die kommu-nistischen Parteien suchen überall totalitäre Gewaltzu erhalten“, konstatierte Churchill 1946 bei seinerberühmten Rede über den Eisernen Vorhang, derenInhalt mit führenden amerikanischen Politikern ab-gestimmt war. Stalin beschimpfte den Briten deshalbals Rassisten, ja als „neuen Hitler“.

Kein Zweifel: Die westliche Welt fühlte sich bedrohtvon sowjetischen Expansionsgelüsten. Schnell hattensich die im Osten teils gewaltsam eingerichteten Volks-demokratien zu kommunistisch geprägten Satelliten-staaten entwickelt. Zur Macht der Apparate, die Stalinaufbot, gehörten nicht nur einflussreiche, in seinemSinne aufgebaute politische Organisationen wie die So-zialistische EinheitsparteiDeutschlands (SED), zuder in der SowjetischenBesatzungszone schon imApril 1946 KPD und SPDzwangsvereinigt wordenwaren. Der Sowjetherr-scher plante auch, an derWestgrenze seines neuenImperiums ebenso militä-rische Strukturen aufzu-bauen, wie es seine poten-tiellen Gegner an ihrerOstgrenze vorhatten.

Aus Sicht von Mos-kau-Kritikern wie Ken-nan („Der Weltkommu-nismus ist ein bösartigerParasit, der sich nur nochvon krankem Gewebeernährt“) gingen die so-wjetischen Einflusszonenlängst weit über Osteuro-

pa hinaus. In einem Dossier, das seine Argumenteund Analysen zusammenfasste, figurierten die Türkei,Iran und die Mandschurei als von „kommunistischerVerseuchung infiziert“, Saudi-Arabien, Ägypten, Af-ghanistan und Indien als „gefährdet“. Die USA soll-ten mit militärischer Stärke und Wirtschaftshilfe fürdie als gefährdet eingestuften Regionen reagieren.

Genau dies taten US-Präsident Truman und seinAußenminister George Marshall. „Zum gegenwärti-gen Zeitpunkt der Weltgeschichte muss fast jede Nation zwischen alternativen Lebensformen wählen.Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei“, sagte Truman am12. März 1947 vor beiden Häusern des US-Kongresses.„Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staa-ten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der an-gestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minder-heiten oder durch äußeren Druck widersetzen.“

Die Forderung nachweltweitem Kampf ge-gen den Kommunis-mus unter Führung derSchutzmacht USA wur-de als „Truman-Doktrin“bekannt. Als erste Län-der waren die Türkei und Griechenland davonbetroffen. Beide Län-der sollten stabilisiertwerden, um ein befürch-tetes Vorrücken Mos-kauer Truppen ans Mit-telmeer zu verhindern.Denn in diesem Fall, so argumentierte derstellvertretende US-Au-ßenminister Dean Ache-son, würden „drei Kon-tinente der sowjeti-schenDurchdringung“ geöff-net.

LUFTBRÜCKEAuf dem Rhein-Main-Flug-hafen bei Frankfurt wirdeine Frachtmaschine mitBaustoffen beladen. DieWaren sollen in das von den Sowjets abgeriegelteWest-Berlin transportiertwerden.

BERLIN IM WÜRGEGRIFFIn einer Zeichnung von1948 zeigt ein amerikani-scher Karikaturist, wie derrussische Bär Berlinumklammert hält. DasRaubtier mit den mächtigenPranken war im KaltenKrieg ein beliebtes Sujet,um die Gefährlichkeit derSowjetunion darzustellen.

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Sein Chef Marshall forderte, dem gebeutelten Europa müsse auch auf andere Weise geholfen wer-den – im Kampf „gegen Hunger, Armut, Verzweiflungund Chaos“. Das amerikanische Hilfsangebot, so be-tonte er, sei „nicht gegen irgendein Land gerichtet“.Deshalb offerierte er auch dem Osten Gelder aus sei-nem geplanten „European Recovery Program“, kurz„ERP“, das in Europa als Marshall-Plan legendärwurde und den USA die dauerhafte Sympathie zahl-loser Europäer eintrug. Stalin erwog offenbar kurzeZeit, das Hilfsangebot aus Amerika ebenfalls anzu-nehmen. Dann aber lehnte er ab und verbot auchseinen Satrapen, eine solche Hilfe anzunehmen. Erfürchtete, gewiss zu Recht, sein mühsam errichteterCordon sanitaire könne in Gefahr geraten.

Deshalb reagierte der Kreml-Chef auf die Ankün-digung des Marshallplans so, wie es Experten vor-ausgesagt hatten – er verstärkte in seinem osteuro-päischen Imperium den Druck, wo immer es ging.

Im September 1947 ließ Stalin im niederschlesi-schen Szklarska Poreba (Schreiberhau) das „Kom-munistische Informationsbüro“ („Kominform“) grün-den. Es war die Neuauflage der „Dritten Internatio-nale“ („Komintern“). Deren Auflösung hatte Stalin1943 angeordnet, um die Furcht seiner westlichenKriegsverbündeten vor kommunistischen Welter-oberungsplänen zu beschwichtigen und eine politi-sche Vorleistung für die Eröffnung einer zweitenFront gegen Hitler in Westeuropa zu erbringen.

Angesichts der neuen Zuspitzung der politisch-ökonomischen Konfrontation im beginnenden KaltenKrieg waren derartige Rücksichten 1947 aus StalinsSicht überflüssig, ja hinderlich geworden. Es kamnun für ihn wieder darauf an, die orthodoxe Lehredurchzusetzen. „Spielen Sie sich hier nicht so auf“,kanzelte Stalins Kominform-Mann Andrej Schdanoweinen Polen ab, der Kritik übte. „Wir in Moskau wis-sen besser, wie man die Prinzipien des Marxismus-Leninismus anwendet.“

Erstmals sprach Schdanow, in offensichtlicher Re-plik auf die „Truman-Doktrin“, von einer „Zwei-La-ger-Theorie“. Er verdammte Marshalls ERP als einen„Plan zur Versklavung Europas“. Spätestens jetztwar klar, dass die internationale Diplomatie an dieGrenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen war. Kom-promisse wollte keine der beiden Seiten mehr ein-gehen. Der Ost-West-Konflikt weitete sich stattdessenaus zum „allumfassenden Existenzkampf zweier Ge-sellschaftssysteme, der nur mit Sieg oder Niederlageenden konnte“, wie Wilfried Loth urteilt. Deshalb istes kein Zufall, dass von der Jahreswende 1947/48 ander Begriff Kalter Krieg regelrecht populär wurde.

Zu den Denkwürdigkeiten dieser Entwicklungzählt, dass einer der verlässlichsten VerbündetenStalins ihm plötzlich die Stirn zeigte: Josip Broz Tito,Jugoslawiens Führer und einst oberster Partisan imKampf gegen Hitlers Invasoren – ein Mann, der auseigener Kraft an die Macht gelangt und selbstbe-wusst genug war, sich Kominform-Diktaten nicht zubeugen. Statt die Schwerindustrie auszubauen undWirtschaftsbeziehungen ausschließlich mit osteuro-päischen Märkten zu pflegen, wollte Tito lieber denLebensstandard der jugoslawischen Bürger steigern,beispielsweise durch intensiveren Handel mit demWesten. Das war für den Diktator von der Moskwaein Sakrileg.

Tito brach mit Moskau, und das Kominformschloss ihn aus, weil er aus „kleinbürgerlichem Na-

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tionalismus“ die marxistische Klassenkampftheorieverraten habe. „Ich brauche nur meinen kleinen Fin-ger zu rühren“, drohte Stalin, „und schon wird eskeinen Tito mehr geben.“ In nicht enden wollendenTiraden wurde das jugoslawische Volk aufgefordert,die „faschistische Tito-Clique“ zu stürzen. Aber Titoließ sich nicht einschüchtern noch vertreiben. Baldschon unterstützten ihn sogar die USA materiell nachdem Motto „der Feind meines Feindes ist meinFreund“ – und das, obgleich Jugoslawiens Herrscheröffentlich gegen den „amerikanischen Imperialis-mus“ zu Feld zog. Für Acheson war Tito zwar ein„Mistkerl“. Aber eben auch „unser Mistkerl“.

In etlichen Mitgliedsländern des Kominform setz-te eine Jagd nach vermeintlichen „Titoisten“ ein, diemit Haftstrafen und Hinrichtungen endete. Teils wur-den so innerparteiliche Machtkämpfe kaschiert, teilsdiente diese Säuberungswelle der Sicherung des sowjetischen Führungsanspruchs. „Die polizeistaatli-che Gewalt“, urteilt Loth, „war zum wichtigstenKennzeichen der osteuropäischen Staaten geworden.“

Was im Osten geschah oder angeordnet wurde,zeitigte stets im Westen eine politische Reaktion, undvice versa. So führte der kommunistische UmsturzEnde Februar 1948 in der Tsche-choslowakei unmittelbar zur Grün-dung des Brüsseler Pakts – einer Arterstem Verteidigungsbündnis vonFrankreich, Großbritannien undden Benelux-Staaten. Schließlich lagdie —SSR exakt an der Schnittstellezwischen Ost und West.

Und als wenig später die Vier-mächteverhandlungen über eineWährungsreform in ganz Deutsch-land scheiterten und in den West-zonen (und Berlin) separat die DM-West eingeführt wurde, ließ Stalinim Juni die alte Reichsmetropole ab-schnüren – Berlins Blockade begann.

Welche Ziele er auch immer da-mit verfolgte: Stalin scheiterte eben-so wie bei seinem Versuch, Tito zudisziplinieren. Alliierte Flugzeugeversorgten die Menschen ein gutesJahr lang aus der Luft, und der ge-wählte Oberbürgermeister ErnstReuter, den ein sowjetisches Veto ander Ausübung seines Amts hinderte,proklamierte in trotzigem Pathos:„Über unserer Stadt wird die Fahneder Freiheit wehen, und Berlin wirdsein die Hauptstadt Deutschlands.“

Nach der ersten massiven Konfrontation des Kal-ten Krieges während der Berlin-Blockade galt vonnun an: Wenn Berlin fiel, waren auch Paris bedroht,London – und Washington.

Als Stalin im Mai 1949 eher widerwillig die Blocka-de aufgab, hatten die USA, Kanada und zehn euro-päische Staaten gerade in Washington den Nord-atlantikpakt unterzeichnet. Seit Januar 1949 existierteder „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, auch „Comecon“ genannt, mit den GründungsmitgliedernUdSSR, Polen, —SSR, Ungarn, Bulgarien und Rumä-nien. Am 23. Mai jenes Jahres wurde das Grundgesetzfür die Bundesrepublik Deutschland verkündet, baldauch die Deutsche Demokratische Republik gegründet.

Die bipolare Weltordnung war zementiert. ✦

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Josip Broz TitoDer jugoslawischeKommunistenführerkam 1892 im heutigenKroatien als Josip Brozzur Welt und arbeitetezeitweilig als Schlosserauch in Deutschland.Den Namen Tito wählteer als Anführer jugo-slawischer Partisanen,mit denen er gegenNazi-Deutschlandkämpfte. Im KaltenKrieg war Tito zusam-men mit den Staats-chefs von Indien undÄgypten, JawaharlalNehru und Gamal Abdel-Nasser, wichtigsterRepräsentant derblockfreien Staaten.

STALIN-KRITIKERJosip Broz Tito war seit1945 Ministerpräsident, ab1953 bis zu seinem Tod1980 Staatspräsident derFöderativen VolksrepublikJugoslawien. Das Bild zeigtihn im Jahr seiner Ernen-nung zum Staatsoberhaupt.

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