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Elisabeth Büchle Der Klang des Pianos Roman

Der Klang des Pianos - 9783865916631

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Freiburg, 1912: Richard darf einen lukrativen Auftrag ausführen. Als Klavierbauer für die Firma Welte soll der junge Mann ein selbstspielendes Piano auf einem Luxusliner einbauen: der Titanic. In Irland trifft er die bezaubernde Norah, die sein Leben gehörig auf den Kopf stellt. Die Stewardess soll sich um das Wohl der reichen Gäste auf dem Schiff kümmern. Doch mit einer gewagten Rettungsaktion im irischen Hafenviertel schafft sich Norah mächtige Feinde. Als finstere Ganoven hinter ihr her sind, versucht Richard, sie zu beschützen. Und als die Titanic schließlich aus Southampton ausläuft, blicken beide in eine ungewisse Zukunft ...

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Elisabeth Büchle

Der Klang des PianosRoman

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Historische Einführung

Die Firma M. Welte & Söhne, Freiburg im Breisgau, wurde 1832 mit einer Werkstatt für Spieluhren in Vöhrenbach gegründet. 1872 zog die Firma nach Freiburg in das neu erschlossene Gewerbegebiet beim Hauptbahnhof im Stadtteil Stühlinger um. Sie stellte bis 1932 konkurrenzlos hochwertige selbstspielende mechanische Musikins-trumente her.

Maßgeblich für den Erfolg der Welte-Instrumente war die Ent-wicklung der Steuerung dieser selbstspielenden Instrumente durch Notenrollen – Lochstreifen aus Papier, die die empfindlichen Stift-walzen ersetzten. 1883 wurde das Verfahren patentiert, und Welte war damit endgültig Marktführer auf diesem Sektor geworden.

Die Instrumente spielten auf Rollschuhbahnen und Eislaufflä-chen in den USA, in europäischen Königshäusern, auf Luxusdampf-schiffen oder im Sultanspalast von Sumatra.

1905 kamen unter dem Namen „Mignon“ (Welte-Mignon-Repro-duktionsklavier) Instrumente auf den Markt, die als Tonträger wiede-rum die sogenannten Noten- oder Klavierrollen benutzten. Diese waren eine Gemeinschaftsentwicklung von Edwin Welte (1876-1958) und dessen Schwager Karl Bokisch (1874-1952), der mit Ed-win Weltes Schwester Frieda (1874-1930) verheiratet war. Damit war es möglich, das einmal eingespielte Musikstück eines Pianisten inklusive seiner Anschlagsdynamik originalgetreu wiederzugeben.

Der Erste Weltkrieg und die Einführung neuer Technologien wie Rundfunk, Schallplattenspieler und ähnliches trafen das Werk schwer. Der Schwerpunkt der Arbeit änderte sich zwangsläufig mehrmals.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Arbeit des Werkes blockiert, da Edwin Welte mit der Jüdin Betty Dreyfuß (1873-1955) verheiratet war. (Ihr Bruder Bernhard war unter dem Namen Barney Dreyfuss in den USA ein berühmter Baseballspieler.)

1944 wurde der Firmenkomplex durch Bomben vollständig zer-stört.

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Der Hintergrund dieses Romans

1911, als bei der Werft Harland & Wolff und bei der Reederei White Star darüber nachgedacht wurde, wie die Titanic noch ein wenig lu-xuriöser ausgestattet werden konnte, beschloss man, bei der Firma Welte & Söhne eine pneumatische Orgel zu bestellen.

Aufgrund fehlender Aufzeichnungen kann über den geplanten Standort der Orgel nur spekuliert werden. Das kunstvoll gearbeitete Orgelgehäuse hätte zu der Wandvertäfelung des Restaurants der ers-ten Klasse gepasst, oder aber, wie auf dem Schwesterschiff Britannic geplant, in das Treppenhaus der ersten Klasse. Angeblich haben Überlebende von einer Orgel im Treppenhaus der Titanic berichtet. (Fotos vom Inneren der Titanic existieren kaum. Die meisten Bilder stammen von der fast identischen Schwester Olympic.)

Karl Bokisch begleitete damals die Orgelteile nach England/Ir-land, um den Aufbau und die Inbetriebnahme an Bord persönlich zu beaufsichtigen. Gerüchten zufolge existiert eine Fotografie von ihm vor der mächtigen Orgel im Treppenhaus des Dampfers, das vermutlich von einem seiner Angestellten an Bord aufgenommen worden war.

Man hatte gerade mit dem Einbau des Orgelwerks begonnen, als eines von Karl Bokischs Kindern lebensgefährlich erkrankte und er sofort nach Deutschland zurückkehrte. Es wird vermutet, dass die Orgelteile daraufhin eingelagert wurden, um sie nach der Jungfern-fahrt in die Titanic einzubauen.

Die Orgel für das Schwesterschiff Britannic wurde im Frühjahr 1914 eingebaut, aber schon im Sommer 1914 nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder entfernt, da der Luxusliner zu einem Hospitalschiff umfunktioniert wurde. Es sank 1916 vor Griechen-land. Die Orgel wurde daraufhin vermutlich zurückgeschickt und weiterverkauft. Vor einiger Zeit wurde sie bei ihrer Restauration im Seewener Musikautomaten-Museum in der Schweiz „wiederent-deckt“: Ein Orgelbauer reinigte einige ansonsten unzugängliche Stellen der zwischen 1912 und 1914 erbauten Welte-Philharmonie-Orgel und entdeckte dabei gleich dreimal den eingestanzten Na-men Britanik (die falsche Schreibweise kann möglicherweise durch

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mangelnde Englischkenntnisse der Orgelbauer in der Fa. Welte er-klärt werden).

RAls ich 2008 diesen Roman über die Titanic zu schreiben begann, der sich in der Hauptsache um die wenig beachteten Hafenarbeiter rund um die Werft Harland & Wolff und die Schiffsmannschaft dreht, aber auch um die Passagiere der zweiten Klasse, stieß ich auf diese Geschichte. So entstand dieser Roman „unter Beteiligung“ der Firma Welte. Allerdings habe ich für den Inhalt des Romans ein paar Details der teilweise bestätigten (Britannic-Orgel) und vermuteten Hintergründe (Titanic) verändert.

In Anbetracht der ausschweifenden Mythenbildung rund um den Untergang des Luxusliners, der im Grunde „nur“ ein Postschiff war (die Kürzel RMS = Royal Mail Ship hinter den Namen besagen dies), war es nicht einfach, ganz nüchtern bei den überlieferten Fakten zu bleiben. Eine kleine Szene beim Untergang entstammt wohl meiner Fantasie, wobei ich eigentlich dachte, ich hätte irgendwo etwas da-rüber gelesen. Da ein Nachweis nicht aufzutreiben ist, nehme ich diesen eventuellen Fehler auf meine ausgesprochen fantasievolle Kap-pe. Für diese und womöglich andere nicht hundertprozentig korrekte Wiedergaben des Hergangs, der Ausstattung, der historischen Perso-nen und so weiter bitte ich schon jetzt um Entschuldigung.

Einen Roman über eine Katastrophe zu schreiben führt zwangs-läufig dazu, dass man sich ganz neu Gedanken über wichtige Dinge im Leben macht. Vielleicht geht es Ihnen beim Lesen nicht anders.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem bereits stark geneigten Deck der Titanic. Es herrscht klirrende Kälte, und um Sie her ertö-nen die verzweifelten Rufe der auf dem sinkenden Schiff Zurückge-bliebenen. An Ihrer Seite befinden sich Ihre Lieben, die ebenso wie Sie auf die wenigen Rettungsboote schauen, die sich immer weiter vom Schiff entfernen. Im unangenehmen Gegensatz dazu kommen die eiskalten Wellen des Atlantiks Ihnen immer näher, und Sie wis-sen: Noch ein paar Minuten, und ich werde in diesem endlosen Eismeer schwimmen und über kurz oder lang erfrieren. Das ist mein Ende.

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Wäre das der Augenblick, in dem Sie sich das erste Mal Gedan-ken darüber machen, was in Ihrem Leben wirklich zählt? Ansehen, Reichtum, Macht, Träume, nicht erreichbare Ziele? Was hatte in Ih-rem Leben Priorität, wofür verwenden Sie am meisten Energie und Zeit? Für Ihre liebsten Menschen auf Erden, die Familie, die Freun-de? Oder doch eher für Ihr persönliches Freizeitvergnügen, Ihre Ar-beit, Ihr Vorankommen in der Firma, Ihr Aussehen oder die makel-lose Sauberkeit Ihrer Wohnung?

Träume und Ziele, fleißiges Arbeiten und der damit verbundene Erfolg sind nichts Negatives. Vielleicht aber verschiebt sich im Laufe der Jahre der richtige Maßstab, und Zeit und Aufmerksamkeit den-jenigen oder der Sache gegenüber, die Ihnen wichtig sein sollten, werden weniger – was Sie nun, mit dem Blick auf die tödlichen Flu-ten, bedauern würden …

Wäre das der Augenblick, in dem Sie sich Gedanken machen würden über den Tod, der unausweichlich am Ende jedes Lebens steht, ganz gleich, ob es viele Jahre währt oder wenige? Und das, was vielleicht danach sein wird?

Mit der Titanic ging nicht nur ein schwimmender Luxuspalast unter, sondern auch die Träume von der Besiegbarkeit der Natur, der Technik- und Fortschritts„glaube“ der damaligen Zeit, der fast an Größenwahn und maßlose Überheblichkeit grenzte. Und mit ihm wohl so manches Leben, das – hätten die Passagiere gewusst, was geschehen würde – anders verlaufen wäre.

Worauf bauen Sie und ich unser Leben? Was ist unser Ziel?

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Teil 1

1911

Glücksmomentesind die Momente,

die dich unerwartet treffen.Die dein Herz höher-schlagen lassen und

dich zum Leben erwecken.Die das Leben einzigartig

und wertvoll machen.Die an einem grauen Regentag

einen wunderschönen Regenbogenan den Himmel zaubern.

Die Sterne am nächtlichen Himmel.

Glücksmomentesind die Überraschungen,von denen das Leben lebt.

Sie definierendie Magie des Kunstwerks: Leben.

Sie sind wie strahlendeKinderaugen, wie Sterne,die dann am schönsten

funkeln, wenn dieNacht am dunkelsten ist.

(Aus: Wüstenfarben, von Hanna Dengler)

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Kapitel 1

Seine Schritte hallten laut durch den langen, düsteren Flur mit den großen, verstaubten Fenstern. Deshalb wunderte es ihn auch nicht, dass die Frauen im Büroraum bereits erwartungsvoll die Köpfe geho-ben hatten, als er eintrat.

Die Finger der Bürodamen ruhten auf den schwarzen, runden Tasten der Schreibmaschinen, bereit, jede Sekunde wieder mit ihrem schnellen Stakkato fortzufahren.

„Guten Morgen, Herr Martin“, begrüßte ihn die Bürovorsteherin mit einem freundlichen Lächeln. „Herr Welte ist gerade am Telefon. Wenn Sie bitte noch einen Moment Platz nehmen wollen?“

Richard nickte und setzte sich auf die harte, unbequeme Holz-bank vor der Tür, die zu Herrn Welte führte, dem Teilhaber und Geschäftsführer von M. Welte & Söhne, Freiburg i. B.

Die Frauen fuhren in ihrer Arbeit fort und der Raum füllte sich mit dem ungleichmäßigen Klappern der Schreibmaschinen.

Der Firma Welte ging es finanziell ausgesprochen gut. Sie hatte eine weltweit führende Marktposition inne, was mechanische Mu-sikinstrumente betraf, und der junge Instrumentenbauer war stolz, in diesem Werk arbeiten zu dürfen. Allerdings fragte er sich in die-sem Augenblick, weshalb Edwin Welte ihn zu sich bestellt hatte. War etwas Gravierendes vorgefallen? War eines der von ihm entwor-fenen und angefertigten Klaviere nicht in Ordnung gewesen?

Voll innerer Unruhe hob er den Kopf und begegnete dem Blick von Frau Meisner. Diese lächelte ihn freundlich an und zog in einer knappen Bewegung die Schultern in die Höhe, um ihm zu signali-sieren, dass sie ebenfalls nicht wusste, weshalb er herbeordert worden war. Richard lächelte zaghaft zurück und strich sich dabei mit bei-den Händen sein Hemd glatt.

In diesem Moment wurde die Tür schwungvoll geöffnet und Herr Welte betrat den Vorraum. „Ah, Sie sind schon hier. Pünktlich wie ein Schwarzwälder Uhrwerk, nicht wahr?“ Er bedeutete Richard mit einer knappen Handbewegung, ihm zu folgen.

Kurz darauf saß Richard auf einem Stuhl vor dem gewaltigen, aus

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dunklem Eichenholz gezimmerten Schreibtisch seines Vorgesetzten. Ganz im Gegensatz dazu, wie souverän er sich sonst seinen Ange-stellten gegenüber gab, wirkte Herr Welte heute beunruhigend un-entschlossen.

Richard richtete sich ein wenig mehr auf. Er war kein junger, un-erfahrener Instrumentenbauer mehr. Mit Fleiß und Ausdauer hatte er sich hochgearbeitet, und mit seinen mittlerweile 27 Jahren wusste er inzwischen sehr genau, was er wollte. Einen Teil seiner hochge-steckten Pläne hatte er bereits erreicht, nachdem er von Edwin Welte und seinem Schwager, Karl Bokisch, eingestellt worden war.

„Herr Martin, Sie sind ein überaus begabter und gut ausgebilde-ter Instrumentenbauer“, begann Welte. „Das ist allerdings nicht der Grund, weshalb ich Sie heute zu mir gebeten habe.“ Er verstummte und schob unruhig einen Bleistift auf der Tischplatte hin und her. „Mir wurde gesagt, Sie beherrschen die englische Sprache?“

Richard stutzte. Hatte Welte etwa vor, ihn nach New York zu schicken? In der dortigen Niederlassung ging ein jahrelang geführter Patentrechtsstreit allmählich dem Ende entgegen, und Richard hatte von Plänen gehört, die Tochtergesellschaft in den Staaten in eine Ak-tiengesellschaft umzuwandeln. Er wog blitzschnell die Möglichkei-ten ab, die sich ihm dadurch bieten würden. Wo würde er eines sei-ner Ziele – nämlich, in die gehobene Gesellschaft aufgenommen zu werden – leichter erreichen können, im heimatlichen Deutschland oder in den Vereinigten Staaten?

Mit gerunzelter Stirn betrachtete er seinen Gesprächspartner, nur um festzustellen, dass dieser immer nervöser wurde. Musste er sich auf eine unangenehme Nachricht gefasst machen? Richard hatte in seinem Leben bereits einige Tiefschläge erlebt. Allerdings hatte er in den letzten beiden Jahren zu hoffen begonnen, dass es in seiner be-ruflichen Karriere und damit automatisch auch in seinem Leben nun endlich bergauf ging. Zerschlug diese Hoffnung sich heute, hier, in diesem überfüllten, aber dennoch ordentlich wirkenden Kontor Weltes?

Seine Unruhe nahm zu und breitete sich mit einem unangeneh-men Kribbeln in seinem Inneren aus, das sich anfühlte, als habe er Tausende von Ameisen aufgeschreckt.

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„Es ist so: Die Tochter einer Großtante von mir ist in jungen Jah-ren nach Hamburg gezogen. Sie hatte damals eine enttäuschende Liebesgeschichte hinter sich …“ Der Mann unterbrach sich selbst und machte eine abweisende Handbewegung.

Richard rieb sich mit der rechten Hand über das Gesicht, um ein belustigtes Lächeln zu verbergen. An der Familiengeschichte der Weltes war er nur begrenzt interessiert, und er war sich sicher, dass es auch nicht im Sinne Edwin Weltes lag, diese vor ihm auszubreiten.

„Jedenfalls hat das Mädchen damals als Stewardess auf einem Schiff der HAPAG angeheuert. Sie hat ein paar Mal den Atlantik überquert und eines Tages einen Engländer geheiratet. Oder war er ein Ire? Wahrscheinlich Letzteres.“

Richard begann sich zu fragen, wann Welte wohl zum Grund sei-nes Hierseins kommen würde, zumal die lange Vorrede seine düste-ren Vorahnungen steigerte. War es nicht immer so gewesen, dass die Leute lange um den heißen Brei herumgeredet hatten, ehe sie mit ihren schlechten Nachrichten herausgerückt waren? Wie damals, beim frühen Tod seines Vaters? Zuerst hatte man Richard lang und breit erklärt, dass er inzwischen alt genug sei, um Verantwortung zu übernehmen und vernünftig zu sein. Ihm war gesagt worden, dass der Ernst des Lebens nun für ihn beginnen würde. Trotz seiner da-mals erst 10 Jahre hatte er unterschwellig gespürt, dass all diese Ap-pelle an seine Vernunft letztendlich auf eine böse Nachricht hinaus-laufen würden, und tatsächlich hatte der Tod seines Vaters sein Leben grundlegend verändert. Zum Schlechteren.

Wurde er im Augenblick erneut auf schlechte Neuigkeiten vorbe-reitet? Richard versuchte vergeblich, die trüben Gedanken, verbun-den mit diesem grässlichen, einengenden Gefühl in seiner Brust, zu verscheuchen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Er lehnte sich auf dem Stuhl weiter zurück und schob seine langen Beine un-ter den Tisch. Äußerlich mochte er dadurch den Eindruck erwecken, er wolle es sich für einen längeren Aufenthalt in Weltes Kontor be-quemer machen. In Wirklichkeit suchte er aber Halt, um sich auf eine Kündigung und damit ein erneutes abruptes Ende seines Traums von einem besseren Leben einzustellen.

„Das Paar hat zwei Kinder, die mittlerweile wiederum selbst

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Kinder haben. Kurz und gut: Eine der Enkelinnen wird uns in den nächsten Tagen besuchen kommen.“

Edwin Welte sah Richard an, und der nickte fragend. Was sollte er auch sonst tun – schließlich wusste er noch immer nicht, worauf sein Arbeitgeber hinauswollte und was das alles mit ihm zu tun hat-te. Welte lächelte daraufhin breit, als habe Richard durch sein Ni-cken bereits seine Zustimmung zu irgendetwas erteilt, dessen Sinn sich ihm noch nicht erschloss.

„Die Dame arbeitet, wie ihre Großmutter früher, als Stewardess auf Nordatlantikschiffen. Nun möchte sie hier ihre deutschen Wur-zeln kennenlernen und ihre Sprachkenntnisse erweitern.“

Richard wagte nicht, noch einmal zu nicken. Herr Welte erhob sich und trat an eines der Fenster. Er trug Ar-

beitskleidung und wirkte mit seinem leicht zerzausten Haarschopf eher wie einer seiner eigenen Angestellten. „Ich möchte Sie bitten, sich der jungen Dame ein wenig anzunehmen, Herr Martin.“

Richard schaute seinen Arbeitgeber irritiert an. Er sollte lediglich den Besuch der Weltes betreuen? Es gab keine Kündigung, nicht einmal eine Abmahnung aufgrund einer Unachtsamkeit bei der Ar-beit? Eigentlich hätte ihn das auch gewundert, immerhin arbeitete er so sorgfältig wie kein anderer in dieser Firma. Aber seine Erfahrun-gen waren bisher leider nur die, dass der Gegenwind, der ihm kalt und unnachgiebig ins Gesicht blies, meist unverhofft kam und dabei böse Konsequenzen mit sich führte, so wie eine Windböe oftmals feine Steine mit sich trug, die einem Spaziergänger schmerzhaft ins Gesicht schlugen. Glück – das erlebte man doch nur selten einmal, und niemals bekam man es geschenkt. Es wollte erarbeitet und er-kämpft sein.

Deshalb blieb Richard bei dieser ungewöhnlichen Bitte an ihn auch weiterhin misstrauisch, aber immerhin schnürte ihm die Enge um seine Brust nicht länger die Luft ab, erschwerte aber noch immer seine Atmung. „Entschuldigen Sie bitte, Herr Welte. Aber Herr Bo-kisch hat mir einige Verbesserungsarbeiten an dem neuen Reproduk-tionsklavier aufgetragen.“

„Ich habe meinem Schwager den Vorschlag bereits unterbreitet. Er ist einverstanden, dass ich Sie für diese Aufgabe ein paar Tage

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abziehe. Die junge Dame würde gerne Freiburg und den Schwarz-wald kennenlernen und, wie gesagt, ihre Sprachkenntnisse verbes-sern. Deshalb halte ich es für sinnvoll, ihr einen Englisch sprechen-den Begleiter an die Seite zu stellen. Und damit meinte ich nicht mich. Ich bin in der Firma und mit meiner Familie genug einge-spannt, Herr Martin.“ Herr Welte drehte sich zu ihm um. „Außer-dem sind Sie ein vertrauenswürdiger junger Mann. Bei Ihnen weiß ich meine Verwandte gut aufgehoben.“

Richard erhob sich nur zögernd. Er war von der Vorstellung, für eine Verwandte der Weltes den Aufpasser spielen zu müssen, nicht gerade begeistert. Immerhin hatte er einen wichtigen Auftrag über-tragen bekommen, den er gewissenhaft auszuführen gedachte. Mit diesem Werkstück konnte er der Geschäftsführung beweisen, dass er fähig war, mehr Verantwortung bei der Firma Welte zu übernehmen, und würde damit die Karriereleiter womöglich ein großes Stück nach oben klettern. Diese Chance wollte er sich ungern entgehen lassen.

„Ich möchte Sie zudem bitten, die Dame bei den anstehenden Veranstaltungen, Einladungen und Festen zu begleiten. Sicher wird sie auch bei den gesellschaftlichen Anlässen einen Dolmetscher brauchen. Für dieses Mehr an Arbeitszeit werden Sie selbstverständ-lich entsprechend entlohnt.“

Richard runzelte nachdenklich die Stirn. Welte lieferte seine Ins-trumente in Europas Königs- und Fürstenhäuser und sogar in den Sultanspalast von Sumatra. Die Begleitung dieser Stewardess konnte Richard vielleicht die Möglichkeit bieten, einmal in diese Kreise hi-neinzuschnuppern und eventuell sogar einige lohnenswerte Kontak-te zu knüpfen. Er arbeitete gern in seinem Beruf, doch die Aussicht, ein paar Tage eine Verwandte der Weltes zu begleiten, erschien ihm nun gar nicht mehr so unerfreulich. Vermutlich würde sie nach der langen Reise ohnehin erst einmal einen Tag Erholung benötigen, und anschließend konnten sie einen oder zwei Ausflüge und eine Kutschfahrt durch Freiburg unternehmen. Damit die Dame sich nicht zu sehr verausgabte, war jeweils ein Ruhetag dazwischen ange-bracht. An diesen beschaulicheren Tagen konnten sie dann die ge-sellschaftlichen Termine wahrnehmen und …

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Richard brachte seine Überlegung nicht zu Ende und erklärte sich bereit, während des Aufenthalts von Herrn Weltes Verwandter im Breisgau den Fremdenführer zu spielen.

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Kapitel 2

Edwin Welte und seine Frau Betty standen nebeneinander auf den Stufen, die zur Tür ihres großen Hauses führten, und beobachteten die Ankunft der Kutsche. Richard, den ein Bote von der Ankunft der Dame aus Irland informiert hatte, trat hinzu und begrüßte das Ehepaar formvollendet. Betty Welte lächelte ihm, erfreut über sei-nen Charme, freundlich zu. Der Kutscher öffnete die Tür und half einer Dame im hochgeschlossenen braunen Reisekostüm heraus.

Richard musterte die schlanke Frau, deren Gesicht im ersten Mo-ment unter dem wagenradgroßen Hut kaum zu sehen war. Mit ih-ren roten Locken und den unzähligen Sommersprossen sah sie ge-nau so aus, wie er sich eine Irin vorstellte. Allerdings war sie weitaus älter, als er angenommen hatte. Mit Sicherheit hatte sie die 40 be-reits seit ein paar Jahren überschritten. Leicht gebeugt, um sich nicht den kecken Hut vom Kopf zu stoßen, tauchte hinter ihr nun ein junges Mädchen auf, das mit einem Satz aus der Kutsche auf die Auffahrt hinuntersprang und sich neugierig umsah.

Richard kniff missbilligend die Augen zusammen. Es war nie die Rede davon gewesen, dass er auch die Tochter der Verwandten von Welte betreuen sollte. Zwar war das Mädchen kein kleines Kind mehr, doch vermutlich gerade deshalb anspruchsvoll und vielleicht auch schwierig, wie junge Mädchen in dem Alter es nun einmal wa-ren. Er kannte das von seinen beiden jüngeren Schwestern.

Das Ehepaar Welte stieg die Stufen hinunter und begrüßte die beiden Gäste. Währenddessen lud der Kutscher einen Koffer aus, der ihm von einem der Hausbediensteten abgenommen wurde. Zu seinem Erstaunen sah Richard, wie sich die reifere Dame von dem Mädchen verabschiedete und sich wieder in das Gefährt helfen ließ.

Sollte das etwa heißen, dieses Mädchen war diejenige, die er in den nächsten Tagen zu betreuen hatte? Was sollte er denn mit einem so jungen Hüpfer anfangen? Waren diese Jugendlichen nicht immer-zu auf Unterhaltung und Abwechslung aus, möglichst in diesen neu-modischen Clubs, in denen es laut und in Richards Augen reichlich unzivilisiert zuging? Womöglich war sie eine derjenigen, die sich mit

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Begeisterung jeder politischen Demonstration gegen den Kaiser und seine adelige Führungsschicht anschließen würden. Oder sie wollte Versammlungen besuchen, in denen es um das Frauenwahlrecht und erweiterte Arbeitsrechtsbestimmungen ging, was in diesen Tagen ja als ausgesprochen modern galt.

Richard hatte für so etwas keine Zeit und würde sich vermutlich dementsprechend unwohl fühlen, sollte dieses Mädchen ihn dorthin schleppen. Er spürte einen zunehmenden Widerwillen in sich auf-steigen und fragte sich, ob er diese Aufgabe nicht zugunsten eines anderen Mitarbeiters abgeben sollte. Allerdings pflegte er zu seinem Wort zu stehen, und es würde vermutlich negativ aufgenommen werden, sollte er sich jetzt doch noch sträuben, den übernommenen Auftrag auszuführen.

Herr Welte winkte ihn mit einer knappen Handbewegung zu sich und wandte sich an seine Nichte: „Norah, das ist Richard Martin. Er wird dir während deines Aufenthaltes in Freiburg als Begleiter und Dolmetscher zur Verfügung stehen. Herr Martin – Norah Casey.“

Richard begrüßte das Mädchen, das ihm fröhlich lachend die Hand reichte, und überlegte dabei, ob er die junge Dame einfach duzen sollte. Mit einem Blick in ihre dunklen, fast schwarzen Augen entschied er sich jedoch dagegen. In ihnen meinte er eine Tiefe und Lebenserfahrung zu sehen, die nicht recht zu ihrem jugendlichen Erscheinungsbild passen wollte.

„Jetzt lasst Norah doch erst einmal richtig ankommen. Bitte, Ed-win, sorge dafür, dass sie ihr Zimmer gezeigt bekommt, damit sie sich frisch machen kann. In etwa einer Stunde werden wir die Abendmahlzeit einnehmen.“

Herr Welte übersetzte die auf Deutsch gesprochen Worte seiner Frau, und währenddessen grinste das Mädchen vor sich hin – ein-deutig frecher, als Richard es jemals bei einer weiblichen Person ge-sehen hatte. Dieses Lächeln irritierte ihn zutiefst, zumal sich dabei in ihren Wangen zwei tiefe Grübchen bildeten, die den Eindruck auf-müpfiger Heiterkeit noch verstärkten.

Richard folgte den dreien in die Eingangshalle des Hauses. Er war schon des Öfteren bei den Weltes zu Gast gewesen, doch an diesem Tag erschien ihm das Gebäude größer und die Einrichtung noch