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Der «Kulturkanton» Abb.86 Heinrich Zschokke (/77/-/848): Der gebürtige Magdeburger war während der Helvetik in den Kantonen Waldstätten, Tessin und Basel oder -statthalter. Er hielt sich seit 1802 im Aargau auf, bekleidete im jungen Kanton zahlreiche Ämter (Oberforst- und Bergrat, Tagsatzungsge- sandter, 1815-1841 Grossrat) und galt als Autorität des poli- ti chen und kulturellen Le- bens. Als Verfasser zahlreicher volkstümlicher und histori- scher Werke und als Heraus- geber von Zeitungen und Zeit- schriften genoss er im In- und Ausland Bekanntheit und Ansehen. Zschokke verfügte über hervorragende Bezie- hungen zu Persönlichkeiten aus ganz Europa und machte die Stadt Aarau, wo seine Ver- öffentlichungen gedruckt wurden, weitherum bekannt. 92 Der Elan, mit welchem sich aufgeklärt denkende Politiker um die Gründung des Kantons, um seinen Aufbau und um das Zusammenwachsen seiner Regionen be- mühten, bewirkte besondere Leistungen auf kulturellem Gebiet. Noch war ein aar- gauisches Schulsystem erst zu entwickeln, noch war im Sinne einer umfassenden Bil- dung des Bürgers viel Arbeit zu leisten. Im jungen Kanton, an dessen Spitze sich fast ausschliesslich die progressiven Politiker der Aarauerpartei befanden, war das Kli- ma für eine fortschrittliche Kultur- und Bildungspolitik äusserst günstig. Über die Aufgeschlossenheit des politisch-intellek- tuellen Zentrums Aarau äusserte sich Wolfgung Mcnzcl, ein 1820 nuch Aurau gelangter politischer Flüchtling aus Deutschland, folgendermassen : «Aarau war damals schon eine der vorgerücktesten Städte in der Schweiz, im Gegensatz gegen Bern und Zürich, die alten Bollwerke der Aristokratie, ein Zufluchtsort und Hauptherd alter und neuer Demo- kratie. [ ... ] Aarau war schon eine ganz modeme Stadt. Man sah dort nur noch wenig Zöpfe und es gab nur noch einen Regierungsrath nach der alten Mode [den Zofinger Peter Suter, »Zöptlipeter« genannt], weI- cher stark gepudert auch von allen, die seine Gunst nachsuchten, gepu- dertes Haar verlangte, indem er zu sagen pflegte: 'I luge numen, ob a Ma puderet ischt.'» Wohlfahrt als kulturelles Ziel Heinrich Zschokke, Regierungsrat Johann Nepomuk von Schmiel, Verleger Heinrich Remigius Sauerländer und andere gründe- ten am 2. März 1811 die «Gesellschaft für vaterländische Kultur», genannt «Kultur- gesellschaft». Ihr gehörten zahlreiche auf- geschlossene Männer an, denen Wohl- stand und Bildung des Volks ein ernsthaf- tes Anliegen waren. Zwei Jahre nach der Gründung umfasste sie bereits 130 Mit- glieder. Etliche Inhaber hoher Ämter, zum Beispiel der langjährige Bürgermeister Herzog, sorgten mit ihrer Mitgliedschaft von Anfang an für eine enge Verbindung L.wisth n <-!tr Ot:scllsl,;hafL un<..l <..Ier POlilik. Auch geistliche Vertreter beider Konfes- sionen wirkten mit, darunter der einfluss- reiche katholische Aarauer Pfarrer Alois Vock und der Gansinger Pfarrer Johann Nepomuk Brentano, der seit 1810 auf pri- vater Basis Volksschullehrer für das Frick- tal ausbildete. Die Kulturgesellschaft bezweckte die «Beförderung alles dessen, was zur ge- naueren Kenntnis der Geschichte, Natur und Staatskräfte, sowie zur Erhebung der Wissenschaft und Kunst und des Wohl- standes im Vaterlande führt». Ihre Mit- glieder legten beim Regierungsgebäude einen botanischen Versuchsgarten an, ver- anstalteten landwirtschaftliche Vorträge und begründeten bereits 1812 eine Erspar- niskasse, um das Volk zu ermuntern, das ersparte Geld zinstragend anzulegen. Die spätere Allgemeine Aargauische Erspar- niskasse hat in diesem Institut ihren Ur- sprung. Aus der Tätigkeit der Gesellschaft gingen auch lokale Sparkassen, Mädchen- arbeitsschulen, Anstalten für behinderte und verwahrloste Kinder sowie zahlreiche Armenvereine und Fürsorgeorganisatio- nen hervor. Neben der aktiven Mutterge-

Der «Kulturkanton» - geschichte-aargau.ch · Deutschland, folgendermassen: «Aarau war damals schon eine der vorgerücktesten Städte in der Schweiz, im Gegensatz gegen Bern

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Der «Kulturkanton»

Abb.86Heinrich Zschokke(/77/-/848): Der gebürtigeMagdeburger war währendder Helvetik in den KantonenWaldstätten, Tessin und BaselRp'8if"rlln8~kommiG~är oder-statthalter. Er hielt sich seit1802 im Aargau auf, bekleideteim jungen Kanton zahlreicheÄmter (Oberforst- undBergrat, Tagsatzungsge­sandter, 1815-1841 Grossrat)und galt als Autorität des poli­ti chen und kulturellen Le­bens. Als Verfasser zahlreichervolkstümlicher und histori­scher Werke und als Heraus­geber von Zeitungen und Zeit­schriften genoss er im In- undAusland Bekanntheit undAnsehen. Zschokke verfügteüber hervorragende Bezie­hungen zu Persönlichkeitenaus ganz Europa und machtedie Stadt Aarau, wo seine Ver­öffentlichungen gedrucktwurden, weitherum bekannt.

92

Der Elan, mit welchem sich aufgeklärtdenkende Politiker um die Gründung desKantons, um seinen Aufbau und um dasZusammenwachsen seiner Regionen be­mühten, bewirkte besondere Leistungenauf kulturellem Gebiet. Noch war ein aar­gauisches Schulsystem erst zu entwickeln,noch war im Sinne einer umfassenden Bil­dung des Bürgers viel Arbeit zu leisten. Imjungen Kanton, an dessen Spitze sich fastausschliesslich die progressiven Politikerder Aarauerpartei befanden, war das Kli­ma für eine fortschrittliche Kultur- undBildungspolitik äusserst günstig. Über dieAufgeschlossenheit des politisch-intellek­tuellen Zentrums Aarau äusserte sichWolfgung Mcnzcl, ein 1820 nuch Auraugelangter politischer Flüchtling ausDeutschland, folgendermassen :

«Aarau war damals schon eine dervorgerücktesten Städte in derSchweiz, im Gegensatz gegen Bernund Zürich, die alten Bollwerke derAristokratie, ein Zufluchtsort undHauptherd alter und neuer Demo­kratie. [ ...] Aarau war schon eineganz modeme Stadt. Man sah dortnur noch wenig Zöpfe und es gabnur noch einen Regierungsrath nachder alten Mode [den Zofinger PeterSuter, »Zöptlipeter« genannt], weI­cher stark gepudert auch von allen,die seine Gunst nachsuchten, gepu­dertes Haar verlangte, indem er zusagen pflegte: 'I luge numen, ob aMa puderet ischt.'»

Wohlfahrt als kulturelles ZielHeinrich Zschokke, Regierungsrat JohannNepomuk von Schmiel, Verleger HeinrichRemigius Sauerländer und andere gründe­ten am 2. März 1811 die «Gesellschaft fürvaterländische Kultur», genannt «Kultur­gesellschaft». Ihr gehörten zahlreiche auf­geschlossene Männer an, denen Wohl­stand und Bildung des Volks ein ernsthaf­tes Anliegen waren. Zwei Jahre nach derGründung umfasste sie bereits 130 Mit­glieder. Etliche Inhaber hoher Ämter, zumBeispiel der langjährige BürgermeisterHerzog, sorgten mit ihrer Mitgliedschaftvon Anfang an für eine enge VerbindungL.wisth n <-!tr Ot:scllsl,;hafL un<..l <..Ier POlilik.Auch geistliche Vertreter beider Konfes­sionen wirkten mit, darunter der einfluss­reiche katholische Aarauer Pfarrer AloisVock und der Gansinger Pfarrer JohannNepomuk Brentano, der seit 1810 auf pri­vater Basis Volksschullehrer für das Frick­tal ausbildete.

Die Kulturgesellschaft bezweckte die«Beförderung alles dessen, was zur ge­naueren Kenntnis der Geschichte, Naturund Staatskräfte, sowie zur Erhebung derWissenschaft und Kunst und des Wohl­standes im Vaterlande führt». Ihre Mit­glieder legten beim Regierungsgebäudeeinen botanischen Versuchsgarten an, ver­anstalteten landwirtschaftliche Vorträgeund begründeten bereits 1812 eine Erspar­niskasse, um das Volk zu ermuntern, dasersparte Geld zinstragend anzulegen. Diespätere Allgemeine Aargauische Erspar­niskasse hat in diesem Institut ihren Ur­sprung. Aus der Tätigkeit der Gesellschaftgingen auch lokale Sparkassen, Mädchen­arbeitsschulen, Anstalten für behinderteund verwahrloste Kinder sowie zahlreicheArmenvereine und Fürsorgeorganisatio­nen hervor. Neben der aktiven Mutterge-

Kulturgesel/schaft: Sie entfal­tete ihre Haupnätigkeit zwi­schen 1811 und 1840, benannteich später um in «Aargaui­

sche Gemeinnützige Gesell­schaft» und verlegte ihre Akti­vitäten vermehrt auf ozialesGebiet. Aus ihr gingen 0

bedeutende Werke wie die1894 angeregte Lungenheil­ställe Barmelweid hervor. DieGesellschaft exi tiert heutenoch. Das Engagement derKulturgesellschaft in den ver­schiedensten Bereichen weistauf einen im 19. Jahrhundertehr weitgefassten Kulturbe­

griff hin.

Abb.87Alois Vock (/785-1857): AJskatholischer Pfarrer vonAarau (1814-1830) und ersterresidierender Domherr desAargau in Solothurn(1830-1857) war der Sarmen­storfer Alois Vock der bedeu­tendste Kirchenpolitiker deraargaui ehen Frühzeit. EinZeitgenosse beschrieb ihn alseinzigen Mann, der dem all­mächtigen BürgermeisterHerzog ebenbürtig gegenüber­stehe und ihn bisweilen herb­freundlich kritisiere. Vocksteuerte einen versöhnlichenKurs zwischen den Konfes­sionen. Zahlreiche Refor­mierte, darunter Vertreter derRegierung, besuchten seinePredigten. Auf diese Weiseund durch seine Tätigkeit inpolitischen Gremien wie demKirchen- und Schulrat trugVock entscheidend zum kon­fessionellen Frieden und zurEntwicklung des aargaui ehenSchulwesens bei.

Kulturkanton : Mit den Aktivi­täten des Kantons im «Kultur­kampf» der 1870er Jahre hatdie Bezeichnung nichts zu tun.Sie wurde eindeutig imZusammenhang mit der Kul­turgesell chaft geprägt. Seitherwurde sie zum selten hinter­fragten KJischee.

seilschaft in Aarau entstanden in verschie­denen Bezirken Ableger. Die ZofingerBezirksgesellschaft betrieb bespielsweisenach 1825 in Oftringen eine Handwer­ker-Sonntagsschule mit der Möglichkeitzur allgemeinen und beruflichenWeiterbildung.

Den «Kulturmännern» lag besondersdie Förderung der kantonalen Solidaritätam Herzen. In ihren samstäglichen Dis­kussionsrunden warfen sie unter anderemFragen auf wie: «Worin liegt der Haupt­grund gegenseitiger Rivalität und Gehäs­sigkeit mancher Städte im Aargau und gibtes ein Mittel, derselben entgegenzutre­ten?» Die behandelten Themen betrafenzum Teil staatliche Bereiche und reichtenvon «Abschaffung des Strassenbettels»über die «Nützlichkeit der Aufnahme vonNeubürgern in den aargauischen Städten»bis zur Diskussion über die «Taubstum­men- und Blindenbildung».

Wegen der vielseitigen, in die ganzeSchweiz ausstrahlenden Tätigkeit der Ge­sellschaft wurde der Aargau bald teilsspöttisch, teils bewundernd als «Kultur­kanton» bezeichnet. Der ironische Bei­klang kennzeichnet nicht nur die rührigeArt und Wei e, mÜ welcher die «Kultur­männer» ans Werk gingen, sondern auchden Neid au erkantonaler Beoba hter.Die Idee, aus reinem Patriotismus Zeit,Geld und Arbeit für gemeinnützige Zwek­ke zu opfern, war neu und stiess nichtüberall auf Verständnis. Ferner haftete derGesellschaft in den ersten Jahren der Ma­kel der Geheimbündlerei an. Kritiker wit­terten in ihrem eifrigen Gebahren schwar­ze Magie und begegneten ihr mit Argwohnund Abneigung. Für den Kanton leistetedie Kulturgesellschaft unzweifelhaft viel.Die Verbindung von privatem Einsatz undpolitischem Handeln zur Förderung vonKultur jeglicher Art war im Aargau in denersten drei Jahrzehnten seines Bestehenseinzigartig und rechtfertigte die Bezeich­nung «Kulturkanton».

Gewaltiger Bildungsschub

Die im selbständigen Kanton möglich ge­wordene Ausübung politischer Rechteund der aufklärerische Grundsatz, jederMensch sei mündig, liessen die allgemeineSchulpflicht und die Schaffung höhererBildungseinrichtungen als staatsnotwen-

dig erscheinen. Zur kulturellen Leistungzählten daher im frühen 19. Jahrhunderteuropaweit in erster Linie die Bildungs­anstrengungen.

Heinrich Zschokke formulierte dieBedürfnisse des modemen Staats1820 in seinem Bericht zu einemneuen Schulgesetz folgendermas­sen : «Ohne gute Erziehung und Gei­stesbildung unserer Jugend sindgrösserer Wohlstand, reinere Sitte,mächtigere Vaterlandsliebe inchweren Zeiten und ächte Religio­

sität in unserem Volke zweifelhaft.»Wolle man erreichen, «dass die Frei­heit des Aargaus nicht untersinke,dass unsere Kinder nicht in das Jochselbstverschuldeter Untertanen­schaft geraten», müsse man für eingutes Schulwesen, auch für die Ärm­sten, sorgen.

Diese Einsicht und nicht zuletzt das Ver­langen der wachsenden Industrie nachAngestellten, die mindestens lesen, schrei­ben und rechnen k nnten, filhrten im19. Jahrhundert zu vier Schulgesetzen, diestufenweise die Qualität der Bildung imAargau stark verbesserten. Das Schulge­setz von 1835 stellte in dieser Entwicklungden markantesten Sprung dar. Es begrün­dete das dreigeteilte aargauische Schul­system mit Gemeinde-, Fortbildungs­(Sekundar-) und Bezirksschule, wie es imwesentlichen heute noch besteht.

Manche Gemeinden und Eltern lei­steten anfänglich Widerstand gegen denVollzug dieser Schulgesetze, als plötzlichSchulhäuser gebaut, Lehrer besoldet unddie Kinder auch im Sommer in den Unter­richt geschickt werden mussten, da mansie doch auf dem Feld brauchte. Für dieKinder war die Schule oft kein Vergnügen.Zum Alltag gehörten kleine, dunkle undungeheizte Schulstuben, Züchtigungendurch den Lehrer und viel zu grosse KJas­senbestände. Zwischen 1832 und 1885sank die durchschnittliche Schülerzahl proAbteilung nur geringfügig von 73 auf 56.In manchen Ortschaften unterrichtete eineinziger Lehrer gleichzeitig weit über hun­dert Schüler aller Jahrgänge. Ein einzelnesKind erfuhr unter diesen Bedingungen

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schlechte oder oft gänzlich fehlende Aus­bildung der Lehrer war eines der Grund­übel im Bildungswesen. Der Aargau rea­gierte auf diesen Missstand 1822 mit derGründung des ersten Lehrerseminars derSchweiz.

Abb.88Der Neuhof bei Birr, die ersteWirkungs tälle des weltbe­rühmt gewordenen PädagogenJohann Heinrich Pestalozzi(1746-1827). icht zufälligwählte der Zürcher den Platzfür sein 1769 errichtetes land­wirtschaftliches Mustergut,dem er 1772 eine Annenerzie­hungsanstalt anfügte, ganz inder ähe des Tagungsortesder Helvetischen Gesellschaft.Hier schrieb er - seinerseitvom Aufklärer Jean-JacqueRou seau in piriert ­1781-1787 seinen vierbän­digen, zur Weltliteratur zäh­lenden Erziehungsroman«Lienhard und Gertrud», imGrunde genommen eine Dorf­ge chichte des Birrfelds. Aufdem euhof begann er, seinevon aufgeklärtem Denkenbeeinflussten Erziehungs­grundsätze erstmals in diePraxis umzusetzen. Wie derum 1780 verlassene und1825-1827 erneut von ihmbezogene Neuhof litten auchPestalozzis spätere Anstaltenin Stan , Burgdorf, München­buchsee und Yverdon unterseinen geringen organisatori­schen Fähigkeiten. Sein päd­agogischer Grundsatz dergleichwertigen Erziehung vonKopf. H"r7 und H~nd ~elzte

sich aber allgemein durch undgilt bis heute.

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kaum Förderung. Zudem entsprach dieWirklichkeit nicht überall den schwierigdurchzusetzenden gesetzlichen Vorschrif­ten. Bis zum Schulgesetz von 1835 endetebeispielsweise die Schulpflicht in katholi­schen Gebieten im Alter von 13 Jahren, inprotestantischen drei Jahre später. Die

Entwicklung der Volksschule 1805-1865

Schul- Wichtigstegesell Neuerungen

Schülerpro lehrer

Ferien

Lehrerseminar: Der Kantonrichtete das Lehrerseminar1846 im fünf Jahre zuvor auf­gehobenen Kloster Wettingenein. Vorher befand ich dasSeminar nacheinander inAarau und Lenzburg. Ein Leh­rerinnen eminar wurde erst1873 gegründet. 1976 reorgani­sierte der Aargau seine Lehrer­au bildung, worauf er dasSeminar Wellingen in eineKamonsschule umwandelte.

Kanlonsschule: Aarau erhieltdas erste Gymnasium derSchweiz, dessen Lehrer nichtmehr dem geistlichen Standangehörten. Das Kantons­schulge etz von 1813 sah einezweite Millelschule für denkatholischen Landesteil vor.Die e Gesetzesbestimmungwurde trotz vieler Bemü­hungen erst erfüllt, als die Aar­gauer Stimmbürger 1960 dieErrichtung einer Kanton ­schule in Baden beschlossen.

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1805

1822

1835

1865

Jede Gemeinde muss eine eigene SchulehabenAllgemeine Schulpflicht ab 6. JahrSchulaustritt dann, wenn das Kindfertig lesen, schreiben und wenn möglichrechnen kann

Jede Gemeinde muss ein Schulhaus bauen

Offene Stellen sollen nur noch mitausgebildeten lehrern besell1 werdenSchulaustritt aufgrund einer Prüfung(keine Altersgrenze)

Einteilung in Schulstufen:Gemeinde-, Fortbildungs- und 8ezirksschuleArbeitsschulen für Mädchen werdenobligatorischBessere lehrerausbildung (2-3 Jahrel

Mädchen dürfen Bezirksschule besuchenKonfessionell getrennte Schulen beginnenzu verschwindenlehrplan sieht Turnunterricht vorBessere lehrerausbildung (4 Jahre lehrerseminarl

80

legt der Kleine Ratfest

100,ausnahmsweise 120

80

Unterricht hauptsächlichim Winter

8 Wochen, vermehrtUnterricht im Sommer

B-12 Wochen

10 Wochen

Bezirksschule: Die rascheDurchsetzung des Schulge­setze von 1835 wurde mit derUmwandlung der bestehendenSekundarschulen in Bezirks­schulen erreicht. In jedemBezirk sollte mindesten einderartiges Institut tehen.Diese Forderung war 1843erfüllt. 1836 bestanden bereits14, 188523 Bezirk chulen,darunter drei 1875/76 entstan­dene Mädchenbezirksschulenin Baden, Lenzburg undAarau.

Zurlaubialla: Die Bibliothekdes Generals Zurlauben,Angehöriger des bekanntenZuger Ge chlechts, das in denFreien Ämtern zu Einfluss undBesitz gekommen war, enthältTausende zum Teil seltenerDruckschriften und eine 300Bände umfassende Sammlunghandschriftlicher Urkundenund Amtsakten. Seit 1973wertet ein Forscherteam dieunglaublich reichhaltigeHandschriftensammlung derZurlaubiana aus und macht sieder Öffentlichkeit zugänglich.

WeitereBildungsanstrengungen

Die Bemühungen des Aargaus um das Bil­dungswesen sind im Vergleich zu anderenKantonen überdurchschnittlich gross. Dasklassische Beispiel für einen regelrechtenBildungsidealismus ist die KantonsschuleAarau. 114 Aarauer Bürger aus allenSchichten, an ihrer Spitze der Seidenband­fabrikant Johann Rudolf Meyer, eröffne­ten diese Schule 1802 aus privater Initiati­ve mit Beiträgen, die sich nach dem Ver­mögen und Einkommen der Gründer rich­teten. 1813 entlastete der Kanton die Stifterund übernahm die Schule. Gleichzeitigwandelte er die jahrhundertealten Latein­schulen in den Städten in Anstalten um,die von ihrem Niveau her den unterenKlassen eines Gymnasiums entsprachen.Dieses dezentrale Angebot einer mittlerenBildungsstufe in allen Bezirken war eineschweizerische Pionierleistung. 1835 er­hielten diese Institute den damals sinnge­mässen Namen «Bezirksschule». Wegwei­send über den Kanton hinaus wurde die1809-1835 im aufgehobenen Kloster Ols­berg betriebene höhere Töchterschule, woder Kanton Mädchen beider Konfessio-

nen zur Ausbildung zuliess, was als beson­ders fortschrittlich galt. Auf die Bedürfnis­se der Aarauer Industrie zugeschnittenwar die 1826 durch die Fabrikanten KarlHerose und Johann Georg Hunziker ge­gründete Gewerbeschule. Sie wurde 1835in die Kantonsschule integriert.

Die Staatsmänner der ersten Stundebetrachteten eine für alle Kantonsbürgerzugängliche Bücherei als unverzichtbar.Schon 1803 gründeten sie die Kantons­bibliothek und erwarben als Grundstockaus der helveti chen Liquidationsmassedie als «Zurlaubiana» bezeichnete Biblio­thek des Generals Beat Fidel Zurlauben.Der Kanton liess sich den Erwerb etwaskosten: Die 19000 Franken für den An­kauf entsprachen dem Gegenwert vonrund 200 Lehrer-Jahresgehältern. Durchzahlreiche Schenkungen und zielbewussteBücherankäufe, nicht zuletzt durch die1841 einverleibten wertvollen Buch- undHandschriftensammlungen der aufgeho­benen Klöster Muri und Wettingen, wuchsdie Kantonsbibliothek rasch. Der anfäng­liche Bestand von 9000 Bänden nahm bis1857 auf 60000 zu. Mit ihren 450000 Bän­den im Jahr 1990 gehört die AargauischeKantonsbibliothek zu den mittelgrossenBibliotheken der Schweiz.

Abb.90Spielende Knaben imSchlo hof von Lenzburg, woder aus Braunschweig stam­mende Christian Lippe von1823 bis 1853 eine privateErziehung anstalt betrieb. Diekörperliche Betätigung unddie Entwicklung der spieleri­schen Eigenschaften desKindes nehmen in der Päd­agogik Pestalozzis, welcheauch Lippe aufgriff, einenbreiten Raum ein. Währendgrösstenteil Kinder vermö­gender Eltern aus dem Aus­land Lippe Internatbesuchten, diente ein weiteresprivates Bildungsinstitut, derin Aarau von 1819 bis 1830be tehende «Lehrverein» derKulturgesellschaft, hauptsäch­lich jugendlichen oder bereitserwachsenen Aargauern, dieihre Volksschulbildung für daspraktische Leben als Beamte,Kaufleute und Handwerkererweitern wollten. Der«Lehrverein» war in diesemSinn eine Art Volkshoch­schule.

9095

Abonnenten

91

davon Aargau

1822 1828

D Verkaufsauflage

Zeitung der Schweiz. Dauernd erregte sieden Unwillen ausländischer Diplomaten,die ihre aristokratischen oder reaktionärenRegierungen heftig angegriffen sahen undbei der Tagsatzung gegen das streitbareBlatt aus Aarau Sturm liefen. Sie verlang­ten Zensur, Verbot und Bestrafung underreichten immerhin, dass die AargauerRegierung 1819 eine Polizeiaufsicht überpolitische Blätter einführte. 1821 ent­schlossen sich die Herausgeber der «Aar­auer Zeitung» aufgrund der Proteste undEinschränkungen, das Blatt nicht weitererscheinen zu lassen. Paul Uteri führtedanach seine journalistische Arbeit bei der«Neuen Zürcher Zeitung» weiter, welchedie «Aarauer Zeitung» in ihrer Funk­tion als führende fortschrittliche Zeitungablöste.

Diplomatischer Affront ­politische Erstarrung

Interventionen benachbarter Staaten ge­gen den progressiven Aargau waren um1820 beinahe an der Tagesordnung. Dankder liberalen Presseverordnung von 1816war hier eine weitaus freiere Meinungs­auss~rung möglich als in den meistenanderen Kantonen. In Aarau liess sich inden zwanziger Jahren ein halbes Dutzendpolitischer Flüchtlinge nieder, weshalbkonservative eidgenössische Politiker undausländische Diplomaten den Aargau alsHerd revolutionärer Machenschaften be­trachteten. Doch entgegen allen Vorwür­fen bereiteten sie nichts vor, was die reak­tionären Verhältnisse in den deutschenStaaten hätte verändern können. ImGegenteil: Die Flüchtlinge, die Aarau auf­suchten, weil sie über Bekannte von des­sen vergleichsweise liberalem Klima ge­hört hatten, hüteten sich, auf ihr Heimat­land Einfluss zu nehmen. Sie fügten sichbestens ins gesellschaftliche Leben derKantonshauptstadt ein, nahmen still undbescheiden an den Versammlungen derKulturgesellschaft teil und betätigten sichals Lehrer an der Kantonsschule und ananderen Schulen, allerdings nicht ohneihre Zöglinge in freiheitlich-progressivemGeist zu erziehen. Unter den Kantons­schülern der 1820er Jahre befand sich dieganze spätere Politikergarde des Kantons.Unübersehbar prägten Deutsche den jun­gen Kanton massgeblich: Nicht nur et-

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breiteten Zeitung der Deutschschweiz undzum Organ, das die Ideen der Kulturge­seIlschaft ins Volk hinaustrug. Um seineZeitung herauszugeben, liess Zschokkeden Verleger Heinrich Remigius Sauerlän­der nach Aarau kommen.

Im rasch wachsenden Verlag Sauer­länder erschienen nicht nur der «Schwei­zer-Bote», sondern eine ganze Reiheweiterer aufklärerisch-liberaler Presseer­zeugnisse. Der Verlag galt bei seinen Geg­nern im deutschen Sprachraum bald alsVerbreiter fanatischer Revolutionsbegei­sterung, als «Arsenal des Jakobinismus».Von 1814 bis 1821 druckte Sauerländer diehauptsächlich vom Zürcher Paul Usteri re­digierte «Aarauer Zeitung». Sie war fürein anspruchsvolles und fortschrittlicheingestelltes Publikum die meistgelesene

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Um aufklärerische Ideen und wIssen­schaftliche Erkenntnisse, zum Beispielüber eine ertragreichere Landwirtschaft,zu verbreiten, eigneten sich am besten Zei­tungen. Aus diesem Grund gab HeinrichZschokke in Aarau ein allgemeinver tänd­liches Blatt heraus. Dieser «aufrichtigeund wohlerfahrene Schweizer-Bote» er­schien ab 1804 und wurde zur meistver-

Presse, Zensurund Pressefreiheit

Abb. 9/Aunageentwicklung des«Schweizer-Boten». Zum Ver­gleich: Die Druckaunage der«Aarauer Zeitung» betrug1819 rund 1000 Exemplare.Diese Zahlen erscheinengering, doch beide Blätterfanden vor allem gro se Ver­breitung durch das Weiterrei­chen von Hand zu Hand. Imeinen Dorf mag der Lehrer dereinzige Abonnent des«Schweizer-Boten» gewesensein, im anderen der Pfarrer.Über den Schulunterricht odervon der Kanzel herunterkonnten die im Blatt aufgegrif­fenen Themen je nachBelieben in noch volkstümli­cllerer t-orm verbreitetwerden.

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seiner Anstellung in Aarau das Bürger­recht von Effingen erlangt. Ein fremderStaat stellte also das Begehren nach Aus­lieferung eines Kantonsbürgers ! Die Aar­gauer Regierung wies das Ansinnen zwarab, liess sich aber vom hemmungslosenpreussischen Gesandten mündlich undschriftlich traktieren und duldete schliess­lich, dass ein preussischer Offizier im Aar­gau erschien, um Folien abzuholen. UnterDruck hatte dieser inzwischen beschlos­sen, sich freiwillig zu stellen. Eine psychi­sche Krankheit, in die er sich aus Angstflüchtete, bewahrte ihn schliesslich vor derVerhaftung. Preussen hatte immerhin ei­nen diplomatischen Sieg über den Aargauerrungen. Die Aargauer Regierung musstesich vorwerfen lassen, Souveränitätsrechtepreisgegeben zu haben.

Der Vorfall ist typisch für das politi­sche Klima in den 1820er Jahren. Männerder Helvetik beherrschten nach wie vordie Aargauer Politik. Sie waren jedoch ineinen bisweilen aristokratisch anmuten­den Regierungsstil abgeglitten, der nurnoch wenig mit der fortschrittsbegeistertenStimmung vor 1820 gemein hatte. Am16. März 1824 verschärfte die Regierungdie Zensurbestimmungen, womit es auchim Aargau schwieriger wurde, sich frei inder Presse vernehmen zu lassen. Erst 1828änderte sich die Situation, als die «Appen­zeller Zeitung» von der Beseitigung derZensur in diesem Kanton profitierte undsich zum aufgeschlossensten Blatt derSchweiz mauserte. Die Aargauer Opposi­tionellen sandten jetzt ihre Artikel nachTrogen, von wo sie in Zeitungsform annicht wenige Aargauer Abonnenten ge­langten. Der Aarauer Anwalt Karl RudolfTanner, ein späterer politischer Wortfüh­rer der 1830er Jahre, war beispielsweisehäufig gelesener Kolumnist der «Appen­zeller Zeitung». Dem Badener Lehrer Jo­hann Baptist Brosi gelang es sogar, 1830mit Artikeln in diesem Blatt in seinem Hei­matkanton Solothum einen politischenUmsturz auszulösen. Der Aargau war sei­ner Rolle als progressivster und presse­freundlichster Kanton verlustig gegangen.Erst am 7. Dezember 1829, im gleichenZeitraum wie in der übrigen Schweiz,schaffte der Kleine Rat die Zensur ab.Dieser Entscheid, ein Vorgeschmack despolitischen Umschwungs von 1830, bildetedie Grundlage, auf der in den folgendenJahrzehnten zahlreiche Aargauer Zeitun­gen entstanden.

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liche Kantonsschulprofessoren, sondernauch die viel früher eingewandertenZschokke, Sauerländer und Regierungsratvon Schmiel waren ursprünglich deut­scher Abstammung.

Die hartnäckig vorgetragenen Prote­ste gegen die schweizerische und vor allemaargauische Presse- und Flüchtlingspolitikveranlassten die Tagsatzung am 21. August1823 zum Erlass eines «Press- und Frem­denkonklusums». Es beinhaltete eine ver­schärfte Presseüberwachung mit neuenZensurbestimmungen und hinterliesseinen schwarzen Fleck in der SchweizerAsylgeschichte. Den Höhepunkt der di­plomatischen Verwicklungen erlebte derAargau mit dem «Folien-Handel». 1824stellte der preussische Gesandte ein Be­gehren nach Verhaftung und Auslieferungdes Kantonsschulprofessors Adolf Folien.Dieser Deutsche war 1821 aus preussischerGefangenschaft geflüchtet und hatte nach

Abb.92Titelseite des «Schweizer­Boten» mit Zensurlücke, 1825.Eine verfassungsmässige Pres­sefreiheit existierte weder inder Mediations- noch in derRestaurationszeil. Jeweils einRegierungsrat untersuchte diePresseerzeugnisse höchstper­sönlich auf ihre Botmässigkeil.Die Zen ur war im Aargauwesentlich milder als in denmeisten anderen Kantonen.

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