48

Der letze Kampf der ERYSGAN

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Der letze Kampf der ERYSGAN
Page 2: Der letze Kampf der ERYSGAN

Atlan - Minizyklus 05 ­Dunkelstern

Nr. 02

Der letze Kampf derERYSGAN

von Christian Montillon

Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ. Atlan ist gemeinsam mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf die Fährte der »Lordrichter von Garb« gestoßen, die mit riesi­gen Armeen und geraubter varganischer Technologie verdeckt in der Southside der Milchstraße agieren; ihr Hauptaugenmerk gilt allerdings der Galaxis Gruelfin, der Hei­mat der Cappins.

Atlan und Kythara haben – gemeinsam mit dem Daorghor Gorgh-12 und dem Saq­surmaa Emion – einen »Kardenmogher« als Raumfahrzeug und mächtige Waffe in ihre Hände gebracht. Damit schafften sie es, die Psi-Quelle Murloth auszuschalten.

Ehe sie sich weiter mit den Lordrichtern befassen können, rettet Kythara ihren schlafenden Geliebten Kalarthras von Vassantor. Bei einem Überfall der Lordrichter-Truppen wird die AMENSOON beinahe vernichtet, doch ein Cappin-Raumer taucht auf und wendet das Blatt. Endlich rücken neue Informationen in Reichweite, da ge­schieht andernorts Schreckliches: DER LETZTE KAMPF DER ERYSGAN …

Page 3: Der letze Kampf der ERYSGAN

3 Der letze Kampf der ERYSGAN

Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide fasst einen verhängnisvollen Entschluss.Kythara - Der Anblick ihres ehemaligen Gefährten stimmt die schöne Varganin nachdenklich.Toragasch - Der Cappin erlebt den Gesang des Untergangs.Zokelag - Toragaschs Zögling überschreitet seine Grenzen.Heroshan Offshanor - Der Kommandant der SYVERON kommt den Bedrängten zu Hilfe.

Prolog Lieder der Stille,

Gesang des Endes

»Es ist vorbei, Sternenjunge.« Das Ende kommt auf mächtigen Schwin­

gen, und ich muss es willkommen heißen. Nichts bleibt mir, nichts außer ein wenig Zeit.

Zeit, in der ich meine Mutter singen höre. Ihre samtene Stimme dringt aus tiefer Ver­gangenheit zu mir, und heute weiß ich end­lich, dass sie schon immer die Wahrheit ge­sprochen hat. Ich vernehme ihre Stimme, se­he ihr liebliches Gesicht, fühle ihre Liebe und ihre Weisheit.

Ihre Liebe, die auch die vielen, vielen Jahre nach ihrem Tod noch lebendig ist.

Ihre Weisheit, die immer noch, nach al­lem, was geschehen ist, Bestand hat.

Sie hatte Recht, als sie mich vor meinen Träumen warnte. Als sie die alten, lange überlieferten Lieder umänderte, um mir das zu zeigen, was kommen würde.

»Scheide nicht, Junge … … bleibe hier …

… lausche nicht dem Ruf der Sonnen, der dich mit Fernweh infiziert.

Denn Fernweh ist Sternweh, und am Ende bleibt das Wehe.

Scheide nicht, Sternenjunge … … bleibe hier …«

Während die Zeit verrinnt, das Ende naht, gefriert alles in mir, alles um mich herum. Und als ich all die Männer, die auf mich hoffen, bewegungslos eingefroren in diesem zeitlosen Moment der Klarheit sehe, da kommen mir erstmals wieder Zweifel. Ja, die Liebe und die Weisheit meiner Mutter le­ben immer noch in mir, und sie haben mich

nie verlassen. Und wäre ich geblieben, wäre ich jetzt

vielleicht in Sicherheit. Wäre … wäre … Was zählt, ist das Heu­

te. »Sternenjunge, höre auf zu weinen, leihe dein Ohr nicht dem Locken, denn Fernweh ist Sternweh, und am Ende bleibt das We­he«, höre ich sie singen, wieder und wieder, bis ihre Stimme vertönt, unter dem Schrillen des Alarms erlischt.

Endlich kehrt Stille ein in meinem Kopf, während um mich herum Chaos ausbricht.

»Am Ende bleibt das Wehe«, murmele ich halblaut vor mich hin und ernte verwirrte Blicke. Doch das Wehe ist nicht nur für mich. Das Wehe ist auch für meine Feinde.

Für unsere Feinde. Für die Feinde aller Cappins.

Gedanken Kommandant Toragaschs, als die Offensive der Lordrichter-Truppen auf die ERYSGAN beginnt.

1. An Bord des Pedopeilers ERYSGAN:

Kommandant Toragasch

»Die Belastung der Schutzschirme über­steigt jede Toleranz! Der Zusammenbruch steht unmittelbar bevor!«

Die Meldung riss Toragasch aus seinen Gedanken. »Aus wie vielen Schiffen besteht die Angriffstruppe mittlerweile?«

Die Antwort ging in einer Explosion un­ter, die eine Sektion des Pedopeilers zerriss und deren Auswirkungen bis in die Zentrale zu spüren waren. Einige der Offiziere stürz­ten, als ein harter Stoß durch das riesige Schiff lief. »Bericht!«, forderte Toragasch. Der Kommandant stand unerschütterlich fest.

Page 4: Der letze Kampf der ERYSGAN

4

»Ein kurzfristiger Ausfall der Schirme, der aber bereits behoben wurde.«

»Schadensbericht!«, forderte der Kom­mandant knapp.

»Die Hülle über mehrere Decks hinweg wurde zerstört. Die Bereiche sind abgetrennt und gesichert.«

Gesichert, schoss es Toragasch durch den Kopf, doch es blieb keine Zeit, über die Be­deutung dieses Wortes nachzudenken. Her­metisch abgeriegelt, ohne darauf achten zu können, wie viele Intelligenzwesen getötet worden waren oder sich womöglich noch le­bend in der gesicherten Sektion befanden, zum sicheren Dekompressionstod verurteilt …

»Es war ein Kugelschiff der Zaqoor«, meldete Zokelag, Toragaschs engster Ver­trauter an Bord.

»Ich orte mehr als zwanzig von ihnen.«. »Die Schutzschirme verstärken!«, befahl

Toragasch, ohne auf die Meldung zu achten. Was spielte es für eine Rolle, ob die Zaqoor oder die Torghan den ersten vernichtenden Treffer gelandet hatten? Das Ergebnis war dasselbe. »Das Abwehrfeuer auf die Käfer­raumer konzentrieren!«

»Wir werden nicht mehr lange bestehen können«, rief Zokelag. »Wir benötigen Hil­fe.«

»Einen Hilferuf absetzen!«, stimmte der Kommandant zu. Er verließ sich blind dar­auf, dass die Verantwortlichen seinen Befehl umsetzten. Vielleicht lag darin eine Mög­lichkeit, doch noch siegreich sein zu können. Aber würde rechtzeitig Unterstützung ein­treffen?

Toragasch konnte es nur hoffen, denn oh­ne Hilfe war der Pedopeiler der Übermacht seitens der Garbyor-Raumer chancenlos aus­geliefert.

»Es sind weitere Angreifer aufgetaucht«, meldete Zokelag in diesem Moment, und Toragaschs neu geschöpfte Hoffnung zer­brach wie dünnes Glas. »Zehn weitere Kä­ferraumer!« Die Panik in der Stimme des jungen Ganjasen war unüberhörbar.

»Die Stabilisierung der Dakkarfelder hat

Christian Montillon

oberste Priorität«, befahl der Kommandant unerschütterlich. Die Shiruh-Käferraumer setzten Interferenzfelder ein, die in der Lage waren, auch hoch entwickelte Schutzschir­me zu brechen. Die Dakkarschirme der ERYSGAN würden den Störfeldern nicht lange Widerstand entgegensetzen können.

Eine Meldung ging über den Bildschirm vor Toragasch ein. Rasch warf er einen Blick auf die wenigen Zeilen. Die Explosion hatte ein Dutzend Besatzungsmitglieder ge­töiet. Doch gleichgültig, wie schwer deren Leben wogen, war Toragasch froh, dass nicht mehr Opfer gefordert worden waren. Noch lebten die meisten der 2000 Ganjasen, für die er verantwortlich war.

»Der Notruf wurde abgesetzt«, rief Zoke­lag.

»Was ist mit den Schirmfeldern?«, fragte Toragasch erneut.

Zokelag zögerte einen Moment. »Ich er­halte keine verlässlichen Werte.«

»Zwei der Käferraumer wurden vernich­tet«, meldete der Waffenoffizier der ERYS­GAN.

Eine gute Nachricht, doch in Wirklichkeit nicht mehr als ein Tropfen in den unendli­chen Meeren der Heimatwelt. Scheide nicht, Sternenjunge, dachte Toragasch und ballte seine Hände. Der Nagel seines Daumens schnitt ihm ins Fleisch, und Blut quoll aus der Verletzung.

»Wir müssen weitere Raumer vernichten, um deren Interferenzfelder von unseren Schutzschirmen fern zu halten!« Der Kom­mandant stützte sich auf seiner Station ab und hinterließ eine dünne blutige Spur.

»Die Dakkarfelder sind stabil.« In Zoke­lags Stimme lag deutlicher Triumph, und so unpassend dieser angesichts der feindlichen Übermacht auch sein mochte, so gut ver­stand Toragasch seinen Vertrauten.

Deshalb sparte er sich jede Erwiderung. Doch er fragte sich, ob es angemessen war, Triumph zu empfinden. Denn die Lordrich­ter waren ganz offenbar nicht länger gewillt, die Aktivitäten der Cappins in Gantrain zu dulden.

Page 5: Der letze Kampf der ERYSGAN

5 Der letze Kampf der ERYSGAN

*

Zokelags Herz übersprang einen Schlag, und er ärgerte sich über sich selbst. Als er die Nachricht von der Zerstörung des Käfer­raumers erhalten und danach die Stabilität der Schirme weitergemeldet hatte, war er von Siegesgewissheit erfüllt gewesen – völ­lig unpassend, wenn man ihre Lage objektiv beurteilte.

Er musste einen klaren Kopf bewahren, sonst würde er Toragasch ein schlechter Be­rater sein. Und gerade jetzt benötigte der Kommandant jemanden, auf den er sich ab­solut verlassen konnte.

Eine große Anzahl an Meldungen wurde aus dem ganzen Pedopeiler auf Zokelags Station geleitet. Es war seine Aufgabe, sie rasch zu sichten und nur das an den Kom­mandanten weiterzuleiten, was für ihn wich­tig war. Die Selektion der Nachrichten erfor­derte eine rasche Auffassungsgabe und er­laubte keinerlei Ablenkung.

Dann erschien eine Meldung auf seinem Display, die all seine Aufmerksamkeit ge­fangen nahm. Zokelag las die Worte und spürte, wie Panik in ihm aufstieg.

»Zehn Shiruh-Käferraumer setzen kombi­niert ihre Störfelder ein«, rief er. Er konnte ein Zittern seiner Stimme nicht unter­drücken. Die Interferenzen störten massiv das Zusammenwirken der sechsdimensiona­len Komponenten ihrer Schirme.

»Überlastungseffekt in wenigen Sekun­den!«

»Feuer auf die Käferraumer!«, befahl der Kommandant ohne jedes Zittern in der Stim­me.

Zokelag bewunderte Toragaschs Ruhe. Der Kommandant war fähig, selbst jetzt noch den Überblick zu behalten. In seinen Worten lag nicht die geringste Unsicherheit. Zokelag hingegen spürte, wie ihm immer mehr die Kontrolle über sich selbst entglitt. Die Angst verdrängte alle anderen Emotio­nen.

»Nicht jetzt!«, flüsterte Zokelag.

Er beobachtete auf dem Bildschirm, wie sich das Feuer der ERYSGAN auf den Ver­band der Käferraumer konzentrierte, was den anderen Einheiten der Garbyor die Mög­lichkeit verschaffte, ungehindert anzugrei­fen. Sowohl die Zaqoor als auch die Torg­han nutzten die gewonnene Freiheit sofort und legten Dauerfeuer auf die Schutzschir­me des Pedopeilers.

Diesem konzentrierten Beschuss allein hätten die hochgespannten Paratronschirme standhalten können, doch in Kombination mit den Interferenzfeldern der Käferraumer ergab sich eine vernichtende Wirkung.

Die Schutzschirmbelastung lag bei 180 Prozent, drastisch steigend – das konnte nicht mehr lange ausgeglichen werden. Mehr Energie … zu spät!

»Überlastungsreaktion – jetzt!«, stieß Zo­kelag mit bebender Stimme hervor, während er spürte, wie sein linkes Bein unkontrolliert zu zittern begann. Er kannte diese Sympto­me seit Jahren.

In den nächsten Augenblicken wurde die Hülle der ERYSGAN an zahlreichen Stellen von kleineren Explosionen zerstört. Auf Zo­kelags Display liefen im Sekundentakt Scha­densmeldungen ein. Er versuchte sich einen Überblick zu verschaffen, doch er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Die Außenwandung wurde zerfetzt … die Decks Zehn, Zwölf, Dreizehn … Druckab­fälle in drei, vier – nein, sechs Sektionen … ein Bruch der Verbindungsstreben im Mit­telteil des Außenbereichs …

Alarmsignale schrillten durch den Pedo­peiler.

Gleichzeitig sah Zokelag auf dem Bild­schirm der Außenbeobachtung, wie der Ver­band der Käferraumer dem Dauerbeschuss wich. Vier der feindlichen Schiffe trieben schwer beschädigt durch das All. Ein Erfolg, der vor einer Minute noch von entscheiden­der Wichtigkeit gewesen wäre, jetzt jedoch völlig bedeutungslos war. Zokelag erschien er nicht einmal der Weitergabe wert.

»Status!«, drang die Aufforderung Tora­gaschs an seine Ohren, doch es dauerte Se­

Page 6: Der letze Kampf der ERYSGAN

6

kunden, bis er sie bewusst wahrnahm. »Wir – die Schirme …«, stotterte Zoke­

lag. »Statusmeldung!«, wiederholte der Kom­

mandant. Während einer der gegnerischen Raumer

explodierte und in einem Flammenmeer Hunderte der feindlichen insektenartigen Shiruh ihr Ende fanden, nahm Zokelag nur eines wahr. Sein Blick haftete an der Liste der Schadensmeldungen, die länger und län­ger wurde. Klaffende Löcher überzogen die beiden mit dem Pedopeiler ERYSGAN ver­bundenen Kugelraumer. Überall auf den zweitausend Meter durchmessenden Schif­fen schlugen die Schüsse der Lordrichter-Trup­pen ein und vollbrachten ihr unheilvolles zerstörerisches Werk.

»Zokelag!«, schrie Toragasch nun ein­dringlich. »Reiß dich zusammen!«

Doch Zokelag konnte der Aufforderung seines Kommandanten und Mentors nicht gehorchen. In diesen Sekunden, den siche­ren Tod vor Augen, brach alle Disziplin zu­sammen, die er sich in jahrelangem Drill er­arbeitet hatte. Die Verantwortung für die 2000 Ganjasen an Bord, die er neben Tora­gasch zu einem großen Teil zu tragen hatte, wog unendlich schwer auf ihm. Zu schwer.

»Bitte um Ablösung«, sagte er kraftlos, und zu dem Entsetzen gesellte sich die Scham über sein Versagen.

»Simaro, übernehmen Sie!«, befahl Kom­mandant Toragasch unverzüglich.

Zokelag wankte von seinem Platz. Dem Blick Toragaschs wich er aus, doch er spürte die Enttäuschung seines Mentors. Toragasch hatte ihn in all den Jahren, seit er unter sei­nem Kommando diente, stets gefördert und seine Karriere beschleunigt. Nur von der tief in Zokelag verwurzelten Angst hatte der Kommandant nie etwas erfahren …

»Die Angreifer schleusen Kleinraumer aus!«, hörte Zokelag Simaros Stimme, als er die Zentrale verließ. »Sie planen die Ente­rung der ERYSGAN.«

Dann schloss sich das Schott hinter ihm, und die hektische Aktivität der Zentralebe-

Christian Montillon

satzung wurde seiner Wahrnehmung entzo­gen. Die Ruhe war Balsam für Zokelags be­drängtes Bewusstsein. Jetzt, da nicht mehr Hunderte von Informationen gleichzeitig auf ihn einstürmten, klärten sich seine Gedanken langsam.

Er wusste, dass er sich nach wie vor un­verändert in Lebensgefahr befand, ebenso wie alle anderen an Bord, doch die Verant­wortung seines Postens lastete nicht länger auf ihm.

Die Erleichterung darüber schwand je­doch rasch, als ihm erneut seine Schuld be­wusst wurde. Er hatte kläglich versagt, als er zum ersten Mal in eine Extremsituation ge­raten war …

*

Toragasch unterdrückte seine Enttäu­schung über Zokelags Versagen. Die Situati­on spitzte sich zu, und er durfte nicht zulas­sen, dass seine volle Konzentration aufgrund persönlicher Gefühle beeinträchtigt wurde. Seine Aufgabe als Kommandant dieses Schiffes stand in diesen Minuten über allem anderen.

Simaro hatte Zokelags Posten ohne Schwierigkeiten übernommen. Er filterte zu­verlässig die Masse der eingehenden Mel­dungen. »Der Beschuss ist weitgehend been­det. Wir haben mehrere Lecks in der Außen­hülle davongetragen. Alle betreffenden Sek­tionen wurden versiegelt. Bislang vierund­fünfzig gesicherte Opfer.« Nach einem kurz­en Moment des Schweigens verbesserte er sich: »Ein Bruch hat eine Energieleitung be­schädigt und zu einer internen Explosion ge­führt. Das Sicherungsteam wurde überrascht und bis auf einen Ingenieur vollständig getö­tet. Der Sauerstoff des kompletten Decks entweicht dort. Keine Stabilisierung bis jetzt.«

»Sofort Nachricht an ein weiteres Repara­turteam!« Toragaschs Gedanken überschlu­gen sich. Wenn der Druckverlust nicht ein­gedämmt wurde, konnte das weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Welche

Page 7: Der letze Kampf der ERYSGAN

7 Der letze Kampf der ERYSGAN

Rolle spielt das noch?, durchzuckte ihn ein fatalistischer Gedanke. Die ERYSGAN ist ohnehin verloren.

»Noch nicht«, flüsterte Toragasch und be­gehrte gegen die Hoffnungslosigkeit auf. Wenn Hilfe unterwegs war, musste er nur lange genug die Stellung halten. Da die ERYSGAN als Empfänger eines Pedotrans­mitters dienen konnte, traf möglicherweise jeden Moment Hilfe ein – auch von weit her.

»Kommandant?«, fragte Simaro. Zokelags Stellvertreter verfügt offenbar

über ein gutes Gehör, dachte Toragasch, ignorierte die Frage jedoch. Er beobachtete weiter den Bildschirm, der das Geschehen im Weltraum um die ERYSGAN herum ab­bildete.

Er konnte die Menge der Kleinraumer nicht mehr zählen, die von den Garbyor dem Pedopeiler entgegengeschickt wurden. Tora­gasch war klar, dass seine Männer die Enter­kommandos unmöglich stoppen konnten.

Etliche der kleinen Fähren und Beiboote explodierten unter dem Beschuss der Vertei­diger, doch die schiere Menge war nicht auf­zuhalten. Schon dockten die ersten Feinde an den Schleusen an, sprengten die Hülle und drangen in die ERYSGAN ein.

»Mehrere Enterkommandos sind an Bord gelangt«, meldete Simaro, als habe Tora­gasch es nicht längst bemerkt.

»Schickt ihnen Truppen entgegen«, sprach er die einzig mögliche Option aus. »Sie müssen gestoppt werden! Und stellt die Schutzschirme wieder her!«

»Die Interferenzfelder der Shiruh sind …«

»Es ist mir bewusst, dass die Motten nach wie vor aktiv sind. Ihr Verband ist gesprengt worden, also müssen sie daran gehindert werden, sich wieder zusammenzuschlie­ßen!« Ohne die Schutzschirme würde der Pedopeiler bald von Kommandos der Lord­richter-Truppen wimmeln.

»Enterkommandos sind an mehr als zehn Stellen in die ERYSGAN eingedrungen!«, rief Simaro.

Toragasch verdrängte den Gedanken an

die blutigen Einzelkämpfe, die jetzt überall im Schiff ausbrechen würden. Er musste ei­ne Strategie finden, die Shiruh-Käferraumer zu stoppen …

»Weitere Enterkommandos dringen ein!« Da wusste Toragasch, dass das Ende viel

zu rasch näher kam.

*

Zokelag taumelte unter der Erkenntnis seines Versagens und seiner Schuld. Tora­gasch hatte sich auf ihn verlassen, doch er war wie ein jammernties Baby geflohen …

Aber wenigstens jetzt durfte er seinen Mentor nicht enttäuschen, auch wenn dieser möglicherweise niemals erfahren würde, wie er nun handelte. Er durfte nicht tatenlos durch die Gänge des Pedopeilers irren!

Zokelag dachte an die letzten Worte, die er gehört hatte, ehe er die Zentrale verließ. Die Garbyor beabsichtigten, die ERYSGAN zu entern. Das bedeutete, dass den eindrin­genden Soldaten Gegenwehr entgegenge­bracht werden musste. Jeder einzelne Cap­pin hatte bereitzustehen, um das Schiff mit seinem Leben zu verteidigen.

Vielleicht konnte Zokelag etwas von sei­ner Schuld wieder gutmachen. Wenn er sich den Feinden persönlich entgegenstellte, konnte er dennoch einen Beitrag zur Vertei­digung des Pedopeilers leisten.

Denn wenn die ERYSGAN fiel, bedeutete dies noch weit mehr als nur den Tod für sie alle. So viele Cappins waren in dieser Gala­xis unentdeckt dank ihrer Pedotransfer-Fä­higkeiten aktiv, um die Machenschaften der Lordrichter auszukundschaften. Diese Agen­ten benötigten eine Basis!

Die ERYSGAN musste bestehen bleiben! Als Zokelag an einem Informationspult

seinen Kommandokode eingab und die aktu­ellen Informationen abrief, erkannte er, dass ein Entertrupp nur drei Decks von hier ent­fernt eingedrungen war.

Er konnte binnen weniger Augenblicke dort sein! Hastig rannte er zum nächstgele­genen Antigravschacht und schwebte nach

Page 8: Der letze Kampf der ERYSGAN

8

oben. Als er den Schacht verließ, hörte er bereits die Schüsse und die Schreie.

Unvermittelt brandete die Angst wieder in ihm auf und wollte all seine Entschlossen­heit hinwegspülen. Obwohl sich seine Lun­gen wie unter einer eisernen Last zusam­menzogen und ihm das Atmen schwerer fiel als je zuvor in seinem Leben, begann Zoke­lag zu laufen.

»Für den Frieden in Gruelfin«, flüsterte Zokelag sich selbst Mut zu. Bald darauf sah er sich einem Angriffstrupp der Torghan ge­genüber. Die Insektoiden eilten, ohne auf Widerstand zu treffen, durch den Gang auf Zokelag zu.

»Für den Frieden in der Heimat«, wieder­holte der Ganjase und hob seine Waffe.

2. 2. Juni 1225 NGZ

Atlan: Die Nachricht

Die AMENSOON raste durch den Hyper­raum dem 2763 Lichtjahre entfernten Treff­punkt entgegen.

»Es gibt nur eine Abweichung.« Gorgh­12 hob sein vorderes Armpaar und drehte sich von dem Bildschirm, auf dem die Daten in einer langen Reihe eingeblendet waren, zu mir um.

»Eines der Schiffe weist einen differieren-den Kursvektor auf«, stimmte ich dem In­sektoiden zu. Gorgh war einst Chefwissen­schaftler auf Maran'Thor und damit letztend­lich den Lordrichtern Untertan gewesen, ehe er zu unserem Verbündeten geworden war. An seiner Loyalität uns gegenüber bestand mittlerweile weder für Kythara noch mich noch der geringste Zweifel. Der Daorghor sah uns längst als das neue Kollektiv an, dem er angehörte.

Vereinfacht gesagt magst du Recht haben, kommentierte der Extrasinn meine Einschät­zung unseres Verbündeten. Ich unterdrückte eine bissige Antwort, denn auf die Feinhei­ten insektoider Psychologie kam es mir nicht an. Nicht jetzt, da die Bordpositronik der AMENSOON endlich die Daten ausgewertet

Christian Montillon

hatte, die wir gesammelt hatten, als die Lor­drichter-Truppen vor wenigen Stunden von Vassantor flohen.

»Mit einer einzigen Ausnahme sind alle Schiffe in Richtung der Sternenstadt VARX­ODON geflohen«, sagte ich und ergänzte nach einem entsprechenden Impuls des Lo­giksektors: »Oder zu einem in dieser Rich­tung liegenden Sammelpunkt.«

»Dieses eine Schiff flog jedoch in eine völlig andere Richtung.« Gorgh ließ sich auf sein mittleres Beinpaar nieder.

»Sein Kurs führt aus der Milchstraße hin­aus.« Ich deutete auf den entsprechenden Datensatz auf dem Bildschirm. »Und zwar …«

»Ohne weitere Angaben lässt sich das Ziel unmöglich extrapolieren«, unterbrach Gorgh meine Ausführungen.

Ich bedachte den Insektoiden mit einem durchdringenden Blick. »Intuition, mein Be­ster! Wir können nur darüber spekulieren, warum dieses Schiff einen anderen Kurs ein­schlug.«

Der Daorghor begann im Raum auf und ab zu laufen, als könne er innerlich nicht zur Ruhe kommen. »Intuition … Spekulation … wo ist deren Basis? Was bringen haltlose Vermutungen außer der dominierenden Ge­fahr eines Irrwegs?«

Erstaunlich, du Narr! Der Kommentar des Extrasinnes war an dieser Stelle wohl unvermeidlich. Ein insektoider Chefwissen­schaftler zeigt mehr Vernunft als du!

»Es könnte sich um einen Kurierraumer handeln«, antwortete ich unbeirrt. »Einen Sonderboten, der die Nachricht von den Er­eignissen an ein uns noch unbekanntes Ziel bringt.«

»Welches Ziel?« Gorgh dämpfte meine Begeisterung erneut. »Wenn wir nicht wis­sen, wohin, nützt uns der Adressat auch nichts, wenn wir nicht wissen, wo er sich aufhält. Alle Fragen kreisen also um den Ort.«

»Also lasst uns diese Frage beantwor­ten!«, rief ich aus. »Wenn wir alles, was wir gesichert wissen, zusammentragen, könnte

Page 9: Der letze Kampf der ERYSGAN

9 Der letze Kampf der ERYSGAN

das eine gute Basis für eine halbwegs valide Hochrechnung sein.«

»Validität ist hier nicht gegeben.« Gorgh beendete seine rastlose Wanderung auf den beiden unteren Beinpaaren, blieb vor mir stehen und richtete sich auf. Auch in dieser Haltung war er merklich kleiner als ich, so­dass er zu mir aufsehen musste. »Es sei denn, wir können andere Daten mit diesem Fluchtvektor kombinieren.«

»Du sprichst von dem Kursvektor, den die Bordpositronik der AMENSOON vor drei Tagen extrapoliert hat.« Damals waren Truppen der Lordrichter nach den sich über­stürzenden Ereignissen um die Psi-Quelle Murloth vor einem gewaltigen Hyperraum­riss geflohen, der sie zu verschlingen drohte.

»Auch sie flohen offenbar aus der Milch­straße«, stimmte Gorgh zu. »Haben sie das gleiche Ziel wie unsere letzte Ortung, wird eine Dreieckspeilung möglich.«

»Du hast Recht.« Fieberhaft wandte ich mich an die Positronik des Varganenraumers und gab eine entsprechende Rechnung in Auftrag.

Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Der Datensatz, den die Bordpositro­nik lieferte, ließ keinen Zweifel zu. »Es exi­stiert ein gemeinsames Ziel«, erklärte ich. »In mehr als sechzehn Millionen Lichtjahren Entfernung.«

»Ein Treffpunkt im Leerraum oder eine …«

»Eine Galaxie.« Mein fotografisches Ge­dächtnis lieferte die näheren Einzelheiten dazu. »Dwingeloo 1.« Dabei handelte es sich um eine von den Terranern als LEDA 100170 geführte, 35.000 Lichtjahre durch­messende Balkenspiralgalaxie in unmittelba­rer kosmischer Nachbarschaft der kleineren Galaxie Dwingeloo 2.

»Ich extrapoliere, dass du dies für unser neues Ziel hältst? Du hast vor, deine Heimat den Lordrichtern preiszugeben«, stellte Gor­gh nüchtern fest.

»Keinesfalls«, lehnte ich ab. »Aber unsere bisherigen Beobachtungen zeigen mehrerlei: Die Milchstraße ist kein primäres Einsatz­

ziel der Lordrichter, sondern eher so etwas wie ein Aufmarschgebiet. Alle Bewegungen gehen zwar derzeit von hier aus, aber sie zielen in andere Richtungen.

Und wir wissen, dass Gruelfin ein zeitna­hes Ziel unserer Feinde ist.«

»Dann sollten wir wohl eher nach Gruel­fin reisen, wenn du schon keine Sabotage im Aufmarschgebiet in Betracht ziehst«, belehr­te mich der Insektoide. »Dein Verhalten ist … unlogisch. Wir nannten solche Vorge­hensweisen früher ne'vi-ryd-tolp. Ich glaube, in eurer Sprache gibt es dafür kein akzepta­bles Äquivalent.«

»Zumindest scheint es kein Kompliment zu sein«, knurrte ich. »Aber hier irrst du. Wenn wir uns mit der Zerstörung aller Nachschubbasen aufhalten, liefern wir den Lordrichtern Gründe und Vorwände, sich an der Milchstraße schadlos zu halten – etwas, das sie bisher nicht getan haben. Wir stechen damit in ein Wespennest, locken den Krieg hierher. Wir müssen sie zuerst von hier fort­locken und anderswo beschäftigen. Oder wir müssen ihre Zentrale vernichten, ihr Herz­stück, das ebenfalls nicht in der Milchstraße anzutreffen ist. Dwingeloo könnte für beide Optionen der geeignete Ort sein. Danach können wir hierher zurückkehren und ihre entblößten Nachschublager vernichten. So gewinnt man Kriege, nicht anders!«

»Du bist der Admiral, ich nur ein Wissen­schaftler«, gab Gorgh-12 bloß zur Antwort und stakste davon.

*

Der Körper des Mannes lag unverändert da. Kalarthras bewegte sich nicht, und nach wie vor hielt er die Augen weit geöffnet.

Kythara kamen die Minuten, die sie hier verbrachte, wie Ewigkeiten vor. Noch im­mer hatte sie sich nicht an den Anblick von Kalarthras' Augen gewöhnt. Solange sich nichts änderte, würde das wohl auch nie der Fall sein.

Denn seine Augen waren schwarz. Der Augapfel ebenso wie die Iris und die Pupille

Page 10: Der letze Kampf der ERYSGAN

10

– es gab keinen Unterschied. Sie bildeten einen harten Kontrast zu der alabasterwei­ßen Haut des uralten Varganen, der einst Kytharas Gefährte gewesen war, vor vielen zehntausend Jahren.

Sie hatte ihn mit Hilfe ihres Begleiters At­lan auf Vassantor aus der Gefangenschaft befreit, und seitdem sie dort den Weckvor­gang eingeleitet hatten, um ihn aus einer Art Koma zu erwecken, befand sich sein Körper in diesem merkwürdigen, unheimlichen Zu­stand.

Anfangs hatte Kythara große Hoffnungen darauf gesetzt, dass er vollständig erwachen würde, doch diese Erwartungen waren bis­lang enttäuscht worden. Nach wie vor lag Kalarthras bewegungslos, wie ohnmächtig, da. Konnte er mit seinen schwarzen Augen, die blicklos an die Decke starrten, etwas wahrnehmen?

Der Anblick des einstigen Geliebten und Wegbegleiters bewegte Kythara stärker, als sie es sich bisher eingestanden hatte. Ihn körperlich verändert zu sehen, ohne eine Er­klärung dafür finden zu können, verstärkte ihre innere Unruhe noch weiter. Doch was sie wirklich empfand, konnte sie nicht in Worte fassen. Sie war sich nicht darüber im Klaren, ob sie Kalarthras nach wie vor liebte – konnte sie das überhaupt, nach all der Zeit, die vergangen war?

Liebte sie Kalarthras, und liebte sie über­haupt? Ihre Gedanken schweiften ab und fingen sich an dem Mann, der in den letzten Wochen zu ihrem Wegbegleiter und Kampf­gefährten geworden war. Atlan … der Arko­nide, der wie sie selbst auf eine sehr lange Lebensspanne zurückblicken konnte.

Entschlossen erhob sich Kythara und wandte sich dem Ausgang der Medostation zu. Es gab Wichtigeres, als ihre Gefühle ei­ner Prüfung zu unterziehen.

Sie ging rasch weiter und näherte sich der Zentrale der AMENSOON. Sie wusste, dass Atlan und Gorgh dort damit beschäftigt wa­ren, die Daten auszuwerten, die sie während und nach der Befreiung Kalarthras' gesam­melt hatten.

Christian Montillon

»Gibt es Fortschritte?«, fragte sie, als sie die Zentrale erreichte.

»Wie geht es Kalarthras?«, stellte Gorgh eine Gegenfrage. Der Insektoide stand direkt neben einem Instrumentenpult und drehte sich zu ihr um.

»Er befindet sich nach wie vor in diesem undefinierbaren Zustand. Seine körperliche Verfassung hat sich nicht geändert.« Kytha­ra hielt Ausschau nach Atlan, doch der Ar­konide befand sich nicht in der Zentrale.

»Er sucht eine Hygienezelle auf«, erklärte Gorgh, als er Kytharas suchenden Blick be­merkte.

Die Varganin fragte sich, ob sie den ehe­maligen Chefwissenschaftler inzwischen gut genug kannte, um in seiner Mimik und sei­nem Tonfall lesen zu können, denn sie war davon überzeugt, ein amüsiertes Schmun­zeln wahrgenommen zu haben. »Ich bin mir sicher, dass du meine Frage ebenso gut be­antworten kannst wie er. Also sage mir bitte, ob es irgendwelche Erkenntnisse gibt.«

»Aus den Fluchtvektoren der gestern und vor drei Tagen geflohenen Lordrichter-Trup­pen ergibt sich eindeutig eine ferne Galaxis als Zielort.«

Gorgh nannte ihr die entsprechenden Da­ten und zeigte ihr die Position auf einer Sternkarte.

Kythara stockte und runzelte die Stirn. »Wie nannte Atlan die Galaxis?«

»Dwingeloo 1. Es ist wohl die Bezeich­nung, die sein Volk …«

Die Varganin ließ ihn seine Vermutung nicht zu Ende sprechen. »Ich kenne sie.«

*

Als ich wieder die Zentrale der AMEN­SOON betrat, sah ich, dass Kythara zurück­gekommen war. Sie sprach mit Gorgh, und die beiden bemerkten meine Rückkehr nicht.

Für einen kurzen Moment blieb mein Blick an der Varganin haften, Ihre blaume­tallene Kombination schmiegte sich eng an ihren perfekten Körper, ihre goldgelockten Haare fielen bis zu den Hüften.

Page 11: Der letze Kampf der ERYSGAN

11 Der letze Kampf der ERYSGAN

»Du bist bereits dort gewesen?«, rief Gor­gh in diesem Moment. Kytharas vorherge­hende Bemerkung hatte ich nicht wahrneh­men können, da sie wie üblich leise gespro­chen hatte. Doch die Worte des insektoiden Daorghor schürten eine Vermutung in mir.

»Du kennst Dwingeloo?«, fragte ich und eilte zu meinen beiden Begleitern.

»Atlan«, begrüßte mich Kythara süffisant. »Gorgh hat mir von eurer Erkenntnis berich­tet. Wir Varganen nennen die Galaxis Gan­tatryn. Ich selbst bin nie dort gewesen, doch Kalarthras hat sie mir gegenüber erwähnt.«

»Er ist erwacht?«, entfuhr es mir. Narr!, kommentierte mein Extrasinn unverzüglich. Kythara spricht von damals, als sie ihm zum letzten Mal begegnete!

»Er machte vor Tausenden von Jahren ei­ne Bemerkung über Gantatryn«, bestätigte Kythara den Impuls meines Extrasinnes. »Dort lebten viele der Varganenrebellen, die im Standarduniversum zurückblieben.«

Ich wusste aufgrund der Erfahrungen, die ich in meiner Jugendzeit mit der Varganin Ischtar gemacht hatte, dass ihr Volk aus ei­nem anderen Universum gekommen war, das sie als Mikrokosmos bezeichneten. Mit dem Übertritt in unser Universum erlangten sie die relative Unsterblichkeit. »Aber mehr weißt du nicht über Dwingeloo?«

»Kalarthras wird uns mehr berichten kön­nen, wenn er erwacht.« Kythara schwieg einen Moment. »Oder falls er erwacht und sich darüber hinaus erinnern kann.«

»Du zweifelst daran?« Der Fatalismus, der aus den Worten der Varganin sprach, be­unruhigte mich.

»Ich sehe es realistisch. Wir können nicht wissen, was mit Kalarthras geschehen ist, warum er körperlich verändert ist. Wir wis­sen nicht einmal, ob er im eigentlichen Sinn noch lebt.«

Der Rest des Fluges zum Treffpunkt mit Heroshan Offshanor verlief ohne Zwischen­fälle. Der Cappin hatte uns über das mysteri­öse Gerät, das ich in der Vergessenen Po­sitronik gefunden hatte, als ich sie erstmals betrat, einen Koordinatensatz genannt, an

dem er uns treffen wollte. Da er uns aus ar­ger Bedrängnis gerettet hatte, als er über Vassantor überraschend in eine Schlacht eingriff, die wir aus eigener Kraft wohl ver­loren hätten, hatte er einen gewaltigen Ver­trauensbonus inne.

Als wir nun die Koordinaten des genann­ten Sternsystems erreichten, tauchte der zu einem Doppelkugelraumer von je 2000 Me­tern Durchmesser modifizierte Pedopeiler Offshanors aus dem Ortungsschutz der Son­ne auf.

Wieder entstand – wie damals über Vas­santor – eine Holoprojektion über dem Cap­pin-Gerät. Deutlich erkannte ich den Cappin wieder. »Atlan, koppelt euer Schiff an die SYVERON an!«, forderte Offshanor. »Es ist möglich, dass auch die Lordrichter den ge­rafften Koordinatensatz aufgefangen und entschlüsselt haben, den ich euch zukommen ließ. Wir müssen schnellstmöglich von hier verschwinden.«

Sofort erlosch die Projektion des Cappins wieder.

»Tun wir, worum er uns bittet«, sagte ich. »Es klang eher nach einem Befehl als

nach einer Bitte«, widersprach Kythara hart. »Aber du hast Recht, Arkonide. Wir müssen ihm vertrauen.«

»Ohne ihn wäre die AMENSOON aller Wahrscheinlichkeit nach zerstört worden«, ergänzte Gorgh. »Die Zeit drängt. Wenn er Recht hat und die Lordrichter möglicherwei­se bereits hierher unterwegs sind …«

Den Rest seiner Ausführungen hörte ich bereits nicht mehr, denn ich gab den Befehl zum Ankoppeln an den Doppelkugelraumer. Kaum war der Vorgang beendet, beschleu­nigte die SYVEEON.

»Wir werden sehen, was uns erwartet.« Ich nickte Kythara zu, und wir verließen zu zweit die Zentrale der AMENSOON. Gorgh blieb zurück, um die gewonnenen Daten weiter auszuwerten. Er wollte darüber hin­aus alle zur Verfügung stehenden Informa­tionen über Dwingeloo studieren.

Als wir über eine Schleuse die AMEN­SOON verließen und die SYVERON betra­

Page 12: Der letze Kampf der ERYSGAN

12

ten, wurden wir bereits erwartet. »Ich habe den Auftrag, Sie unverzüglich

zu dem Kommandanten zu bringen«, be­grüßte uns ein hagerer Cappin. »Es haben sich neue Entwicklungen ergeben.«

*

Als wir die Zentrale der Doppelkugel er­reichten, standen wir erstmals Heroshan Offshanor leibhaftig gegenüber. Der Cappin sah bleich und mitgenommen aus, als habe ihn ein schwerer Schicksalsschlag getroffen.

»Es bleibt leider keine Zeit, unser Treffen in Ruhe zu beginnen. Die Nachrichten ge­statten uns keinen Moment des Verweilens.« Der Kommandant warf uns einen sezieren-den Blick zu.

»Wir schulden dir Hilfe und werden tun, was in unserer Macht steht, um dir beizuste­hen.« Kythara ging näher auf den Cappin zu. »Du hast unser Raumschiff gerettet, dafür danke ich dir.«

»Ihr seid offenbar Feinde der Lordrich­ter«, antwortete Offshanor kühl. »Das ist Grund genug, euch als Freunde anzusehen.«

Mir lagen einige Fragen auf den Lippen, doch ich stellte sie zurück. Zuerst mussten wir erfahren, warum Heroshan Offshanor derart entsetzt wirkte. »Von welchen Nach­richten sprachst du gerade eben? Zeichen ei­ner negativen Entwicklung?«

»Unser Pedopeiler in Gantrain hat soeben per Hyperfunk dringend um Hilfe gebeten. Er wird von den Garbyor, den Truppen der Lordrichter, massiv bedrängt.«

»Gantrain?«, fragte Kythara nach. Mir kam bei diesem Wort ein Verdacht,

und der Cappin bestätigte ihn mir, als er uns Näheres über die Lage der Galaxie mitteilte. Gantrain war jene Galaxis, die die Varganen Gantatryn nannten … eine erstaunliche klangliche Ähnlichkeit. Ich fragte mich un­willkürlich, ob sie auf einem Zufall beruhte.

Gantatryn oder auch Dwingeloo 1. Alle Fäden schienen plötzlich in diese etliche Millionen Lichtjahre entfernte Galaxis zu führen. Und nach den Worten Offshanors

Christian Montillon

waren dort ebenfalls Cappins aktiv. Es muss Zusammenhänge geben, stimmte

mein Extrasinn meinen Überlegungen zu. Das Schicksal der Cappins und der Lord­richter ist auf irgendeine Weise miteinander verflochten, wie wir wissen, und das, was in Dwingeloo vor sich geht, kann uns bessere Einblicke gewähren. Ebenso wie das Wissen des Kommandanten dieses Schiffes.

»Die Lordrichter-Truppen sind in der Übermacht. Der Pedopeiler wird ihnen nicht mehr lange Widerstand entgegensetzen kön­nen«, fuhr Offshanor fort.

»Gantrain ist mehr als sechzehn Millionen Lichtjahre entfernt«, stellte Kythara klar. »Es gibt keine Möglichkeit, ihnen beizuste­hen. Die Reise …«

»Doch«, unterbrach der Cappin-Kommandant. »Wir können ihnen beistehen. Und ich ersuche um euren Beistand.«

»Den hast du«, versicherten Kythara und ich wie aus einem Munde.

»Ich gebe euch einige Informationen, da­mit ihr wisst, wie wichtig es ist, dass unser Pedopeiler in Gantrain nicht fällt.«

Kythara und ich schwiegen, und darin lag Aufforderung genug. Schon die ersten Wor­te des Kommandanten bestätigten eine mei­ner schlimmsten Vermutungen.

»Die Lordrichter sind nicht nur in eurer Heimatgalaxis, sondern auch in Gruelfin ak­tiv«, sagte Offshanor und bestätigte damit die Nachricht, die wir zu Beginn unserer Reise an Bord der AMENSOON von einem anderen Cappin erhalten hatten. Gruelfin war die Heimatgalaxis der zahlreichen Cap­pin-Völker. »In Gruelfin tobt ein schreckli­cher Bruderkrieg, und die Lordrichter sind diejenigen, die ihn auslösten.«

3. An Bord des Pedopeilers ERYSGAN

Zokelag: Der alte Dämon Angst

Zokelag drückte ab, und der Tod raste den angreifenden Torghan entgegen. Gleichzei­tig sprang der Cappin seitlich zurück in die Abzweigung des Ganges, aus der er gerade

Page 13: Der letze Kampf der ERYSGAN

13 Der letze Kampf der ERYSGAN

getreten war. Einer der Insektoiden wurde genau in seinen hässlichen, tropfenartigen Schädel getroffen und fiel, ohne einen Laut von sich zu geben, nach hinten um.

Die drei anderen Torghan zischten irgen­detwas, und Zokelag glaubte, das Wort »Trodar« zu hören. Dann blickte er für einen endlos erscheinenden Moment in die Mün­dungen mehrerer auf ihn gerichteter Waffen. Die Insektoiden sprangen mit ihren drei ge­lenklosen Beinen ruckartig auf ihn zu.

Warum schießen sie nicht?, fragte sich Zokelag, doch noch ehe er durch seinen Sprung die Deckung der Abzweigung er­reichte, jagte das gegnerische Feuer auf ihn zu. Ein Strahlenschuss versengte seine Uni­form am rechten Arm.

Zokelag schloss mit seinem Leben ab – dann ist es wenigstens vorbei – und prallte in der nächsten Sekunde auf den Boden, um dem Feuer der Insektoiden auszuweichen.

Doch die Sicherheit war trügerisch, denn sie würden die Abzweigung in wenigen Se­kunden erreichen. Er hatte einen der ihren getötet, und sie würden ihn dafür erschießen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Sie waren Garbyor, und als solche gingen sie gnadenlos vor.

Zokelag gelangte wieder auf die Beine. Jetzt war er zu allem entschlossen. Was vor­her gewesen war, zählte nicht. Er hatte einen der Torghan vernichtet, also konnte er auch gegen die anderen bestehen. Es blieb keine Zeit, Angst zu haben. Der alte Feind in ihm lag begraben unter dem aufpeitschenden Taumel des blinden, wahnsinnigen Trium­phes.

Der Ganjase hob seine Waffe, war bereit, sich dem Feind zu stellen und so viele wie möglich von ihnen mit sich ins Grab zu neh­men.

Er starrte auf die Abzweigung, das winzi­ge Stück des quer verlaufenden Ganges, auf dem die Insektoiden jede Sekunde auftau­chen würden. Sein Herz schlug wie rasend in seiner Brust. Kommt nur, kommt …

Aber das, was Zokelag dann sah, waren keine ihn weit überragenden Insektoiden mit

überschlanken, winzig wirkenden Torsi – sondern Waffenfeuer, das diesen entgegen­schlug!

Sekunden später ertönten Schreie, fremde, hochtönende Laute der Insektoiden ebenso wie Schmerzensrufe, die Zokelag nur allzu gut kannte. Laute, wie er selbst sie nicht an­ders von sich gegeben hätte. Cappins! Gera­de rechtzeitig, in letzter Sekunde, ehe Zoke­lag einen aussichtslosen Kampf hätte aus­fechten müssen, war ein Verteidigungstrupp eingetroffen.

Er stand wie gebannt, konnte keinen Mus­kel rühren. Und während nicht weit von ihm entfernt Intelligenzwesen den Tod fanden, Feinde ebenso wie Freunde, verlor Zokelag den Kampf mit seinem ureigenen Dämon.

Die Angst besiegte die Entschlossenheit. Furcht und Grauen lähmten jede Initiative. Zokelag schloss die Augen, und er sah, wie der einzige Schuss, den er selbst abgegeben hatte, in den Kopf seines Feindes einschlug.

Zwei Facettenaugen starren mich an, kalt und leblos, und dann sind sie verschwunden, ausgelöscht für immer, als der Schädel ex­plodiert. Doch in der letzten Nanosekunde, dem winzigen, kaum wahrnehmbaren Mo­ment, in dem der namenlose Torghan ver­steht, dass sein Ende gekommen ist, leuchtet ein Feuer in ihnen auf, das mir Rache ver­spricht. Rache, die er selbst nicht mehr aus­üben kann, aber die seine Kriegsgenossen in seinem Namen vollziehen werden. Tod, Tod, Tod … sie versprechen mir den Tod …

Irgendwann verlosch das Feuer, und ir­gendwann verstummten auch die Schreie.

Zokelag wartete, an seinen Platz gefesselt, wer an die Abzweigung herantreten würde. Fremdartige Insektoiden mit janusköpfigen Tropfenschädeln, die für ihren gefallenen Artgenossen Rache vollziehen würden – oder Ganjasen, siegreiche Verteidiger der ERYSGAN, seine Retter.

Es dauerte lange, bis er begriff, dass nie­mand kam. Zokelag war kaum dazu fähig, seine Beine zu bewegen, doch schließlich stand er vor den Leichen.

Sie alle waren tot – alle, die in den Kampf

Page 14: Der letze Kampf der ERYSGAN

14

verwickelt worden waren. Zokelag brachte es nicht fertig, an den

Leichen seiner Artgenossen vorbeizugehen, also stieg er über die gewaltigen Insekten­körper. Fast erwartete er, dass einer von ih­nen noch über einen winzigen Funken Leben verfügte und diesen nutzte, ihm den Tod zu bringen und damit einen letzten Feind aus­zuschalten.

Doch nichts geschah. Zokelag wankte weiter, den Tod und das Grauen hinter sich lassend. Doch das Bild vor seinen Augen verschwand nicht, und die Angst in ihm schrie lauter als je zuvor. Alles in ihm ver­steinerte, als der Dämon, der ihn sein Leben lang begleitet hatte, seit damals, endgültig triumphierte.

»Ich hätte ihnen helfen können«, murmel­ten seine Lippen, beinahe ohne sein Zutun, und die toten Ganjasen verdrängten die Visi­on des explodierenden Insektoidenschädels. »Sie könnten noch leben.«

Zu dem alten Dämon Angst gesellten sich dessen Freunde: Scham, Versagen und Schuld.

*

Zokelag wusste nicht, wie viel Zeit ver­gangen war, aber es konnte nicht allzu viel gewesen sein. Denn sonst wäre er längst tot. Wenn die Garbyor erst den Widerstand der Verteidiger ausgeschaltet hatten, würde das flammende Ende kommen.

Seine Beine hatten ihn durch das Schiff getragen, immer weiter, ohne dass er selbst wusste, wohin. Jetzt nahm er zum ersten Mal wieder wahr, wo er sich befand.

Er saß, die Beine an den Leib gezogen, in einer Zimmerecke am Boden. Direkt neben ihm stand ein Bett, das Laken ordentlich glatt gezogen, eine Decke zusammengefaltet am unteren Ende liegend. Zokelag stand auf, und sein Rücken schmerzte entsetzlich, bis es darin laut krachte und ein Zucken seine Schulter durchlief.

Er kannte diesen Raum nicht. Er war nüchtern und kalt eingerichtet, und doch gab

Christian Montillon

es keinen Zweifel daran, dass hier eine Frau lebte. Zokelag spürte das an der Atmosphä­re, roch den zarten Duft weiblicher Gegen­wart. Er öffnete den metallenen Schrank, und tatsächlich konnte die Ersatzuniform darin nur einer Ganjasin gehören. Er las den Namen, der darauf geschrieben stand, doch er war ihm völlig unbekannt.

Zokelag öffnete die Tür, die in die kleine Hygienezelle führte. Er starrte in den Spie­gel, und er erschrak, als er sich selbst sah. Die Pupillen waren geweitet, die Haare wirr und unordentlich. Auf seiner Uniform be­fand sich in Brusthöhe Blut, und er wusste, dass es nicht sein eigenes war, denn es war nicht rot.

Während des Kampfes mit dem Enter­trupp der Torghan konnte es nicht dorthin gelangt sein – aber wann dann? Zokelag hat­te keinerlei Erinnerung daran, in eine weite­re Auseinandersetzung geraten zu sein. Er hob seine Hand. Sie zitterte, nur leicht, aber er konnte es nicht unterdrücken. Quer über den Handrücken verliefen mehrere tiefrote Schrammen.

Zokelag verdrängte die in seinem Ver­stand pochende Frage, was vorgefallen war. Er verließ fluchtartig die Hygienezelle und die Kabine des unbekannten Crewmitglieds.

Draußen auf dem Gang herrschte Stille. Nur von weit her drang, mehr zu erahnen, als tatsächlich zu hören, der Lärm eines Ge­fechts.

Ohne weiter nachzudenken, eilte Zokelag in die entgegengesetzte Richtung. Er wollte nur eins: leben und dem Feind nicht mehr begegnen, bis es zu Ende war. Wenn die ERYSGAN zerstört wurde, würde auch für ihn der Tod kommen, unausweichlich und hoffentlich rasch. Doch bis dahin war es Zo­kelags einziges Ziel, niemandem mehr ge­genübertreten zu müssen.

Keinem Torghan, keinem der humanoiden Zaqoor und auch sonst keiner Spezies der Garbyor. Und keinem der Verteidiger, dem er Rechenschaft hätte ablegen müssen über sein Tun. Der Name Toragasch drängte sich in den Vordergrund seines Bewusstseins –

Page 15: Der letze Kampf der ERYSGAN

15 Der letze Kampf der ERYSGAN

doch sein ehemaliger Mentor, der Komman­dant des Pedopeilers, war der Letzte, den Zokelag sehen wollte. Dann lieber einen weiteren Trupp Torghan, dem er diesmal keinen Widerstand entgegenbringen würde.

Denn die toten Facettenaugen klagten ihn nach wie vor an.

Als sich Lärm näherte, wollte Zokelag fliehen, doch es war zu spät. Ihm bot sich ein schreckliches Bild. Zwei Cappins kämpften gegen Reptiloiden. Zokelag hatte bereits von dieser Spezies gehört, die sich Gorsaan nannte. Es waren vierbeinige Ei­dechsenabkömmlinge. Sie trugen geschlos­sene dunkelgraue Schutzanzüge, denn sie waren keine Sauerstoffatmer.

»Hilf uns!«, schrie einer der Ganjasen pa­nisch.

Weder die Verteidiger noch die beiden Gorsaan verfügten über Schusswaffen. Of­fenbar war bereits ein harter Kampf voran­gegangen.

Jetzt erst bemerkte Zokelag die Toten, die auf dem Gang lagen.

Zokelag schloss die Augen. Flieh!, schrie die Angst in ihm. Doch Zokelag zog seine Waffe und schoss. Einer der Reptiloiden stürzte tödlich getroffen zu Boden, und sein Würgegriff um die Kehle des Ganjasen löste sich. Auch der Cappin sackte kraftlos in sich zusammen.

Es blieb Zokelag keine Möglichkeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob der Ver­letzte noch lebte oder nicht. Er hatte ein wei­teres schmutziges Geschäft zu erledigen. Auch der zweite Gorsaan starb.

»Danke«, hauchte der befreite Ganjase ihm zu und eilte danach sofort zu seinem reglos daliegenden Artgenossen. Er beugte sich über ihn, erhob sich aber rasch wieder. Er sah Zokelag an und schüttelte den Kopf. »Lass uns von hier verschwinden«, sagte er dann.

Willenlos folgte Zokelag ihm. »Ich bin Miralog«, sagte der Ganjase, der

zu Zokelags Führer geworden war. »Wir waren zu fünft, als wir auf das Enterkom­mando stießen. Sie waren zu acht.« ' »Ihr

habt sie besiegt.« »Dank dir. Ohne dich hätten wir letztend­

lich doch noch verloren. Auch ich wäre ge­storben.«

»Ich bin …« Zokelag konnte nicht weiter­reden. Seine Kehle war eng und trocken.

»Du bist Zokelag, ich weiß. Ich habe dich erkannt. Wie ist unsere Lage? Warum hast du die Zentrale verlassen?«

»Ich habe einen Auftrag«, log Zokelag. Die Antwort kam, ehe er darüber nachdach­te, was er behauptete.

»Ich danke dir noch einmal, dass du mein Leben gerettet hast. Du bist für mich ein Held.« Miralog schlug Zokelag kurz auf die Schulter, ohne dass er seinen Lauf beendete.

»Warum fliehen wir von hier?« Die Scham in Zokelag nahm weiter zu. Ein Held?, wollte er rufen. Verkriechen sich Helden in irgendwelchen fremden Quartie­ren? Versagen Helden in ihren Aufgaben?

»Die Gorsaan waren nur die Vorboten ei­ner kleinen Armee, die die ERYSGAN ge­stürmt hat. Ihre verfluchten Freunde müssen jeden Moment hier sein. Wir brauchen Ver­stärkung.«

Noch während Zokelag über diese Worte nachdachte, hörte er, dass weit hinter ihnen Lärm aufbrandete. Lärm, der rasch näher kam.

»Die Gorsaan!«, rief Miralog. »Schnell!« Er steigerte sein Tempo.

Zokelag rannte neben ihm her. Die Vor­stellung einer Armee von Reptilienwesen, die sie verfolgten, verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Miralog hatte sichtlich Mühe, mit der Geschwindigkeit mitzuhalten. Der erste Schuss wenige Sekunden später machte deutlich, dass Flucht keine Alternative dar­stellte.

»Wir müssen kämpfen!« Miralog wirbelte herum und stieß Zokelag zu Boden. Ein Thermostrahl schlug in die Wand ein, dort, wo sich eben noch Zokelags Kopf befunden hatte, und brachte das Metall zum Kochen. »Sie sind nur zu zweit!«, hörte er die Stim­me seines Kampfgefährten.

Miralog feuerte bereits, als Zokelag die

Page 16: Der letze Kampf der ERYSGAN

16

Augen wieder zu öffnen vermochte, die er geschlossen hielt, seit der erste Schuss abge­geben worden war.

»Sie sind in Deckung gegangen!« Miralog selbst presste sich an die Wand, zielte mit seiner Waffe in Richtung der Angreifer. »Na los, verschwinde von hier! Du liegst auf dem Präsentierteller.«

Etwas ließ den Boden nur wenige Zenti­meter von Zokelags Brustkorb entfernt ver­dampfen. Zitternd tastete seine Hand nach seiner Waffe. Langsam, viel zu langsam.

Dann folgte ein zischender Schrei, ein Laut, wie Zokelag ihn nie zuvor gehört hat­te. Seine Augen, noch immer geblendet von der gleißenden Helligkeit, sahen undeutlich, wie einige Meter entfernt ein Gorsaan zu­sammenbrach.

Sekunden später stampfte der andere Ei­dechsenabkömmling auf vier Beinen auf ihn zu. Die beiden Arme hielten in den sechs­fingrigen Händen ein schweres Gewehr. »Die Große Horde wartet auf mich!«, schrie der Gorsaan, während er eine Salve auf ihn zujagte.

Zokelag stieß sich mit den Füßen von der Wand ab und entging so dem Sperrfeuer.

Er sah, wie das Gewehr in den Fäusten des Angreifers explodierte, als ein gezielter Schuss Miralogs es traf.

Er schloss zu spät die Augen, und die mörderische Helligkeit blendete ihn. Eine Druckwelle traf ihn und schob ihn über den Boden, auf die Korridorwandung zu. Er prallte dagegen, und der Schmerz drohte ihm das Bewusstsein zu rauben.

Doch die erlösende Dunkelheit trat nicht ein. Stattdessen fühlte er Miralogs Hände. »Was war los mit dir?«

In der Frage lag keine Anklage, nur gren­zenlose Verwunderung. »Ich weiß nicht. Vielleicht hat ein Lähmungsstrahl dieser Be­stien mich erwischt.«

Diese Vermutung hatte keinerlei rationale Grundlage, doch Miralog akzeptierte sie, oh­ne weitere Fragen zu stellen. Nur für einen kurzen Moment zog ein Ausdruck der Skep­sis über sein Gesicht.

Christian Montillon

»Du musst Toragasch informieren, dass sich die Gorsaan in großer Zahl auf dem Schiff befinden!«, forderte Miralog. »Der Kommandant wird einer Meldung, die du abgibst, höchste Priorität widmen.«

Früher einmal hätte er das, dachte Zoke­lag, bis vor wenigen Stunden. »Vor allem benötigen wir Hilfe.«

»Ich weiß, wo sich einige Verteidigungs­truppen aufhalten. Wenn wir sie hierher füh­ren, werden wir dem Ansturm Widerstand entgegensetzen können.«

Das war das Letzte, was Zokelag wollte. Sehnsüchtig dachte er an das Quartier der Ganjasin zurück, in dem er wieder zu sich gekommen war. Warum hatte er es nur ver­lassen? Dort hätte er mit einigem Glück ab­warten können, und er wüsste jetzt noch nichts über die Gorsaan.

Plötzlich blieb er stehen, drehte sich um und übergab sich röchelnd. Das Würgen wollte und wollte nicht aufhören, auch als sich längst nichts mehr in seinem Magen be­fand und er den Kopf wieder hob. Seine Au­gen tränten, und er atmete schwer.

Miralog hatte seinen Lauf ebenfalls ge­stoppt. Er sah mit harten Zügen zu Zokelag herüber.

»Geh weiter«, stieß Zokelag mühsam her­vor und wischte sich über den Mund. Wenn Miralog erst einmal verschwunden war, konnte er sich wieder irgendwo verstecken. Er würde schon einen Platz finden, der abge­schieden genug war, um dort auf das Ende zu warten.

»Nein«, antwortete Miralog. »Ich werde dich nicht allein lassen.« An seiner nächsten Aussage erkannte Zokelag, dass der andere ihn durchschaut hatte. »Du benötigst Hilfe, und ich schulde dir etwas.«

Noch ehe Zokelag etwas erwidern konnte, schlug ein Geschoss in Miralogs Brust ein, und der Ganjase wurde rückwärts gegen die Wand geschleudert.

4. An Bord der SYVERON

Atlan: Die Informationen

Page 17: Der letze Kampf der ERYSGAN

17 Der letze Kampf der ERYSGAN

Die Nachricht war schrecklich, und sie war die definitive Bestätigung der Informa­tionen, die ich zuvor schon durch Carscann und Sorgaron erhalten hatte. In Gruelfin tob­te ein Krieg … ein Bruderkrieg der einzel­nen Cappin-Völker. »Die Lordrichter lösten die Auseinandersetzungen aus?«, wiederhol­te ich Heroshan Offshanors letzte Aussage.

»Zumindest verstärkten sie die bereits vorhandenen Zwistigkeiten. Sie wirken ohne jeden Zweifel in Gruelfin, und sie waren auch schon einmal persönlich dort. Zumin­dest einige von ihnen. Ob sie sich immer noch dort aufhalten, ist unklar.«

»Sie betätigen sich also als Kriegstrei­ber?« Kythara brachte die Worte des Cap­pin-Kommandanten auf den Punkt.

»Sie traten in Kontakt zu den Führern der Takerer«, stimmte Offshanor zu. »Und sie hetzten sie so lange auf, bis die Armeen der Takerer mit bisher undenkbarer Brutalität über die anderen Cappin-Völker herfielen!« Tief empfundener Zorn lag in den Worten des Ganjasen.

Ich dachte an alles, was ich im Laufe der Jahrhunderte mit den Cappins erlebt hatte, und es versetzte mir einen Stich, zu wissen, dass ihre Heimatgalaxis solche blutigen Zei­ten erleben musste. Ein Bruderkrieg … Mir erschien dies ein schlimmeres Schicksal, als von einer außergalaktischen Invasionsstreit­macht angegriffen zu werden. Denn wer im­mer als Sieger aus der aktuellen Auseinan­dersetzung hervorgehen würde, die Leidtra­genden würden das Volk der Cappins sein. Ob Takerer, Ganjasen, Loisooger, Oldonen oder andere der zahlreichen Cappin-Völker: sie alle waren genetisch sehr eng verwandt, und im Grunde genommen bekämpften sie sich selbst.

»Furchtbare Schlachten waren das Ergeb­nis«, fuhr Heroshan Offshanor fort. »Es fällt mir schwer, an die Gräuel auch nur zu den­ken, die die Soldaten der Takerer begangen haben. Wir … wir hatten zu Anfang der An­griffe zwar bemerkt, dass die Spannungen zugenommen hatten, aber wir hätten nie da­mit gerechnet, dass eines unserer Brudervöl­

ker mit solcher Radikalität und Brutalität vorgehen könnte.« Der Kommandant be­dachte mich mit einem langen Blick. »Ich weiß, Atlan, dass du bereits mit unseren Völkern in Kontakt standst und dass es dir nicht gleichgültig sein kann, was in unserer Galaxis geschieht.«

»Ich leide mit den Cappins«, stimmte ich zu. »Und es zeigt mir erneut, dass die Lord­richter schreckliche Feinde sind. Wir wissen noch immer sehr wenig über sie, und ich hoffe, von dir mehr über sie zu erfahren. Wer verbirgt sich hinter dieser Bezeich­nung? Was hat es mit dem Schwert der Ord­nung auf sich? Wenn, du etwas weißt, He­roshan Offshanor, dann rede!«

»Ich werde dir alles mitteilen, was ich weiß, doch erwarte nicht allzu viel.«

Sind wir nicht für jede noch so kleine In­formation dankbar?, spottete mein Extra­sinn.

»Alles kann wertvoll sein«, antwortete ich bestimmt, sowohl an meinen Logiksektor als auch an den Kommandanten der SYVERON gerichtet.

»Das Ergebnis der Kriegstreiberei ist, dass alle Cappin-Völker seit Jahren zerstrit­ten sind. Unsere Sterneninsel ist in einem Ausmaß zerrissen, das vor kurzem noch un­denkbar gewesen wäre.« Offshanor kehrte zu seinem ursprünglichen Thema zurück, und ich übte mich gezwungenermaßen in Geduld.

»Wir Ganjasen haben trotz des Bruder­kriegs unsere wenigen zur freien Verfügung stehenden Mittel gebündelt und Expeditio­nen ausgesandt. Hierher in die Milchstraße und nach Gantrain, denn es gelang uns, die Spuren der Lordrichter in diese beiden Gala­xien zu verfolgen.«

»In welcher Form seid ihr tätig gewor­den?«

»Wir schickten fernflugtaugliche Pedo­peiler wie die SYVERON. Auch in Gantrain befindet sich ein Pedopeiler, die EEYS­GAN.«

Mithilfe dieser Pedopeiler konnte die Fä­higkeit der Cappins zur Pedotransferierung

Page 18: Der letze Kampf der ERYSGAN

18

durch die Unterstützung eines Pedoleit­strahls über gewaltige Entfernungen ausge­dehnt werden. Pedopeiler waren meist han­telförmige Objekte, deren Kugeln einen Durchmesser von etwa 1000 Metern aufwie­sen. Wie die SYVERON – nur dass dieser Doppelkugelraumer noch um einiges größer war.

»Wir setzen die Pedopeiler als Transmit­ter ein. Es gelingt leicht, Waren oder Perso­nen zu transportieren.« Er sagte es mit einer Beiläufigkeit, die vergessen ließ, dass er von gewaltigen Entfernungen sprach. Ein Aus­tausch etwa zwischen der Milchstraße und Dwingeloo oder Gantrain vollzog sich über sechzehn Millionen Lichtjahre in Nullzeit! Selbst die hochgezüchtete galaktische Tech­nik konnte es damit nicht aufnehmen, ob­wohl der Flug uns vor kein großes Hindernis gestellt hätte.

Ich verscheuchte meine Gedanken, um den Worten Offshanors weiter folgen zu können.

»Per Pedotransferierung werden hier und in Gantrain seit etwa einem Jahr Informatio­nen gesammelt. Ich bedauere, dass ich nicht über alles in Kenntnis gesetzt bin, was dort bereits herausgefunden wurde.« Offshanor unterbrach sich für einen Moment und wandte sich danach an Kythara. »Du bist über die Fähigkeiten der Cappins zur Pe­dotransferierung informiert?«

In der Stimme der Varganin lag milder Spott, als sie antwortete. »Ich weiß über mehr Dinge Bescheid, als du auch nur ahnen kannst.«

Offshanor tat mir fast ein wenig Leid, denn er konnte nicht wissen, wem er gegen­überstand. Kythara hatte in ihrem Leben, das seit Jahrzehntausenden währte, unendlich vieles erfahren und erlebt – und ich hoffte, dass ich irgendwann Näheres darüber her­ausfinden würde. Bis jetzt schwieg sie sich über ihre Vergangenheit eisern aus. So, wie ich selbst ihr wenig über mich berichtet hat­te.

Die Pedotransferierung erlaubte es dem Volk der Cappins, ein anderes Lebewesen

Christian Montillon

rein geistig zu übernehmen. Dazu peilte der Cappin die individuelle sechsdimensionale ÜBSEF-Konstante des Pedoopfers an und verdrängte in Nullzeit dessen eigenes Be­wusstsein. So konnte der Pedotransferer den Körper des Opfers vollständig übernehmen. Zog er sich anschließend in Ruhe wieder zu­rück, konnte sich das Opfer an nichts erin­nern. Neben dieser rein geistigen Übernah­me eines anderen Intelligenzwesens konnte der Pedotransferer auch seinen Körper über gewaltige Entfernungen versetzen mithilfe der Pedopeiler.

»Ich traf auf einen der ausgesandten Cap­pins«, berichtete ich Offshanor, nachdem mein Logiksektor die entsprechenden Ver­bindungen gezogen hatte. »Carscann ver­schlug es an Bord der Vergessenen Positro­nik, wo er sein Ende fand.«

»Von dort stammt auch das Gerät, über das du Kontakt mit uns aufnahmst«, ergänz­te Kythara.

»Ich wusste von Carscanns Tod noch nichts.« Heroshan Offshanor nickte traurig. »So wie er befinden sich viele Ganjasen weiterhin unerkannt im Einsatz. Es war ein Ganjase namens Darscheva, der in der Ster­nenstadt VARXODON den Marquis Gratnar per Pedotransferierung übernommen hatte und uns auch von der Falle berichtet hat, die die Garbyor für euch auf Vassantor errichte­ten. Seinetwegen sind wir dort gewesen.«

»Also verdanken wir unser Leben gewis­sermaßen Darscheva«, schlussfolgerte Ky­thara. »Ich hoffe, wir werden ihm in friedli­chen Zeiten begegnen und ihm dann ange­messen danken können«

Offshanor lachte kurz auf. »Das trifft wohl unser aller Hoffnungen auf den Punkt.«

»Was weißt du über unsere Gegner?«, fragte ich, um auch in diesem Punkt Gewis­sheit zu erhalten.

»Was die Kommandohierarchie angeht, stehen die Kommandanten am tiefsten. Ih­nen übergeordnet sind die Marquis, über ih­nen stehen die Erzherzöge. Gratnar etwa un­terstand dem Befehl Erzherzog Garbfando­

Page 19: Der letze Kampf der ERYSGAN

19 Der letze Kampf der ERYSGAN

ghs. Über den Erzherzögen kommen die Lordrichter selbst, die nur den Weisungen des Obersten Lordrichters verpflichtet sind.«

»Der wiederum dem Schwert der Ord­nung untergeordnet ist«, ergänzte ich nach­denklich. Offshanor hatte die Befehlskette so wiedergegeben, wie wir sie bislang eben­falls kennen gelernt hatten.

»Wenn du dir weitergehende Informatio­nen erhoffst, muss ich dich enttäuschen, At­lan. Von den Lordrichtern aufwärts sind uns nur Namen bekannt, nichts Näheres. Ob es sich um Einzelpersonen, Maschinen, eine Gruppe oder gar nur um Legenden handelt, ist völlig unbekannt.«

Er hat uns kaum etwas Neues berichtet. Leider musste ich meinem Logiksektor zu­stimmen. Das Gespräch mit dem Cappin-Kommandanten hatte lediglich einiges be­stätigt, was wir bereits auf andere Weise er­fahren hatten.

»Wir wissen zwar auch nicht, wie viele Lordrichter existieren, aber zwei sind es mindestens. Sie sind uns namentlich be­kannt: Sarkahan und Yyrputna sind in der Milchstraße aktiv, vor allem rund um VAR­XODON.«

»Was weißt du über Gantrain?«, fragte Kythara den Kommandanten und nahm mir damit die Worte aus dem Mund. Auch mich interessierte dringend, was in Dwingeloo 1 vorging. Es musste einen Grund dafür ge­ben, dass die Lordrichter-Truppen dorthin geflohen waren.

»Nichts«, antwortete Offshanor zu meiner Enttäuschung. »Es gab vor dem jetzigen Hil­feruf keinen Kontakt der Außentruppen mit­einander. Die Sicherheit machte leider strengste Geheimhaltung notwendig.«

Es war also möglich und sogar wahr­scheinlich, dass die dortigen Cappins längst mehr über die Lordrichter herausgefunden hatten. Alleine das war Grund genug, Dwin­geloo als Ziel anzusehen, das wir baldmög­lichst ansteuern mussten. Die Ausführungen Offshanors hatten bei mir den Verdacht ge­schürt, dass wir schneller dorthin kommen würden, als ich es noch vor Stunden für

möglich gehalten hatte. »Die Erkenntnisse der Agenten in Dwin­

geloo dürfen nicht verloren gehen!« Ich tauschte einen raschen Blick mit meiner Be­gleiterin und las in Kytharas Augen dieselbe Entschlossenheit, die auch mich erfüllte.

»Ich werde auf jeden Fall nach Gantrain gehen und dem Kommandanten des dortigen Pedopeilers zu Hilfe eilen! Zu viel hängt für mich und für alle Cappins davon ab. Ich ha­be euch berichtet, warum, und hoffe, dass ihr mich begleiten werdet.«

»Selbst wenn unsere Hilfe für den Pedo­peiler zu spät kommen sollte, benötigen die dortigen Undercoveragenten Unterstüt­zung«, stimmte ich zu.

»Wie ihr wohl bereits ahnt, besteht eine Pedotransmitterverbindung zwischen meiner SYVERON und der dortigen ERYSGAN. Ihr könnt mir mit eurem Schiff folgen.« He­roshan Offshanor stand auf, als er seinen Ta­tendrang offensichtlich nicht mehr zügeln konnte. »Es wurde lange genug geredet. Ich werde nicht länger zögern.«

»Durch die Pedotransmitterverbindung können komplette Schiffe fliegen?«, fragte ich skeptisch. »Über eine Distanz von sech­zehn Millionen Lichtjahren?«

Im selben Moment gellten Sirenen auf. »Die Kugelraumer müssen bei einem der­

art großen Objekt getrennt werden«, erklärte Offshanor. »Die Trennung ist eingeleitet.«

»Wann werden wir den Sprung durchfüh­ren können?« Kythara fasste den Cappin, der an ihr vorbeieilen wollte, am Arm.

Offshanor streifte ihre Hand mit einem kurzen Blick, und die Varganin ließ ihn los. »Die Trennung der Kugelraumer wird einige Minuten in Anspruch nehmen. Kehrt auf die AMENSOON zurück. Sobald wir angekom­men sind, werden wir für jedes Quäntchen Feuerkraft dankbar sein. Vielleicht ist es eu­er Schiff, das dabei hilft, die ERYSGAN zu retten. Wenn der Pedopeiler wieder sicher ist, kehren wir in die Milchstraße zurück.«

Ich nickte und merkte an Kytharas Ge­sichtsausdruck, dass sie dieselben Gedanken hegte wie ich. Wir würden nicht zurückkeh­

Page 20: Der letze Kampf der ERYSGAN

20

ren, ehe wir nicht herausgefunden hatten, was die dortigen Cappins in Erfahrung ge­bracht hatten.

»Wir folgen dir mit der AMENSOON«, versicherte Kythara.

5. An Bord des Pedopeilers ERYSGAN

Zokelag: Kriegsphilosophie

Zokelag beobachtete entsetzt, wie Mira­log an der Wand nach unten sank und dabei einen breiten Streifen Blut zurückließ. Kein Laut drang aus Miralogs Kehle, und der Blick seiner gebrochenen Augen ließ keinen Zweifel daran, dass er tot war.

Tot, weil er auf Zokelag gewartet hatte, dessen Angst seinen Magen hatte revoltieren lassen.

In blinder Panik warf sich Zokelag herum und rannte davon. Er warf keinen Blick zu­rück, achtete nicht eine Sekunde lang auf seine Feinde. Er wusste nicht, ob ein Einzel­ner der Garbyor ihn angegriffen hatte oder ein ganzer Trupp von ihnen. Er hatte keine Ahnung davon, welcher Spezies die Aggres­soren angehörten … und es war ihm auch völlig gleichgültig.

Zokelag rannte, und die Panik verlieh ihm eine Schnelligkeit, die all der militärische Drill in den Trainingslagern ihn nie hatte er­reichen lassen. An der ersten Abzweigung änderte er seine Richtung, hetzte nach rechts weiter. Ein Winkel seines Verstands sagte ihm, dass er dort in einen Bereich der Mann­schaftsunterkünfte gelangen würde. Ein Ort, der tausend Versteckmöglichkeiten bot. Si­cher hatten die Angreifer kein Interesse dar­an, einen einzelnen flüchtenden Feigling zu verfolgen. Sie würden nicht viel Zeit in die Suche investieren. Wieso sollten sie es auch?

Anfangs hörte er Schritte, lautes, unabläs­siges Trampeln, das ihn verfolgte. Die hasti­ge Abfolge der Laute ließ vermuten, dass ihn eine mehrbeinige Spezies verfolgte, die vierbeinigen Gorsaan möglicherweise. Doch er warf keinen Blick zurück, und schließlich

Christian Montillon

verstummten die Schritte. Nur noch das Geräusch seines eigenen

Atems drang an seine Ohren, und er glaubte das rasende Pochen seines Herzens müsse in den Gängen widerhallen und alle Feinde an­locken.

Doch niemand kam. Natürlich nicht. Schwer atmend blieb Zokelag schließlich

stehen und schoss auf den Verriegelungsme­chanismus einer Tür, die er danach problem­los zur Seite schieben konnte. Er hastete in das ihm unbekannte Quartier und zog die Tür danach wieder zu. Mit langsamen, kurz­en Schritten wankte er rückwärts bis zur ge­genüberliegenden Wand. Daran ließ er sich niedersinken – genau wie Miralog, nur dass dieser tot gewesen war, zu Boden gezogen von der unerbittlichen Schwerkraft, der kei­ne Muskeln mehr Widerstand entgegensetz­ten – und kauerte sich am Boden zusammen.

War es vorhin ebenso gewesen?, schoss ihm die Frage durch den Kopf, als er die Hände vor seine Augen schlug. Genau in dieser Haltung war er wieder zu sich gekom­men, vor der kurzen Ewigkeit, bevor er Mi­ralog kennen gelernt hatte. Doch er konnte sich auf diese Frage keine Antwort geben, obwohl sie irgendwo in seinem Gehirn exi­stieren musste.

Er dachte nach, doch die Angst verhinder­te jeden klaren Gedanken. Wieder einmal …

»S … sasage nicht, es gibt keinen Aus­weg«, stotterte Zokelag, und er kümmerte sich nicht darum, dass niemand ihn hören konnte. Er selbst vernahm die Worte, und nur das zählte. »Es … es g-geht – es geht weiter«, flüsterte er und schloss danach den Mund, schluckte hastig.

Es waren die Worte, die man ihm beige­bracht hatte. Die ihm Mut zusprechen soll­ten, wenn die Nacht wieder einmal über sein Leben fiel. Und nie zuvor war die Nacht dunkler gewesen als heute. »Die Angst …«, sagte er und fühlte, wie er plötzlich keine Luft mehr bekam, wie … Er versuchte mit aller Kraft, langsam auszuatmen und kon­trolliert wieder Atem zu holen. »Die Angst kann mich nicht beherrschen.«

Page 21: Der letze Kampf der ERYSGAN

21 Der letze Kampf der ERYSGAN

Er wusste, dass es eine Lüge war, doch er sprach sie trotzdem aus, und sie tröstete ihn. Die Worte boten Trost in dieser Nacht, die nicht enden würde, ehe sie in die ewige Dunkelheit überging. Das stand ihm klar vor Augen, aber er beschloss trotzig, die letzten Stunden seines Seins nicht in der Sklaverei seiner Emotionen zu verbringen. »Ich herr­sche über … über die Angst.«

Um das zu erreichen, gab es nur einen Weg. Er flüchtete sich an den Ort, der den Schlüssel zur Freiheit in sich trug. Er ging in seinen Gedanken zurück, bis er wieder ein Kind war, bei seinen Eltern lebte, damals. Als die Angst in ihn einzog.

Zokelag lachte, als er von seinem erhöht stehenden Bett sprang. Unten hatte er aus Surisamilch eine glitschige Spur gelegt, und als er mit beiden Füßen auf dem Boden auf­kam, rutschte er darauf in rasendem Tempo bis zu seinem Bruder. Torias fing ihn auf, ehe Zokelag ungebremst stürzen konnte.

»Jetzt ich!«, schrie sein Bruder und ha­stete zu Zokelags Bett. Flink wie ein Solik kletterte er die wenigen Stufen hinauf und lachte, während seine Augen vor Freude leuchteten.

»Beeil dich!« Auch Zokelag wollte noch ein paarmal rutschen, doch sie hatten nicht mehr viel Zeit. Ihr Vater würde bald zurück­kommen, und bis dahin mussten alle Spuren beseitigt sein. Es war eine langwierige Pro­zedur, die Surisamilch wieder vom Boden zu lösen.

Sein Bruder schrie vor Schreck auf, als er den Halt verlor und wild mit den Armen ruderte, um nicht zu stürzen. Zokelag gelang es, ihn zu stützen, doch der Schwung riss auch ihn um. Beide fielen mit dem Hintern hart auf den Boden.

Es tat furchtbar weh, doch sie mussten beide so sehr lachen, dass der Schmerz bald verging. »Wenn Vater jetzt kommt, kann es auch nicht schlimmer werden!«

Zokelag war rasch wieder auf den Füßen, und als er kurz darauf erneut sprang, zog es angenehm in seinem Magen, als kugele er sich den steilen Hang des roten Hügels hin­

ab. Doch das Rutschen klappte bereits nicht mehr so gut wie noch beim vorherigen Mal. Die Surisamilch klumpte langsam auf dem Boden.

»Noch einmal!«, rief sein Bruder. »Die Milch wird es nicht mehr lange

tun«, widersprach Zokelag. »Es macht kei­nen Spaß mehr. Außerdem wird Vater bald kommen. Wir sollten putzen und aufräumen, sonst merkt er noch etwas.« Ihr Vater konnte sehr zornig werden, und die Jungen hatten großen Respekt vor ihm.

»Nur noch einmal!« Ehe Zokelag widersprechen konnte, be­

fand sich sein Bruder schon auf seinem Bett. Er stellte sich an den Rand und ging in die Knie. »Jetzt!«

Im selben Moment hörte Zokelag ein Ge­räusch, und er drehte sich um. Doch es war nur das Fenster gewesen, das im Wind klap­perte.

»Zokelag!«, rief sein Bruder laut, und er wirbelte wieder herum.

Er sah noch, wie Torias, der kleine Tori­as, in einem unmöglichen Winkel schräg nach hinten stand, die Füße weit nach vorn gestreckt. Dann knallte er auf dem Boden auf, ohne sich abfangen zu können. Es knackte hässlich, als der kleine Kopf auf dem Boden aufprallte.

Zokelag eilte zu dem Gestürzten. »Pass doch besser auf!«, herrschte er ihn an, doch in Wirklichkeit sorgte er sich, ob Torias et­was zugestoßen war.

Es war ihm etwas zugestoßen. Er lag reglos, die Arme weit von sich ge­

streckt, und eine Blutlache breitete sich um seinen Kopf aus. Die Augen standen weit of­fen, und sie schlossen sich nicht.

Zokelag schrie. Als viele endlose Minuten später sein Vater nach Hause kam, saß er immer noch bei Torias. Und Torias lag nach wie vor völlig still auf dem Boden. Die Arme waren immer noch weit ausgebreitet, und die Augen starrten unentwegt nach oben, als versuchten sie, die Zimmerdecke zu durch­dringen und den Sternenhimmel zu sehen.

Das Einzige; was sich verändert hatte,

Page 22: Der letze Kampf der ERYSGAN

22

war die Menge an Blut. Sein Vater starrte mit offenem Mund auf

die Szene, die sich ihm bot. »Die … die Milch«, sagte Zokelag. Seine

Kehle war so eng, dass er keine weiteren Worte herausbrachte. Schon diese wenigen Silben reizten ihn zu einem lang andauern-den Hustenanfall.

Er bekam keine Antwort. Sein Vater schwieg eine Ewigkeit lang. Dann fasste er Zokelags Schultern und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. »Es ist deine Schuld«, sagte sein Vater, ohne Zorn, völlig emoti­onslos. Das war schlimmer, als wenn er ge­schrien hätte. »Und eines Tages wirst du da­für bezahlen.«

Dann ging er weg, doch dafür gesellte sich die Angst an Zokelags Seite. Und sie verließ ihn nie wieder.

Man hatte ihm gesagt, dass in der Erinne­rung der Schlüssel verborgen läge, den Dä­mon, der damals in ihn eingezogen war, wieder zu verbannen. Zokelag hatte es im Laufe der Zeit glänzend verstanden, ein Schauspiel abzuliefern und alle glauben zu machen, er sei tatsächlich wieder frei.

»Die Angst ist nicht dein Freund«, hatte man ihm gesagt, als sie entdeckten, dass er sich mit ihr arrangiert hatte. Sie logen, denn Zokelag war immer klarer geworden, dass jeder die Angst gut kannte. So gut, wie man eben seine Freunde kennt.

»Keiner mag die Angst«, hatten kluge Köpfe ihn gelehrt, aber er hatte entdeckt, dass das Umgekehrte der Fall war. Die Angst mochte jeden gerne.

Wenn es dunkel war, wenn Zokelag allei­ne in seiner Kammer lag, dann nagte sie an ihm, fraß jeden Mut, den er sich am Tage mühsam erkämpft hatte. Nichts half, wenn es so weit war – nichts außer dem bangen Abwarten, bis der nächste Tag begann. Wenn er Glück hatte, fiel er für einige Stun­den in einen unruhigen Schlaf.

Bald hatte er etwas gefunden, was ihn nach solchen Attacken wieder stärken konn­te. Das Verdrängen. Nur darin lag die Ant­wort. Doch um verdrängen zu können, mus-

Christian Montillon

ste er sich vorher stets die Geschehnisse vor Augen führen. Immer wieder miterleben, wie der arme Torias gestorben war und – schlimmer noch – wie sein Vater nach Hau­se gekommen war und die Worte gespro­chen hatte, die sein Leben wirklich zerstör­ten. Nur dann gelang es Zokelag, die Erinne­rungen gezielt zu verbannen.

Es hatte immer gut funktioniert, und seine Karriere war danach glänzend gelaufen. Die Militärlaufbahn bot den unschätzbaren Vor­teil, dass er über Wochen und Monate jede wache Sekunde in die Arbeit investieren konnte und deshalb nie in die Verlegenheit kam, selbst eine Familie gründen zu müssen oder auch nur daran zu denken.

Als er schließlich Kommandant Tora­gasch traf, war dieser von ihm fasziniert ge­wesen. Er hatte ihn unter seine Fittiche ge­nommen und ihn als Mentor viele Jahre lang begleitet.

Zokelag war es in all der Zeit beinahe ge­lungen, die Angst zu vergessen, und nur noch manchmal, nachts, im Dunkeln, war sie in ihm hochgekrochen. Seit er jedoch mit Toragasch zusammen die Heimat verlassen hatte und hierher nach Gantrain vorgedrun­gen war, war sein Schlaf tief und traumlos. Die lange und harte Arbeit erschöpfte ihn so stark, dass er abends wie ein Toter einsch­lief.

Wie ein Toter … Wie äußerst passend, dachte Zokelag. Denn bald würde das die Realität sein. Nachdem sein Vater endlich Recht behalten hatte und Zokelag den bitte­ren Preis für einen Moment der Unachtsam­keit bezahlt hatte.

Doch was spielte es angesichts des nahen­den tausendfachen Todes für eine Rolle, dass er sich nach einem klappernden Fenster umgedreht hatte, als er ein Kind gewesen war? Auch wenn es genau der falsche Mo­ment gewesen war und sein Bruder unglaub­liches Pech gehabt hatte.

»Pech!«, schrie Zokelag seinen Vater an. »Torias hat …«

»Pech? Das ist also die Antwort darauf, dass du deinen Bruder umgebracht hast mit

Page 23: Der letze Kampf der ERYSGAN

23 Der letze Kampf der ERYSGAN

deinen wahnsinnigen Ideen?« Die Emotions­losigkeit war längst gewichen, vor Monaten schon. Von Woche zu Woche wurde der Zorn in dem verbitterten Ganjasen über­mächtiger.

Zokelag zog den Kopf zwischen die Schultern. Am liebsten hätte er auch weiter­hin geschrien, doch die Gewaltbereitschaft, die in den Augen seines Vaters funkelte, schüchterte ihn ein. »Ich habe ihn nicht ge­tötet! Es war ein Unfall. Torias ist …«

»Du hast ihn verführt, und dann hast du nicht einmal genug Verstand besessen, ihn zu beschützen und auf ihn aufzupassen, wie es deine Pflicht war!«

»Ich …« »Schweig jetzt! Kein Wort mehr, hast du

mich verstanden?« Die Hand seines Vaters auf seiner Wange beendete jeden weiteren Widerspruch. Zokelag sank in sich zusam­men.

Sein Vater stand auf und trat gegen sei­nen Stuhl, der zur Seite geschleudert wurde und an der Wand zerbrach. Er verließ den Raum, doch nach einem Moment kam er noch einmal zurück und rief: »Warum rede ich überhaupt mit dir? Du wirst den Preis ohnehin zahlen, irgendwann.«

Zokelag erhob sich, und als er diesmal die Hygienezelle aufsuchte, tat er es, um sich zu erfrischen und die Erinnerung an die letzten Stunden von sich herunterzuspülen.

Er wunderte sich darüber, wie sich die Dinge wiederholten. Wieder war er in einem ihm fremden Quartier, und wieder beschloss er, dass er es verlassen musste.

Aber diesmal nicht, um den Aggressoren den kleinen Widerstand entgegenzusetzen, den er aufzubringen in der Lage war. Denn Zokelag besann sich auf das, was wirklich wichtig war. Er erinnerte sich an das Ziel seiner Mission!

Sie waren hierher nach Gantrain gekom­men, um einige Pedotransferer auszusenden, die Informationen über die Lordrichter sam­meln sollten, die geheimnisvollen Machtha­ber, die die heimatliche Sterneninsel in einen verhängnisvollen Krieg gestürzt hat­

ten. Denn nur wenn man mehr über den my­steriösen Feind wusste, konnte man ihn wirksam bekämpfen.

Angesichts dessen zählte sein eigenes Le­ben nichts. Im Licht dieser Mission war es in letzter Konsequenz nicht einmal wichtig, ob der Pedopeiler zerstört wurde oder nicht. Das Einzige, was von Bedeutung war, waren die Informationen, die die Agenten in ihren geheimen Missionen bereits gesammelt hat­ten.

Es gab nur zwei Personen, die über das Wissen verfügten, das an verschiedenen Stellen in lebensgefährlichen Geheimopera­tionen zusammengetragen worden war. Kommandant Toragasch – und er selbst!

Toragasch kämpfte einen aussichtslosen Kampf. Er würde in der Zentrale des Pedo­peilers den Tod finden, entweder aus der Hand angreifender Garbyor oder im Inferno der explodierenden ERYSGAN. Das bedeu­tete aber auch, dass mit ihm all sein Wissen sterben würde.

Zokelag glaubte nicht daran, dass wirklich Hilfe eintreffen würde. Und wenn doch, dann würde sie unter der feindlichen Über­macht ebenso zerstört werden wie der Pedo­peiler. Die Übermacht der Lordrichter-Trup­pen würde jeden Widerstand früher oder später ersticken.

Konnte es angesichts dessen nicht nur ei­ne einzige vernünftige Lösung geben?

Toragasch und er mussten fliehen, ehe der Ertrag des Einsatzes der zahlreichen Agen­ten, die seit einem Jahr in dieser fremden Galaxie ihr Leben riskierten, für immer aus­gelöscht wurde! Es ging nicht darum, ob ein Toragasch oder ein Zokelag lebten oder star­ben … es ging darum, dass das Wissen wei­tergegeben werden konnte!

Zokelag verließ das Quartier. Er musste die Zentrale aufsuchen und Toragasch davon überzeugen, mit ihm die ERYSGAN zu ver­lassen. Der schnellste Weg führte über einen Antigravschacht, der nicht weit von hier ent­fernt war. Zokelag wollte auf diese Weise das zentrale Deck erreichen und würde da­nach nur noch etwa einhundert Meter zu­

Page 24: Der letze Kampf der ERYSGAN

24

rücklegen müssen. Doch es entwickelte sich anders, als er es

sich erhoffte. Noch ehe er den Antigravschacht erreich­

te, traf er auf die Torghan.

*

Zokelag zog sich rasch einige Schritte zu­rück. Die Insektoiden hatten ihn noch nicht bemerkt. So kam es, dass er wenige Meter von den Torghan entfernt stand und hören konnte, was sie sagten.

»Wie lange wirst du noch benötigen, die Sicherung zu umgehen?«, zischte eines der vier insektoiden Wesen. Als Zokelag sich vorsichtig nach vorne beugte, um aus seiner Deckung heraus den Entertrupp beobachten zu können, sah er den Hinterkopf des Spre­chers. Auch dort befanden sich zwei Facet­tenaugen, genau wie an der Vorderseite. Die Janusköpfigkeit verlieh den Torghan un­schätzbare Vorteile im Kampf. Doch Zoke­lag zog sich rasch genug wieder zurück, so­dass er nicht entdeckt wurde.

»Der Antigravschacht ist gesichert«, stieß ein anderer der Insektoiden hervor.

»Dann umgehe die Sicherung!« »Wenn wir die Zentrale erreichen, wartet

Trodar auf uns«, ergänzte ein Dritter der Torghan.

Trodar – das ewige Leben in der Großen Horde. Zokelag kannte die Philosophie der Krieger, die das Heer der Lordrichter bilde­ten. Sie nahm ihnen im Kampf jede Hem­mung, jede Angst um das eigene Leben … denn nach dem Tod wartete die Erfüllung auf sie. In Zokelags Augen ein grausamer Missbrauch, für die Garbyor jedoch ein Quell unbändiger Kampfkraft.

»Nur noch einen Moment!«, rissen ihn die Worte des Insektoiden aus seinen Gedanken. »Der Weg ist frei!«

Für einen Augenblick flimmerte der Ener­gievorhang, der unsichtbar vor dem Eingang zum Antigravschacht gelegen hatte. Es han­delte sich um eine erst hier in Gantrain in­stallierte Sicherheitsmaßnahme für genau

Christian Montillon

den Notfall, der jetzt eingetreten war. Eventuelle Entertruppen sollten dadurch

daran gehindert werden, die Zentrale zu er­reichen … Alle Eingänge zum zentralen An­tigravschacht waren auf diese Weise gesi­chert. Ein unzureichender Schutz, wie sich nun zeigte.

Ohne jedes Zögern betraten die Insektoi­den den Schacht und schwebten nach oben. Als auch der letzte der Torghan außer Sicht war, huschte Zokelag aus seiner Deckung. Er hielt seine Waffe im Anschlag und rannte auf den Eingang des Antigravschachtes zu.

Seine Lippen bebten, als er ebenfalls in ihn einstieg, die Waffe nach oben hielt und schoss. Immer wieder zog er durch. Die Tor­ghan hatten keine Chance. Es war ein gna­denloses Gemetzel, eigentlich kein Kampf.

Doch Zokelag war es in diesem Moment gleichgültig. Obwohl er genau wusste, dass sich diese Bilder zu den anderen für den Rest seines Lebens gesellen würden, hielt er an seinem Entschluss fest. Wichtiger als al­les andere war es, die Informationen der Un­dercoveragenten zu retten.

Und dazu musste er in die Zentrale vor­dringen. Auch wenn es bedeutete, den Torg­han ihre Todessehnsucht zu erfüllen und sie Trodar erleben zu lassen …

Einer der Toten gelangte in den entgegen­gesetzt gepolten Bereich des Schachtes und schwebte nach unten. Als er Zokelag pas­sierte, schloss dieser die Augen. Ein Meer aus Blutstropfen tanzte schwerelos um den toten Insektoiden herum.

Die anderen Leichen schwebten am Aus­gang des zentralen Decks vorbei, und als Zokelag endlich den Schacht verlassen konnte, atmete er tief durch.

Bis hierher waren noch keine Entertrup­pen vorgedrungen. Die vier Insektoiden wä­ren die Ersten gewesen. Zokelag betrat nach Eingabe seines Autorisationskodes die Zen­trale. Nach wie vor herrschte hier hektische Aktivität. Es schien ihm, als habe sich nichts geändert, seit er seine Odyssee durch die ERYSGAN begonnen hatte.

Da er bekannt war, hinderte ihn niemand

Page 25: Der letze Kampf der ERYSGAN

25 Der letze Kampf der ERYSGAN

daran, bis zu Toragasch vorzudringen. »Was willst du hier?« Der Kommandant

starrte ihn verwundert an und wandte sich einen Augenblick von allen eingehenden Meldungen und weiterzugebenden Befehlen ab. »Simaro vertritt dich der Situation ange­messen.«

»Es geht nicht um mich und mein Versa­gen, das ich offen eingestehe. Es geht dar­um, dass Sie überleben müssen, Komman­dant. Die Arbeit eines Jahres darf nicht ver­geblich sein!«

»Ich werde leben, denn ich werde die Zentrale und den Pedopeiler so lange si­chern, bis die Hilfe eintrifft.

Ich habe bereits Nachricht erhalten!« »Wir müssen fliehen, Kommandant, und

nach Gruelfin zurückkehren, um …« »Wenn die ERYSGAN fällt, erwartet je­

des Raumschiff, das uns zu Hilfe eilt, der si­chere Tod! Wir bilden die Empfangsstation des Pedotransmitters, und wenn diese aus­fällt, werden sie …«

»Kommandant! Die Informationen dürfen nicht mit uns sterben!«

»Verlass die Zentrale!« Toragasch blickte Zokelag hart in die Augen. »Ich werde nicht fliehen und die ERYSGAN im Stich lassen. Ich habe um Hilfe gerufen, und ich werde lange genug überleben, damit diese nicht den sicheren Tod findet! Das bin ich ihnen verdammt noch mal schuldig!« Der Kom­mandant ereiferte sich und stieß diese Worte voller Wut hervor.

»Die Garbyor sind auf dem Weg in die Zentrale, Toragasch! Wenn ich nicht gewe­sen wäre, wären sie bereits hier. Es kann sich nur noch um kurze Zeit handeln, bis sie die Zentrale stürmen.«

»Unsere Sicherheitsmaßnahmen werden sie aufhalten. Wenigstens solange es irgend möglich ist. Und jetzt geh, Zokelag!« Tora­gasch wandte sich wieder seiner Aufgabe als Kommandant zu. »Simaro, Nachricht!«, be­fahl er.

»Kommandant!«, rief Zokelag eindring­lich. »Alle Cappin-Völker sind auf das ange­wiesen, was Sie und ich alleine wissen.«

»Schafft ihn hier heraus!« Direkt nach Toragaschs Worten traten

zwei Ganjasen auf Zokelag zu, packten ihr an den Armen und zerrten ihn aus der Zen­trale. Zuerst setzte Zokelag ihnen Wider­stand entgegen, doch bald erkannte er, wie sinnlos dies war. Willenlos ließ er sich wei­terführen.

»Wir müssen die Kugelraumer trennen, damit die ankommenden Raumschiffe wie­der materialisieren können!«, gellte Tora­gaschs Befehl auf. Es waren die letzten Worte, die Zokelag hörte. »Es muss schnell gehen! Sonst droht eine alles vernichtende Katastrophe, die nicht nur unser Leben aus­löschen wird, sondern auch das derer, die uns zu Hilfe kommen!«

6. An Bord der SYVERON

Atlan: Der Weg ins Verderben

Heroshan Offshanors Gestalt straffte sich. Der Cappin-Kommandant sah erst Kythara, dann mir direkt in die Augen. »Ich danke euch.«

»Es ist selbstverständlich, dass wir dir fol­gen«, erwiderte ich.

Offshanor nickte mir zu. »Ich werde mit dem Großbeiboot MORYR den Weg nach Gantrain antreten, sobald der Pedopeiler be­reit ist. Die beiden Kugeln müssen getrennt werden, damit das Transportfeld zwischen ihnen aufgebaut werden kann. Nur auf diese Weise können ganze Schiffe versetzt wer­den.« Der Kommandant der SYVERON ver­abschiedete sich. »Ihr könnt mir folgen, so­bald ich das Transportfeld durchflogen ha­be.«

Kaum hatte Offshanor den Raum verlas­sen, machten Kythara und ich uns ebenfalls auf den Weg. Wir mussten möglichst schnell zurück zur AMENSOON.

»Er geht ein großes Risiko ein, um seinem Volk beizustehen«, sagte Kythara nachdenk­lich. »Und wir ebenso.«

»Aber der Weg zu neuen Erkenntnissen über die Lordrichter führt über Dwingeloo.«

Page 26: Der letze Kampf der ERYSGAN

26

Wir eilten den beiden Ganjasen hinterher, die uns zu dem Varganenraumer zurückes­kortierten.

»Was ein wichtiger Grund ist, den Cap­pins beizustehen. Neben der Tatsache, dass wir Offshanor etwas schuldig sind.« Die goldenen Augen in der bronzenen Haut ihres schmalen Gesichtes blitzten.

»Die SYVERON bildet eine erstaunliche Weiterentwicklung mir bekannter Cappin-Technologie«, informierte ich meine varga­nische Begleiterin.

Eine konsequente Fortführung ihrer Tech­nologie, ergänzte mein Logiksektor. Ein Transportfeld zu entwickeln, das mittelgroße Raumer versetzen kann, ist ein logischer Schritt. Was bisher für Einzelpersonen oder kleinere Güter galt, ist nun auch im großen Stil möglich. Der Nachteil ist lediglich die benötigte Größe des Pedopeilers. Die beiden Kugeln der SYVERON durchmaßen jeweils 2000 Meter. Ein gewaltiger Materialauf­wand.

Wenig später erreichten wir die Schleuse, durch die wir die AMENSOON betraten. Wir suchten dort unmittelbar die Zentrale auf. Kythara gab die nötigen Befehle weiter. »Offshanors MORYR ist bereits abgekop­pelt«, klärte sie mich auf..

Die MORYR wies die typische Eiform der Cappin-Raumer auf. Bei der Länge von 800 Metern hatte sie einen Maximaldurch­messer von 200 Metern. Das von Offshanor so bezeichnete Großbeiboot war bisher ne­ben drei baugleichen Schiffen an der SYVE­RON angekoppelt gewesen. Der Komman­dant hatte uns mitgeteilt, dass ihn 200 Gan­jasen als Besatzungsmitglieder nach Dwin­geloo begleiten würden.

Die Kugeln hatten den Trennungsvorgang beinahe vollständig vollzogen. Als auch die AMENSOON wieder abgekoppelt im freien Weltraum flog, empfingen wir eine Nach­richt von Offshanor. »Die Versetzung wird in Nullzeit geschehen«, informierte er uns. »Der Übergang wird also nicht bemerkbar sein. Es ist zu erwarten, dass uns in Gantrain ein feuriges Inferno empfängt. Die Truppen

Christian Montillon

der Lordrichter setzen dem dortigen Pedo­peiler ERYSGAN hart zu.«

»Wir stellen uns darauf ein, unmittelbar in eine Kampfsituation zu geraten«, versicherte ich.

»Ich danke euch im Namen aller Cappin-Völker, dass ihr mich begleitet«, wiederhol­te der Kommandant noch einmal. »Auch wenn nicht alle Völker dem zu diesem Zeit­punkt zustimmen würden.« Traurigkeit lag in seiner Stimme, und ich war mir sicher, dass er an die Exzesse der Takerer dachte, von denen er mir berichtet hatte. »Auf eine bessere Zeit für Gruelfin!«

Ehe Kythara oder ich darauf etwas erwi­dern konnten, unterbrach er die Verbindung.

»Er ist verzweifelt.« Kythara blickte mich hart an.

»Ist das verwunderlich? Er befürchtet, dass das Ergebnis all der Mühen, die die Ga­njasen seit vielen Monaten auf sich genom­men haben, nun verloren geht. Wenn der Pe­dopeiler fällt, bedeutet das einen gewaltigen Rückschlag für die Cappins. Ihr Kampf ge­gen die Lordrichter würde dadurch gewaltig zurückgeworfen werden. Die Bemühungen sind …«

»Nicht nur das, Atlan«, unterbrach sie mich. »Er fragt sich, ob er sich auf eine aus­weglose Mission begibt.«

Sie hat Recht, Arkonide! In der Zentrale der SYVERON hatte er sich besser unter Ge­walt, aber jetzt sind seine wahren Empfin­dungen durchgekommen. Der Weg nach Dwingeloo 1 ist ein Himmelfahrtskomman­do!

»Hast du nicht gehört, wie er von den Garbyor-Truppen berichtete? Er hat uns das wahre Ausmaß der Angriffe verschwiegen. Ich bin davon überzeugt, dass Offshanor vermutet, nie wieder in die Milchstraße zu­rückkehren zu können.« Kythara stützte die rechte Hand auf ihre Hüfte. »Und wir folgen ihm ins Verderben.«

»Es ist nicht das erste Mal, dass wir in ei­ne wenig aussichtsreiche Kampfsituation ge­raten«, wiegelte ich ab.

»Aber wann hast du zuletzt einen Trans­

Page 27: Der letze Kampf der ERYSGAN

27 Der letze Kampf der ERYSGAN

mittersprung über sechzehn Millionen Licht­jahre durchgeführt, um zur Zielscheibe dei­ner Feinde zu werden?«, fragte Kythara sar­kastisch.

»Wenn ich dadurch mehr über die Lord­richter erfahre, bin ich bereit«, antwortete ich hart. »Ich bin allerdings nicht bereit, die Aktivitäten des Schwertes der Ordnung in der Milchstraße tatenlos hinzunehmen. Also gibt es für mich nur einen Weg. Wenn es sein muss, werde ich kämpfen, auch wenn es keine Hoffnung auf Sieg gibt.«

»Hier unterscheiden wir uns nicht, At­lan«, erwiderte Kythara leise. »Wir gleichen uns sogar sehr.« Für einen kurzen Moment wurden ihre Züge weich, verschwand die kühle Distanz, die ihr Jahrtausende währen-des Leben mit sich brachte. Dieser Augen­blick berührte etwas tief in meinem Inneren, doch er ging ebenso schnell vorbei, wie er gekommen war.

»Die Trennung der Kugeln ist beendet«, lenkte ich ab und wies auf den Bildschirm, der das Geschehen wiedergab. Die beiden gewaltigen Kugelraumer standen nicht weit voneinander entfernt reglos im All. Eine Strecke, die etwa ihrem Durchmesser ent­sprach, befand sich zwischen ihnen.

Gleichzeitig nahm die MORYR Heroshan Offshanors Kurs auf das zwischen den Ku­gelraumern aktivierte Pedotransmitterfeld.

»Es wird Zeit«, sagte Kythara und gab einen entsprechenden Befehl an die Bordpo­sitronik weiter. Auch die AMENSOON be­schleunigte mit minimalen Werten und folg­te der MORYR. Die Bezeichnung von Offs­hanors Schiff bedeutete auf Alt-Gruelfin Le­ben, wie mir mein Logiksektor mitteilte. Ich hoffte, dass dieses Wort nicht zu bitterer Iro­nie werden würde.

Die MORYR durchflog das Transmitter­feld und entstofflichte. Ein unspektakulärer Vorgang.

Nur Sekunden später folgte die AMEN­SOON.

7. An Bord des Pedopeilers ERYSGAN

Zokelag: Die Idee

Der Moment, als Toragasch befahl, ihn aus der Zentrale zu werfen, war für Zokelag der schlimmste, seit dieser Albtraum begon­nen hatte. Er war sich sicher gewesen, dass der Kommandant für sein Argument aufge­schlossen sein würde. Doch es war völlig anders gekommen. Toragasch hielt ihn für einen Feigling, der vor dem Ansturm der Feinde fliehen wollte.

Nichts war von der Wirklichkeit weiter entfernt! Vielleicht war es so gewesen, an­fangs, als er sich verkriechen wollte und ta­tenlos das Ende erwartete. Doch die Er­kenntnis hatte alles verändert. Das Wissen durfte nicht verloren gehen!

Wenn Toragasch nicht bereit war, die Realität zu akzeptieren, dann musste Zoke­lag die Geheiminformationen eben alleine retten. Dazu gab es nur einen einzigen Weg. Die ERYSGAN war dem unvermeidlichen Untergang geweiht, also musste er sie ver­lassen.

Er benötigte ein Beiboot, mit dem er aus dem umkämpften Gebiet fliehen konnte. Wenn tatsächlich noch Hilfe eintraf, musste er mit diesen Schiffen Kontakt aufnehmen, ehe sie sich in den ausweglosen Kampf stürzten. Die eingetroffene Unterstützung konnte ihn von hier wegbringen, und dann konnte er Kontakt mit höhergeordneten Stel­len aufnehmen.

Zokelag näherte sich dem Antigrav­schacht, der zur tödlichen Falle für den Gor­saan-Entertrupp geworden war. Er musste drei Decks nach unten gelangen, denn dort gab es einen Zugang zu noch intakten Bei­booten. Diejenigen in Nähe der Zentrale wa­ren durch – offenbar gezielten – Beschuss der Garbyor zerstört worden. Zokelag war froh, dass er diese Informationen nach Ein­gabe seines nach wie vor gültigen Kodes an einem Infoterminal abgerufen hatte.

In der Sekunde als er den Schacht betrat, schwand seine Entschlossenheit abrupt. Ihm wurde blitzartig übel, als er daran dachte, welches Blutbad er hier angerichtet hatte,

Page 28: Der letze Kampf der ERYSGAN

28

feige aus dem Hintergrund heraus. Den Preis dafür wirst du irgendwann zah­

len!, hörte er die Stimme seines Vaters zum tausendsten Mal in seinem Kopf.

Seine Hände begannen zu zittern, ebenso seine Knie. Er verlor vollständig die Kon­trolle über seinen Körper. Nur am Rande nahm er wahr, dass er in dem Antigrav­schacht tiefer sank, als er es eigentlich beab­sichtigt hatte. Ein letzter Rest von Wider­stand gegen die Dämonen der Vergangen­heit regte sich in ihm, doch als der Ausstieg an ihm vorbeizog und bald über seinem Kopf verschwand, schloss Zokelag die Au­gen.

Die alten Bilder tauchten wieder auf, und die Angst spülte ihn hinweg.

Er trieb ziellos durch das Schiff, durch die Gänge, ohne zu wissen, wo er war und was er tat.

Als er diesmal zu sich kam, wünschte er, es wäre wie zuvor in einem unbekannten Quartier gewesen. Doch das war ihm nicht mehr gegönnt. Außerdem war er sicher, dass er aus einer auch körperlichen Ohnmacht er­wachte. Er schlug mühsam die Augen auf und starrte an die kahle Decke eines der zahlreichen Gänge, die durch den Pedopeiler führten.

Sein Herz schlug wie rasend, als er sich die Frage stellte, was geschehen war. Sieh dich um, Zokelag, und du wirst es herausfin­den!

Am Rand seines Blickfelds nahm er auf der Wand neben sich etwas wahr. Noch ehe er seinen Körper drehen konnte, huschte sein Blick bereits dorthin. Ein großer Blut­fleck verschmierte die Wand.

Zokelag stieß die Luft aus und rollte sich zur Seite. So gelangte er auf die Knie und stand schließlich auf. Ihm war schwindlig, er musste sich abstützen und erneut die Augen schließen. Sekunden später sah er an sich hinab. Seine Uniform war quer über dem Brustkorb zerrissen. Am rechten Bein hatte er eine Verletzung davongetragen, der Stoff war von Blut durchtränkt. Erst als er das sah, erreichte der Schmerz auch sein Bewusst-

Christian Montillon

sein. Ein Blick nach vorne zeigte ihm den Geg­

ner, der ihm diese Wunde zugefügt hatte. Die Leiche eines Zaqoor lag nicht weit ent­fernt. Zokelag stand sekundenlang vor dem riesigen Humanoiden, den er offensichtlich getötet hatte. Das Gesicht unter dem milli­meterkurz geschorenen schwarzen Haar wies einen entrückten Ausdruck auf.

Zokelag wusste, dass sich aus den Zaqoor die Leibgarde der Lordrichter rekrutierte. Sie hatten die Trodar-Philosophie stärker verinnerlicht als alle anderen Spezies der Garbyor. Dieser Humanoide hatte den Tod mit offenen Armen begrüßt, glücklich dar­über, nun für alle Zeiten in der Großen Hor­de weiterexistieren zu dürfen.

Es war für Zokelag unfassbar, dass er den direkten Kampf mit diesem ihm körperlich weit überlegenen Humanoiden gewonnen hatte. Er fragte sich, was hier genau gesche­hen war, doch er fand keine Antwort darauf. Die Erinnerung an den Kampf lag tief in ihm begraben, zu tief, als dass er sie jetzt – und womöglich jemals – aufdecken konnte.

Zokelag nahm seine eigene Verletzung in Augenschein. Eine reine Fleischwunde, die zudem nicht besonders tief war. Sie hatte erst durch die neuerliche Belastung, als er aufgestanden war, wieder zu bluten begon­nen.

»Nichts von Bedeutung«, flüsterte Zoke­lag und zerriss den Ärmel seiner Uniform, um sich einen notdürftigen Verband anzule­gen. Scharfer Schmerz durchzuckte ihn, als er versuchte, die Blutzufuhr abzuschnüren.

Dann wandte er sich ab und ließ den Zaqoor hinter sich. Er musste sich orientie­ren, denn er hatte nicht die geringste Ah­nung, wo er sich befand. Die ERYSGAN war ein riesiges Schiff, und er konnte überall sein, selbst in dem zweiten Kugelraumer. Um ihn herum herrschte vollkommene Stil­le.

Wie lange die Kämpfe wohl noch andau­ern würden, bis die Angreifer den Sieg da­vontrugen? Und was würde dann gesche­hen? In diesem Augenblick, in diesem Mo­

Page 29: Der letze Kampf der ERYSGAN

29 Der letze Kampf der ERYSGAN

ment der Ruhe, an diesem Ort, stellte er sich erstmals die Frage nach der Zukunft. Wür­den die Garbyor den Pedopeiler zerstören? Sicher nicht, denn dann hätten sie ihn nicht entern müssen. Gezielter dauerhafter Be­schuss vom Weltraum aus wäre nach dem Zusammenbruch der Schutzschirme wesent­lich effektiver gewesen.

Also blieb nur eine Alternative: Die Lord­richter wollten den Pedopeiler in ihre Ge­walt bringen, um ihm seine Geheimnisse zu entreißen. Und – die Erkenntnis beschleu­nigte Zokelags Herzschlag – sie würden To-ragasch entführen lassen, um ihn einem Ver­hör zu unterziehen, denn Toragasch war der Einzige, der die Namen aller in Gantrain operierenden Geheimagenten kannte, die per Pedotransferierung in zentrale Stellen der feindlichen Führung vordrangen.

Alles lag völlig klar vor Zokelag. Da­durch wurde die Situation noch schlimmer. Der Pedopeiler würde nicht nur fallen – der Feind würde zusätzlich alle militärischen und geheimdienstlichen Operationen, die ihm in sein eigenes Herz schnitten, entlar­ven.

Zokelag lief unruhig durch den Gang wei­ter. Was sollte er tun? Erkenntnis zog Ver­antwortung nach sich, und er durfte nicht schon wieder versagen. Eine einfache Flucht war keine Option mehr.

Toragasch durfte den Lordrichtern nicht in die Hände fallen! Der Schaden wäre uner­messlich … Aber andererseits konnte Zoke­lag auch nicht erneut bis zur Zentrale vor­dringen. Der Weg dorthin war weit, und Zo­kelag war davon überzeugt, dass ihm die Zeit dazu nicht mehr blieb. Ohne jeden Zweifel würden die Enterkommandos immer weiter vordringen und die Zentrale bald er­reicht haben.

Der Kommandant war in unmittelbarer Gefahr. Außerdem würde, wenn die Garbyor die ERYSGAN erst unter Kontrolle hatten, eine Flucht per Beiboot unmöglich werden. Und er, Zokelag, war beinahe ebenso wich­tig wie Toragasch – denn nach wie vor ver­fügte auch er über alle gesammelten Infor­

mationen. Nur die Namen und aktuellen Einsatzorte der Undercoveragenten waren auch ihm nicht bekannt.

Fliehen – oder Toragasch warnen? Vor allem durfte er nicht länger zögern!

Als er in der Nähe ein Infoterminal fand, hatte er die rettende Idee. Er konnte Funk­kontakt zur Zentrale aufnehmen. Sekunden später gab er seinen Kode ein.

»Was willst du?«, zischte ihn Simaro, sein Stellvertreter, an. Über das Terminal war au­genblicklich eine Bild-Ton-Verbindung zu­stande gekommen.

»Ich muss unverzüglich Toragasch spre­chen.«

»Der Kommandant hat keine Zeit. Und ich auch nicht.«

Zokelag erkannte, dass Simaro die Ver­bindung unterbrechen wollte. »Halt! Es ist lebenswichtig und duldet nicht den gering­sten Aufschub!«

»Ich werde die Information weiterleiten, wenn ich es für richtig befinde. Also sprich und halte mich nicht weiter auf!«

Zokelag sah, wie Simaros Blick hin und her huschte. Offenbar wertete er simultan mit dem Gespräch verschiedene einkom­mende Nachrichten aus. Er spürte die Ver­achtung, die Simaro ihm entgegenbrachte.

»Es tut mir Leid, Simaro. Es handelt sich um eine Geheiminformation, die nur für die Ohren Toragaschs bestimmt ist. Nicht ein­mal du darfst davon wissen.«

»Die Zeit für Geheimniskrämereien ist vorbei. Ich habe anderes zu tun, als mit ei­nem Versager zu diskutieren.«

»Ich befehle dir, mich augenblicklich mit dem Kommandanten zu verbinden!« Diese Aussage entsprang reiner Verzweiflung. Na­türlich hatte Zokelag keinerlei Befugnis, Si­maro irgendwelche Befehle zu erteilen. Doch zu seiner Überraschung nickte sein Stellvertreter.

»Ich werde deinem Wunsch entsprechen. Nicht weil du es mir befiehlst, sondern dar­um, weil ich immer Respekt vor dir hatte. Du verdienst eine weitere Chance. Doch fas­se dich kurz.«

Page 30: Der letze Kampf der ERYSGAN

30

Das Bild flimmerte, und einen Moment später war Zokelag mit Toragasch verbun­den.

»Du?«, rief der Kommandant überrascht. Eine Vielzahl von Emotionen spiegelte sich in diesem einen Wort.

»Ich habe etwas erkannt.« Zokelag sprach in jenem beschwörenden Tonfall, der ihm stets die Aufmerksamkeit Toragaschs gesi­chert hatte, in all den Jahren ihres gemeinsa­men Dienstes.

»Wenn Simaro es für wichtig hält, dann sprich.«

Es versetzte Zokelag einen kleinen Stich, dass Toragasch der Einschätzung Simaros größere Bedeutung zumaß als der seinen. Doch er beachtete diese Eifersucht nicht. Al­les außer dem Ziel ihrer Mission war un­wichtig geworden.

»Die Garbyor beabsichtigen, dich zu ent­führen, Toragasch. Sie wollen dir die Namen aller Agenten entlocken, um unser Wirken in Gantrain endgültig zu beenden.«

Toragaschs Augen weiteten sich. »Das ist alles, du Narr?« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Warum sonst sollten sie hier ein­dringen?«

»Ich …« »Was immer mit dir los ist, es beeinträch­

tigt offenbar dein Denkvermögen. Ich habe längst Vorkehrungen getroffen.« Dann än­derte sich der Tonfall des Kommandanten. »Zu einer anderen Zeit, Zokelag, hätte ich dir helfen können.« Tiefes Bedauern lag in diesen Worten. »Ich vergebe dir deine Feh­ler.«

Dann starrte Zokelag auf einen schwarzen Bildschirm.

*

Einige Sekunden lang war Zokelag wie betäubt. Wie war er nur auf die Idee gekom­men, Toragasch hätte nicht längst dieselben Schlussfolgerungen gezogen wie er? Narr – der Kommandant hatte ihn zu Recht so ge­nannt.

Zokelags Finger huschten über die Einga-

Christian Montillon

besensoren. Jetzt erst fand er heraus, wo ge­nau er sich befand. Er war im traumatisier­ten Zustand beinahe durch einen kompletten Kugelraumer geirrt. Es grenzte an ein Wun­der, dass er offenbar nur auf einen einzigen Zaqoor getroffen war.

Oder? Hatte er möglicherweise weitere Kämpfe siegreich hinter sich gebracht, ohne sich daran erinnern zu können?

Die Überlegung war müßig. Nach Tora­gaschs harten Worten zählte nur noch eins: Zokelag musste ein Beiboot finden und die ERYSGAN verlassen. Er lokalisierte eine Schleuse, an der ein Zehn-Meter-Shuttle an­gedockt war, nur einhundert Meter von sei­nem Standort entfernt.

Ab jetzt kannte Zokelag nur noch ein ein­ziges Ziel: diesen Shuttle zu erreichen und sich damit in Sicherheit zu bringen. Wenn die versprochene Hilfe eintraf, bevor die Garbyor den Pedopeiler übernahmen und die Schiffe der Rettungsmission damit in eine tödliche Falle gerieten, würde er mit den Ankömmlingen Kontakt aufnehmen.

Zokelag überlief ein kalter Schauer, als er daran dachte, was geschehen würde, wenn die Garbyor das Empfangsfeld der beiden Kugelraumer desaktivierten und die Schiffe des Rettungskommandos unwissend den Sprung wagten. Sie würden nicht wieder materialisieren können …

Niemand wusste wirklich, was dann ge­schah, aber führende Hyperphysiker speku­lierten darüber. Auf diesem Gebiet hatte sich Zokelag nie ausgekannt, doch es gab Berich­te über Cappins, die während einer Pedopei­lung verloren gegangen waren. Für immer im sechsdimensionalen Bereich verschollen … Vermutungen besagten, dass ihr Be­wusstsein dort weiterexistieren konnte.

Angeblich sollte sogar einmal ein Cappin – Testare, so hatte er geheißen – im überge­ordneten Raum mit einem Terraner kolli­diert und infolgedessen mit diesem über Jahrhunderte eine verhängnisvolle Symbiose eingegangen sein. Als unförmiger, strahlen-der Klumpen mit dem Gesicht des Terraners verschmolzen …

Page 31: Der letze Kampf der ERYSGAN

31 Der letze Kampf der ERYSGAN

Zokelag eilte in Richtung der Schleuse, und der Gleichklang seiner Schritte ver­drängte die rasenden Gedanken. Er konnte am Schicksal der Hilfsexpedition nichts än­dern, sondern nur hoffen, dass sie rechtzeitig hier eintraf.

Während er den Korridor immer weiter entlangging, ohne auf jemanden zu treffen, dachte er an seinen ehemaligen Mentor To-ragasch. Dieser hatte behauptet, er habe Vorkehrungen getroffen. Worauf bezog er sich? Zokelag glaubte nicht, dass er nur auf die Bitte um Hilfe anspielte. Hatte er sein Gedächtnis mit einer Blockade versehen? Plante er einen Selbstmord in der Sekunde, in der er dem Feind in die Hände fiel?

Zokelag bemerkte erstaunt, dass er um Toragasch trauerte, als sei er bereits tot. Denn selbst wenn er lebend vor die Lord­richter geführt werden würde, war das sein unausweichliches Ende. Zokelag glaubte, dass es unmöglich war, vor den Lordrichtern etwas geheim zu halten, selbst durch pos­thypnotische Blöcke oder ähnliche Gedan­kenverschlüsselungen.

Ihm graute vor dem Gedanken, selbst ein Gefangener der Garbyor werden zu können. Die Grausamkeit ihrer Verhörmethoden war legendär. Zokelag hoffte, dass sie ihn nicht erkannten, wenn er von ihnen gestellt wer­den sollte. Lieber den raschen Tod finden, als lebend in die Hände des Feindes zu fal­len.

Doch irgendwann würde er den Preis zahlen …

… und Zokelag glaubte nicht, dass ein plötzlicher Tod das frühe Lebensende seines Bruders aufwog.

»Nein!«, schrie Zokelag, als er schon wie­der die Kontrolle über sich zu verlieren drohte. Glücklicherweise erreichte er in die­sem Moment die Schleuse.

»Ich habe eine Aufgabe«, murmelte er vor sich hin. »Mein Volk braucht mich. Die Angst ist nicht das Ende, sondern ich über­winde sie.« Er hatte solche Sätze längst zu seinem Glaubensbekenntnis gemacht und sie derart verinnerlicht, dass sie ihm automa­

tisch über die Lippen flossen. Seine Gedanken klärten sich wieder. In

wenigen Momenten würde er die ERYS­GAN verlassen und als Bote die Erkenntnis­se der Cappins retten.

Doch er konnte das Schott nicht öffnen, denn der angedockte Shuttle war nicht mehr vorhanden.

*

Zokelag wusste, dass er niemals erfahren würde, weshalb der Shuttle verschwunden war. Möglicherweise, weil er von irgendje­mandem zur Flucht benutzt worden oder durch eine Salve der Angreifer völlig zer­stört worden war – es spielte keine Rolle.

Er taumelte von dem Schott weg, näherte sich rückwärts der gegenüberliegenden Wand.

»Ich werde meinen Auftrag erfüllen«, flü­sterte er. Als er mit dem Rücken auf Wider­stand stieß, lehnte sich daran. Die Augen ge­schlossen, atmete er mehrfach tief durch.

Dann straffte er sich und rannte los. Blindlings zurück in Richtung des Infoter­minals. Dort würde er nachsehen, wo sich das nächste Beiboot befand. Und er würde es so lange immer und immer wieder versu­chen, bis er Erfolg hatte – oder die Garbyor ihn stellten.

Dieser Moment kam schneller, als Zoke­lag es sich erhofft hatte. Er erreichte nicht einmal das Terminal, bevor er hämmernde Schritte hörte. Sie jagen mich, durchschoss ihn ein irrationaler Gedanke. Doch war es wirklich so unwahrscheinlich? Er wusste nicht, was er getan hatte, ehe er neben dem toten Zaqoor aufgewacht war. Vielleicht wa­ren sie tatsächlich hinter ihm her?

Zokelag warf sich herum und hetzte los. Als er neben sich den Eingang zu einem kleinen Lagerraum bemerkte, stoppte er sei­nen Lauf und huschte in das Lager. Die Tür zog er wieder zu. Möglicherweise würden sie vorbeilaufen …

»Er ist dort hinein«, drang ein tiefer Bass zu ihm herein.

Page 32: Der letze Kampf der ERYSGAN

32

»Lass ihn, er ist unwichtig. Wir müssen zu dieser Energieleitung vordringen.« Eine zweite, höhere Stimme.

»Er ist geflohen wie ein jämmerlicher Ssorak! Und ich werde ihn genau wie einen solchen zerquetschen!«

»Wir haben keine Zeit dazu! Der Marquis erwartet ein schnelles Ergebnis.«

»Ich werde nachkommen! Lasst ihr euch nicht aufhalten.«

Zokelag hörte die Worte mit klopfendem Herzen. Er saß in der Falle. Es gab keinen Ausweg mehr, denn er hatte sich selbst jede Rückzugsmöglichkeit abgeschnitten. Er be­saß nicht einmal mehr einen Strahler, um sich zu verteidigen, seit er neben dem toten Zaqoor erwacht war. Jetzt bereute er es, den besiegten Feind nicht nach Waffen durch­sucht zu haben, doch vorhin war ihm der Gedanke nicht einmal gekommen.

Er wich immer weiter zurück, kroch hin­ter einige der hier lagernden Kisten. Zwi­schen zweien von ihnen konnte er hindurch­sehen. Die Tür wurde langsam zur Seite ge­schoben. Ein Zaqoor stand dahinter, der sich bücken musste, um durch die Öffnung treten zu können.

»Komm raus!«, rief der Humanoide mit der hellbraunen Haut und den kurz gescho­renen schwarzen Haaren.

In Zokelag reifte ein Gedanke. Die Tatsa­che, dass gerade ein Zaqoor – ein Humanoi­de – ihn zu töten versuchte, bestärkte ihn in seiner verzweifelten Überlegung. Die Zaqoor waren den Cappins ähnlicher als et­wa die insektoiden Torghan oder die repti­loiden Gorsaan …

Zokelag nahm die sechsdimensionale ÜB-SEF-Konstante des Zaqoor wahr. Ihm ge­lang mühelos eine exakte Einpeilung auf die individuelle Strahlung des Zaqoor. Dann transferierte Zokelags Bewusstsein in den Körper seines Pedoopfers. In Nullzeit über­nahm er den fremden Körper, noch ehe die­ser einen einzigen Schuss abgeben konnte.

Das Bewusstsein des Zaqoor wurde blitz­artig verdrängt, und Zokelag verfügte über den Körper seines Opfers. Er sah jetzt aus

Christian Montillon

den schmalen, dunkelbraunen Augen des Zaqoor. Er blickte auf die Kisten, hinter de­nen nach wie vor sein eigener Körper ver­borgen war. Er verließ in dem fremden Leib die Lagerhalle.

Der Körper des Pedotransferers blieb hin­ter den Kisten in seinem Versteck zurück, eine starre, blasige, unförmige Masse.

8. An Bord der AMENSOONAtlan: Tödlicher Empfang

Um uns herum brodelte die Hölle. Der Transmittersprung war reibungslos

verlaufen. In Nullzeit hatten wir durch die Sextadim-Technik der Cappins einen Sprung von der Milchstraße in die viele Millionen Lichtjahre entfernte Galaxis Dwingeloo 1 durchgeführt.

Und das nur, um in eine tödliche Ausein­andersetzung zu geraten!

Wir waren aus einem Transmitterfeld her­aus materialisiert, das sich zwischen zwei gewaltigen Kugelraumern spannte. Dabei musste es sich um den Pedopeiler ERYS­GAN handeln, der auf den ersten Blick bau­gleich mit der SYVERON war.

Er war belagert von einer Unzahl feindli­cher Schiffe, die nur Sekunden, nachdem wir eingetroffen waren, auf uns zu feuern begannen. Die MORYR, Offshanors Schiff, das den Sprung kurze Zeit vor uns vollzogen hatte, lag bereits unter Beschuss. Das Groß­beiboot feuerte längst zurück; soeben explo­dierte ein kleineres feindliches Schiff.

Um uns herum gellten die Alarmsirenen. Die Ortung meldete annähernd einhundert feindliche Raumschiffe verschiedener Form sowie die Trümmer einiger zerstörter Schif­fe.

»Ein massiver Angriff der Garbyor«, kommentierte Kythara das Geschehen. Sie wirkte kühl und distanziert wie meist, als sei ihr Leben nicht in unmittelbarer Gefahr.

Sofort danach nahm Offshanor mit uns Kontakt auf. »Es war höchste Zeit, dass wir gekommen sind.«

Page 33: Der letze Kampf der ERYSGAN

33 Der letze Kampf der ERYSGAN

»Wie ist der Status des Pedopeilers?«, fragte ich. Auf den ersten Blick war zu se­hen, dass er schwer beschädigt war, doch die Übermacht der Angreifer feuerte nicht in dem Maß auf die ERYSGAN, wie es mög­lich gewesen wäre. Offenbar planten die Lordrichter nicht, den Pedopeiler vollständig zu zerstören.

»Ich habe noch keine Nachricht erhalten.« In der nächsten Sekunde fluchte der Cappin-Kommandant. Auf dem Bildschirm der Or­tung konnte ich sehen, dass sein Schiff schwer bedrängt wurde. »Die Schutzschirme werden stark belastet!«

Eine Gruppe von Kugelraumern, jeder 1350 Meter durchmessend, hatte einen An­griff auf die MORYR gestartet. Kythara be­fahl sofort, dass die AMENSOON in den Kampf eingreifen sollte. Doch es war völlig klar, dass wir nicht lange bestehen konnten, und bald würde uns nichts anderes übrig bleiben, als die Flucht in den Hyperraum an­zutreten.

Auch einige Geschütze des Pedopeilers feuerten nun auf die Kugelschiffe. »Die Zaqoor brechen ihren Angriff auf mein Schiff ab«, rief Offshanor nur Sekunden da­nach erleichtert. »Der Pedopeiler ist …« Er unterbrach sich. »Ich habe Funkkontakt! Ich melde mich sofort wieder.«

Ein Sieg ist völlig ausgeschlossen, beur­teilte mein Logiksektor das Geschehen. Dort draußen befinden sich 93 Schiffe der Lord­richter-Truppen, und der Pedopeiler ist so gut wie verloren. Die AMENSOON und die MORYR werden den Ausgang des Kampfes nicht entscheidend beeinflussen können. Ky­thara hat Recht! Es bleibt nur die Flucht. Dann haben die Cappin-Agenten wenigstens eine Anlaufstelle und stehen in dieser Gala­xis nicht völlig isoliert da.

»Die Schutzschirme sind maximal bela­stet«, rief Kythara, die ihren Platz einge­nommen hatte, um die AMENSOON zu steuern. »Sie werden zusammenbrechen! Ich gehe auf einen Ausweichkurs. Wenn Offsha­nor nicht bald wieder Kontakt aufnimmt, werden wir ohne ihn fliehen«, stellte sie

klar. »Was immer er vorhat, es ist …« Sie unterbrach sich, als die Verbindung zu

dem Cappin wieder aufgebaut wurde. »Es gibt schlechte Neuigkeiten«, meldete er. »Ich habe mit Kommandant Toragasch ge­sprochen. Auf der ERYSGAN wimmelt es von Entertruppen. Sie wollen den Komman­danten in ihre Gewalt bringen.«

»Das darf nicht geschehen«, erwiderte ich. Die Folgen waren mir augenblicklich klar. Sowohl für die Cappins als auch für uns würde das eine Katastrophe bedeuten, denn nicht nur, dass mithilfe des Wissens des Kommandanten alle Undercoveragenten entlarvt werden konnten – es würden für uns auch alle Informationen verloren gehen, we­gen denen wir hierher gekommen waren.

»Und doch können wir es nicht verhin­dern.« Kytharas Stimme spiegelte ihren Är­ger wider. »Wir sind zu wenige, um effektiv eingreifen zu können. Und wir werden ver­nichtet werden, wenn wir nicht bald von hier verschwinden. Ich werde dem gegnerischen Feuer nicht mehr lange ausweichen kön­nen.«

»Wir können wohl nicht die Hilfe leisten können, die sich die ERYSGAN erhofft hat«, kommentierte ich bitter.

»Toragasch hat Vorbereitungen getrof­fen«, antwortete Heroshan Offshanor auf meine erste spontane Reaktion auf die Nach­richt, die er an uns übermittelt hatte. Alles geschah in diesen Sekunden gleichzeitig, so dass es schwierig war, den Überblick zu be­wahren.

»Vorbereitungen welcher Art denn?« »Wenn Truppen in die Zentrale eindrin­

gen, um den Pedopeiler unter ihre Gewalt zu bringen, wird er die Selbstzerstörung einlei­ten.«

9. An Bord des Pedopeilers ERYSGAN

Zokelag: Das Pedoopfer

Es war ungewohnt, den Körper eines Zaqoor zu besitzen. Das Bewusstsein des Pedoopfers war vollständig verdrängt, solan­

Page 34: Der letze Kampf der ERYSGAN

34

ge Zokelag sich in ihm befand. Früher oder später würde Zokelag in seinen eigenen Kör­per zurückkehren, der in dem Lagerraum zu­rückgeblieben war. Dabei spielte es keine Rolle, wie weit sich sein Gastkörper davon entfernte.

Wenn diese Rückkehr in Ruhe erfolgte und Zokelag Zeit zur Vorbereitung blieb, würde sich der Zaqoor danach an nichts mehr erinnern können. Nur wenn Zokelag sich überhastet zurückziehen musste – etwa weil der Körper des Pedoopfers sich in Le­bensgefahr befand –, sah es anders aus.

Doch noch war es nicht so weit. Denn zum ersten Mal sah Zokelag eine realistische Chance zu überleben. Im Körper dieses Zaqoor konnte er die Besatzungszeit unbe­schadet überstehen und womöglich sogar an die Hilfe aus der Milchstraße die Informatio­nen weitergeben, über die er verfügte.

Zokelag hatte den Lagerraum längst ver­lassen und sich danach in die Richtung ge­wandt, aus der die Zaqoor gekommen wa­ren. Er musste den Begleitern seines Opfers aus dem Weg gehen, denn diese konnten schnell entdecken, welches Spiel er spielte. Jede falsche Äußerung, jede Unwissenheit würde Zokelag verraten, wenn er auf andere Garbyor traf. Deshalb wollte er es weitge­hend vermeiden. Im Notfall konnte er mög­licherweise stumm an einem Entertrupp vor­beigehen, ohne Rechenschaft über sein Tun abzulegen.

Zokelag schlug wieder den Weg ein, von dem er hoffte, dass er ihn zu einem funkti­onstüchtigen Beiboot führte. Doch seine Hoffnung, unbehelligt zu bleiben, erfüllte sich nicht. Bald näherten sich ihm einige Gorsaan.

»Was tust du hier?«, fragte einer der Ei­dechsenabkömmlinge und hob seine vier Ar­me.

Zokelag vermochte nicht in der Mimik des Reptiloiden zu lesen, der einen Meter kleiner war als er selbst - oder als der Zaqoor-Körper, den er momentan übernom­men hatte. Doch er vermutete, dass die Gor­saan einem entschlossen auftretenden

Christian Montillon

Zaqoor keine weiteren Fragen stellen wür­den. Immerhin bildeten die Humanoiden die direkte Leibwache der Lordrichter und wa­ren damit nach den Ermittlungen der Ganja­sen so etwas wie die inoffizielle Führungs­spitze der Garbyor. Allerdings hatten die verschiedenen Spezies zu dieser Frage wohl unterschiedliche Ansichten; mehrere Agen­tenberichte hatten hier widersprüchliche Er­gebnisse geliefert.

»Ich wurde von meinem Trupp getrennt«, sagte Zokelag und ging, ohne den Gorsaan merkliche Beachtung zu schenken, weiter. Die Sprachen der wichtigsten Garbyor-Völ­ker beherrschte er dank einer intensiven Hypnoschulung fließend.

»Ist es gelungen, die Energieleitung zu kappen?«, fragte der Gorsaan.

Zokelag blieb stehen und wandte sich langsam um. »Die Cappins leisten harten Widerstand. Wir trafen auf einen Trupp von Verteidigern, die uns ein Gefecht lieferten und unsere Bemühungen dadurch verzöger­ten. Doch es kann nicht mehr lange dauern.«

Er wunderte sich über die kühle Gelassen­heit, die ihn erfüllte und die ihm die Sicher­heit gab, sein Schauspiel aufzuführen. Viel­leicht lag es an dem Körper seines Pedoop­fers. Die schiere Größe und Wucht verliehen ihm Zuversicht. Und gegen einen solchen Feind war ich im Kampf siegreich …

Der Reptiloide drehte sich um und ging weiter.

Aber noch ehe er und seine Artgenossen sich von Zokelag entfernen konnten, schrien sie wütend auf. Zokelag wirbelte herum und sah gerade noch, wie einer der Gorsaan töd­lich getroffen zusammensackte.

Hinter den Reptiloiden nahm Zokelag Ga­njasen wahr. Eine Gruppe von Verteidigern war auf die Gorsaan aufmerksam geworden und hatte sich ihnen entgegengestellt.

Für einen Moment überlegte Zokelag, was er tun sollte. Die Ganjasen bei ihrem Kampf unterstützen und die Feinde von hinten ebenfalls unter Beschuss nehmen? Seine Hand näherte sich bereits der klobigen Waf­fe, die der Zaqoor bei sich trug. Angesichts

Page 35: Der letze Kampf der ERYSGAN

35 Der letze Kampf der ERYSGAN

dessen, dass er damit auf Zokelag hatte feu­ern wollen, als dieser ihn übernahm, gab es wohl keinen Zweifel daran, dass sie auf ei­ner tödlichen Stufe aktiviert war.

Doch da starben bereits die ersten Vertei­diger. Die Gorsaan stürmten ohne Rücksicht auf eigene Verluste vor. Zwei von ihnen wurden niedergeschossen und fanden den Tod, doch die anderen überrannten die Gan­jasen und metzelten sie nieder. Einen ande­ren Ausdruck konnte Zokelag nicht für das finden, was er gezwungen war mit anzuse­hen. Die Schreie der Soldaten, die auf seiner Seite standen, obwohl der Augenschein da­gegen sprach, brannten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis ein.

Doch die Angst trat nicht aus ihrem Ver­steck tief in seinem Inneren hervor, wie sie es sonst immer getan hatte. Vielleicht lag es daran, dass Zokelag sich in einem anderen Körper befand, vielleicht auch daran, dass er einen Punkt erreicht hatte, an dem er einfach keine Angst mehr empfinden konnte – je­denfalls blieb er verschont.

Der Gorsaan, der schon zuvor mit ihm ge­sprochen hatte, wandte sich an ihn. »Die Cappins sind schwach, und deshalb werden wir sie hinwegfegen!«

Zokelag murmelte irgendetwas Zustim­mendes, doch es gelang ihm nicht, Begeiste­rung zu heucheln. Es wäre ihm angesichts dessen, was gerade geschehen war, wie eine Lästerung der Toten vorgekommen. Danach ging er weiter und bemerkte erleichtert, dass die Gorsaan ihm nicht folgten.

*

Wenig später stoppte er und kehrte zu­rück. Die Eidechsenabkömmlinge waren verschwunden, wenn man von den drei Lei­chen absah, denen Zokelag keine Beachtung schenkte. Doch er musste wissen, ob einer der Ganjasen noch lebte. Dass er einem eventuellen Überlebenden wirklich helfen konnte, glaubte er nicht. Nicht nach dem, was die Gorsaan mit ihnen getan haben!

Aber falls noch jemand am Leben war,

vermochte dieser ihm möglicherweise Infor­mationen zu geben, die er dringend benötig­te. Zokelag beugte sich über seine toten Art­genossen, und jeder Blick, den er auf sie warf, ließ ihn innerlich ein wenig weiter sterben.

Doch dann sah er, wie sich eine Hand kraftlos bewegte und nach dem Strahler ta­stete, der dicht neben ihr lag. Hastig eilte er dorthin und stieß die Waffe mit seinem Fuß weg. »Ich bin kein Zaqoor«, versicherte er. »Ich bin in diesen Körper pedotransferiert.« Jetzt benutzte er wieder die Sprache der Ga­njasen, doch er musste die Worte mit einer fremden Zunge artikulieren.

»Was – was willst du?«, fragte der Schwerverletzte, und als er sprach, bildete sich blutiger Schaum vor seinen Lippen. Es war nicht zu erkennen, ob er Zokelag Glau­ben schenkte oder nicht.

»Ist die Verstärkung bereits eingetrof­fen?«

Für einige Sekunde herrschte auf diese Frage hin Schweigen. Der Soldat atmete schwer. Dann schien er seine letzten Kräfte zu sammeln. »Aus mir … bekommst du nichts heraus, verfluchter Zaqoor …«

»Ich bin ein Ganjase wie du. Du sprichst mit Zokelag.« Früher hatte sein Name auf der ERYSGAN einen guten Klang gehabt, und es war durchaus möglich, dass dieser Soldat noch nichts von seinem Versagen. wusste.

»Zokelag?« Der Soldat hob seinen Kopf leicht an. Natürlich kannte er diesen Namen. »Du …« Diese beiden Worte waren die letz­ten, die er in seinem Leben aussprach. Sein Kopf fiel haltlos nach hinten. Die Augen standen nach wie vor offen, und alles, was Zokelag tun konnte, war, sie zu schließen. Für Sekunden saß er gebeugt da, in dem Körper des Feindes, den er übernommen hatte, und trauerte um den Soldaten, den er nie gekannt hatte.

Als er sich danach wieder erhob, blickte er genau auf den Lauf einer Waffe, die auf seinen Brustkorb wies. Sie befand sich in der Hand eines bleichen Ganjasen. »Eine

Page 36: Der letze Kampf der ERYSGAN

36

falsche Bewegung bedeutet deinen Tod!« »Ich bin Zokelag«, wiederholte er seine

Versicherung. »Du musst es gehört haben. Ich habe …«

»Still!«, unterbrach der Soldat, ein hoch gewachsener, muskulöser Ganjase. »Ich … ich habe gesehen, dass du neben der Leiche kniest und ihr die Augen geschlossen hast, und nur deshalb habe ich nicht geschossen. Aber mein Finger am Abzug ist verdammt nervös!«

»Ich bin in diesen Körper übergewechselt, um …«

»Wenn du ein Cappin bist, dann beweise es!« Die Hand, die den Strahler hielt, be­gann zu zittern.

Zokelag erhob sich und wandte dem Sol­daten den Rücken zu. »Ich werde von hier weggehen, und wir vergessen, was gesche­hen ist. Wenn ich tatsächlich ein Feind wäre, würde es dir nichts nützen, mich zu töten. Aber ich bin ein Ganjase, und ich bin in ei­ner wichtigen Mission unterwegs.«

»Du … Wenn … du mich täuschen willst, werde ich schießen, noch ehe du an mich herankommst!« Der Tonfall, in dem die Worte ausgestoßen wurden, verriet weit we­niger Selbstsicherheit, als der Soldat wohl auszustrahlen versuchte.

»Ich werde jetzt gehen.« Zokelag lief mit großen Schritten los, und er meinte, den Tod schon zu spüren. Wenn der Soldat überrea­gierte und schoss, aus Panik oder aus Angst, war das Pedoopfer verloren. Zokelag blieb dann nur wenig Zeit, ihn rechtzeitig zu ver­lassen und in seinen eigenen Körper zurück­zukehren. Sollte der Zaqoor sterben, ehe Zo­kelag den Körper verlassen konnte, würde das auch seinen Tod bedeuten. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sofort zurück in seinen eigenen Körper zu transferieren, um dieser Situation zu ent­kommen.

Doch die gefährlichsten Momente waren bereits vergangen, und der Ganjase hatte nicht geschossen. »Du hast richtig entschie­den!«, rief Zokelag erleichtert. »Meine Mis­sion ist wichtig für das Wohl aller Cappins.«

Christian Montillon

Er erhielt keine Antwort. Vorsichtig dreh­te er den Kopf, um hinter sich zu sehen. Der Soldat war verschwunden. Zokelag hörte sich entfernende schwere Schritte.

Beinahe wäre er in all dem Chaos, das in dem Pedopeiler herrschte, das Opfer einer Verwechslung geworden. Er musste raus hier, die ERYSGAN endlich verlassen, ehe es zu einem weiteren Zwischenfall kam.

Ohne noch auf jemanden zu treffen, er­reichte er sein Ziel, das Schott, an dem ein Beiboot angedockt sein sollte. Doch eine kurze Überprüfung ergab, dass Zokelag auch diesmal enttäuscht wurde. Das Beiboot trieb zerstört in der Nähe der ERYSGAN.

Das konnte kein Zufall sein! Die Garbyor vernichteten gezielt alle Fluchtmöglichkei­ten. Nach ihrem Willen sollte niemand aus dem Pedopeiler entkommen … Wenn noch ein Weg existierte, von hier wegzukommen, dann lag dieser nur bei den Schiffen, die aus der Milchstraße eintreffen sollten.

Und – der Gedanke ernüchterte Zokelag – die einzige Möglichkeit, mit diesen in Kon­takt zu treten, war, erneut in die Zentrale des Pedopeilers vorzudringen.

*

Zokelag fasste einen verzweifelten Plan. In seinen eigenen Körper zurückzukehren würde ihm nicht weiterhelfen. Nachdem Kommandant Toragasch ihn vor kurzem aus der Zentrale hatte entfernen lassen, war ihm der Zutritt verweigert. Mittlerweile mussten die Lordrichter-Truppen kurz davor stehen, selbst in die Zentrale vorzudringen, und des­halb würde sich niemand die Zeit nehmen, Zokelags Erklärung zuzuhören, warum er er­neut mit dem Kommandanten sprechen mus­ste.

Darum blieb nur eine Möglichkeit. Er musste etwas vorweisen, was von so ent­scheidender Wichtigkeit war, dass Tora­gasch aufmerksam wurde und bereit war, Zokelag zu empfangen. Da er über keine solche Information verfügte, lag die einzige Lösung in einer Täuschung.

Page 37: Der letze Kampf der ERYSGAN

37 Der letze Kampf der ERYSGAN

Es blieb keine Zeit, lange über die Fein­heiten seines Plans nachzudenken, also han­delte Zokelag, ohne sich über die Konse­quenzen und Chancen seines Tuns wirklich bewusst zu sein. Im Körper des Zaqoor rannte er in Richtung der Zentrale.

Er wusste, dass er sie nicht erreichen wür­de, ohne bald auf Verteidigungsmannschaf­ten zu treffen. Doch genau darauf baute Zo­kelag. Der Körper des Zaqoor gab ihm die Möglichkeit, doch noch in die Zentrale zu gelangen. Sowie er auf Ganjasen traf, würde er den Verräter mimen, den reuigen Garby­or, der Toragasch Informationen von un­schätzbarem Wert zuzuspielen gedachte, die ihm die dauerhafte Verteidigung des Pedo­peilers ermöglichten. Wenn er dann erst ein­mal in der Zentrale war, würde sich alles Weitere schon ergeben.

Der Erfolg dieses Plans hing von vielen Faktoren ab, vor allem davon, ob er tatsäch­lich in das Machtzentrum des Pedopeilers geführt werden würde oder nicht.

Vor dem Eingang in einen Antigrav­schacht waren Cappins postiert. Zokelag hatte nichts anderes erwartet. Es war ein wichtiger Platz, den es zu verteidigen galt. Noch ehe die Soldaten ihn wahrnahmen, zuckte er zurück und ging hinter einer Korri­dorabzweigung in Deckung. In der Sekunde, als er die Verteidiger gesehen hatte, war ihm bewusst geworden, wie aussichtslos sein ur­sprünglicher Plan gewesen war. Unter kei­nen Umständen würde Toragasch so vertrau­ensselig sein, einen Zaqoor in die Zentrale der ERYSGAN einzulassen.

Aber mit dieser Erkenntnis war ihm eine bessere Idee gekommen.

Vorsichtig schlich er näher heran. Direkt vor der Abzweigung, ehe die Ganjasen ihn sehen konnten, rief er ihnen etwas zu. »Ich bin Zokelag, und ich komme waffenlos.« Dann trat er mit erhobenen Händen auf den Korridor.

Die Soldaten richteten ihre Waffen auf ihn. Sekundenlang schwiegen sie, doch kei­ner feuerte. Der Anblick des sich ergeben-den Zaqoor musste sie trotz seiner Worte in

höchstem Maß verwirren. Zokelag lief, wei­terhin die Arme hoch erhoben, auf den Anti­gravschacht zu.

»Stehen bleiben!«, befahl einer der Solda­ten kalt, trat einen Schritt vor und zielte mit seinem Strahler unmissverständlich auf den Kopf des Zaqoor. »Beweise deine Worte!«

Da wusste Zokelag, dass er das Schwie­rigste hinter sich hatte. Jedem Ganjasen musste klar sein, dass die Möglichkeit eines durch Pedotransferierung übernommenen Körpers immer bestand.

»Ich werde meinen Geheimkode in das Terminal neben dem Schacht eingeben.«

Der Soldat winkte ihn mit dem Lauf sei­ner Waffe an das Terminal heran. »Wenn du uns angreifst, bist du tot!«

Zokelag trat an das Terminal heran, senk­te dann langsam, in einer ruhigen kontrol­lierten Bewegung, die rechte Hand. Er tippte den Kode ein, und die Zugangsgenehmigung wurde ihm gewährt.

»Das ist kein endgültiger Beweis!« Die Soldaten blieben weiterhin misstrauisch. Zo­kelag konnte es ihnen nicht verdenken. Was er von ihnen forderte, war mehr als heikel.

»Ich muss dringend in die Zentrale. Im Körper dieses Feindes habe ich wichtige In­formationen gesammelt.« Die Lüge drang glatt über seine Lippen und bereitete ihm keinerlei Gewissensbisse. Er verfolgte ein höheres Ziel, das den Einsatz beinahe jedes Mittels rechtfertigte. »Wir werden damit die Garbyor möglicherweise besiegen können, wenn wir schnell handeln.«

10. An Bord des Pedopeilers ERYSGAN

Kommandant Toragasch:Hoffnungen

Die feindlichen Enterkommandos drangen an so vielen Stellen in den gewaltigen Ku­gelraumer vor, dass Simaro längst nicht mehr alle Einzelheiten weiterleitete. Tora­gasch wusste das, und er hieß es gut. Er war erstaunt darüber, wie gut Simaro seinen Dienst versah; andererseits konnte er Zoke­

Page 38: Der letze Kampf der ERYSGAN

38

lags Verhalten immer noch nicht verstehen. Dessen Versagen hatte ihn tief enttäuscht.

Das Rettungskommando aus der Milch­straße befand sich seit wenigen Augen­blicken hier in Gantrain. In letzter Sekunde war es gelungen, die Trennung der Kugel­raumer zu vollenden und das Sextadini-Empfangsfeld des Pedotransmitters zu akti­vieren.

Doch inzwischen bereute es Toragasch, um Hilfe gebeten zu haben. Zwei Schiffe waren eingetroffen, ein Großbeiboot, das unzweifelhaft zu einem Pedopeiler gehörte, und ein Oktaeder-Raumer, wie die Varganen sie benutzt hatten. Doch die Varganen gab es nicht mehr … oder doch? Gab es in der Milchstraße noch Varganen, während sie …? Es war müßig, darüber zu spekulieren. Der Kommandant hegte keinen Zweifel dar­an, dass er die beiden Schiffe ins Verderben gerufen hatte, egal, welche Besatzung sie hatten.

Die Garbyor hatten unverzüglich das Feu­er auf die Neuankömmlinge eröffnet. Diese wehrten sich zwar mit allen Mitteln – dem Cappin-Raumer gelang die Zerstörung einer kleineren feindlichen Einheit –, aber sie konnten keineswegs den Zweck erfüllen, zu dem sie gekommen waren. Denn für den Pe­dopeiler ERYSGAN kam jede Hilfe zu spät.

Einige Kugelraumer der Zaqoor starteten einen konzentrierten Angriff auf das Groß­beiboot MORYR, das in arge Bedrängnis geriet. »Das Feuer auf die Zaqoor konzen­trieren!«, befahl Toragasch. Er würde den Schiffen, die zu seiner Rettung gekommen waren, wenigstens so lange beistehen, bis sie sich selbst in Sicherheit bringen konnten.

Durch den gemeinsamen Beschuss konnte der Kordon der Zaqoor zerschlagen werden.

»Der Kommandant des Cappin-Raumers wünscht eine Verbindung!«, meldete Simaro kurz darauf.

»Auf den Bildschirm!« Das harte Gesicht eines Ganjasen erschien

vor Toragasch. »Ich bin Kommandant He­roshan Offshanor.«

Toragasch erkannte an diesen wenigen

Christian Montillon

Worten, dass sein Gesprächspartner zu allem entschlossen war. »Ich danke dir, dass du meinem Hilferuf gefolgt bist. Doch du musst dich in Sicherheit bringen. Die ERYSGAN ist dem Untergang geweiht. Ich habe keine andere Wahl, als die …«

»Ich kommandiere die SYVERON in der Milchstraße«, unterbrach Offshanor, »und deshalb weiß ich, was du mir zu sagen beab­sichtigst. Ich kann mich in deine Situation hineinversetzen.«

»Eine große Anzahl Enterkommandos be­findet sich an Bord der ERYSGAN«, fuhr Toragasch ungerührt fort. »Der Pedopeiler wird fallen. Es gibt keine Chance mehr. Du solltest mit deinen Begleitern durch den Pe­dotransmitter in die Milchstraße zurückkeh­ren, ehe es für euch keine Möglichkeit mehr dazu gibt.«

»Wir sind hier, um die Mission der Cap­pins in Gantrain fortzuführen«, stellte Offs­hanor klar. »Sollte die ERYSGAN tatsäch­lich dem Feind in die Hände fallen, benöti­gen die Agenten eine Anlaufbasis.«

»Das heißt, du wirst bleiben.« Toragasch nickte. Jedes weitere Wort zu diesem Thema war überflüssig. »Doch ich versichere dir, dass die Lordrichter die ERYSGAN niemals in die Hände bekommen werden.«

»Du bist dazu entschlossen?« Es war nicht notwendig, dass Offshanor sich genau-er erklärte. Er war wie Toragasch Komman­dant eines Pedopeilers, der den neuesten Stand der Cappin-Technologie repräsentier­te.

»Du hättest genau die gleiche Entschei­dung gefällt, das weiß ich«, antwortete Tora­gasch. »Wenn die Entertrupps die Zentrale erreichen, werde ich die Selbstzerstörung der ERYSGAN einleiten. Bis dahin werde ich so viele der Feinde vernichten, wie es mir möglich ist.«

»Wir werden dein Werk in Gantrain fort­führen«, versicherte Offshanor. »Die Lord­richter werden Gruelfin nicht in den Unter­gang treiben!«

»Ich übermittle dir gleich ein Datenpaket mit allen Informationen, die wir hier gewin­

Page 39: Der letze Kampf der ERYSGAN

39 Der letze Kampf der ERYSGAN

nen konnten. Für Gruelfin!« Toragasch gab Simaro einen Wink.

In diesem Augenblick brach die Verbin­dung mit einem grässlich endgültigen Kni­stern zusammen.

Simaro schüttelte den Kopf. Er war noch blasser geworden. »Ende, Kommandant. Das ist das Aus.«

»Bei Ovaron!«, knirschte Toragasch. Soll­te alles umsonst gewesen sein? Waren die Retter nur gekommen, um hilflos mit anse­hen zu müssen, wie die ERYSGAN starb, und danach ebenfalls ins Kreuzfeuer des Feindes genommen zu werden? Der Aus­tausch mit Heroshan Offshanor hatte ihn in­nerlich aufgewühlt. Erst jetzt bemerkte er, dass er sich nicht nach dem Oktaederschiff erkundigt hatte, das ebenfalls aus der Milch­straße eingetroffen war.

»Kommandant!«, riss ihn Simaros Stim­me aus seinen Überlegungen. »Zokelag wünscht dich erneut zu sprechen.« Erregung schwang in seinen Worten mit.

»Halte ihn von mir fern«, erwiderte Tora­gasch, und seine eigenen Worte machten ihn unendlich traurig. Er wünschte, er hätte an der Seite Zokelags sterben können, ohne dass ihre Beziehung in all dem Chaos der Enterung zerstört worden wäre.

»Er hat wichtige Informationen.« »Halte ihn von mir fern!«, brauste Tora­

gasch auf. »Das ist mein letztes Wort!« Wichtige Informationen? So wie vor kurz­em, als er zum ersten Mal zurückgekehrt war?

»Er ist pedotransferiert und hat als Spion bei den Garbyor …«

»Er hat was?«, unterbrach Toragasch. Pe­dotransfer! Das könnte die Lösung sein!

»Zokelag behauptet, die ERYSGAN ret­ten zu können.« Simaros Stimme bebte, die neu geschöpfte Hoffnung überwältigte ihn.

Auch Toragasch wurde durch diese Worte aus seiner Unentschlossenheit gerissen. »Lass ihn hereinführen!« War am Ende Zo­kelags unfassbares Versagen nichts anderes als der Teil eines Plans zur Rettung des Pe­dopeilers? Toragasch klammerte sich an die­

sen Gedanken. Vielleicht bot sich auf die­sem unerwarteten Weg doch noch die Gele­genheit, dem sicher geglaubten Tod zu ent­gehen.

*

Toragasch starrte den ihn weit überragen­den humanoiden Körper an. Er war bisher noch nie einem Mitglied der Leibgarde per­sönlich begegnet – die wenigsten noch le­benden Cappins hatten eine solche Begeg­nung hinter sich.

»Ich danke dir, dass du mich empfängst«, sagte Zokelag aus dem Mund des Zaqoor. »Ich weiß, dass es dir schwer gefallen sein muss.«

»Was hast du herausgefunden?«, drängte Toragasch.

»Ist die Hilfe aus der Milchstraße bereits eingetroffen?«, stellte Zokelag eine Gegen­frage.

»Zwei Schiffe sind gekommen.« »Zwei Schiffe? Sie können nichts ausrich­

ten gegen die Übermacht der Garbyor.« »Du behauptest, du könntest die ERYS­

GAN retten. Wenn es stimmt, dann rede schnell, denn die Enterkommandos werden in wenigen Minuten bis hierher vordringen.«

»Ich habe gelogen.« Toragasch konnte in dem fremden Ge­

sicht des Zaqoor-Körpers nicht erkennen, ob Zokelag bei diesen Worten Reue empfand. Der Kommandant nahm dieses Schuldbe­kenntnis ohne Überraschung hin. Fast hatte er es erwartet, denn eine Rettung in letzter Sekunde war ihm zu unwahrscheinlich er­schienen. »Warum, Zokelag? Warum hast du das alles getan? Warum hast du …«

»Du und ich, wir müssen die ERYSGAN verlassen und mit den Schiffen aus der Milchstraße fliehen! Sonst war alles um­sonst!« Der gewaltige Körper des Zaqoor ging in die Knie, damit sich seine Augen mit denen des Cappins auf gleicher Höhe befan­den. »Dazu darf es nicht kommen!«

Toragasch streckte seine Hände aus und umfasste die Schultern des Körpers, der mo­

Page 40: Der letze Kampf der ERYSGAN

40

mentan das Bewusstsein des Cappins beher­bergte, den er seit Jahren gefördert hatte wie seinen eigenen Sohn.

»Warum, Zokelag? Was ist mit dir ge­schehen?« Es war Toragasch in diesen Se­kunden gleichgültig, welche Entscheidungen zu treffen waren. Er hatte Simaro für die Dauer des Gesprächs mit Zokelag das Kom­mando übertragen, und in dem Moment, wenn die Selbstzerstörung eingeleitet wer­den musste, würde er an seinen Platz zu­rückkehren und alles Notwendige tun. Bis dahin wollte er Gewissheit erlangen. »Sag es mir!«

»Es ist die Angst, Toragasch.« Der Kommandant schwieg und wartete

auf eine weitere Erklärung. »Seit meiner Kindheit hält sie mich in ih­

rem Griff, und ich habe sie nur mühsam vor mir und vor allen anderen verborgen. Mein Leben lang habe ich mit ihr gekämpft, und heute, als die Garbyor mit ihrem Ansturm begannen, haben nicht etwa sie mich be­siegt, sondern der Dämon aus meiner Ver­gangenheit. Meine eigene Angst wurde mir zum Verhängnis.«

»Du hättest mir davon erzählen müssen.« Toragasch war nicht wütend, sondern ent­täuscht in diesem Moment, als Zokelag ihm die Wahrheit offenbarte und alle Täuschung endete.

»Das hätte ich«, stimmte Zokelag zu, »und es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich es nicht getan habe. Aber ich dachte immer, ich hätte die Angst unter Kontrolle. In Wirklichkeit jedoch … in Wirklichkeit hat mein Vater immer noch das Ruder über mein Leben in der Hand, obwohl er längst gestorben ist. Ein Toter lenkt mich, dessen Gegenwart nie von mir gewichen ist.«

Toragasch stellte keine weiteren Fragen, um Zokelag die Qual der Erinnerung zu er­sparen. Aus den wenigen Worten zog er sei­ne eigenen Rückschlüsse. »Warum bist du zurückgekommen?«

»Wir müssen fliehen, Toragasch«, wie­derholte Zokelag. »Nicht, um unser Leben zu retten, sondern um die Informationen

Christian Montillon

weitergeben zu können, über die nur wir verfügen.«

»Ich weiß. Doch mein Leben wird mit der ERYSGAN enden«, widersprach Toragasch. »Du hingegen sollst leben, Zokelag.«

»Du hast das Überleben mehr verdient als ich.«

»Ich bin der Kommandant dieses Pedo­peilers.« Damit war für Toragasch dieses Thema erledigt. »Es existieren noch intakte Fluchtkapseln«, informierte er Zokelag und gab die exakten Plätze weiter.

»Eine der Kapseln befindet sich nicht weit vom Lagerraum, in dem mein Körper zu­rückgeblieben ist.«

»Dann flieh! Eines der Schiffe aus der Milchstraße ist die MORYR. Funk sie an, sobald du die ERYSGAN verlassen hast, und sie wird dich aufnehmen. Sende ein Notsignal auf der Standardfrequenz.«

»Toragasch«, begann Zokelag, doch der Kommandant schüttelte den Kopf.

»Keine weiteren Worte. Ich verstehe dich, Zokelag. Und ich danke dir für das Vertrau­en, das du mir in letzter Minute entgegenge­bracht hast.«

»Ich werde in meinen eigenen Körper zu­rückkehren.« Zokelag richtete sich wieder auf. »Du weißt, was das bedeutet.«

»Dein Pedoopfer wird die Kontrolle über seinen Körper zurückerlangen. Glaube mir, es wird keine Schwierigkeiten geben.«

Für einen Moment noch standen sich die beiden Männer schweigend, gegenüber, ein Ganjase und ein Zaqoor, und es war, als herrsche Einigkeit zwischen diesen beiden Spezies.

»Ich gehe jetzt«, sagte Zokelag, und Tora­gasch zog seine Waffe.

*

Kommandant Toragasch zielte auf den Brustkorb des Zaqoor. Alles in ihm wider­strebte dem, was er nun gezwungen war zu tun.

Er erkannte den Moment, als Zokelag sich aus seinem Pedoopfer zurückzog, genau.

Page 41: Der letze Kampf der ERYSGAN

41 Der letze Kampf der ERYSGAN

Plötzlich trat ein verwirrter Ausdruck in die schmalen Augen des Zaqoor. Sein Kopf ruckte hastig hin und her. Für ihn war sub­jektiv seit dem Moment, als er in dem La­gerraum übernommen worden war, keine Zeit mehr vergangen.

Toragasch ließ ihm keine Zeit zu erken­nen, wo er sich befand.

Der Zaqoor sank tödlich getroffen nieder. »Er war ein Feind«, murmelte Toragasch. Einer derjenigen, die die ERYSGAN enter­ten und damit den Tod von 2000 Ganjasen verursachten. Ein Diener der Lordrichter, die die geliebte Heimat in einen verheeren­den Bruderkrieg gestürzt hatten.

Doch all das machte diese Hinrichtung nicht weniger falsch.

Toragasch steckte seinen Strahler wieder ein und ging die wenigen Schritte zu seinem Kommandoplatz. »Ich übernehme wieder«, sagte er zu Simaro.

»Kommandant?«, fragte der Stellvertreter Zokelags, der in Toragaschs Augen trotz all seiner Fähigkeiten nie den Platz an seiner Seite ausfüllen konnte. »Was ist gesche­hen?«

»Zokelag gab sein Bestes, doch er hat uns nicht retten können.« Mit eiserner Mimik starrte Toragasch geradeaus.

»Die Enterkommandos sind bereits auf diesem Deck angelangt«, informierte ihn Si­maro.

»Dann bleibt mir nur noch eines zu tun. Ruf die Geheimdatei GT-1/GR/Pp-00765 auf, Kennkode Quell-Transfer, Schlüsselse­quenz Noravo-Regiwe«, befahl Toragasch.

Simaro tat wie ihm geheißen, dann stieß er einen erstickten Laut aus. Aus anderen Sesseln der Zentrale kamen ähnliche Reak­tionen. »Kommandant! Diese Informationen sind doch …!«

»Sind geheim. Ich weiß«, unterbrach To-ragasch. »Und sie werden es bleiben, kein Garbyor wird sie erhalten. Die Soldaten und ich werden dafür sorgen. Ihr anderen …«

Simaro stand auf. »Nein! Wir verlassen dich nicht!«

»Unsinn!«, wehrte der Kommandant bar­

sch ab. »Los! Die MORYR! Beeilt euch, ich weiß nicht, wie viel Zeit euch bleiben wird, ehe hier alles im Feuer vergeht.«

Ein Seufzen antwortete ihm, und er schloss für einige Sekunden die Augen. Als er sie wieder öffnete, war die Zentrale um vier blasige Haufen reicher. Er wechselte einen Blick des Einverständnisses mit den anderen Ganjasen.

»Für Gruelfin«, murmelten sie im Chor und gingen an ihre Arbeit zurück.

Verzeih mir, Zokelag, dass ich dein Schei­tern einkalkuliert habe. Und ihr hier alle, verzeiht mir ebenfalls, dass ich euch dem Tod überantworte, dachte er. Aber wir dür­fen nicht scheitern. Unsere Agenten dürfen nicht verloren sein. Sie brauchen jede Se­kunde, die wir ihnen verschaffen können.

Die Soldaten, die in diesen Minuten ver­bissen die Zentrale verteidigten, standen auf verlorenem Posten. Für sie wäre es gnädiger gewesen, die Selbstzerstörung des Pedopei­lers jetzt schon auszulösen, doch Toragasch musste warten.

Das Ende herauszögern, um Zokelag eine Chance zur Flucht zu geben. Er hatte es ihm versprochen, und vielleicht war die erfolg­reiche Mission, die er sich selbst aufgebür­det hatte, das einzige Mittel, den Dämon der Angst zu vertreiben, der Zokelag so viele Jahre lang beherrscht hatte. Er hatte es ver­dient, er war ein guter Mann. Doch er würde an seiner Mission schwer zu tragen haben.

Schwerer als an der Angst, die nach den wenigen Worten, die Toragasch erfahren hatte, die letzten Stunden für ihn ohnehin zur Hölle gemacht und schon vorher sein ganzes Leben zerstört hatte.

Er gab den Kampfrobotern den Einsatzbe­fehl. »Verteidigt die Zentrale!«

Die Garbyor hatten beinahe jede Evakuie­rungsmöglichkeit vernichtet, doch vielleicht hatten noch andere die Möglichkeit, sich auch körperlich abzusetzen wie Zokelag.

Von den Seiten der Zentrale rückten die aktivierten Kampfroboter vor, richteten ihre Waffen auf den Eingang.

»Es ist so weit.« Toragasch straffte sich.

Page 42: Der letze Kampf der ERYSGAN

42

11. Zokelag: Das Ende der Angst?

Mühsam erhob er sich hinter den Kisten. Er war zurück in dem Raum, in dem er bei­nahe sein Ende gefunden hätte.

Sofort war die Angst wieder da. In der Zentrale, im Körper des Zaqoor, hatte Zoke­lag mit Toragasch sogar über sie reden kön­nen, ohne dass sie aufgetaucht war. Er fragte sich, warum das so gewesen war. Weil er einen anderen, größeren, mächtigeren Kör­per besessen hatte?

Von einem solchen Phänomen hatte Zo­kelag nie zuvor gehört. Bisher war er immer davon ausgegangen, dass bei einem Pe­dotransfer die vollständige Persönlichkeit in den Gastkörper überwechselte. Sollte das hier nicht der Fall gewesen sein? Hingen verdrängte Erinnerungen und psychische Probleme enger mit den biologischen Be­standteilen eines Cappins zusammen, als man es bislang wusste?

Zokelag taumelte dem Ausgang des La­gerraumes entgegen. So interessant seine Er­fahrungen zu einer anderen Zeit für Psycho­logen und Gehirnforscher auch gewesen wä­ren, so nichtig waren sie hier und heute.

Als er den Korridor betrat, hörte er in ei­niger Entfernung Waffenfeuer. Die Kämpfe um jeden Zentimeter Boden des Pedopeilers dauerten nach wie vor an. Wahrscheinlich hatten die Garbyor inzwischen schon Hun­derte der Verteidiger gnadenlos getötet.

Zokelag bemerkte, dass er stehen geblie­ben war, seine Hände ineinander ver­schränkt. »Nicht jetzt«, sagte er zu sich selbst und befahl seinen Füßen voranzuge­hen, doch sie gehorchten ihm nicht. Seine Knie waren weich, und sein Kopf begann unkontrolliert zu zucken.

»Immer wenn es darauf ankommt, ver­sagst du!«, schrie sein Vater ihm entgegen. »Genau wie damals, als du Torias ermordet hast!«

Zokelag wusste genau, dass er das nie getan hatte. Er hatte seinen Bruder geliebt

Christian Montillon

wie niemanden sonst auf der Welt außer sei­ner Mutter, die schon vor so langer Zeit ge­storben war, als sie Torias gebar. In ihren letzten Minuten hatte sie Zokelags Hand ge­nommen und sie fest gedrückt. »Dein Vater wird nicht für ihn sorgen können. Kümmere du dich um ihn.« Dann hatte sie seine ande­re Hand auf den Kopf des Neugeborenen ge­legt. Die Berührung war schon kraftlos ge­wesen und ihre Haut kalt und bleich.

Torias war das Vermächtnis seiner Mut­ter gewesen, und trotzdem hatte Zokelag nicht gut genug auf ihn aufgepasst. Das war seine Schuld – und nicht das, was sein Vater ihm vorwarf.

»Und wo warst du, als Torias geboren wurde und Mutter starb?« Er spie diese Worte seinem Vater entgegen und legte all den Hass hinein, den er empfand. Nur mit Mühe hielt er sich vor einer körperlichen At­tacke zurück.

Die Anklage traf seinen Vater mitten ins Herz. Er schnappte nach Luft, sein Mund öffnete sich, doch kein Wort trat daraus her­vor. Zuerst wankte er einige Schritte zurück, doch dann blieb er stehen.

»Du warst nie für Mutter da, obwohl sie alles für dich gab! Auch für mich hat sie al­les getan, doch du warst nie bei mir, wenn ich dich brauchte, und du hast Torias doch nie auch nur die geringste Beachtung ge­schenkt!«

»Du warst es, der Torias' Leben zerstör­te, nicht ich!« Sein Vater trat mit großen Schritten wieder näher, packte Zokelag und stieß ihn rückwärts gegen die Wand. »Ich habe ihm nie etwas Böses getan!«

Dann prasselten die ersten Schläge auf Zokelag ein, und als er blutend und wim­mernd liegen blieb, sah er zum letzten Mal seinen Vater aus einem langsam zuschwel­lenden Auge. Er versuchte, sich zu bewegen, doch sein Bein und sein rechter Arm waren gebrochen. Sein ganzer Körper stand in Flammen, und er beobachtete, wie sein Va­ter gebeugt das Haus verließ und die Tür hinter sich zuschlug.

Erst Stunden später gelang es Zokelag,

Page 43: Der letze Kampf der ERYSGAN

43 Der letze Kampf der ERYSGAN

zur Tür zu kriechen und auf sich aufmerk­sam zu machen. Es dauerte Wochen, bis die schweren Brüche geheilt waren. Vom Tod seines Vaters erfuhr er erst Jahre später, als er längst beim Militär der Heimatwelt diente. Es hieß, der alte Mann sei einem Un­fall zum Opfer gefallen, doch daran glaubte Zokelag nicht.

Aber die letzten Worte seines Vaters lie­ßen ihn genauso wenig wieder los wie seine Ängste.

Immer wenn es darauf ankommt, versagst du.

»Nein!«, schrie Zokelag in wilder Panik und rannte los. Er wusste genau, wo sich die Rettungskapsel befand. Er sah nach unten, beobachtete seine Beine, die immer schnel­ler rannten, und spuckte auf den Boden, als spucke er auf seinen Vater. »Heute versage ich nicht!« Es war, als ließe er mit jedem Schritt seine Vergangenheit etwas weiter hinter sich zurück.

Wenig später stoppte er seinen Lauf und blieb wie angewurzelt stehen. Sein Atem ging schnell und flach, während er vor den drei toten Ganjasen stand. Sie lagen in ver­renkter Haltung auf dem Boden, Opfer ir­gendeiner Auseinandersetzung, die sich während der letzten Stunden hier zugetragen hatte.

Zokelag versuchte sich zu zwingen, wei­terzugehen, doch wieder verweigerte ihm sein Körper den Gehorsam.

»Ich … ich bin frei«, murmelte er. Er durfte jetzt nicht versagen, nicht jetzt, so dicht vor dem Ziel!

Es kam ihm vor, als beobachte er sich selbst, wie er sich bückte und einer der Lei­chen den Strahler aus der toten Hand wand. Sein Verstand funktionierte beinahe ohne Zutun seines Bewusstseins. Wie eine Ma­schine ging Zokelag nach den grundlegen­den Überlebensregeln vor. Angesichts der Situation gebot es die Logik, sich nach Mög­lichkeit zu bewaffnen, völlig egal, unter wel­chen Umständen das geschah.

Mit der Waffe in der Hand taumelte er zu­nächst mit kleinen Schritten weiter. Zwei

der Toten lagen bereits hinter ihm, und er hielt die Augen geschlossen, so dass er auch den dritten nicht mehr sehen musste. Un­ablässig die Formeln vor sich hin flüsternd, die ihm Halt gaben, öffnete er schließlich die Augen.

Keine Leichen waren mehr zu sehen. Die wenigen Schritte hatten ihn weit genug vor­angebracht. Er starrte den Strahler in seiner Hand an, konzentrierte sich auf die kühle, tödliche Waffe und rannte wieder los.

Irgendwie erreichte er die Rettungskapsel. Als er gerade in sie hineinsteigen wollte, gellte ein hoher Schrei auf, und ein Schuss jagte nur Zentimeter von Zokelag entfernt in die Wand.

Eiskalt wirbelte Zokelag herum, riss noch in der Bewegung seine Waffe heraus und schoss. Er traf zielgenau, und der Gorsaan war auf der Stelle tot. Doch hinter ihm stürmten bereits weitere seiner Spezies her­an, sprangen mit ihren langen vorderen Beinpaaren über die Leiche hinweg.

Zokelag schoss, ohne zu zielen, auf die sich nähernden Reptiloiden. Auch diese feu­erten auf ihn, doch sie trafen nicht. Als einer der Schüsse dicht vor ihm in den Boden ein­schlug, sprang er in die Rettungskapsel, schloss sie und betätigte die Schaltung, die ihn in den rettenden Weltraum hinauskata­pultierte.

Er hatte es geschafft! Die ERYSGAN lag hinter ihm, und durch die transparente Hülle sah er, wie der gewaltige Pedopeiler kleiner und kleiner wurde. Doch gleichzeitig nahm er die Armada aus feindlichen Schiffen wahr, die ihn umgaben.

Eines davon war die MORYR, von der Toragasch ihm berichtet hatte. Zokelag wus­ste nicht, welches. Er tippte einen Standard­notruf ein. Wenn Toragasch den Komman­danten der MORYR wie versprochen unter­richtet hatte, musste er bald Antwort darauf bekommen.

Er krümmte sich in der winzigen Kapsel zusammen und wartete. Mehr konnte er nicht tun. Das Geräusch seines Atems klang überlaut durch den winzigen Raum. Zoke­

Page 44: Der letze Kampf der ERYSGAN

44

lags Universum schrumpfte auf die wenigen Quadratmeter, die ihm geblieben waren, um­geben von der eisigen, vernichtenden Kälte des Weltalls.

Wenn eines der Garbyor-Schiffe zufällig auf ihn aufmerksam wurde, bedeutete ein einziger gezielter Schuss seinen Tod.

Nur Sekunden später erklang eine Stimme aus dem winzigen Funkempfänger.

»Hier spricht Kommandant Offshanor. Ich habe deine Position lokalisiert. Die MO­RYR wird dich in wenigen Minuten aufneh­men.«

Zokelags Kehle war wie zugeschnürt. Er brachte kein Wort heraus, empfand nur un­endliche Dankbarkeit. Er führte die zitternde Hand zum Mund und legte den Zeigefinger über seine Lippen. Sein warmer Atem strich über seinen Handrücken.

Dann sah er, wie durch den Weltraum feuriges Verderben auf ihn zuraste.

12. Kommandant Toragasch: Der Sturm auf die

Zentrale

Die Kampfroboter legten Sperrfeuer auf den Eingang zur Zentrale. Die Luft kochte, und wilde Schreie ertönten.

Eine Gestalt tauchte in dem Eingang auf und schleuderte etwas in den Raum, ehe sie von mehreren Schüssen getroffen wurde und rückwärts aus dem Sichtfeld wankte. Das Ding landete nicht weit von den Robotern entfernt. Eine Sekunde später zerriss eine Explosion diesen Teil der Zentrale. Mit der Attacke zerstörten die Angreifer mehr als die Hälfte der Roboter. Die anderen wurden durch die Druckwelle zur Seite gestoßen und mussten das Feuer einstellen. Einer der Ro­boter prallte mit voller Wucht gegen die seitliche Wand.

Die Feinde drangen in die Zentrale vor. Zuerst sprangen Zaqoor in den Raum. Ihr Anführer schrie wütend auf, als er den Leichnam seines Artgenossen entdeckte. Dieses Rätsel würde sich für ihn nie lösen.

Die Verteidiger schossen auf die Ein-

Christian Montillon

dringlinge, und einige stürzten. »Für die Lordrichter!«, brüllten die Zaqoor und stürmten voran. Ihnen folgten Torghan, und nur Sekunden später befanden sich mehr als zehn der Insektoiden in der Zentrale der ERYSGAN.

Toragasch sah, wie überall Kämpfe Mann gegen Mann ausbrachen. Todesschreie gell­ten durch die Luft, und jeder einzelne von ihnen drängte ihn dazu, das Unvermeidliche zu tun und dem allem ein Ende zu bereiten. Endlich den Tod, das Morden und das Lei­den zu beenden. Aber der Gedanke an Zoke­lag ließ ihn zögern. Für ihn und seine Missi­on zählte jede Sekunde.

Auf den Kommandanten selbst wurden keine Schüsse abgegeben. Man wollte ihn lebend, damit die Lordrichter alles aus ihm herauspressen konnten, was er wusste. Zwei der Insektoiden durchbrachen die Mauer der Verteidiger und näherten sich ihm. Tora­gasch hob seine Waffe, zielte und schoss. Die Torghan starben, ohne ihm gefährlich geworden zu sein. Niemand schenkte den beiden Leichen auch nur die geringste Be­achtung.

In all dem Chaos ertönten immer wieder die Rufe »Trodar« und »Ewige Horde«. Die Angreifer gingen mit wahrer Todesverach­tung vor und starben glücklich … Gegen ein solches fanatisches Vorgehen gab es keine Chance auf Sieg. Immer mehr seiner Män­ner starben, während Toragasch beobachte­te, wie ein nicht enden wollender Nachschub an Garbyor-Truppen in die Zentrale vor­drang.

Eine Gruppe von Gorsaan entwaffnete drei Ganjasen – Offiziere, mit denen Tora­gasch seit Jahren diente –, drängte sie in die Enge und tötete sie brutal. Dieser Anblick machte dem Kommandanten klar, dass es zu Ende war.

Es war unmöglich, noch mehr Zeit für Zo­kelag zu gewinnen. Toragasch löste die Vor­kehrung aus, die sie schon vor langem für genau diesen Notfall installiert hatten.

Ein flimmernder Energievorhang baute sich rund um ihn um seine Konsole auf. Sei­

Page 45: Der letze Kampf der ERYSGAN

45 Der letze Kampf der ERYSGAN

ne Gegner würden diese Sperre binnen we­niger Minuten durchdringen können – aber das waren genau jene Minuten, auf die es ankam. Nach denen es hier nichts mehr ge­ben würde.

Er gab seinen Autorisierungskode ein, und sprach das entscheidende Wort.

»Selbstzerstörung.« Die Positronik des Schiffes reagierte un­

verzüglich und sprach eine Warnung aus. Toragasch bestätigte zum ersten Mal. Er

würde diesen Vorgang noch zweimal im Ab­stand von dreißig Sekunden wiederholen müssen. Eine Minute Ewigkeit lag vor ihm. Eine Minute, in der ihm das Schicksal der 2000 Ganjasen vor Augen stand, die die Be­satzung der ERYSGAN bildeten.

Oder gebildet hatten, denn inzwischen waren wahrscheinlich Hunderte von ihnen unter dem grausamen Ansturm der Feinde gestorben.

Toragasch wusste, dass es für die noch Lebenden ein rascheres Ende bedeutete, als die Lordrichter-Truppen ihnen bereiten wür­den. Für sie alle würde es in letzter Konse­quenz eine Gnade sein, so schnell zu ster­ben, dass sie es nicht einmal mitbekamen.

Und doch war es für ihn eine unendliche Strafe, dass gerade er die Befehle eingeben musste.

Die ersten Schüsse schlugen in den Ener­gievorhang ein. Er flackerte auf, doch er brach nicht in sich zusammen. Die über­schüssigen Energien wurden in Form von Überschlagblitzen abgeleitet. Offenbar däm­merte es den Angreifern, was Toragasch zu tun beabsichtigte.

Die ersten dreißig Sekunden waren vor­bei. Toragasch bestätigte erneut.

»Selbstzerstörung.« Noch dreißig Sekunden bis zum endgülti­

gen Aus. Es gelang Toragasch, den um ihn herum brandenden Lärm aus seiner Wahr­nehmung auszuschalten. Er sah, wie der Energievorhang wieder und wieder auf­flackerte.

Noch zwanzig Sekunden. »Gruelfin«, murmelte er den Namen der

geliebten Sterneninsel, und der Gedanke, dass mit ihm und der ERYSGAN die gesam­ten angreifenden Lordrichter-Truppen ver­nichtet werden würden, tröstete ihn.

Zehn Sekunden. Der Energievorhang leuchtete grell auf

und brach in sich zusammen. Der erste Schuss traf Toragasch in den rechten Arm.

Fünf Sekunden. Es schmerzte nicht einmal, als sein Brust­

korb zerfetzt wurde. Er sah, wie ein Zaqoor auf ihn zurannte, die Waffe noch im An­schlag.

Die Positronik forderte ihn zur nochmali­gen, letzten Wiederholung des Befehls auf.

Während das Leben mit jedem Schlag sei­nes Herzens aus ihm herausquoll, hauchte er mit dem letzten Atem, der ihm geblieben war:

»Selbstzerstörung.«

13. An Bord der AMENSOON

Atlan: Gestrandet

»Ich habe Kontakt mit der Fluchtkapsel!«, meldete Heroshan Offshanor über Funk. »Ich werde Zokelag in wenigen Minuten aufnehmen können.«

Was blieb mir zu sagen? Natürlich würde der Cappin-Kommandant so schnell vorge­hen, wie es ihm möglich war. Ihn zur Eile zu mahnen war völlig unnötig, denn er wusste so gut wie wir, dass das Inferno in jeder Se­kunde losbrechen konnte.

Offshanor hatte uns von der Nachricht, die er von dem Kommandanten der ERYS­GAN erhalten hatte, berichtet. Unsere ganze Hoffnung ruhte auf diesem uns noch unbe­kannten Ganjasen namens Zokelag, der den Pedopeiler inmitten des Chaos verlassen hat­te, um das Wissen um die geheimen Aktivi­täten der Cappins in Dwingeloo zu retten und an uns weiterzugeben.

Er befand sich in einer winzigen Flucht­kapsel im Meer der feindlichen Schiffe. Doch die Stärke der Kapsel war gerade ihre Unscheinbarkeit, denn keiner der Garbyor­

Page 46: Der letze Kampf der ERYSGAN

46

Raumer schenkte ihr Beachtung. Du täuschst dich!, durchzuckte mich ein

Impuls meines Extrasinns. Dann bemerkte auch ich das Ortungsergebnis. Die Flucht­kapsel wurde angegriffen! Ein Schuss aus einem feindlichen Tropfenschiff verfehlte sie nur knapp.

Jetzt war sofortiges Handeln gefragt, und nur Sekunden später spie die AMENSOON auf meinen Befehl hin Tod und Verderben. Das Tropfenschiff drehte ab und lenkte das Feuer auf die AMENSOON, genau wie wir es beabsichtigt hatten. Denn unsere Schutz­schirme hielten, und sie würden so lange halten, wie es nötig war, damit die MORYR Zokelag bergen konnte.

In diesem Moment gellte der Alarm auf. Meine Blicke wurden ebenso wie die Kytha­ras auf den Bildschirm gelenkt, der ein Klar­bild der Außenbeobachtung wiedergab.

»Er hat es getan.« Ich sah, wie Kythara sich versteifte.

Augenblicklich löste sie den vorprogram­mierten Fluchtkurs aus. Der varganische Raumer beschleunigte mit den maximalen Werten, die in dieser von Raumschiffen wimmelnden Umgebung möglich waren. Je­de Sekunde des Zögerns hätte den unaus­weichlichen Tod für uns bedeutet. Ohne einen bereits vorprogrammierten Kurs wür­de es jetzt, nachdem die Zerstörung der ERYSGAN eingeleitet worden war, kein Entkommen mehr geben.

Wir beobachteten, wie die riesigen Kugel­raumer von innen heraus zerrissen wurden. Die Hüllen überzogen sich mit gewaltigen, Hunderte von Metern langen Rissen, aus de­nen Feuer herausschlug.

Die Geschwindigkeit der AMENSOON näherte sich inzwischen der Grenze, an der der Übertritt in den Hyperraum erfolgen würde. Der Pedopeiler wurde endgültig zer­stört, als die Hüllen der Kugelraumer bar­sten und gewaltige Bruchstücke mit rasen­dem Tempo in alle Richtungen schleuderten. Einige kollidierten mit feindlichen Raum­schiffen und brachten diese zur Explosion.

Die AMENSOON war in Sicherheit –

Christian Montillon

doch wie es um die MORYR stand, war un­klar. Hatte sie die Fluchtkapsel mit Zokelag an Bord noch aufnehmen können? Oder hat­te Heroshan Offshanor zu lange gezögert, um die Kapsel noch bergen zu können, und würde nun selbst nicht mehr entkommen können?

»Offshanor ist klug genug, sich selbst nicht zum Tode zu verurteilen«, erriet Ky­thara meine Gedanken. »Wenn keine Zeit geblieben ist, den Cappin in die MORYR zu holen, wird Offshanor genau wie wir geflo­hen sein. Er kennt ebenso gut wie wir die Leuchtfeuersonnen und die Algorithmen, mittels deren wir jederzeit einen Treffpunkt zur Verfügung haben.«

»Das war eine kluge Idee von dir«, lobte ich meine Begleiterin. »Aber ich kann nur hoffen, dass der Ganjase keinen Fehler macht. Für ihn steht alles auf dem Spiel, und da reagiert man schnell irrational.« Ich hatte oft genug erlebt, wie verrückt Intelligenzwe­sen handelten, wenn es um Dinge ging, die für sie von entscheidender Wichtigkeit wa­ren.

»Eintritt in den Hyperraum in zwanzig Sekunden«, informierte mich Kythara.

Durch die sofort eingeleitete Flucht waren wir vom Zentrum der Explosion weit genug entfernt, um nicht von deren Ausläufern ge­streift zu werden.

»Es ist so weit«, wies mich Kythara auf das Phänomen hin, das Offshanor uns be­schrieben hatte. Genau wie erwartet blähte sich das nach wie vor aktivierte Transport­feld des Pedotransmitters unter den irrsinni­gen frei gewordenen Energiewerten auf. Ein Loch in der Struktur des Raumes entstand, und alle umgebende Materie wurde wie durch einen Paratronaufriss in den Hyper­raum gezerrt.

Ganze Gruppen von Schiffen der Lord­richter-Truppen verschwanden für immer aus unserem Raum-Zeit-Gefüge, wurden von dem tobenden energetischen Chaos ver­schlungen.

Die AMENSOON war von dem Tod und der Vernichtung weit genug entfernt – und

Page 47: Der letze Kampf der ERYSGAN

47 Der letze Kampf der ERYSGAN

durch unsere hohe Geschwindigkeit würde das auch so bleiben. Dann, nur Sekunden, ehe wir in den Hyperraum übertraten, orte­ten wir die MORYR. Auch sie war dem Chaos entkommen, denn Offshanor war ebenso wie wir darauf vorbereitet gewesen.

Doch war es dem Cappin-Kommandanten gelungen, Zokelag zu bergen?

Kythara stand über eine Station geneigt. Sie drehte sich mit ernstem Gesicht um. »Direkt vor dem Eintritt in den Hyperraum ist eine Nachricht übermittelt worden, Atlan. Sie stammt von Offshanor.«

»Keine guten Nachrichten?«, vermutete ich bitter.

»Sie lautet: Rettungskapsel bei Explosion der ERYSGAN zerstört. Treffpunkte wie aus­gemacht.«

*

Der 2. Juni 1225 NGZ näherte sich sei­nem Ende, als ich mich mit Kythara und Gorgh-12 in der Medostation traf.

»Kalarthras' Zustand ist nach wie vor un­verändert«, sagte ich nachdenklich.

Kythara stand neben der Liege, auf die ihr einstiger Geliebter gebettet lag. Ich bemerk­te, dass sie immer wieder seine veränderten, völlig schwarzen Augen fixierte. Doch sie verlor kein Wort darüber, sondern lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. »Nun sind wir also in Dwingeloo gestrandet, ohne eine Möglichkeit zur Rückkehr in die Milchstra­ße. Die Zerstörung des Pedopeilers bedeutet gleichzeitig, dass eine Rückkehr per Sexta­dimtransmitter unmöglich geworden ist.«

»Die AMENSOON ist fernflugtauglich«, warf Gorgh ein. »Sie kann die sechzehn Mil­lionen Lichtjahre Distanz zurücklegen.«

»Doch sie benötigt Zeit dafür«, wider­sprach Kythara. »Zeit, die wir nicht haben!«

»Wir müssen einen Punkt nach dem ande­ren angehen.« Ich deutete auf den weiterhin ohnmächtigen, körperlich veränderten Var­ganen. »Sein Zustand gibt uns Rätsel auf, und außerdem gilt es, das Geheimnis dieser Galaxie zu lösen. Warum zeigen die Lord­

richter Präsenz ausgerechnet in Dwingeloo? Die Schiffe aus der Milchstraße flohen hier­her. Weshalb? Was hält diese Sterneninsel für uns bereit?«

»Einen Schritt nach dem anderen«, warf Kythara mir meine eigenen Worte vor. »Zunächst werden wir uns mit Offshanor treffen.« Durch die überstürzte Flucht bei der Explosion des Pedopeilers vor wenigen Stunden waren die MORYR und die AMENSOON getrennt worden. Doch wir hatten lange vorher die Koordinaten charak­teristischer Leuchtfeuersonnen als Treff­punkt festgelegt.

»Er wird darauf drängen, nach den in Dwingeloo tätigen Undercoveragenten zu suchen«, vermutete ich.

»Ein lohnenswertes Ziel«, stimmte die Varganin zu. »Sie verfügen möglicherweise über Informationen, die uns helfen werden, gegen die Lordrichter vorzugehen.«

Danach schwiegen wir. Ich vermutete, dass Kythara dieselben Gedanken hegte wie ich. Wir hatten beide im Laufe unserer Le­ben viele Schiffe befehligt und viele Gefah­rensituationen bestehen müssen. Doch nie waren wir gezwungen gewesen, wie Tora­gasch die Selbstzerstörung eines Schiffes zu befehlen. Was war in dem Kommandanten wohl vorgegangen in jenen entsetzlichen Se­kunden?

Epilog Gesang der Stille,Lieder des Endes

»Es ist vorbei, Sternenjunge.« Das Ende holt mich auf mächtigen

Schwingen ein, und ich heiße es willkom­men. Nichts bleibt mir, nicht einmal ein we­nig Zeit.

Und doch höre ich meine Mutter singen. Ihre samtene Stimme tröstet mich. Ich erin­nere mich an ihr liebliches Gesicht, an ihre Liebe und ihre Weisheit.

Ihre Liebe, die immer noch lebendig ist, auch jetzt, da ich ihr ins Grab folge.

Ihre Weisheit, die mich begleitet hat bis

Page 48: Der letze Kampf der ERYSGAN

48 Christian Montillon

zuletzt. , singt sie, bis das Feuer und das Nichts ihre »Scheide nicht, Junge … Stimme in mir verlöschen lassen. … bleibe hier … Das Chaos der letzten Stunden endet, und

… lausche nicht dem Ruf der Sonnen, der für mich bleibt der Friede. dich mit Fernweh infiziert. Denn Fernweh Ja, ich höre auf zu weinen. ist Sternweh, und am Ende bleibt das Wehe. Doch für meine Feinde bleibt das Wehe. Scheide nicht, Sternenjunge, … bleibe hier …« Gedanken Kommandant Toragaschs, als

Das Ende ist da, und es schmilzt selbst die Offensive der Lordrichter-Truppen auf die Zeit hinweg, die bedeutungslos wird. die ERYSGAN endet. Nichts mehr zählt, nicht das Gestern und nicht das Heute. ENDE

»Sternenjunge, höre auf zu weinen, leihe dein Ohr nicht dem Locken, denn Fernweh ist Sternweh, und am Ende bleibt das

E N D E

Im Zeichen des Bösen von Horst Hoffmann

Die AMENSOON ist in Dwingeloo gestrandet. Und obwohl Atlan mit Offshanor und seinen Leuten Verbündete gefunden hat, ist er immer noch fremd in der Galaxis.

Doch es gibt einen, der sich hier auskennt, wenn die Informationen auch viele Jahrtausen­de alt sind: Kalarthras. Allerdings schläft Kytharas Geliebter aus der Vergangenheit noch immer, und die Lordrichter sind überaus aktiv. Dies gilt besonders für den Dunkelstern und dessen Umfeld. Alles steht scheinbar IM ZEICHEN DES BÖSEN.