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8 Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (5) PflegeAktuell Pro & Contra Das meinen die Experten Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff – ist er wirklich relevant für die Praxis? DOI: 10.1007/s00058-014-0579-9 Dr. Monika Kücking, Abteilungs- leiterin Gesundheit beim GKV- Spitzenverband , Berlin: Die Pfle- geversicherung in Deutschland, mit der seit nunmehr 20 Jahren pflegebedürftige Menschen gut versorgt und betreut werden, ist unerlässlicher Teil der sozialen Sicherung geworden. Bei der notwendigen Weiterentwicklung haben sich die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen dafür eingesetzt, dass die Einführung eines neuen Pfle- gebegriffs auf der Basis wissenschaftlicher Er- kenntnisse und gesicherter Befunde erfolgt. Die nächsten anstehenden Schritte – Erprobung der Praktikabilität der Änderungen im neuen Begutachtungsassessment (NBA) sowie notwen- dige Vorarbeiten für neue Leistungsdefinitionen – sind erste Etappen dieser Einführung. Sie sind Voraussetzung dafür, dass pflegebedürftige Men- schen, viele davon mit Demenzerkrankungen, darin unterstützt werden, ihre eigenen Ressour- cen so lange wie möglich zu nutzen und die Leis- tungen zu erhalten, die sie je nach Grad ihrer Einschränkung benötigen. Dies ist keine „akade- mische“ Diskussion, sondern markiert den ver- antwortungsvollen Weg, die Pflegeversicherung auf die Anforderungen einer alternden Gesell- schaft vorzubereiten. Auch für die Dienste und Einrichtungen, die mit dem neuen Begriff arbei- ten müssen, erfordert dies einen veränderten Blick auf die Pflege. In dieser Legislatur soll er endlich kommen: der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Und zwar so, dass er bis zur nächsten Wahl nicht nur beschlossen, sondern Lebensrealität ist, sagt der Pflegebeauftragte der Bundesregierung. „Dazu braucht es keine Kommissi- onen mehr, es ist alles geklärt. Wir werden zu einer neuen Einstufungspraxis kommen und den Pflege- bedarf nicht mehr nur über körperliche Defizite de- finieren“, so Karl-Josef Laumann kürzlich in einem Zeitungsinterview. Wird der neue Begriff die Situati- on für Pflegebedürftige und Pflegekräfte verbessern? Nicht alle sind davon überzeugt. Ein neuer Pflegebe- griff sei für die Betroffenen nicht nachvollziehbar und lasse sich je nach Kassenlage modifizieren, mei- nen Kritiker. HEILBERUFE hat Experten befragt. Jens Frieß, Inhaber von Averosa, Beratungsunternehmen für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung , De- litzsch : Wenn alle etwas loben, dann stimmt etwas nicht. Politiker und Pflegewissenschaftler aller Couleur loben den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in den Himmel, als wäre die Neubewertung von Pflegebedürftigkeit (NBA) das Allheil- mittel aller Probleme, die in den nächsten Jahren massiv auf unsere Gesell- schaft zukommen. Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen, der min- destens ebenso wichtig ist und – für mich unverständlich – in der öffentlichen Diskussion zu wenig von Seiten der Leistungserbringer diskutiert wird. Welche Auswirkungen hat diese Neubewertung von Pflegebedürftigkeit auf die Ein- nahmeerwirtschaftung der Betreiber? Grundlage für eine gute und qualitäts- gesicherte Pflege von Menschen bildet eben auch eine ordentliche finanziell nachhaltige Ausstattung. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird die der- zeit gültige Begutachtungsrichtlinie vollumfänglich ersetzen. Ich höre immer noch die Diskussionen, dass man dann endlich wegkäme von der Minuten- pflege. Dass aber gerade die Finanzausstattung Grundlage ist für die Siche- rung von einzusetzender Zeit für Pflege, Behandlung und soziale Betreuung, das vergessen viele. Inwieweit es hier dann einen wirklich nachvollziehbaren Fortschritt gibt, bleibt abzuwarten.

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff — ist er wirklich relevant für die Praxis?

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Page 1: Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff — ist er wirklich relevant für die Praxis?

8 Heilberufe / Das P� egemagazin 2014; 66 (5)

PflegeAktuell Pro & Contra

Das meinen die Experten

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff – ist er wirklich relevant für die Praxis?

DO

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Dr. Monika Kücking, Abteilungs-leiterin Gesundheit beim GKV-Spitzenverband, Berlin: Die Pfle-geversicherung in Deutschland, mit der seit nunmehr 20 Jahren pflegebedürftige Menschen gut

versorgt und betreut werden, ist unerlässlicher Teil der sozialen Sicherung geworden. Bei der notwendigen Weiterentwicklung haben sich die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen dafür eingesetzt, dass die Einführung eines neuen Pfle-gebegriffs auf der Basis wissenschaftlicher Er-kenntnisse und gesicherter Befunde erfolgt.Die nächsten anstehenden Schritte – Erprobung der Praktikabilität der Änderungen im neuen Begutachtungsassessment (NBA) sowie notwen-dige Vorarbeiten für neue Leistungsdefinitionen– sind erste Etappen dieser Einführung. Sie sind Voraussetzung dafür, dass pflegebedürftige Men-schen, viele davon mit Demenzerkrankungen, darin unterstützt werden, ihre eigenen Ressour-cen so lange wie möglich zu nutzen und die Leis-tungen zu erhalten, die sie je nach Grad ihrer Einschränkung benötigen. Dies ist keine „akade-mische“ Diskussion, sondern markiert den ver-antwortungsvollen Weg, die Pflegeversicherung auf die Anforderungen einer alternden Gesell-schaft vorzubereiten. Auch für die Dienste und Einrichtungen, die mit dem neuen Begriff arbei-ten müssen, erfordert dies einen veränderten Blick auf die Pflege.

In dieser Legislatur soll er endlich kommen: der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Und zwar so, dass er bis zur nächsten Wahl nicht nur beschlossen, sondern Lebensrealität ist, sagt der Pflegebeauftragte der Bundesregierung. „Dazu braucht es keine Kommissi-onen mehr, es ist alles geklärt. Wir werden zu einer neuen Einstufungspraxis kommen und den Pflege-bedarf nicht mehr nur über körperliche Defizite de-finieren“, so Karl-Josef Laumann kürzlich in einem Zeitungsinterview. Wird der neue Begriff die Situati-on für Pflegebedürftige und Pflegekräfte verbessern? Nicht alle sind davon überzeugt. Ein neuer Pflegebe-griff sei für die Betroffenen nicht nachvollziehbar und lasse sich je nach Kassenlage modifizieren, mei-nen Kritiker. HEILBERUFE hat Experten befragt.

Jens Frieß, Inhaber von Averosa, Beratungsunternehmen für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, De-litzsch: Wenn alle etwas loben, dann stimmt etwas nicht. Politiker und Pflegewissenschaftler aller Couleur loben den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in den Himmel, als wäre die Neubewertung von Pflegebedürftigkeit (NBA) das Allheil-mittel aller Probleme, die in den nächsten Jahren massiv auf unsere Gesell-schaft zukommen. Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen, der min-destens ebenso wichtig ist und – für mich unverständlich – in der öffentlichen Diskussion zu wenig von Seiten der Leistungserbringer diskutiert wird. Welche Auswirkungen hat diese Neubewertung von Pflegebedürftigkeit auf die Ein-nahmeerwirtschaftung der Betreiber? Grundlage für eine gute und qualitäts-gesicherte Pflege von Menschen bildet eben auch eine ordentliche finanziell nachhaltige Ausstattung. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird die der-zeit gültige Begutachtungsrichtlinie vollumfänglich ersetzen. Ich höre immer noch die Diskussionen, dass man dann endlich wegkäme von der Minuten-pflege. Dass aber gerade die Finanzausstattung Grundlage ist für die Siche-rung von einzusetzender Zeit für Pflege, Behandlung und soziale Betreuung, das vergessen viele. Inwieweit es hier dann einen wirklich nachvollziehbaren Fortschritt gibt, bleibt abzuwarten.

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Hilde Mattheis, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Ulm: Mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 hat sich die Lebenssituation von Menschen mit Pflegebedarf grundlegend verbessert. Seitdem wurde die Pflegeversicherung den gesell-schaftlichen Herausforderungen immer wieder angepasst. Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist jetzt der zentrale Meilenstein.

Der Koalitionsvertrag hat für seine Umsetzung eine gute Grundlage gelegt, die es nun schnell und umfassend umzusetzen gilt. Mit dem neuen Pflegebegriff werden nicht nur die körperlichen, sondern auch andere Formen möglicher Einschränkungen in den Bedarfsgrad eines Pflegebedürftigen einbezo-gen und die Leistungsansprüche dementsprechend ausgebaut. Der neue Pflegebedürftig-keitsbegriff bedeutet nicht nur, Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung wie beispiels-weise Demenzerkrankte endlich im System mit körperlich beeinträchtigten Pflegebedürf-tigen gleichzustellen. Er verändert den gesamten Blick auf den pflegebedürftigen Men-schen. Er stellt einen Perspektivenwechsel von der Mangelerhebung zum Teilhabebedarf dar. Wir wollen weg von der Minutenpflege, hin zu einem ganzheitlichen Ansatz. Das schaf-fen wir nur mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, den wir gemäß Koalitionsvertrag „so schnell wie möglich“ in dieser Legislaturperiode umsetzen wollen.

Thorsten Meier, Altenpfleger, seit 25 Jahren in der stationären Altenpflege, derzeit als Dauer-nachtwache, Dachau: Für Pflege benötigt man Zeit. Die Frage lautet also nicht, ob man nach Mi-nuten pflegt, sondern wie viele Minuten für die Pflege zur Verfügung stehen. Und da ist es natür-

lich peinlich, wenn die vom MDK berechneten Minutenwerte und die Personalschlüssel in den Heimen so gar nicht überein-stimmen. Würde man die vom MDK berechneten Minutenwerte als Grundlage der Personalschlüssel anlegen, wäre fast doppelt so viel Personal in den Heimen vorzuhalten und es gäbe keinen Grund für eine Debatte.Das Problem soll jetzt elegant gelöst werden, indem man die leider so konkreten Minutenwerte durch ein abstraktes Punkte-system ersetzt. Und der Pflegewissenschaft ist es leider unmög-lich, diesem so fundierten Punktesystem einen Personalbedarf zuzuordnen, frei nach dem Motto „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Damit werden die Personalschlüssel auch zukünftig so ver-sing“. Damit werden die Personalschlüssel auch zukünftig so ver-sing“handelt wie bisher, d.h. Pflege nach Kassenlage und nicht nach Bedarf, mit den inzwischen sattsam bekannten Folgen.Mein Fazit: Ohne deutlich verbesserte Personalschlüssel und damit erhebliche Mehrkosten wird sich an der Versorgungssitua-tion (auch für Demenzkranke) in den Heimen nichts ändern. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ist dabei überflüssig, wenn nicht gar schädlich.

Helmut Wallrafen-Dreisow, Altenpfle-ger und Geschäftsführer der Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach:Die Einführung des neuen Pflegebedürf-tigkeitsbegriffes ist eine Chance. Wir brauchen endlich ein neues Verständnis von Pflege, das den Bedürfnissen der Betroffenen stärkergerecht wird. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bisher liegt der Versorgung ein gesetzlicher Pflegebegriff zugrunde, der enge zeitliche Begrenzungen für einzelne Pflegelei-stungen vorgibt. So kann das zwingend Notwendige er-ledigt werden, etwa die Körperpflege. Alles, was darüber hinausgeht, ist zeitlich oft problematisch. Doch wir alle wissen, dass Zuwendung genauso wichtig ist wie Pflege und Gesunderhaltung des Körpers. Zeit, die wir brau-chen, dem Pflegebedürftigen zuzuhören, vielleicht sogar in den Dialog zu treten, wenn dies möglich ist. Das ge-schieht heute, weil es viele engagierte Pflegekräfte gibt, die von sich aus mehr leisten als Dienst nach Vorschrift. Doch es muss auch in den Gesetzen verankert, d.h. bei den Kostenkalkulationen stärker berücksichtigt werden.Wir brauchen nur dann einen neuen Pflegebedürftig-keitsbegriff, wenn er den Pflegekräften mehr ermöglicht, als Pflege nach Minutentakt. Wer die derzeitige Diskussi-on ernst meint und wirklich eine Veränderung will, dem ist klar, dass wir über eine deutliche Kostenerhöhung, über eine dringend notwendige einheitliche Lohn-erstattung – aber auf tariflichem Niveau – und eine Ver-besserung der Personalschlüssel reden. Nur dann will ich eine Umsetzung. Geschrieben und gesagt wurde schon genug!

Wer es mit dem neuen Pflegebegriff ernst meint, dem ist klar, dass wir über eine deutliche Kostenerhöhung und eine Verbesserung der Personalschlüssel reden.