184
Der philosophische Edelzwicker

Der Philosophische Edelzwicker

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Nach dem Autor Alois Edelzwicker

Citation preview

  • Der

    philosophische

    Edelzwicker

  • 2

  • 3

    DDeerr pphhiilloossoopphhiisscchhee EEddeellzzwwiicckkeerr

    Zehn der Edelzwicker-Essays zum besseren

    Verstndnis von Welten, Menschen und Neuronen,

    aufgeschrieben von Bernd Lindemann

    i n v o c o - v e r l a g

  • 4

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Erste Auflage, Copyright 2007 invoco-verlag, Homburg, Germany www.invoco-verlag.de ISBN 978-3-938165-12-6 Printed in Germany by BoD GmbH, Norderstedt bersetzungen: Bernd Lindemann Illustrationen: Alois Edelzwicker

  • 5

  • 6

    Kennen Sie Edelzwicker?

    Alois Edelzwicker, legendrer Professor fr Semantische Psychologie an der Universitt Straburg, ist - ich darf es sagen - ein lieber Freund. Wir trafen uns vor Jahren an der Univer-sitt Keele in Staffordshire, wo er eine Gast-dozentur wahrnahm. Nach seiner Entdeckung der 'Unmerklichen Meldungen' grndete A.E. den damals viel beachteten Konzern 'involuntary com-munications'. Jahre spter wurde dieser (aus un-klaren Grnden, vielleicht war er von Geheim-diensten unterwandert) aufgelst. A.E. wanderte weiter.

    Auf der Suche nach dem 'Unmerklichen' fre-quentierte er weiterhin die groen Museen. Man erzhlt sich, dass er in der Alten Pinakothek in Mnchen besondere Fhrungen veranstaltete. Dort soll er von Kunststudenten ber die Frequenz-zerlegung der Gemlde nach Livingstone befragt worden sein. Edelzwicker antwortete mit einem glnzenden Extempore und das war lange bevor die geniale Methode der Frequenzzerlegung den Journalisten und damit der ffentlichkeit bekannt wurde.

    Spter entdeckte A.E. die Philosophie, insbeson-dere die des Geistes. Auch in diesem Lebens-abschnitt blieb er der ffentlichkeit fast unbe-kannt.

    Professor Edelzwicker hat wenig publiziert, sein Medium war und ist das gesprochene Wort - was man ja auch dem Sokrates nachsagt, den der Straburger glhend verehrt. Konsequent wie er ist, wird Edelzwicker brigens nicht begeistert

  • 7

    davon sein, dass einige seiner Vorlesungen zum Neuro-Realismus, von Studenten heimlich mitge-schrieben, hier abgelichtet werden.

    'Der philosophische Edelzwicker' ber Welten, Menschen und Neuronen erscheint also quasi am Rande der Legalitt. Ich spre schon jetzt den entsprechenden Vorwurf von Talkmastern und Zivilrichtern und kann nur hoffen, dass wenigstens A.E. uns nicht auf die Schliche kommt. Aus-drcklich sei betont, dass Edelzwicker und nicht etwa ich der geistige Urheber der folgenden Aufstze ist, bzw. bin, hat er sie doch zuerst (mndlich) formuliert. Ich nehme auch an, dass er der Verschriftung im Zuge einer postfaktischen Adoption zustimmen wrde. Um nichts in der Welt mchte ich mich mit A.E. anlegen oder gar seine Freundschaft aufs Spiel setzen...

    Homburg, Anfang April 2007

    B.L.

    Mein Guter ,

    d ir auf die Schl iche zu kommen is t le ichter , als du zu glauben scheinst . Doch - was sol l s , ihr habt das Buch nun mal gemacht! Werde den Erwartun-gen entsprechen, adopto post factum. Der Text bringt mir hof fent l ich die Gelegenhei t , mi t meinen Freunden darber zu reden.

    Was den Neuro-Real ismus anlangt: keine Ahnung, wer den Ausdruck aufgebracht hat , schn is t er nicht . Auch hier bleibt mir nur die Adopt ion. Der Kern des Neuro-Real ismus is t der Trick mit der

  • 8

    bertragenden Abstrakt ion. Wie bin ich darauf gekommen?

    Aris toteles hat es schon geahnt: aphairesis oder abziehen, man tut so, als wenn das geht , a ls wenn man Abstrakta in freier Form haben knnte . Doch s ind Abstrakta nach Aris toteles e twas, das man zwar getrennt denken kann, das aber in der Wirkl ichkei t nie getrennt von einem Substrat exis t ier t . 1 - Ein Beispiel is t Information. Physiker wie Rol f Landauer betonen, dass Information physikal isch is t . Das muss natrl ich heien, dass das Abstraktum Information nicht von seinem Substrat , dem physikal ischen Informationstrger, getrennt werden kann. Es kann umkopiert werden, behl t aber immer einen materiel len Trger. Auch wenn wir Information oder andere Abstrakta mental aufnehmen, so kopieren oder bertragen wir s ie , d iesmal auf e inen neuronalen Trger in unserem Gehirn.

    Und da haben wir s ie schon, die Lsung des Problems der mentalen Verursachung! Denn frei l ich, reine Abstrakta knnten nichts verursachen. Da aber e in Abstraktum untrennbar mit e inem Konkretum in e inem konkreten Komplex verschwister t is t , hat dieser Komplex Anschluss an das Kausalgeschehen der realen Welt . - Einfach, aber es hat an die 23 Jahrhunderte gedauert , b is wir gelernt haben, Aris toteles in diesem Punkt ernst zu nehmen. . .

    S traburg, Anfang Mai 2007

    A.E.

    1 Nach P. Aubenque. Zitiert in Kapitel 12, Begriffssystem.

  • 9

    Inhalt

    1. Growetterlage und Bodenhaftung 13

    2. Konzepte fr dich und mich 25

    3. Krnkungen und Heilungen 41

    4. Die natrliche Benutzeroberflche 57

    5. Die Dualismen einordnen 71

    6. Unser Belohnungssystem 83

    7. Willensbildung, Willensfreiheit 89

    8. Turingmaschine trifft Kuckucksuhr 119

    8a. Turing machine meets cuckoo clock 129

    9. Homunkulus 139

    10. The inner Path 155

    11. Argumentation zum Neuro-Realismus 161

    12. Begriffssystem 167

  • 10

    Danksagung

    Fr wertvolle Anregungen und Korrekturen bedanke ich mich bei

    Prof. Dr. Hermann Passow (Wetter)

    Prof. Dr. Rdiger Brennecke (Braunschweig)

    Prof. Dr. Robert B. Illing (Freiburg)

  • Edelzwicker liebt lange Spaziergnge. Auf ihnen bedient er sich gerne eines photographischen Apparates, um jenes geheimnisvolle Etwas festzuhalten, das er als 'unmerkliche Meldungen' bezeichnet. Einmal sprach er in diesem Zusammenhang auch von dem Wunder der Welt und des Lebens. Wir zeigen hier einige der Schnappschsse, die er von seinen Wanderungen im Elsass, im Saarland und in Staffordshire zurckbrachte.

  • 1. Growetterlage und Bodenhaftung

    Zur Einfhrung in Edelzwickers philosophische Positionen mag das Protokoll jener Fragestunde dienen, die er 2005 fr seine Studenten abhielt.

    Eine Fragestunde bei Alois Edelzwicker

    Frage an AE: Kant war ein groer Philosoph, ebenso Hegel. Schopenhauer war ein groer, ebenso Nietzsche, Wittgenstein und viele andere. Wie kommt es eigentlich, dass diese Groen sich gegenseitig nicht unbedingt akzeptierten, dass sie teilweise Gegenstzliches lehrten? Kann man erwarten, dass wenigstens ei-ner von ihnen Recht hat? Und wie knnen wir herausfinden, wer von ihnen Recht hat?

    AE antwortet: Am besten ists auch hier, wenn Ihr nur einen hrt und auf des Meisters Worte schwrt. Doch im Ernst: Die Philosophie befindet sich in einem Entwicklungsprozess der schrittweisen Annherung an die Wahrheit. Wir erlernen ja erst die Kunst, sinnvolle Fragen zu stellen und dann die richtigen Antworten zu erarbeiten. Deshalb kann man nicht erwarten, dass Philosophen, noch dazu aus verschiedenen Zeiten, dasselbe leh-ren. Und herausfinden, wer von ihnen Recht hat? Da mchte ich mit Kant sagen: sapere aude! Finde es selbst heraus...

    Frage: Wenn wir mehrere Philosophen lesen... Oft ist es ja kaum erkennbar, dass die ber dasselbe Thema schreiben. Wie kann man den berblick behalten?

    AE antwortet: Ein wichtiger Punkt. Ordnung ist Anpassung an eine ordnende Struktur. Deshalb braucht man Ablagefcher, Ka-

  • Der philosophische Edelzwicker

    14

    tegorien usw. Nicht nur fr die Philosophie, sondern fr jede Wissenschaft bietet sich eine Dreiteilung der Thematik an: A: wie bin ich vorgegangen?, B: was habe ich gefunden?, C: wie kann ich das praktisch anwenden?

    Diesem Schema folgt schon die Einteilung der Philosophie nach Aristoteles: Logik / Physik plus Metaphysik / Ethik. Man muss sich nur klar machen, dass Logik stehen kann fr "Logik und an-dere Methoden" und Ethik fr "Ethik und andere Anwendungen". Kant hat die Einteilung etwas erweitert: Logik / theoretische Phi-losophie / praktische Philosophie. In anderen Worten, wir benti-gen eine Methodenlehre; ihre Anwendung erlaubt es, Erkenntnis zu erarbeiten; die gesicherten Erkenntnisse haben dann Konse-quenzen fr das praktische Leben. Also

    (A) Logik und andere Methoden,

    (B) Erkenntnisse ber das Seiende und das Menschsein,

    (C) Ethik, Weisheit...

    Es ist interessant, sich klar zu machen, zu welchem der drei The-menkreise sich bekannte Philosophen vornehmlich geuert ha-ben. Die uerung des Heraklit "Alles wandelt sich und bleibt doch gleich" gehrt zu Themenkreis B. Die uerung des Sokra-tes "Ich wei, dass ich nichts wei" (im Sinne von: nichts ist si-cher, alles darf geprft werden) gehrt zu Themenkreis A und auch, soweit sie als Aufruf zur Bescheidenheit gemeint ist, zu Themenkreis C. Descartes Substanz-Dualismus (es gibt die Welt des Denkens und die der Materie) ist eine uerung zu B. Kants Kategorischer Imperativ gehrt zu C, sein "wage zu denken" zu A und C. Wittgensteins "Die Philosophie muss sicherstellen, dass das Denken den Fallen der Sprache entgeht" ist eine uerung zur Methodik.

    Frage: Mit dieser Einteilung werden die Aufgaben der Philoso-phie schon angedeutet. Dennoch, welches sind die Aufgaben der Philosophie?

  • Growetterlage und Bodenhaftung

    15

    AE antwortet: Unser naives, tradiertes Weltverstndnis enthlt Widersprche. Die Philosophie jedoch bemht sich in ihren Aus-sagen ber das Seiende um ein widerspruchsfreies Weltkonzept oder Modell. Sie tut dies vorwiegend durch Nachdenken und Konzeptabgleich. Ihre Ziele sind Erkenntnis ber die Natur des Seienden und des Menschen und die Formulierung von Leitlinien fr unser Leben, die aus solcher Erkenntnis abgeleitet werden.

    Es geht hier um die wichtigste Aufgabe auch der heutigen Philo-sophie. Es gengt nmlich nicht, die Konzepte der antiken und der modern-klassischen Philosophen zu bewundern und zu akzep-tieren. Vielmehr gilt es, das Werk dieser groen Meister fortzu-setzen, und zwar unter den gnstigeren Voraussetzungen, die wir heute haben. Es gengt ja auch nicht, die 'Werte' des Humanismus oder der Aufklrung zu bernehmen. Mndig sind wir erst, wenn wir nur das bernehmen, was wir zuvor geprft und dann akzep-tiert haben.

    Frage: Fr den Laien klingt es absonderlich, dieses "Ausarbeiten eines widerspruchsfreien Weltkonzeptes". Was ntzt mir das? Lst das meine drngenden Probleme?

    AE antwortet: Also gut, was sind denn unsere drngenden Prob-leme? Sind es nicht unvorhergesehene Schicksalsschlge, Enttu-schungen? Sind es nicht Probleme, die mit einer falschen Einschtzung der Lage beginnen und mit Desillusionierung enden? In anderen Worten, sie beginnen mit einem Fehler unsererseits. Den zu vermeiden, die 'Lage' und vor allem die 'Growetterlage des Seins' richtig einzuschtzen, das ist die Aufgabe der Philosophie. Sie ist nicht das Steckenpferd einiger weltfremder Professoren. Die Philosophie, richtig betrieben, schafft Ordnung in unseren Konzepten und gibt Bodenhaftung. Und die brauchen wir alle.

    Frage: Aber gibt es berhaupt einen 'Boden' und wie ist er be-schaffen?

  • Der philosophische Edelzwicker

    16

    AE antwortet: Der Boden unserer Existenz als lebende, fhlende und denkende Wesen sind unsere biologisch und anthropologisch verstandenen Voraussetzungen. Hier geht es um die realistische Einschtzung der Mglichkeiten und Grenzen des Menschen und um seine Beziehung zu der ihn umgebenden Welt. Dazu gehrt ein mglichst widerspruchsfreies Weltkonzept. Zu seiner Ausar-beitung sind Alltagsbegriffe, Alltagssprache und Alltagslogik nur bedingt geeignet. Der Blick auf die Methoden ist deshalb wichtig. Auf Methoden, welche die Philosophie sich geschaffen hat oder noch schaffen muss. Der erste Ansatz ist Bewusstmachen von Problemen, Nachdenken ber Probleme, Abbau von Illusionen. Nur selten gelingt auch die 'endgltige' Lsung eines philosophi-schen Problems.

    Frage: Kann man denn berhaupt erwarten, dass Probleme end-gltig gelst werden?

    AE antwortet: Besonders auf dem Gebiet der formalen Logik sind Probleme eindrucksvoll gelst worden. Generell jedoch ist es eher unwahrscheinlich, dass berzeugende Lsungen von heute auch die Lsungen von morgen sein werden. Wir hoffen aber wie schon Sokrates auf eine schrittweise Annherung an die jeweils richtige Lsung. Das setzt natrlich voraus, dass die Frage sinn-voll war.

    Frage: Was sind sinnvolle Fragen?

    AE antwortet: Es sind solche, deren Bearbeitung neue Einsichten ermglicht. Das kann der Fall sein, obwohl die Frage selbst nicht abschlieend beantwortet wurde. Nehmen Sie die berhmte Frage von Kant "Was ist der Mensch?" Wir arbeiten schon seit Jahrhun-derten an diesem Stoff, wir wissen nicht, wie die Antwort morgen lauten wird, aber wir haben viel gelernt auf diesem Weg.

  • Growetterlage und Bodenhaftung

    17

    Frage: Es gibt doch die logischen Methoden. Kann man damit nicht etwas definitiv beweisen?

    AE antwortet: Schon nach Thomas Hobbes ist Denken ein Rech-nen mit Namen. Das mag zu kurz gegriffen sein, weist aber auf den wichtigen Umstand hin, dass philosophisches Denken hnlich wie das Rechnen bestimmten Regeln gehorchen muss. So muss es widerspruchsfrei bleiben und dadurch innere Konsistenz behalten. Dies vorausgesetzt knnten, ja mssten sich die Schlussfolge-rungen in den philosophischen Gedankengngen automatisch und durch jedermann nachvollziehbar aus den Voraussetzungen erge-ben. Nimmt man dies ernst, dann sind es die Voraussetzungen, die Annahmen von denen die Betrachtungen ausgehen, welche die Besonderheit eines philosophischen Gedankenganges ausma-chen. Der Rest wre eine zwar interessante aber letztlich zwangs-lufige Ableitung nach formalen Regeln.

    Merkwrdig ist nun, dass man die Voraussetzungen bei dem Ver-such, sie zu begrnden oder zu berprfen, in die logische Ge-dankenfolge einbezieht. Sie verlieren somit ihre Stellung als Vor-aussetzung, werden aber stillschweigend durch andere Vorausset-zungen ersetzt, denn es gibt keine logische Folgerung (Theorem) ohne Voraussetzungen (Prmissen). Somit finden wir am Anfang der philosophischen Gedankengnge eine seltsame Unschrfe: die Voraussetzungen sind das Spezifische eines Gedankenganges, lassen sich aber nicht berprfen.

    Jede kohrente Folge von Stzen muss ja einen ersten Satz haben, dessen Begriffe vorausgesetzt werden. Deshalb kann man eigent-lich gar nichts allgemeingltig beweisen. Man kann nur fest-stellen, dass unter den genannten Voraussetzungen diese oder je-ne Konsequenz abzuleiten ist.

    Frage: Welche Fortschritte macht die Philosophie in unserer Zeit?

    AE antwortet: Bevor ich das beantworte, mchte ich betonen, dass wir aufbauen auf den Fortschritten der Vergangenheit. Der

  • Der philosophische Edelzwicker

    18

    Abbau von Illusionen wurde von den Alten begonnen, denken Sie an das "Ich wei, dass ich nichts wei" des Sokrates. Ein Des-cartes hat uns dann gelehrt, den Traditionen und Lehrmeinungen zu misstrauen. Woher wissen wir denn, dass die berlieferten Konzepte die richtigen sind? Mit dieser Frage begann die Aufkl-rung. An ihrem Ende sagte Kant: Ihr msst selber nachdenken, dann erst werdet ihr mndig.

    Und genau das versuchen wir heute noch. Eine analytische Ein-stellung ist dabei hilfreich. Man bemht sich beim Nachdenken, bestimmte Regeln zu beachten. Alle benutzten Begriffe mssen geklrt werden, Zirkelschlsse gilt es zu vermeiden. Umgangs-sprache und Alltagspsychologie knnen in die Irre fhren, Wunschdenken ist kein guter Ratgeber, bloes Dafrhalten und mystisches Raunen bringt uns nicht weiter. Ein "Woher wissen wir das?" sollte sich regelmig bemerkbar machen...

    Der Verdacht, dass die Welt nicht so ist, wie sie uns erscheint, ist uralt. Denken Sie nur an Platons Hhlengleichnis. Die Transzen-dentalphilosophie eines Kant hat das Problem konkretisiert, wir sind gar nicht dafr ausgestattet, das Ding an sich zu erkennen. Heute nun knnen wir sehr viel klarer als vor 200 Jahren sagen, wie unsere Ausstattung aussieht.

    Die Hirnforschung ist eine wichtige Entwicklung unserer Zeit. Sie ergnzt unsere subjektiven, introspektiven Eindrcke durch einen zweiten Zugang, durch objektive Einblicke in das Getriebe jenes wunderbaren Organs, das wir als Fundament unseres geistigen Lebens verstehen. Wnsche, Gefhle, innere Bilder, Sprache, all das bekommt eine zweite Ebene des Verstehens. Die Spekulation wird durch immer przisere Messungen ersetzt, wird nachprfbar. Die Philosophie profitiert davon. Sie muss sich nicht mehr in ei-nem datenfreien Raum bewegen und macht nun Fortschritte wenn sie wieder fragt: "Wer sind wir? Welches sind unsere Mglichkei-ten? Wo sind unsere Grenzen?".

  • Growetterlage und Bodenhaftung

    19

    Frage: Den menschliche Geist, den meinen Sie wohl, wenn Sie von unseren Mglichkeiten und Grenzen sprechen. Was ist nun dieser menschliche Geist?

    AE antwortet: Das Mentale ist ein Teil des Inhaltes der neurona-len Kommunikation unseres Gehirns. So jedenfalls lautet meine Hypothese. In dieser Kurzform wird Sie die Hypothese kaum -berzeugen knnen, aber Sie knnen ja die ausfhrliche Begrn-dung studieren.

    Frage: Gibt es einen Begriff, dessen Verstndnis fr Ihre Philo-sophie besonders wichtig ist?

    AE antwortet: Die Rolle der Konzepte war fr mich sehr wichtig, vor allem aber das Wesen der Abstraktion. Ich stie darauf beim Nachdenken ber die Frage Was ist Leben? Lebewesen sind Strukturen, die eine Anleitung mit sich tragen, nmlich das Ge-nom, die komplette Information zu ihrem Selbstaufbau. Nun ist Information ja ein Abstraktum, sie liegt jedoch im Genom gebun-den an chemische Strukturen vor. Wie sich herausgestellt hat, ist das immer so: freie Abstrakta wie Information und Inhalt gibt es nicht in der realen Welt, man findet sie nur im Komplex mit rea-len Trgerobjekten. Von dieser Nicht-Trennbarkeit wusste schon Aristoteles.

    Die Abstrakta knnen aber von einem Trger auf einen anderen umkopiert werden. Fr die Funktion des Genoms ist das ganz wichtig, aber es gilt generell. Wenn ich zum Beispiel von einer Zeitung eine Information ablese, dann kopiere ich sie auf einen neuronalen Trger in meinem Gehirn. Aber auch der Inhalt neu-ronaler Kommunikation wird uns durch ein Umkopieren bewusst, durch Umkopieren auf besondere Trger. So, wie schon gesagt, entsteht ja das Mentale.

    Frage: Haben wir Willensfreiheit?

  • Der philosophische Edelzwicker

    20

    AE antwortet: In unserer Willensbildung haben wir eine von Fall zu Fall verschieden groe partielle Freiheit von ueren Zwn-gen. Doch ist der neuronale Formalismus, der mit Selektion, Pr-diktion und Evaluation unser persnlichkeitstypisches Wollen herausarbeitet, wahrscheinlich voll determiniert. Wie knnte er sonst verlsslich arbeiten?

    Unsere Handlungsmglichkeiten, andererseits, hngen davon ab, dass wir, vom mentalen Wollen ausgehend, in das Verursa-chungsgeflecht der Physik eingreifen knnen ohne eine sogenann-te Erstauslsung zu bentigen. Das geht deshalb, weil das Menta-le, als Inhalte neuronaler Kommunikation verstanden, immer nur im Komplex mit konkreten Trgerobjekten vorkommt. Diese konkreten neuronalen Trger liefern den Anschluss an die subve-nierende Ebene der Neuronen-Biophysik. - Na, das bedarf wohl noch der nheren Erklrung.

    Frage: Was charakterisiert unseren Zeitgeist?

    AE antwortet: Unseren genius saeculi?, ein weites Feld. Mir fllt vor allem eine gewisse Desillusionierung auf. Wir haben nun ver-standen, dass alles fliet. Planung ist oft illusionr. Fortschritt mag man ablehnen, Wandel kann man nicht verhindern.

    Zu unserem als januskpfig empfundenen Status gehrt auch, dass wir neue Einsichten zwar begren, sie aber auch frchten. Wir frchten sie u.a. deshalb, weil sie uns weiter desillusionieren knnten. Mit den Naturwissenschaften haben wir jedoch einen Erkenntnisapparat entwickelt, der seine eigene Dynamik mit-bringt. Er arbeitet stetig weiter und ist von uns und unseren ngs-ten wohl kaum noch zu stoppen. Seinen nichtvorhersagbaren Er-gebnissen sind wir sozusagen ausgeliefert. Wir knnen nur, in gewissen Grenzen, die Daten anders interpretieren, mehr Spiel-raum haben wir nicht. So hat Erkenntnis etwas zwangslufiges. Vor allem gilt: wir knnen uns unsere Erkenntnisse nicht aussu-chen.

  • Growetterlage und Bodenhaftung

    21

    Deshalb ist es auch wenig hilfreich, zu rufen: Das darf nicht wahr sein, sonst wre ja alles sinnlos! Oder, wie in einem krzli-chen Zeit-Interview: Konservative Kritiker warnen davor, dass smtliche Werte den Bach runtergehen, wenn sich ein solches [neurowissenschaftliches] Menschenbild durchsetzt.1 Wie ge-sagt, wir haben keine Wahl, wir knnen uns unsere Erkenntnisse nicht aussuchen. Oder mit Jerry Fodor: ...there is no alternative.

    Frage: Was ist Wahrheit? Man muss wohl Detektiv sein, um sie herauszufinden? Sherlock Holmes rt uns: Eliminate the impos-sible and the remainder, however unlikely, must be the truth. Was sagt der Philosoph?

    AE antwortet: Wahrheit? Ein berfrachteter Begriff! Ihr Zitat ist brigens interessant: Hat man das offensichtlich Unmgliche eli-miniert, bleiben Alternativen, von denen jede mglich erscheint, die aber nicht gleichzeitig zutreffen knnen. Man whlt zwischen ihnen, indem man den Datensatz erweitert bis eine der Mglich-keiten nun als unmglich erkannt wird. So eliminiert oder falsifi-ziert man mehr und mehr, bis nur eine Mglichkeit brig bleibt. Sie ist dann unsere Wahrheitshypothese.2 Sie wissen ja,

    Philosophen wie Sokrates und Mills betonten, dass unse-re Erkenntnis stets vorlufig, hypothetisch ist. Sie kann sich der Wahrheit nur annhern, die wir vielleicht nie ganz er-fassen werden.

    Etwas anderes ist Wahrheit als empfundene Gewissheit. Hier kann es sich auch um Nichtberprfbares handeln, das wir gleichwohl fr wahr halten, weil es zu unseren anderen Konzepten passt oder weil wir von unseren Anlagen her darauf vorbereitet sind. Dann trifft dieses Konzept gewis-sermaen auf innere Resonanz.

    1 DIE ZEIT 16.08.2007: Der Riss im Selbstmodell. Mit Thomas Metzinger. 2 Sir Arthur Conan Doyle hat diese Strategie, die auch in der Forschung angewendet wird, schon ca. 1887 treffend geschildert, also lange bevor Sir Karl Popper 1934 sein Lo-gik der Forschung schrieb.

  • Der philosophische Edelzwicker

    22

    Der Pragmatismus rt uns, im Falle der Nichtberprf-barkeit uns gleichwohl fr eine Mglichkeit zu entscheiden und dabei unseren Vorteil im Auge zu behalten.

    Im analytischen Sinne aber ist Wahrheit eine Eigenschaft von Dass-Stzen oder anderen Aussagen. Wahrheitsfhig sind berprfbare Aussagen in definierten, anschluss-fhigen Begriffen. Diese Aussagen sind dann wahr, wenn ihr Inhalt der Fall ist, also mit der realen Welt berein stimmt.

    Frage: Kann ein Satz nur entweder wahr oder unwahr sein?

    AE antwortet: Ja, tertium non datur: es gibt keine dritte Mg-lichkeit. Unser Urteil ber einen Satz hngt jedoch auch davon ab, ob wir in der Lage sind, jetzt darber zu entscheiden. Wenn man die Entscheidung annimmt, macht man eigentlich zwei Aus-sagen, eine (meist implizit) zur Entscheidungslage und eine ex-plizit zur Wahrheit des Satzes: a) ich bin in der Lage, begrndet zu antworten; b) der fragliche Satz ist wahr (oder unwahr). Verneint man aber (a), so muss (b) offen bleiben. Es gibt also drei mgliche Antworten: der Satz ist wahr, der Satz ist nicht wahr und: wir wissen es nicht (aber wir arbeiten daran).

    Frage: Wo liegt die Zukunft der Philosophie?

    AE antwortet: Was ist der Mensch? Wie schon Aristoteles sagte, das mssen wir erst mal herausfinden. Die wichtige Rolle der Hirnforschung fr unser philosophisches Menschenbild habe ich schon erwhnt. Im kulturanthropologischen Bereich wird die Konzeptdynamik uns vielleicht eine neue Bodenhaftung ermgli-chen. Sie beleuchtet einen wichtigen Aspekt des geistigen, kultur-schaffenden und kulturgebundenen Menschen. Sollte sie zu einer Art Relativittstheorie des Mentalen fhren, so wrde sie zur -berzeugenden neuen Grundlage einer eigentlich alten Art von Toleranz, der Toleranz des Sokrates. Und Toleranz ist das

  • Growetterlage und Bodenhaftung

    23

    leranz, der Toleranz des Sokrates. Und Toleranz ist das Gegengift zu Gewalt, einem drngenden Problem der Menschheit.

    Die Philosophie vom Menschen interessiert uns ja vor allem des-halb, weil wir drngende Probleme mit dem Menschsein haben. Aber die Philosophie vom Menschen ist auch ein Zeichen von Schwche, von Eingegrenztheit in unsere biologische Art. Der Philosoph Thomas Nagel hat es auf den Punkt gebracht mit sei-nem "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?" Seitdem hrt man vielstimmig aus dem Tierreich: "Was ist die Gans?"... "Was ist der Br?" Auch dies gute, berechtigte Fragen.

    Die Philosophie vom Menschen wre eine Philosophie vom gan-zen Menschen, nicht 'nur' eine des Geistes oder des Neuronensys-tems. Vom ganzen Menschen zwar, aber noch nicht vom Ganzen. Warum gengt nicht eine Philosophie vom Menschen? Schon deshalb, weil wir den Menschen ohne die ihn umgebende Welt nicht verstehen knnen. Doch Geduld, auch die Philosophie vom Menschen wird ihren Geburtsfehler, ihre Zentrierung auf unsere Spezies schlielich berwinden und aufgehen in jenem Greren, der Philosophie des Lebens, oder vielleicht des Seins schlechthin. Ein weiter Weg, der da vor uns liegt.

  • 2. Konzepte fr dich und mich

    Konzepte sind Inhalte neuronaler Informationstrger im Kopf. Viele von ihnen haben wir von anderen Menschen bernommen, sie sind also kommuniziert, oft auch von an-deren berprft. Unsere gemeinsamen Konzepte sorgen fr Gruppenidentitt, machen unsere Kultur aus. Bei den nicht-gemeinsamen kann man sich darber streiten, wel-ches Konzept das richtige ist, deins oder meins?

    Was ist denn an dem ganzen Wicht Original zu nennen? Goethe, 1820

    Philosophische Einsichten 'wissen' wir mit einem Abstand. Wir knnen dieses Wissen reproduzieren und interpretieren - doch wir erleben es nicht. Es kann aber geschehen, dass sich etwas offen-bart. Dann wird eine altbekannte Formel pltzlich zu einem span-nenden Erlebnis, die Welt sieht nun anders aus, etwas Neues ist geboren. So ging es mir mit den 'Konzepten'.

    Wie Frau *** mir krzlich erzhlte, sa sie in einem Straenrestaurant als ein Bub syrischer Herkunft, den sie flchtig kannte, vorbeikam. Sie plauderte mit ihm und fragte schlielich: Sag mal, Ali, was willst du spter einmal werden? Darauf der Junge: Ein guter Moslem. Ein guter Moslem will ich werden.

    Der Bub ist zehn Jahre alt. Was er wei, ber Allah, ber den Propheten, den Islam, das hat man ihm gesagt. Und natrlich hat

  • Der philosophische Edelzwicker

    26

    er diese Konzepte bernommen. Er identifiziert sich nun mit ih-nen und wird sie als seine eigenen verteidigen!

    Konzepte sind Inhalte komplexer neuro-mentaler Strukturen.1 Wir haben sie im Kopf, sie sind in unserem Gehirn. Doch sind diese Inhalte nicht unbedingt in uns entstanden, im Gegenteil, viele Konzepte oder die meisten sind von anderen Menschen ber-nommen. Die Kommunizierbarkeit und die berprfbarkeit durch Andere macht sie zu unverzichtbaren Bausteinen unseres Geistes, unserer Kultur. Unsere gemeinsamen Konzepte sorgen fr Grup-penharmonie. Sie wandeln sich aber mit uns und mit dem Zeit-geist. Lassen wir einmal die folgenden Leitkonzepte auf uns wir-ken:

    Ruhe ist die erste Brgerpflicht / Befehl ist Befehl / Seine Durch-laucht ist von Gottes Gnaden / Das Land gehrt dem Knig / Das Land gehrt dem Volke / Dulce et decorum est pro patria mori / Wes Brot ich ess, des Lied ich sing / Jeder Mensch hat eine un-sterbliche Seele / Das Herz ist der Sitz der Gefhle / Kinder spre-chen nur, wenn sie gefragt werden / Was auf den Tisch kommt, wird gegessen / Liebe deinen Nchsten / Liebe deinen Frsten / Gott liebt dich / Geld macht glcklich / Geld macht nicht glck-lich / Wir sind alle Snder / Hast du nichts, bist du nichts / Die Frommen kommen in den Himmel / Der Mensch ist das Ma aller Dinge.

    Diese 20 Leitlinien und Lebenshilfen gehrten noch vor kurzem zur selbstverstndlichen geistigen Ausstattung vieler Menschen

    1 Neuro-mental soll bedeuten, dass der Inhalt von seiner neuronalen Trger-Struktur abge-lesen werden kann und so bewusst wird. Dies wird an anderer Stelle erlutert.

  • Konzepte fr dich und mich

    27

    unserer Region. Heute, da wird man mir zustimmen, werden min-destens 10 von ihnen nicht mehr akzeptiert. Was gestern selbst-verstndlich war, ist heute fragwrdig. Und was heute selbstver-stndlich ist, wie wird das morgen beurteilt werden?

    Eine Zeitreise

    Steinzeitbabies, die mit unseren heutigen Kindern aufwchsen, wrden kaum auffallen. Sie wren vielleicht von besonders robus-ter Gesundheit, aber mental htten sie in etwa die Spielbreite der Fhigkeiten, die auch unsere Kinder haben. Denn in 10,000 oder 30,000 Jahren hat sich das menschliche Erbgut wenig verndert. Erwachsene Steinzeitmenschen jedoch, durch ein sonderbares Geschick in unser Jahrhundert versetzt, wrden wohl groe An-passungsschwierigkeiten haben. Sie wrden einen intensiven 'Kulturschock' erleiden, denn ihre mentale Ausstattung mit Kon-zepten aus der Steinzeit hat sie gewiss schlecht gerstet, mit den heutigen Lebensumstnden fertig zu werden. Im 16. und 17. Jahr-hundert hat man im Zug der Kolonialisierung 'neuer' Kontinente solche Beobachtungen immer wieder machen knnen: Kinder passen sich gut an, wenn ihnen die Chance geboten wird. Er-wachsene aber haben groe Schwierigkeiten, sie bleiben unglck-liche Fremde, solange sie die neuen Konzepte nicht bernehmen. Ein Fremder ist einer, der fremde Konzepte hat!

    Diese Regel ist auch fr uns gltig. Fragen wir uns doch nur, wel-che gesellschaftlichen oder religisen Konzepte wir denn htten, wenn wir in der Familie des kleinen Ali aufwchsen. Oder welche Konzepte Ali und wir unser eigen nennen wrden, wenn wir mit-einander in Japan aufwchsen. In einem Land, wo es fast kein Christentum und keinen Islam gibt. Die Folgerung ist unaus-weichlich, es hngt von der Zuflligkeit des Aufwachsens in einer bestimmten kulturellen Umgebung ab, welche Konzepte wir -bernehmen knnen, was wir also denken!

  • Der philosophische Edelzwicker

    28

    Und wenn wir uns nun darber streiten, welches unserer Konzep-te das richtige ist, deins oder meins? Hier gilt es zu bedenken, dass die ganze Menschheit auf einer Zeitreise unterwegs ist. Die Konzepte von heute sind nicht die von morgen. Deins oder meins, welches von den beiden ist also richtig, welches besteht den Test der Zeit? Wohl keines von beiden... Es ist unsere Selbstsicherheit, die hier Federn lassen muss, eine Relativierung unserer mentalen Ausstattung und Position kndigt sich an. Man wird bescheide-ner...

    Konzepte, Konzepte

    Konzepte, wie gesagt, sind unterscheidbare mentale Inhalte. Un-sere Innenwelt enthlt anschauliche Konzepte von Personen und Gegenstnden, aber auch abstrakte Konzepte von Ideen, Regeln usw., bis zu ganzen Verhaltensmodellen. Insgesamt verfgt ein Mensch ber Zehntausende wenn nicht Hunderttausende von un-terscheidbaren Konzepten2.

    Wie knnen so viele Konzepte in unserem Gehirn Platz finden? Es knnte in der Art geschehen, wie auch Objekte der Auenwelt 'abgebildet' werden. Dabei handelt es sich nicht um Abbildungen im eigentlichen Sinne, sondern um Reprsentationen. Ein Objekt wird in charakteristische Einzelheiten zerlegt, im Optischen etwa in gerade Linien, Winkel, Farben usw., es wird gewissermaen auf einfache Begriffe gebracht. Diese Charakteristika werden se-

    2 Ein amerikanisches 6-jhriges Kind kennt etwa 13,000 Wrter, nach dem High School Abschluss etwa 60,000 Wrter (S. Pinker, The language instinct. Penguin Books, London 1994). Die Zahl der Eintrge in dem Schlerduden von 2001 betrgt 25,000. Die Zahl der Konzepte, allerdings, muss viel grer sein als die Zahl der Wrter, weil die meisten Kon-zepte komplex sind, d.h. kombinatorisch aus einfachen Konzepten (die einzelnen Wrtern entsprechen mgen) gebildet werden.

  • Konzepte fr dich und mich

    29

    parat festgehalten, ihre Bndelung oder 'Bindung' kann dann das gemeinte Objekt wiedergeben3.

    Als Vorteil dieser berraschenden Methode der Reprsentation wird angefhrt, dass sie platzsparend ist4, dass damit in einer ge-gebenen Zahl von Neuronen mehr Objekt-Reprsentationen un-tergebracht werden knnen. Wegen der groen Zahl der in unse-rem Kortex gespeicherten Reprsentationen ist dies ein wichtiger Punkt. Mglicherweise werden nicht nur die anschaulichen Rep-rsentationen sensorischer Objekte, sondern auch andere Inhalte in dieser Form neuronal abgespeichert, gewissermaen als pseu-do-sensorische Objekte behandelt.

    Grundausstattung, Ergnzung

    Ihrem Ursprung nach sind drei Arten von Konzepten zu erwarten: angeborene, bernommene und selbstgeschaffene. Ihr Zusam-menspiel wird heute intensiv untersucht, es ist Gegenstand der zoologischen Verhaltungsforschung, der Anthropologie und der Kognitionswissenschaft.

    Die angeborenen Konzepte bilden die Infrastruktur, die anthropo-logische Grundausstattung unserer Spezies. Sie betreffen die Ori-entierung in Raum und Zeit, Nahrung, Paarung, Archetypen5 wie

    3 Singer, W. Der Beobachter im Gehirn. Suhrkamp 2002. Wie die Bindung jedoch neuro-biologisch realisiert wird, etwa durch Synchronisation der Neuronenaktivitt, darber be-steht noch kein Konsens. 4 Man vergleiche den groen Speicherbedarf einer Pixelgraphik (Abbildung) mit dem viel kleineren einer Vektorgraphik (Reprsentation) oder den Speicherbedarf einer akustischen Konzertaufzeichnung (Abbildung) mit dem der Partitur. 5 Nach C.G. Jung sind Archetypen unbewusste Inhalte, Teil des angeborenen kollektiven Unbewussten. Als solche sind sie nicht direkt erfahrbar, knnen aber zur Grundlage von 'archetypischen Bildern' werden, die ins Bewusstsein aufsteigen. Siehe Wehr, G. (1969). C.G. Jung. Reinbeck, Rowohlt Taschenbuch Verlag. Eine Korrelation von neurophy-siologischen und psychoanalytischen Konzepten wurde krzlich versucht; siehe E.R. Kan-del, Biology and the future of psychoanalysis. Am J Psychiatry 156: 505-524, 1999.

  • Der philosophische Edelzwicker

    30

    z.B. 'Mutter' und vieles mehr. Viele der angeborenen Konzepte sind Ordnungsprinzipien. Sie erleichtern den Umgang mit be-stimmten zu lernenden Inhalten und verleihen ihnen eine beson-dere, prformierte Bedeutung. Denn typischerweise werden zwar die spezifischen Inhalte von auen bernommen (gelernt), sie werden aber nach angeborenen Mustern eingeordnet. Bei dem Konzept 'Mutter' etwa wird das besondere Aussehen und Spre-chen der Mutter sowie andere ihrer Gewohnheiten durch Lern-vorgnge aufgenommen. Dass jedoch berhaupt eine mtterliche Pflegerin verfgbar ist, gehrt zum angeborenen Erwartungs-horizont eines Babys. Bei einigen Tieren muss der Lernvorgang 'Mutter' zu einer ganz bestimmten Zeit stattfinden, die ebenfalls erblich festgelegt ist. Dann spricht man von Prgung als 'Vervoll-stndigung eines Erbprogramms durch Assoziation mit einem in-dividuellen Lernerlebnis'6. Zu den angeborenen Konzepten des Menschen gehrt auch ein Ordnungsprinzip fr die Sprache, also eine primitive Grammatik. Denn Kinder lernen zwar die Wrter ihrer Muttersprache, fr die Aneinanderreihung dieser Wrter a-ber verwenden sie anfangs Regeln, die sie schon 'mitbringen'7. Auch fr den Umgang mit Zahlen sind wir genetisch vorbereitet.

    Unter den nicht angeborenen, sondern erworbenen Konzepten ist ein Teil empirisch, etwa durch Naturbeobachtung, erarbeitet. Ein groer Teil aber wird durch Lernen von Kulturgtern aller Art aus unserer Umwelt bernommen. Man knnte hier von unserer kultur-anthropologischen Ergnzungsausstattung sprechen8. Die wichtigsten Vehikel hierfr sind Sprache und Schrift, die jedoch selbst erworbene Konzepte darstellen. ber Religion und Ethik etwa, ber Wissenschaft, Technik, bildende Kunst und Musik er-

    6 Auf Prgungslernen beruht auch die Gesangsmelodie der Singvgel. Wenn der Stimmap-parat entwickelt ist, singen die Tiere eine Melodie, auf die sie Monate vorher geprgt wur-den. J. D. Delius, Zur Naturgeschichte der Kultur: Gene und Meme. Z. f. Semiotik 12: 307-321, 1990. 7 S. Pinker, The language instinct. Penguin Books, London 1994. 8 Die groe Rolle der Kultur wird deutlich, wenn man sich wieder klar macht, dass das Genom des Steinzeitmenschen sich von dem unseren wenig unterschied.

  • Konzepte fr dich und mich

    31

    fahren wir nur von anderen Menschen. So mancher dieser Lern-inhalte mag zwar mit angeborenen Mustern korrespondieren, die inhaltliche Ausgestaltung aber, ohne die jede angeborene Ord-nung sinnlos bleibt, wird von auen bernommen. Fr modern empfindende Menschen mit ihrem Hang zur Selbstbestimmung und mit ihrer Selbstverantwortung fr die eigene geistige Position mag dies eine unliebsame Feststellung sein. Deshalb ist es wich-tig, den Ursprung unserer Konzepte zu erkennen.

    Selbstgeschaffene Konzepte schlielich sind eher geeignet, unsere persnliche Identitt zu markieren, denn es sind ja solche, die e-ben nur in uns entstanden sind. In der Tat, vor allem unser auto-biographisches Gedchtnis ist eine Sammlung von Gedchtnis-spuren, die in dieser Form nur in einem Menschen vorliegen kann. Somit ist das Ich, oder genauer der biographische Teil des Ich, ein groer Komplex selbstgeschaffener Konzepte. Auch ech-te 'innere Erfindungen' sind zu nennen, etwa prozedurale Konzep-te, persnliche Betrachtungsweisen usw., die ebenfalls fr uns als Individuum charakteristisch sein mgen. Schlielich sei auch das kreative Schaffen des Knstlers erwhnt, das ja mehr sein muss als eine Reproduktion irgendwelcher aus der Umwelt aufgenom-mener Konzepte.

    Konzeptverarbeitung im Unbewussten

    Konzepte, Begriffe sind die kleinste Einheit des Denkens. Sie sind nicht nur in uns 'vorhanden', sondern sie werden nach Bedarf verknpft, verarbeitet, verrechnet. Zum Beispiel knnen die Rep-rsentationen der Konzepte Buch, Lesen und Ich verknpft wer-den zu 'Ich lese das Buch', einem neuen Konzept, zu dessen Bil-dung wiederum Regelkonzepte bentigt werden und das seiner-seits Baustein eines bergeordneten Konzeptes (etwa eines lnge-ren Textes) sein kann. Schon nach Jackendoff 9 wird eine solche 9 Jackendoff, R. (1987). Consciousness and the computational mind. Cambridge, MA, MIT Press.; F. Crick, C. Koch, The unconscious homunculus. Neuro-Psychoanalysis 2: 3-11, 2000.

  • Der philosophische Edelzwicker

    32

    assemblierende Verarbeitung durch einen unbewusst arbeitenden Prozessor geleistet.

    Es ist klar, dass von den vielen gespeicherten Konzepten zu je-dem Zeitpunkt der allergrte Teil unbewusst bleibt. Nur wenige knnen gleichzeitig in das Scheinwerferlicht des Bewusstseins geraten10. Auch die kombinatorische Verarbeitung einfacher Konzepte zu neuen, komplexeren Konzepten geschieht unbe-wusst. Wahrscheinlich wird unserem Bewusstsein nur das Resul-tat solcher Verarbeitung bei Bedarf zur Verfgung gestellt11. Denn Fassungsvermgen und Verarbeitungsgeschwindigkeit un-seres Bewusstseins scheinen vergleichsweise begrenzt zu sein und fr komplexe geistige Aufgaben nicht auszureichen. Wie a-ber der innere Prozessor seine unbewusste Arbeit ausfhrt, wel-che Regeln, Erfahrungen und geistigen Gewohnheiten er dabei einsetzt, das mag von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein und mag unsere Persnlichkeit wesentlich bestimmen.

    Selektion und persnlicher Spielraum

    Von groer Bedeutung fr unsere Ergnzungsausstattung mit Konzepten ist ein innerer Selektionsprozess, mit dessen Hilfe man aus dem Angebot der Umwelt die notwendige Auswahl trifft und so nach und nach eine besondere Kombination ermglicht, die unsere persnliche Identitt mitbestimmt. Nach welchen Re-geln wird die Auswahl getroffen? Vor allem zwei Kriterien knn-ten fr eine Akzeptanz des Neuen magebend sein: nmlich ers-tens, wie etwas Neues mit dem schon Vorhandenen harmoniert, denn

    - wir akzeptieren, was uns 'in den Kram passt'

    10 Baars, B. J. (1997). In the theatre of consciousness: The workspace of the mind. Oxford, Oxford University Press. 11 So luft das deklarative Denken unbewusst und in nicht-sprachlicher Form ab, die Re-sultate werden aber sprachlich strukturiert dem Bewusstsein zur Verfgung gestellt (Ja-ckendoff, R. (1996). "How language helps us think." Pragmatics and cognition 4: 1-34.).

  • Konzepte fr dich und mich

    33

    und zweitens, ob andere (uere) Vor- und Nachteile mit der Ak-zeptanz des Neuen verknpft sind. Diese pragmatischen Kriterien der Akzeptanz wollen gut bedacht sein, denn sie fhren uns zum Kern der Frage 'was bin ich'.

    Hier ein Beispiel. Es ist zwar ein Beispiel aus dem religisen Be-reich, die Art der Selektion, auf die es ankommt, sollte aber all-gemein gelten.

    Jemand hrt zum ersten mal die Behauptung, dass unsere Seele beim Tode nicht mit dem Krper stirbt, sondern dass sie einen neuen Krper findet und in ihm wiedergeboren wird. Warum wird dieser Jemand nun dieses Konzept ber-nehmen, wie es viele Millionen von Menschen tun? Oder warum wird er es ablehnen, wie es Millionen von anderen Menschen tun? Die Annahme wrde begnstigt, wenn das Konzept auf eine innere Resonanz trifft, weil wir durch un-sere Erbanlagen darauf vorbereitet sind12. Fr die Annahme wird weiter sprechen, dass das Konzept ein Problem lst, dass es nmlich dem beunruhigenden Gedanken an die per-snliche Sterblichkeit seine Schrfe nimmt. Die Annahme wird auch begnstigt, wenn das Konzept Teil eines um-fassenden Systems von anderen Konzepten ist, die sich ge-genseitig Plausibilitt verleihen. Auch dass Menschen in der Umgebung das Konzept akzeptiert haben, ihm Autoritt geben, wird die Annahme begnstigen. Die Annahme kann mit weiteren Vorteilen verknpft sein, wie Status in einer Glaubensgemeinschaft usw. Viele andere Umstnde mgen fr die schlieliche Akzeptanz hilfreich sein. Die faktische Beweisbarkeit des Konzeptes, allerdings, muss dabei keine Rolle spielen.

    Neben der Selektion von Konzepten bleibt noch ein anderer persnlicher Spielraum. Wir knnen akzeptierte Konzepte nach

    12 Das braucht man in diesem Fall wohl nicht ernsthaft zu erwgen, doch bei anderen reli-gisen Konzepten, etwa 'Snde', 'Gewissen', 'Gehorsam', 'Gottvater', 'Nchstenliebe' usw., ist eine solche Resonanz durchaus in Betracht zu ziehen.

  • Der philosophische Edelzwicker

    34

    pragmatischen Gesichtspunkten verndern, unseren Anlagen und dem Fundus von schon bewhrten Konzepten anpassen, sie be-sonders gewichten, auf besondere Weise verknpfen und verar-beiten. Tatschlich bernehmen wir Konzepte oft nur in groben Zgen, gewissermaen als Skizzen, deren weitere Ausgestaltung uns berlassen bleibt. Deshalb wird ein Konzept wie 'Hexe' oder 'Snde' sich fr zwei Menschen verschieden darstellen, obwohl es den selben Namen trgt. Diese individuelle Ausgestaltung trgt wohl bei zu der groen inneren Vielfalt der Menschen, macht sie zu unverwechselbaren Personen.

    Konzeptabstimmung

    Der Aufbau einer inneren Ordnung gehrt zur Haushaltsfhrung in der Innendimension: ein jeder vermeidet kognitive Disso-nanz,13 bemht sich um eine inhaltliche Abstimmung seiner Kon-zepte, die sich dann gegenseitig sttzen und aus ihrer Abge-stimmtheit erst ihre berzeugungskraft beziehen. Wie beschrie-ben kann eine mehr oder weniger bewusste Abstimmung erfolgen allein schon durch Selektion eines Konzeptes aus einem Angebot von mehreren.

    Die Abstimmung wird im Inneren weitergefhrt durch Abwand-lung solcher Konzepte, die mit anderen nicht harmonieren. Schlielich erfolgt offenbar eine Abstimmung zu unseren anthro-pologischen Anlagen hin. Trifft ein Konzept hier auf innere Re-sonanz, so erscheint es besonders berzeugend. Insgesamt ent-steht so ein Konstrukt von vielen Konzepten, die sich gegenseitig sttzen. Dieses Konstrukt macht einen Teil unserer Persnlichkeit aus. Fremde Konzepte knnen dem offenbar oft prekren Kon-strukt gefhrlich werden, sie bieten Alternativen, die alles, die

    13 Widersprche erzeugen eine Art nagender Unlust, die man als kognitive Dissonanz bezeichnet (Leon Festinger). http://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Dissonanz

  • Konzepte fr dich und mich

    35

    'uns' in Frage stellen knnten. Deshalb werden fremde bzw. neue Konzepte energisch, oft leidenschaftlich abgelehnt14.

    Sicherheit vor einer berraschung durch unwillkommene Kon-zepte bietet die stndige wechselseitige Konzeptbesttigung, der Abgleich mit unserer menschlichen Umgebung. In Wort und Schrift legen wir unsere 'Meinungen' dar und werben um Akzep-tanz bei anderen. Bei jedem Gesprch, immer wenn Menschen zusammenkommen, besonders aber wenn sie groe Ansammlun-gen bilden, geht es um Synchronisation, Konzeptabgleich, Kon-zeptbernahme. So kommt es zur Bildung von stabilen mensch-lichen Gemeinschaften, deren Gruppenidentitt auf den Besitz gemeinsamer Konzepte grndet.

    Unsere weltanschaulichen Konzepte scheinen uns schon wegen ihrer groen Verbreitung fraglos gltig zu sein und werden von ihren 'Trgern' energisch verteidigt. Tatschlich aber sind diese weltanschaulichen Konzepte nicht fraglos gltig, sondern in ihrer Ausbreitung rtlich und zeitlich begrenzt. Sie sind rtlich be-grenzt, weil sie in anderen Kulturen und Kontinenten anders sind, und sie sind zeitlich begrenzt, weil sie sich in der Vergangenheit stndig verndert haben und diese Wandlung fortsetzen werden. Ein ernsthafter Konzeptvergleich im Lngsschnitt und Quer-schnitt der Kulturen msste, wenn er tendenzfrei etwa aus der Vogelperspektive vorgenommen wird, interessante Einsichten zur Konzeptdynamik liefern. Der Vergleich wrde die vermutete Re-lativitt unserer Zeitgeistwahrheiten sicherlich besttigen. Eine Art Relativittslehre des Mentalen knnte so entstehen, eine neue

    14 Eine intensive Abwehr erfuhren neue Konzepte, wenn sie das tradierte Selbstverstnd-nis der Menschen in Frage stellten, wie 'unser Planet ist nicht das Zentrum des Kosmos' (Galilei), 'wir haben affenartige Vorfahren' (Darwin), 'unsere wahren Motive sind unbe-wusst' (Freud). Unser Selbstverstndnis ist auch betroffen von den philosophischen Kon-sequenzen der jngeren neurobiologischen Forschung. Eine Variante der philosophischen Abwehr bezeichnet die Aussage, dass das Gehirn sich erinnern, wissen, interpretieren, denken, glauben kann, als mereologischen Fehlschluss. Vielmehr sei es die Person bzw. die Psyche, die dies tue (siehe Bennett, M. R. and P. M. S. Hacker (2003). Philosophical foundations of neuroscience. Berlin, Blackwell Publishing.). Was aber ist eine 'Person', was ist die 'Psyche'?

  • Der philosophische Edelzwicker

    36

    Begrndung fr weltanschauliche Toleranz, die wir ja zur Prven-tion von Gewalt so dringend brauchen.

    Es gbe noch viel mehr zu sagen. Wir erleben uns als Kultur- und Gesellschaftswesen, eingebunden in Familie, Freundeskreis, Be-ruf, Volksgemeinschaft. Wir lieben unsere Partner und Kinder. Wir trachten nach Besitz, nach Status, nach Anerkennung durch unsere Mitmenschen. Wir erfreuen uns an Kunstwerken oder r-gern uns ber sie. Wir werden von gesellschaftlichen Zwngen, von vielerlei Verhaltenskodices in Schach gehalten. Wir sind neugierig. Wir handeln vernnftig oder irrational. Wir akzeptie-ren eine Ethik, praktizieren einen reziproken Altruismus oder wnschen, dass wir es tten. Wir haben unsere Wrde, sind stolz auf unsere 'Werte', verteidigen sie gegen fremde 'Werte'. Wir hn-gen einer Religion an oder tun es nicht, versuchen unserem Leben einen Sinn zu geben oder verzichten darauf. All das gehrt ja zum Menschsein. Und doch, dies alles sind 'Konzepte' in unserem Inneren. Bei jedem von ihnen knnen wir uns fragen: inwieweit sind wir dazu genetisch determiniert, warum akzeptieren wir, warum verndern wir, was ist es, das unsere unverwechselbare Persnlichkeit ausmacht?

    Stufenweg des Verstehens

    Das unbehagliche Gefhl der kognitive Dissonanz ist ein wichti-ger Antrieb fr unsere Suche nach Erklrungen und unseren le-benslangen Konzeptabgleich. Dieser erfolgt in einigen charakte-ristischen Stufen.

    Auf einer frhen Stufe des inneren Konzeptabgleichs reimen sich Kinder fantastische Deutungen magischer oder animistischer Na-tur zusammen. Das beginnt schon, bevor die Kinder sprechen ler-nen und Fragen stellen, in der Phase des vorbegrifflich-symbolischen Denkens.15 Die ganz originellen und subjektiven

    15 Maria Montessori, Kinder sind anders. Mnchen, dtv 1987. Jean Piaget, Einfhrung in die genetische Erkenntnistheorie. Frankfurt, Suhrkamp, 1973.

  • Konzepte fr dich und mich

    37

    Vorstellungen, die von affektivem Erleben begleitet sind, werden mit zunehmender Reifung des Gehirns durch Beobachtung der Realitt korrigiert oder, soweit sie keinen Anschluss an die Kon-zeptwelt der Erwachsenen haben, nach und nach durch Konzept-bernahme ersetzt und dann vergessen.

    Eine sptere Stufe des Konzeptabgleichs erzeugt bzw. bernimmt die tradierte Vorstellungswelt der Erwachsenen, die sogenannte Alltagspsychologie. Diese vorwissenschaftliche, kaum reflektierte Weltsicht grndet auf oder ist noch kompatibel mit dem uns ge-meinsamen natrlichen Empfinden bezglich unseres Selbst und seiner Rolle in der Welt (manchmal auch etwas ungenau common sense genannt). Dieses Empfinden wiederum ist geprgt von ei-nem epistemischen Filter16 der uns erlaubt, primr das zu wissen oder bewusst werden zu lassen, was wir wissen mssen. Das Re-sultat ist unkompliziert und fr den Alltag brauchbar. Erkenntnis heit jedoch, ber diese Benutzeroberflche hinauszublicken.

    Die verbreitete alltgliche Weltsicht stiftet Gruppenidentitt, ist fr viele Zwecke ausreichend und generell unverzichtbar. Nicht unbedingt an die wissenschaftliche Erkenntnis angeschlossen, enthlt die Alltagspsychologie jedoch auch Illusionen, Wider-sprche, Vorurteile, Unbewiesenes. Hierzu bemerkt Albert Ein-stein: Common sense is the collection of prejudices acquired by the age of 18. Karl Popper hlt das, was der Hausverstand an Er-kenntnistheorie enthlt fr uerst naiv und in allen ihren For-men vllig falsch. Er vergleicht den Alltagsverstand mit einem Schiff, das wir umbauen mssen, whrend wir uns mit ihm auf hoher See befinden. 17

    Eine weitere Stufe des Konzeptabgleichs verdanken wir der Wis-senschaft und Philosophie, dem Bemhen um ein widerspruch-freies, begrndbares und realistisches Weltbild. Das Resultat, we-der sicher noch endgltig, ist gleichwohl das Sicherste, was wir bisher erzielen konnten. 16 siehe Abschnitt 4. 17 Popper, K. R., Objective Knowledge. Oxford, Clarendon Press, 1972.

  • Der philosophische Edelzwicker

    38

    Aufklrung, Freiheit, Mndigkeit

    Instinkte sind Handlungsplne, die auf der Erfahrung der biologi-schen Art grnden, die vererbt werden und die fr das Einzelwe-sen festgeschrieben sind. Wir Menschen sind weniger von In-stinkten gebunden als es die Tiere sind. Herder nannte uns 'die ersten Freigelassenen der Schpfung'. Sind wir nun frei? Gewiss, statt nach den festgelegten und vererbten Handlungsplnen der Instinkte richten wir uns vorzugsweise nach etwas anderem, nach den flexibleren Handlungsplnen, die auf eigener, bewusster Er-fahrung grnden. Dazu kommen die vielen Handlungsmodelle, die wir als Konzepte von anderen bernehmen. Da nun die meis-ten unserer Modelle und Vorstellungen von Anderen bernom-men wurden, sind wir immer noch nicht frei. Wir bleiben dann, nach Kant, unmndig.

    Dass wir es bei der bernahme nicht bewenden lassen, dass wir uns emanzipieren mssen, ist die Botschaft der Aufklrung. Kant sagt: Aufklrung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

    Aufklrung heit also nicht, dass man die "Werte" der Aufklrung oder bestimmte andere Konzepte bernimmt. Es heit, dass man sich Konzepte kritisch erarbeitet. Nicht, dass man sie hat, son-dern dass man sie durch einen persnlichen kritischen Prozess gewonnen hat, dass man also wei, warum man sie hat, ist wich-tig.

    Zwar machen nur wenige diese Anstrengung des sapere aude, es sollte aber vor allem erlaubt sein, sie zu machen. In der Tradition des Westens ist 'Gedankenfreiheit' seit der Aufklrung selbstver-stndlich geworden oder wenigstens ein selbstverstndliches Ide-al. Jedoch hat eine solche Offenheit viele Feinde. Unter denen, die uns vorschreiben wollen, was wir denken drfen, finden sich vor allem politische Radikale und religise Extremisten, die zu-meist ultrakonservativ eingestellt sind. Im Namen ihrer Konzepte werden tglich terroristische bzw. kriminelle Akte begangen. An-gesichts dieser weltweiten Bedrohung kann die westliche Gedan-

  • Konzepte fr dich und mich

    39

    kenfreiheit noch keineswegs als selbstverstndliches Gut unserer Zivilisation betrachtet werden. Das Thema ist nach wie vor hoch-aktuell, wir kmpfen weiter. Die Menschheit wird erst dann mn-dig sein, wenn jeder Mensch mndig ist oder wenigstens sein drfte!

    Die Fessel der bernommenen Konzepte abschtteln und uns un-serer eigenen Mittel zur Erkenntnis bedienen! Vermutlich erfah-ren wir dann das Maximum an Freiheit, das sich innerhalb unserer biologischen Grenzen erreichen lsst. Frei sein in diesem Sinne heit, dass wir die Alternativen unserer Handlungsauswahl selbst erkennen und abwgen, um dann nach eigener Einsicht unter Be-rcksichtigung der mutmalichen Folgen zwischen ihnen zu ent-scheiden. Dabei flieen allerdings Hintergrundkonzepte ein, von denen viele im Zeitgeist begrndet sind. Das alles im Vorfeld ei-ner Handlung kritisch aufzuarbeiten, drfte wohl unmglich sein. Im Prinzip jedoch liegt eine letzte Entscheidung dann bei uns. So bleiben wir Kinder unserer Zeit und unserer Kultur und sind doch auf dem Wege zur Freiheit.

  • 3. Krnkungen und Heilungen

    Edelzwicker begrndet seine positive Einstellung zur empirischen Forschung. Erkenntnis kann zwar mit Desillusionierung einhergehen, doch nur so ge-winnen wir Bodenhaftung. Auch ist rckblickend das Neue viel differenzierter und auch emotionell bereichernder als das ltere, oft so zh verteidigte Konzept.

    Es ist kein Tier so klein, das nicht von dir ein Bruder knnte sein. Franois Villon oder Paul Zech zugeschrie-ben.

    Die Geschichte unserer Welterklrungen beginnt wohl mit der Steinzeit oder frher noch, mit dem inneren Weltmodell unserer tierischen Vorfahren. Man darf mit aller Vorsicht feststellen, dass Primaten wie die Waldschimpansen (Bonobos) und die echten Schimpansen einfache Probleme durch Probieren und offensicht-liches Grbeln zu lsen vermgen. Sie sind Tiere, die einfache Werkzeuge benutzen, in ihrer eigenen Weise kommunizieren, al-so einfache Symbole verstehen, die bitten, tuschen, necken und sich selbst im Spiegel erkennen. Solche Tiere werden auch eine innere Vorstellung von sich selbst und von ihrer nheren Umge-bung besitzen.1 Ihr Raum-Modell mag von der einfachst denkba- 1 Ein Tier, das sich im Raum bewegt und z.B. eine neue Abkrzung probiert, muss ein solches Raum-Modell haben. Affen, die sich in den Baumkronen hangelnd und schwin-gend fortbewegen, haben sicherlich das zugehrige detaillierte Modell ihrer dreidimensio-

  • Der philosophische Edelzwicker

    42

    ren Art sein, nmlich in einem allgemeinen Sinne egozentrisch oder zoozentrisch, mit dem Selbst des Tieres oder der engeren Gruppe seiner Artgenossen im Zentrum des vorgestellten Ge-schehens. Die Vermutung liegt nahe, dass sich aus dem Proto-Weltmodell solcher kaum schon kommunizierender Wesen das differenziertere aber zunchst noch anthropozentrische Weltmo-dell der sprachbegabten Urmenschen entwickelt hat. Ob mit zu-nehmender Differenzierung eine schrittweise Aufgabe der anthro-pozentrischen Zentralperspektive einher ging, das wird sich zei-gen. Die Menschen der Steinzeit, die sprechen konnten und uns vor 100,000 Jahren genetisch schon sehr hnlich waren, die das Feuer nutzten und Steinwerkzeuge herstellten, mssen ein Weltmodell gehabt haben, das ber Aspekte der rumlichen Orientierung weit hinaus ging, das erklrende Inhalte umfasste und deshalb als Weltbild bezeichnet werden kann. Dieses Weltbild konnte durch den sprachlichen Austausch von Konzepten eine schnellere Ent-wicklung erfahren und war schon durch Stammeskultur und Stammestradition geprgt. Die palolithischen Menschen konnten gewiss nicht warten bis eine rationale Wissenschaft entwickelt war, die ihnen die Welt zu deuten vermochte, die ihnen den Platz der Menschen im kosmi-schen Geschehen und den Sinn ihres Lebens erklren konnte. Vielmehr haben unsere Vorfahren mit ihren eigenen Mitteln den 'Sinn' gesucht, haben ihre 'Erklrungen', gefunden.2 Plausible Va-rianten solcher Konzepte haben sich durchgesetzt und erhielten durch die Tradition Wrde und Glaubwrdigkeit. Konzepte, die sich auf Grund ihrer immanenten Vorteile wie Er-klrungskraft, Eignung zur Problemlsung, Prestigegewinn, Ko-hrenz der Gruppe usw. in der menschlichen Gesellschaft verbrei-

    nalen Umgebung. Siehe S. 174 in Lorenz, K.., Die Rckseite des Spiegels. Mnchen, Pi-per, 1973. 2 Dieses Prinzip gilt wohl immer. Auch heute noch knnen Erklrungen nolens volens nur auf Grund des momentan verfgbaren (limitierten) Wissens vorgenommen werden.

  • Krnkungen und Heilungen

    43

    ten, nennt man mit R. Dawkins 'Meme'.3 Die geistig-religise bzw. die kulturelle Welt der Steinzeit muss eine Vielzahl solcher Meme enthalten haben, und da die Steinzeit sehr lang war, wer-den sie eine Evolution durchlaufen haben. Diejenigen von ihnen, die sich durchsetzen konnten, sind bis in die historische Zeit hin-ein tradiert worden. Deshalb knnen wir eine begrndete Vermu-tung zum Beispiel ber die wichtigsten religisen Ideen der Jung-steinzeitmenschen uern. Zu ihnen gehrten Seele-Geist-Atem, Wiedergeburt oder Auferstehung, Jenseits, Paradies und Vereh-rung der Ahnen. Dazu gehrten verschiedene Aspekte des Heili-gen-bersinnlichen, Krfte oder Wesen, die als lebensspendende Urmutter oder Vegetations- und Erdmacht, als Herr der Tiere, die als himmlische Lichtgestalt, gebunden an bestimmte Orte oder allgegenwrtig gedacht, mit Fruchtbarkeit, Strafe, Wohlwollen usw. verknpft waren. Wesen, in Einzelfllen vielleicht schon persnlich aufgefasst, die man mit Ritualen und Opfern beein-flussen konnte. Schlielich gehrten dazu Ursprungsmythen der verschiedensten Art. Diese Konzepte finden sich in wechselnder Kombination in sp-teren, geschichtlichen Religionsformen wieder, wo sie freilich zu neuen Sinngefgen verklammert wurden. Aufstieg, Ausbreitung, Rckzug und Erlschen solcher mobilen Konzepte oder Meme mag oftmals parallel zum Schicksal eines Volksstammes und spter einer Dynastie erfolgt sein. Dabei wird die schmerzliche Ablsung einer identittsstiftenden Meme durch eine andere zumeist Widerstand hervorgerufen haben. So ist es noch heute.

    Schmerzlich war und ist der Prozess der Ablsung aus zwei guten Grnden. Zum einen ist der riesige Komplex von Konzepten, den wir in uns tragen, eine labile Konstruktion. Wenn diese Konstruk-tion, mit der wir ja unsere Identitt verbinden, ins Wanken gert, dann mssen wir uns mit Recht gefhrdet fhlen. Zum zweiten 3 Dawkins, R. The selfish gene. Oxford, Oxford University Press, 1976. Delius, J. D. "Zur Naturgeschichte der Kultur: Gene und Meme." Zeitschrift fr Semiotik 12(4): 307-321, 1990. Blackmore, S. The meme machine. Oxford, Oxford University Press, 1999.

  • Der philosophische Edelzwicker

    44

    gibt es zahlreiche Konzepte, die anthropozentrische Illusionen darstellen. Sie sind geeignet, unser Selbstwertgefhl zu steigern, mssen aber mit fortschreitender Objektivierung unseres Weltbil-des als Illusionen erkannt und aufgegeben werden. Der damit verknpfte Verlust an Selbstwert ist schmerzlich, wenn die Desil-lusionierung auch, von einer hheren Warte betrachtet, einen Rei-fungsschritt darstellt.

    Die kosmologische Krnkung

    Unter den zahlreichen Krnkungen dieser Art sind drei von Sig-mund Freud herausgestellt worden.4 Die erste war die Aufgabe des geozentrischen Weltbildes der Antike. Die Erde, die Woh-nung der Menschen, war in der europischen Antike der Mittel-punkt des Kosmos5, also schon von der Lage her etwas Besonde-res. berdies war in der christlichen Welt die Erde schon deshalb im Zentrum des kosmischen Heilsgeschehens, weil Christus hier zu den Menschen herabgestiegen war. Durch die Erkenntnisse von Kopernikus, Keppler und Galilei aber wurde die Erde zu ei-nem Planeten unter anderen, die Sonne wurde das Zentrum, um das die Planeten gemeinsam kreisten.

    Das Erklrungspotential des neuen, des heliozentrischen Weltbil-des war gro, doch die damit verbundene Dezentrierung der sub-jektiven und der heilsgeschichtlichen Perspektive war schmerz-lich. So wurde Galilei von christlich-kirchlichen Institutionen stark bedrngt und gezwungen, seine Erkenntnis zu widerrufen. Erst Jahrhunderte spter fand ein Papst sich bereit, die helio-zentrische Lehre anzuerkennen.

    Die Dezentrierung ging weiter, denn heute wissen wir, dass unse-re Sonne nicht im Zentrum des Kosmos steht. Unser Sonnensys-

    4 Freud, S. (1917). Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. Gesammelte Werke, Band XII: 7-11. Frankfurt, 1947. In http://www.gkpn.de/vollmer.htm findet sich eine kritische Wr-digung. 5 Die heliozentrische Lehre des Aristarchos (3. Jh. v.C.) war nicht akzeptiert.

  • Krnkungen und Heilungen

    45

    tem befindet sich am Rande einer Galaxie, die selbst nur eine von ca. 100 Milliarden Galaxien ist, von denen jede im Mittel etwa 100 Milliarden Sonnen oder Sterne hat. So scheint unsere Positi-on im Kosmos in keiner Weise bemerkenswert zu sein. Doch dass wir die Lage unseres Ortes schlielich kennen und akzeptieren lernten, das ist schon bemerkenswert. Unsere Spezies lebt nicht im Zentrum des Kosmos, sie ist jedoch vorlufig die einzige Spe-zies unseres Planeten, die dies wei und ihr Wissen begrnden kann. Was nun die Schnheit des antiken Weltbildes anlangt, mit seinen bunten Sphren und Sphrenklngen, so ist diese Schn-heit versunken. Doch was wir dafr bekommen haben, das zeigt schon ein Blick durch ein Fernrohr. Was wir da sehen knnen und was die modernen Teleskope und Messeinrichtungen ergnzen, das erscheint uns heute unvergleichlich viel detaillierter, schner und erhabener als das antike Konzept, das wir unter dem Druck der Fakten aufgeben mussten.

    Die zoogenetische Krnkung

    Die zweite Krnkung, die Freud erwhnt, betrifft die Abstam-mung des Menschen. Im europischen Mittelalter galt es als selbstverstndlich, dass Gott den ersten Menschen als fertigen Menschen und zum Bilde Gottes geschaffen hat. Der Zeitpunkt dieser Schpfung, das Alter der Welt, wurde mit einigen tausend Jahren veranschlagt. Dieses jdisch-christliche Konzept stand im Widerspruch zu der Evidenz, die im Boden unter den Fen der Menschen auf ihre Entdeckung wartete. Die Schichten des Erd-bodens sind an vielen Stellen chronologisch geordnet. Datierun-gen der tieferen, alten Schichten enthllten ein Alter von zig Millionen von Jahren. Versteinerte Knochen in den Schichten zeigen, welche Tiere in den verschiedenen Perioden gelebt haben. Die Datierung von Homo sapiens Resten gibt den frhesten Relikten unserer Art ein Alter von ca. 200,000 Jahren. Die Fossilien vieler anderer Lebewesen sind aber wesentlich lter. So sind Affenknochen bis zu 20 Millionen Jahre alt, Knochen der frhen Suger 50 Millionen Jahre.

  • Der philosophische Edelzwicker

    46

    Schon bevor diese Fakten nach und nach ausgegraben wurden, hat Charles Darwin seine Abstammungslehre konzipiert.6 Danach sind Tier und Pflanzenarten neu entstanden, solange es Leben auf der Erde gab. Die Regeln, nach denen die Arten aus einander ent-standen, sind einfach. In den Genen finden an zuflligen Orten spontane nderungen statt, heute Mutationen genannt. Diese knnen zunchst konsequenzlos bleiben oder nur kleine Vor- oder Nachteile mit sich bringen. ndert sich aber die Umwelt, so kann sich eine solche vorausgegangene Mutation eines Gens als Ausle-sevorteil erweisen, als Anpassung. Die Trger dieser Mutation haben dann grere berlebenschancen und mehr Nachkommen.

    Jener groe unbekannte Beweger, der die Strategie der Mutation und Selektion erdacht hat, hat ein schwieriges Problem elegant gelst. In modernen Formulierungen klingt das Problem und seine Lsung etwa so:

    Unsere Welt, der Kosmos, ist ein deterministisch-chaotisches komplexes nichtlineares System. Seine Ereignisse sind multikau-sal vernetzt. Dadurch gewinnt das System Stabilitt, Vorhersagen jedoch werden schwierig bis unmglich. Unvermutete nderun-gen aller Art sind die Regel, eine Ruhelage kann nie garantiert werden.

    nderungen aller Art sind fatal fr Lebewesen, die sich an ihre alte Umwelt angepasst haben. Wie knnen sie schnell genug der neuen Situation gerecht werden? Die Neuanpassung muss recht-zeitig erfolgen, am besten noch bevor die nderung der Umwelt eintritt. Aber wie macht man das, wenn man nicht wei, welche nderung kommen wird? Nun, die Natur hat es herausgefunden. Man muss dafr sorgen, dass in der Population einer Spezies die wichtigen Eigenschaften variiert vorliegen. Tritt nun eine Um-weltnderung ein, so werden sich in der Population Artgenossen finden, die durch diese Umweltnderung einen Vorteil bekom-

    6 On the origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life erschien 1859. Die 1. Auflage von 1250 Exemplaren war in-nerhalb eines Tages ausverkauft.

  • Krnkungen und Heilungen

    47

    men, weil sie an die Umweltnderung vorangepasst sind. Die Vorangepassten knnen durch ihr berleben das berleben der Art sicherstellen.

    Man sieht also: die Mutationen treten zwar ungezielt auf (aber ja, Gott wrfelt), aber dieses Wrfelspiel, ein geschicktes Ausnut-zen des spontanen Verlustes an Ordnung (des Entropiezuwach-ses), ist ein unverzichtbarer Teil der berlebensstrategie. Man sieht auch, die Art soll berleben, auf die Art kommt es an, nicht auf das Individuum.7 Hiervon ausgehend kann man jene letzten Fragen aufwerfen: Was ist der Sinn des Lebens? Warum mssen wir sterben? Sie erhalten nun ihre der Natur abgelauschten Ant-worten.

    Die Erklrungskraft der Darwinschen Evolutionslehre ist gro und die Lehre wurde von der wissenschaftlichen Welt schnell an-erkannt. Ihre Rezeption bei Kirche und Laienpublikum war je-doch schlecht. Man empfand es als unwrdig und grotesk, dass wir vom Affen abstammen sollen, man zog es vor, der Bibel zu glauben, dass der Mensch als Krone der Schpfung am siebten Tag erschaffen wurde. Zu Gottes Ebenbild wurde er erschaffen, das klang wrdevoller als eine Abstammung aus niederen Le-bensformen. Noch heute wird die Evolutionslehre, die unter Wis-senschaftlern nicht umstritten ist, von groen Menschengruppen abgelehnt. Nun sollte man meinen, dass man zumindest die Beo-bachtungen und Fakten, die der Lehre zugrunde liegen, nicht ab-lehnen kann. Aber doch, man glaubt einfach, was einem in den Kram passt. Dies kommentierte Thomas Huxley schon 1860 so: Lieber stamme ich vom Affen ab als von einem [] Mann, der seine Gaben [] in den Dienst von Vorurteilen und Irrtmern stellt. 8

    7 Die Rolle des Individuums wird allerdings grer, wenn wir hherentwickelte Tiere ins Auge fassen, die schon mit Bewusstsein und Vernunft begabt sind. 8 I would rather be descended from an ape than from a cultivated man who used his gifts of culture and eloquence in the service of prejudice and falsehood., sagte (sinngem) Thomas H. Huxley 1860 zu Samuel Wilberforce, Bischof von Oxford, der gegen Darwins Theorie argumentierte.

  • Der philosophische Edelzwicker

    48

    Doch nicht nur hinsichtlich unserer Abstammung war unser Ver-hltnis zu Tieren von Wunschdenken und Illusionen bestimmt. Die Forschung allerdings hat gezeigt, dass Tiere und Menschen aus dem gleichen Stoff, aus den gleichen Atomen bestehen. Fr eine zustzliche feinstoffliche Natur des Menschen, die etwa un-seren Geist reprsentiert, gibt es keinen Anhalt. Es gibt auch kei-ne Proteine, die etwa nur der Mensch htte und die seine Sonder-stellung erklrten. Auch die Zahl unserer Gene ist mit ca. 30,000 im blichen Bereich. Schlielich haben wir auch kein Organ, das Primaten oder Suger nicht auch htten. Eines unserer Organe ist allerdings besonders gro, die Hirnrinde. Und doch gibt es andere Suger, die eine noch grere haben.

    Man erkennt uns eher an unseren Leistungen. Wir sind gut in der sprachlichen Kommunikation mit Artgenossen und dem Aus-tausch von Konzepten. Wir erkennen uns selbst im Spiegel. Wir knnen mehrfach indirekte Bezge im Kopf jonglieren (A1 sagt, dass A2 sagt, dass A3 sagt, ... dass es regnet). Was wir aber nicht im Kopf jonglieren knnen, das lassen wir durch unsere Automa-ten erledigen. Wir bauen Werkzeuge aller Art. Wir betreiben seit Jahrhunderten Projekte, an denen Menschen aller Kontinente ge-meinsam arbeiten: Kunst und Wissenschaft und Philosophie. Sie ermglichen uns mit wachsendem Erfolg, die Welt um uns herum zu erforschen und zu verstehen. Wir bemhen uns um Frieden und Gerechtigkeit...

    Statt uns nun ber die Leistungen unserer Art zu definieren, ging die Tendenz jedoch dahin, den Tieren gewisse Eigenschaften ab-zusprechen, die dann dem Menschen allein eigen waren und ihn zu etwas Besonderem machten. So hatten Tiere kein Schmerz-empfinden, keine Sprache, keine Seele, keinen Verstand, kein Bewusstsein. Die neuro-wissenschaftliche Position ist anders. Schmerz, Sprache, Seele, Verstand, Bewusstsein sind alles Leis-tungen des Kortex oder haben doch Leistungen des Kortex zur Voraussetzung. In dem Mae, wie Tiere eine Hirnrinde haben, mgen sie durchaus z.B. eine Form von Bewusstsein entwickeln. Was ist so schlimm daran? Der Schritt von unserem Homo men-sura-Chauvinismus zu einer realistischen und vielleicht auch be-

  • Krnkungen und Heilungen

    49

    wundernden Haltung, die den Tieren ihre Wrde und Rechte lsst, ist nur teilweise vollzogen.

    Wer aber die Augen aufmacht, wird staunen ber unsere Brder, die Tiere, ber ihre Sicherheit, ihre Sprachen, ihre physischen Leistungen, ihr Vertrauen, ihre Liebe; der wird staunen ber das Wunder des Lebens.

    Die neuro-mentale Krnkung

    Als dritte der sogenannten Krnkungen der Menschheit fhrt Sigmund Freud das Hauptergebnis seiner eigenen Forschungen an: unsere Motive sind zum groen Teil unbewusst, wir sind also nicht Herr im eigenen Haus. Die Rezeption dieser Erkenntnis reichte von verwundertem Kopfschtteln bis zu Ablehnung und Spott und noch heute sind es wohl nur Wenige, die das Freudsche Resultat als Tatsache anerkennen. Hier soll die Frage unserer un-bewussten Motive in einen greren Zusammenhang gestellt werden, der sich aus der modernen Hirnforschung ergibt.

    Diese Forschungsrichtung von Neurobiologie und Kognitionswis-senschaft unterwirft unser Konzept von uns selbst einer kritischen Prfung und bedient sich dabei der objektiven experimentellen Methoden der Naturforschung. Philosophen vergangener Zeiten, die dem Experiment zugeneigt waren und von denen einige das Gehirn in ihre berlegungen einbezogen haben, genannt seien pars pro toto Aristoteles, Descartes, Bacon, Locke, Hobbes, Hu-me und Kant, wren zweifellos fasziniert von der Khnheit und Konsequenz dieses Unternehmens.

    Der Ansatz der Kognitionsforschung ist kein philosophischer, er beruht nicht berwiegend auf Nachdenken, er wird aber doch von vielen zeitgenssischen Philosophen aufmerksam, teilweise auch argwhnisch begleitet. Die kritische Debatte begann um 1950, als man die Hardware/Software-Analogie des Leib/Seele-Problems formulierte. ber einige Zwischenstadien kam die Kognitions-forschung dann zu ihrer heute verbreiteten Haltung: Spekulation bringt uns nicht weiter, es ist besser, die Ergebnisse der laufenden

  • Der philosophische Edelzwicker

    50

    empirischen Forschung in Ruhe abzuwarten. Durch sie knnten sich einige Vorstellungen der sogenannten Alltagspsychologie als problematisch oder berflssig erweisen. Sie wrden dann nach und nach durch fundierte Konzepte ersetzt oder ganz eliminiert.

    Da nun die neurobiologische Forschung aus der Perspektive der dritten Person arbeitet, knnen die Resultate unserer subjektive Innendimension nicht gerecht werden, sondern mssen im weite-ren Sinne materiell-mechanistisch bleiben. Deshalb ordnet man die abwartende Haltung dem Materialismus zu und nennt sie (et-was vorschnell) auch den Eliminativen Materialismus.9 Diese Be-zeichnung wiederum ruft Abwehr hervor: nun scheint es, als dro-he ein aggressiver Materialismus unsere geistige Welt doch noch zu eliminieren. Die kritische Debatte dauert an, ihre Themen sind im Wesentlichen die von Kapitel 4, 5, 7, 8 und 9 dieses Buches.

    Kritische Philosophen weisen gelegentlich auf das hin, was das Gehirn nicht kann. Es knne nicht wissen, interpretieren, denken, glauben oder sich erinnern, dies seien vielmehr mentale Leis-tungen.

    Aber wissen wir denn schon, was das Gehirn kann? Und knnen wir sicher sein, dass Gehirn und Geist derart getrennte Welten sind? Hier wird doch von der Kritik das Resultat vorweggenom-men, hier wird das ngstlich festgeschrieben, was ja erst unter-sucht werden soll.

    Andere fhren aus, dass die Person, der Mensch, eine Ganzheit sei. Das Gehirn allein knne weder wissen, noch interpretieren, denken, glauben oder sich erinnern. Wer das behaupte, vollziehe eine falsche Zuordnung, er verwechsele die Teile mit dem Gan-zen. Diesen Fehler nennt man den mereologischen Fehlschluss.10

    9 Churchland, P. (1981). "Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes." Jour-nal of Philosophy: 67-90. Churchland, P. S. (1986). Neurophilosophy: Towards a unified science of the mind-brain. Cambridge, MA, MIT Press. 10 siehe Bennett, M. R. and P. M. S. Hacker. Philosophical foundations of neuroscience. Berlin, Blackwell Publishing, 2003.

  • Krnkungen und Heilungen

    51

    Was ist ein Fehler? Ein Versto gegen die gltigen Regeln. Diese werden im Vorfeld verbindlich festgelegt und natrlich drfen sie das Ergebnis der Untersuchung nicht vorwegnehmen. Ob das Ge-hirn Leistungen vollbringen kann, die oft mental genannt werden, oder Leistungen, die gemeinhin der Ganzheit von Krper und Geist zugeschrieben werden, das soll ja gerade untersucht werden. Das Regelwerk darf darber keine Aussagen machen.

    Hierzu ein Beispiel. Der epistemische oder Perspektivendualis-mus ist ein Konzept, dem zufolge krperliche Zusammenhnge objektiv studiert werden knnen, mentale Inhalte aber nur subjek-tiv in Erscheinung treten. Sie sind, wenn man so will, nur einem Ich, der ersten Person, zugnglich. Dies Konzept wollen wir ein-mal als Lehrsatz voraussetzen. Wenn nun aber ein Kognitionsfor-scher zeigen knnte, dass er gleichwohl mit der dritten Perspekti-ve mentale Inhalte aus einem Gehirn ablesen kann, dann wre das kein epistemischer Fehler. Vielmehr msste dann der epistemi-sche Dualismus als Irrtum aufgegeben werden. Philosophie ist auch eine Sammlung von Konzepten und um so brauchbarer, je realistischer die Konzepte sind.

    Die Berufung auf die menschliche Ganzheit ist ein interessantes Phnomen. Um es zu beleuchten, kann man die Leitfragen der a-nalytischen Philosophie stellen: was ist damit gemeint und woher wissen wir davon? Ganzheit knnte alle bewussten und unbe-wussten Vorgnge umfassen. Gemeint ist aber zumeist die Einheit von Krper und Geist oder von Krper, Geist und Seele. Da wir nun nicht so genau wissen, was Geist bedeutet, von der Seele ganz zu schweigen, wirkt der Ganzheitsbegriff etwas diffus. Und woher kommt er?

    Er kommt aus der Alltagspsychologie (folk psychology), jener vorwissenschaftlichen (oder vorphilosophischen), zum Teil intui-tiven Weltsicht, die mehr oder weniger Allgemeingut ist. Gele-gentlich wird sie auch, nicht ganz zutreffend, common sense ge-nannt. Diese Weltsicht, wie in einem anderen Kapitel dargelegt, harmoniert mit dem, was man unsere natrliche Bewusstseins-grenze oder Benutzeroberflche nennen knnte. Es ist dies ein

  • Der philosophische Edelzwicker

    52

    notwendiger epistemischer Filter, der uns erlaubt, das zu wissen, was wir wissen mssen. Erkenntnis heit jedoch, ber die Benut-zeroberflche hinauszublicken.

    Es ist sicherlich eine Tatsache, dass ein Mensch sich spontan als Ich oder Selbst erlebt, als erinnernde, fhlende, denkende und handelnde Einheit.11 Solche mentale Autorschaft gehrt zu dem uns gemeinsamen Empfinden, zu unseren Selbsterfahrungen und allgemein akzeptierten Konzepten, eben zur Alltagspsychologie. Ist die Alltagspsychologie eine verlssliche Quelle der Erkennt-nis? Wir erinnern uns: dass die Erde eine Scheibe im Zentrum des Universums ist, dass Gott uns ohne tierische Vorfahren geschaf-fen hat, dass die Motive unserer Handlungen uns bewusst werden, dass das Herz der Sitz der Gefhle ist, das alles war auch einmal Allgemeingut. Diese Konzepte mussten jedoch als irrefhrend aufgegeben werden. Die Pflege des gemeinsamen alltglichen Empfindens mag unsere zwischenmenschliche Harmonie frdern, dieses Empfinden ist aber ein schlechter Ratgeber fr den, der sich um Bodenhaftung bemht.

    Gleichwohl schreibt Jrgen Habermas12 ber eine Folgerung aus der Kognitionsforschung: ...nicht die erste naturwissenschaftli-che Theorie, die am common sense abprallt. Richtig, fr den common sense ist Forschung natrlich dann glaubwrdig, wenn sie den common sense besttigt, sonst prallt sie ab! Und zu jenen Theorien, die auch im ersten Anlauf abgeprallt sind, gehrt im-merhin das heliozentrische Weltbild und die Evolutionslehre. Man sieht, der Wert einer Theorie wird nicht unbedingt offenbar, wenn man ihre ffentliche Rezeption betrachtet.

    Doch zurck zur Frage der Ganzheit. Eigentlich wissen wir nicht, ob der Mensch eine Ganzheit von Krper, Geist und Seele ist.

    11 Es ist richtig, dass wir dies empfinden, aber empfinden wir das Richtige? (fragt Alois Edelzwicker) 12 In seinem Aufsatz zum Thema Willensfreiheit: Habermas, J. Um uns als Selbsttuscher zu entlarven, bedarf es mehr. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 267, S. 35, 15. Nov. 2004.

  • Krnkungen und Heilungen

    53

    Das hngt ja davon ab, was wir unter Geist und Seele verstehen wollen, die Meinungen hierzu sind alles andere als einheitlich. Es ist aber sicher, dass sich jeder von uns als Ganzheit oder Einheit empfindet. Deshalb knnte man sich schnell darauf einigen, dass es bei der Ganzheit um eine Frage unseres Empfindens geht: dass zwar die Beine sich (unter Mithilfe des Gehirns) in den Knien beugen und die Haut (unter Mithilfe des Gehirns) juckt, die Per-son aber empfindet: Ich mache Kniebeugen und mich juckt es. Die Person bernimmt so die Autorschaft fr alle Leistungen der Organe ihres Krpers, soweit diese Leistungen ihr bewusst wer-den knnen.13

    Nun gibt es aber Leistungen, die nicht einem einzelnen Organ zu-zurechnen sind, sondern dem System. Der Blutdruck mag als Beispiel dienen. Er entsteht, wenn die linke Herzkammer das Blut gegen den Strmungswiderstand der Arteriolen in die Aorta drckt. Kein einzelnes Organ erzeugt den Blutdruck, dieser ent-steht vielmehr durch das Zusammenspiel mehrerer Organe als Systemleistung. Hier wre es in der Tat ein mereologischer Feh-ler, zu behaupten, das Herz allein sei verantwortlich. Im Falle von Erinnern, Denken, Empfinden usw. ist zu prfen, ob Organe au-erhalb des Gehirns zu diesen Leistungen beitragen. Wenn nicht, kann man ruhig sagen, das Gehirn denkt, erinnert, empfindet... 13 Tatschlich aber sind es die Organe, die diese Leistungen erbringen. Man kann doch die Organe eines verunglckten, hirntoten Menschen am Leben erhalten und sie vollbringen ihre Leistungen auch noch in diesem Zustand.

    Man knnte die Ganzheit des Menschen versuchsweise defi-nieren als die Bndelung der Autorschaft im Selbst. Diese Bndelung ist aktiv gedacht und sollte uns nicht den Blick dafr verstellen, dass die Organe die Leistungen vollbringen, deren Autorschaft im Selbst gebndelt wird.

  • Der philosophische Edelzwicker

    54

    Doch halt, sind Denken, Erinnern und Empfinden nicht berhaupt mentale Leistungen? Sie gehren doch zu unseren Binnenerleb-nissen, zur Perspektive der ersten Person! Oder aber: Sind sie nicht Leistungen der Leib-Seele-Ganzheit? Nun, das eben ist Ge-genstand der Kognitionsforschung. Wir wissen ja noch nicht, was mental und Ganzheit im funktionellen Sinne bedeutet. Sind diese Begriffe anschlussfhig, sind sie hilfreich oder sind sie viel-leicht berflssig? Vielleicht bernehmen wir auch beim Denken, Erinnern, Empfinden mental die Autorschaft fr etwas, was ei-gentlich vom Gehirn geleistet wird. Deshalb sollten wir nicht ein-engende Sprachregelungen einfhren, die Konzepte betreffen, die gerade auf dem Prfstand sind.

    Von dieser Debatte wenig beeindruckt setzt die neurobiologische Forschung ihre Untersuchungen fort. Sie bemht sich um Ergeb-nisoffenheit. Das Mentale, unser Konzept des menschlichen Geis-tes, steht auf dem Prfstand. Wird unser Weltbild ins Wanken ge-raten, mssen wir weitere Krnkungen frchten? Nein, die soge-nannten Krnkungen und Desillusionierungen sind Reifungs-schritte. Gerade auch die uns selbst betreffenden Illusionen ms-sen wir abstreifen. Nur so gewinnen wir Bodenhaftung.

    Und was bekommen wir fr unsere Illusionen? Nicht den Mate-rialismus, nicht ein seelenloses, Ideale leugnendes, Geist und Kultur eliminierendes und (man ahnt es schon) profitgieriges Schreckgespenst! Wir bekommen vielmehr Erkenntnis und Orien-tierung, Einsicht in ein wunderbares Neuronensystem, vielleicht das komplexeste System, das in unserem Sonnensystem zu finden ist. Ein System, das wir kaum erst benennen knnen, obwohl es uns doch zutiefst angeht, ein System, das Geist und Materie als Einheit darstellt, in dem wir unsere Identitt finden, eine rationale Basis fr unsere Philosophie. Wer will da noch zgern, haben wir etwas Courage!

  • Krnkungen und Heilungen

    55

  • 4. Die natrliche Benutzeroberflche

    Das Mentale, der menschliche Geist, ist unsere subjektiv erlebte Innendimension. Versuche, dieses Erleben zu objektivieren, standen immer wieder im Brennpunkt des philosophischen Interesses. Hier versucht Edelzwicker in nur 10 kurzen Abschnitten das Mentale begrifflich einzuordnen. Damit formu-liert er zugleich eine Kurzfassung seines Neuro-Realismus.

    "Neque cogito, neque sum." Zen-Meister Byung-Chul Han "Willst du nicht den Erdboden hinter dir lassen und mit dem Geiste auf dieses alles blicken?" Seneca, de brevitate vitae.

    Das mit der Frage nach dem Mentalen aufgeworfene 'Leib-Seele Thema' (auch das sich anschlieende 'Krper-Geist Interaktions-problem') berhrt das berlieferte Selbstverstndnis der Men-schen. Um so mehr Grund, diese Frage zu bearbeiten. Was, also, ist das Mentale, wenn es aus einer objektiven Position, wenn es von auen betrachtet wird?

    Bisher ist es nicht gelungen, der Natur die Antwort abzulauschen. Liegt es an uns, die notwendige Grenzziehung vorzunehmen? Be-vor wir eine solche Entscheidung treffen, sollten wir uns einige wichtige Fakten ins Gedchtnis zurckrufen.

  • Der philosophische Edelzwicker

    58

    1. Leben

    Wodurch unterscheiden sich Lebewesen von der nichtbelebten Materie? Fundamental dadurch, dass Lebewesen bestimmte, sie selbst betreffende Informationen in Form des Genoms mit sich tragen, nmlich ihre vollstndige Anleitung zur autopoietischen Selbstassemblierung.1 Man knnte verkrzt sagen:

    Lebewesen sind Materie mit Information (Bauanleitung)

    Die Information, der Text des Genoms, liegt in einem bestimmten Code vor und ist immer an einen materiellen Trger, die Erbsub-stanz, gebunden, ist in der Struktur oder Organisation der Erbsub-stanz enthalten. Information findet man ja generell nicht in abs-trakter, trgerloser Form.2 Information, auch die genetische In-formation, kann aber von einem Trger zu einem anderen Trger kopiert werden. Vergleicht man nun zwei Komplexe aus Trger und Information, so ist das ihnen Gemeinsame die Information. Information, Text, Inhalt sind also als Abstrakta einzuordnen.

    In spteren Abschnitten wird das alltagspsychologische Konzept der Ganzheit von Krper und Geist thematisiert und mit den Komplexen von Trger und Inhalt verglichen werden. Schon hier aber halten wir fest, dass generell Information nicht von ihrem materiellen Trger getrennt vorkommt. Auch beim genetischen Code finden wir ja einen nicht auflsbaren Komplex des Konkre-tums Erbsubstanz und des Abstraktums genetische Information.3 Umkopieren der Information ist mglich, Trennung von der Ma-

    1 Die anderen Unterschiede von lebender und nichtbelebter Materie sind Konsequenzen dieser besonderen Bauanleitung. 2 Siehe auch Landauer, R. (1987). "Computation: A Fundamental Physical View." Physica Scripta 35: 88-95. Landauer, R. (1996). "The Physical Nature of Information." Physics Letter A 217: 188. 3 Man knnte einwenden, dass das Abstraktum Information nur im mentalen Bereich des Menschen zu erwarten ist, nicht aber unter den Konkreta des physikalischen Universums. Dieser Einwand streift schon das Hauptthema dieser Vortrge. Er sei zunchst dahinge-stellt. Bemerkenswert ist dann aber, dass genetische Information bzw. genetisches Material seit Milliarden von Jahren funktioniert hat, lange bevor Menschen auf der Erde erschienen.

  • Die Benutzeroberflche

    59

    terie nicht. Der Komplex lsst an eine Ganzheit denken. Es ist ei-ne Ganzheit, die wir nicht postulieren mssen, sondern die wir in der Natur finden.

    2. Gehirn als Konkretum

    Das menschliche Gehirn ist ein sehr komplexes Organ, aber doch ein Organ. Wie sein Trger, ein Mensch, steht es in dem Zusam-menhang der biologischen Evolution. Es enthlt Zellen, kann rei-fen und altern und, soweit wir wissen, unterliegt es ganz allge-mein gesehen den Naturgesetzen. Man sagt, "das Gehirn nimmt Teil an der geschlossenen Kausalitt des Universums". Das heit, die Regel "keine physikalische Wirkung ohne physikalische Ur-sache" gilt auch hier. Wie andere Objekte des klassisch-physika-lischen Universums ist das Gehirn oder Neuronensystem ontolo-gisch ein Konkretum, d.h. es ist immer rumlich und zeitlich ein-zuordnen [siehe 1, 2].

    3. Kommunikation

    Die langen Fortstze (Neuriten, Axone) der Nervenzellen sind fr Kommunikation geschaffen. Im Gehirn sind ungezhlte km von Neuritenkabel verlegt, in einem mm3 Kortex allein 4 km. Und die sind nicht zur Zierde da, sie leiten die Nervenimpulse ber Dis-tanzen von Millimetern bis Metern, mit Raten bis zu 1000 pro Sekunde, mit Geschwindigkeiten bis zu 100 Metern pro Sekunde, jeder Impuls ein Argument fr die kommunikative und computa-torische Leistung des Neuronensystems. Die 'weie Substanz' des menschlichen Gehirns enthlt an die 135,000 km 'verlegtes Kabel' [3]. Lange Axone sind vor allem in den Kommissuren zu finden, in Kabelstrngen, die Teile der Grohirnrinde miteinander ver-binden. In Kabelstrngen, somit, die bentigt werden, damit die verschiedenen Module der Hirnrinde miteinander kommunizieren knnen.

  • Der philosophische Edelzwicker

    60

    4. Inhalte

    Kommunikationsvorgnge kommunizieren Information und In-formation hat generell eine semantische (inhaltliche) Dimension [6, 7]. Ein Inhalt wird entweder explizit kodiert bertragen (direk-te Methode) oder es wird nur eine Referenz bertragen (indirekte oder implizite Methode), die im Empfnger einen zugeordneten Inhalt aufruft.4 Schon in dem einfachen Fall der Kommunikation ber eine einzelne Nervenfaser finden wir die beiden Methoden in Kom