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Der Prophet aus der Wueste

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MADDRAX

DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE

Band 173

Der Prophet aus der Wüste

von Susan Schwartz

So sah ich ihn kommen, und so fing es an. Unauslöschlich hat sich mir diese Vision ins Gedächtnis gebrannt, seit ich ihn aus der Wüste kommen sah, und jedes Mal schaudert mich von neuem. Sieh hin! Seine Gestalt ist verhüllt, doch ich spüre den brennenden Blick seiner machthungrigen Augen durchdringend bis in meine Seele. Roter Sand wirbelt auf, als er über eine Düne herabkommt. Sein Gang ist unregelmäßig, dennoch kraftvoll. Hinter ihm geht eine sich im Sterben aufblähende Sonne in einem Flammenmeer unter, und ich höre das Wispern des Windes. Es ist das Lied der Trauer. Ich muss bald gehen, und ich hinterlasse dir ein schweres Erbe. Ich habe noch viel zu tun, damit du genug Kraft hast, mein Schüler, der du nun Meister bist. Sei mir stets nahe. Windtänzer fuhr aus dem Schlaf hoch und griff sich ans Herz.

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WAS BISHER GESCHAH

Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich für Jahrhunderte um den Planeten. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist – bis auf die Bunkermenschen – unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch eine Art Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, mit dem Kometen – dem Wandler – zur Erde gelangten. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Als die Daa'muren damit beginnen, Atomwaffen zu horten, kommt es zum Krieg, den keine Seite für sich entscheiden kann …

Durch den andauernden Impuls des Wandlers, der alle Technik lahm legt, kann Matt Drax nicht zur Erde zurück. Auf dem Mond trifft er auf die Nachfahren einer Mars-Expedition des Jahres 2009! Als sie den Heimflug antreten, nehmen sie ihn mit — doch auf dem

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terraformten Mars fürchtet man das barbarische Erbe der Erde. Es kommt zu den ersten Übergriffen zwischen Städtern und Waldbewohnern seit dem Bruderkrieg vor 260 Erdjahren. Da erweist sich Matt als unverzichtbar: Er allein kann die Schrift der Hydree – der vor 3,5 Mrd. Jahren verschwundenen Marsrasse – entschlüsseln. Sie sind die Vorfahren der Hydriten, des amphibischen Volkes, das seit Urzeiten in den irdischen Meeren lebt! Matt wird das Studium der Schriften gestattet; man erhofft sich auch die Enträtselung eines mysteriösen Strahls, der seit damals auf die Erde gerichtet ist. In einen Maschinenpark der Alten entdeckt man einen gesprungenen »Verteilerkristall«, der einst die ganze Anlage versorgte; nun stauen sich die Energien aus dem Kern auf und führen zu Marsbeben. Eine Expedition findet in einem fernen Canyon einen Ersatz-Kristall, muss sich aber gegen mutierte Waldleute wehren, die dort hausen und nun zunehmend Einfluss auf die Marsgesellschaft nehmen. Nach Einsetzen des Kristalls erwacht die Anlage zu neuem Leben und offenbart einen Archivraum – in dem Matt Geist durch die Zeiten geschleudert wird, bis er im Bewusstsein des jungen Hydree Gilam'esh erwacht. Gemeinsam mit ihm sucht er nach einem Ausweg vom sterbenden Mars, wird aber erst nach 80 Jahren fündig, als ein Hydree-Volk im Krieg eine Geheimwaffe einsetzt, die dem Strahl ähnelt. Man entwickelt das so genannte Tunnelfeld zu einem Transportsystem weiter – das den Exodus der friedlichen Marsvölker auf eine Erde ca. 50.000 Jahre vor dem Homo

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sapiens ermöglicht. Gilam'esh aber stirbt vor dem Eintritt in den Strahl – und Matts Geist kehrt in seinen Körper und seine Zeit zurück, wo nur Minuten vergangen sind…

* * *

Prolog: Heute Matthew Drax kauerte im Schatten des Felsens, das

Gewehr im Anschlag. Die hellen quarzhaltigen Felsen reflektierten das Sonnenlicht so intensiv, dass es ihm feinen Schweiß auf die Stirn trieb. Matt war gar nicht mehr daran gewöhnt, da es auf dem Mars zwar meistens sonnig, aber kühl war, und er wischte sich unangenehm berührt die Stirn ab, griff nach der Wasserflasche neben sich und nahm einen tiefen Zug. Der ständige Durst war manchmal ermüdend. Gilam'esh hätte es hier bestimmt nicht mehr sehr gemütlich gefunden, dachte er.

Immerhin waren die Kopfschmerzen durch die allmähliche Anpassung an die niedrige Schwerkraft und die dünne Atmosphäre geringer geworden und einem dumpfen Druckgefühl im Hinterkopf gewichen, das Matt kaum mehr wahrnahm. Er stellte die Flasche ab und rieb sich die Augen. Dem hauchfeinen Staub entkam man nie, er verfolgte einen selbst bis ins Innere der hoch technisierten Wohnanlagen. Der Staub lagerte sich überall ab, in der Kleidung, den Möbeln, auf der Haut. Bevorzugt in den Augenwinkeln, fand Matt.

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»Müde?« Chandra kauerte sich neben ihn und reichte ihm einen Energieriegel, den Matt dankbar nahm.

»Es geht schon«, sagte er geistesabwesend. »So siehst du nicht gerade aus«, erwiderte sie. »Lass

dich endlich ablösen. Wenn sich etwas Wichtiges tut, erfährst du es rechtzeitig.«

Matt schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich könnte mich jetzt nicht entspannen, und schon gar nicht schlafen.«

Chandra blickte ihn eindringlich an. »Du solltest dich nicht vorzeitig verausgaben. Wenn es hart auf hart kommt, darf niemand ausfallen.«

Er versuchte ein schwaches Grinsen, aber seine Augen wurden hart. »Ich bin Soldat. Für so etwas wurde ich ausgebildet. Eine Situation wie diese erlebe ich nicht zum ersten Mal.«

Sie runzelte die Stirn. »Du brauchst das, oder?«, sagte sie in seltsamem Tonfall. »Das macht dich an.«

Er richtete den Blick wieder nach unten. »Du bist überreizt, sonst würdest du nicht so einen Unsinn reden.«

»Ja, ich bin überreizt. Und müde.« Chandra tippte mit einem Finger an das Gewehr. »Weißt du, dass die Gründer alle Waffen vernichtet hatten? Sie wollten eine friedliche Zivilisation aufbauen, ohne Krieg und Gewalt. Etwas ganz Neues, das von Anfang an auf festem Grund steht, nicht auf wackligen Trümmern.« Sie fuhr sich durch das kurze weißblonde Haar, das durch den hauchfeinen Marsstaub im Sonnenlicht leicht rötlich

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glitzerte. »Wir haben uns des Erbes nicht würdig erwiesen, das verbittert mich.«

Matts Miene wurde milder. »Ihr seid nach wie vor Menschen, Chandra«, sagte er sanft. »Gewiss, euer Metabolismus hat sich im Lauf der vergangenen fünfhundert Jahre verändert und dem Mars angepasst. Aber euer Gehirn … euer genetischer Code … ist immer noch derselbe. Wir sind noch nicht weit genug auf der evolutionären Leiter empor geklettert, um unsere Urinstinkte beherrschen oder gar tilgen zu können, das kann auch nicht in völlig neuer Umgebung gelingen.«

»Soll das ein Trost sein?«, murmelte sie. »Es ist die Wahrheit«, versetzte er. »Ihr müsst

realistisch sein.« Er zögerte einen Moment, dann berührte er sanft ihre Schulter. Als sie nicht zurückwich, legte er den Arm um sie und zog sie an sich. Es gab kaum noch stille, zärtliche Momente zwischen ihnen. Gerade jetzt mochte das auch nicht passend wirken. Aber, dachte sich Matt, wenn nicht in einer solchen Situation, wann überhaupt noch? Wann war der beste Moment, füreinander da zu sein; zu beweisen, dass man fähig war, Zuneigung zu empfinden? Konnte man auf bessere Weise einer Krise entgegenwirken, die sich immer mehr aufschaukelte?

Bald, das wusste Matt, war ein Punkt erreicht, an dem die ganze Situation eskalierte.

Und dann gab es auf lange Sicht wahrscheinlich überhaupt keine sanften Momente mehr.

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»Du darfst nicht nur das Negative sehen«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Instinkte und Emotionen bewirken nicht nur Schlechtes. Auf der anderen Seite ermöglichen sie uns auch zu lieben, und bereit zu sein, sich für andere zu opfern. Es gibt immer ein Gegen- und Gleichgewicht.«

Sie schwieg und schloss die Augen, als er sie zuerst auf die Wange, dann den Mund küsste.

Eine Weile verharrten sie in stiller Zweisamkeit, abseits allen Geschehens, nur sie beide in ihrem eigenen winzigen Universum.

Matt merkte, wie Chandra sich entspannte. Ihr Herzschlag wurde ruhig und gleichmäßig. Er konnte förmlich spüren, wie sie Kraft schöpfte aus dem, was sie beide verband, denn ihm erging es nicht anders. Vorhin hatte er sich frustriert und einsam gefühlt, erfüllt von Heimweh und der Sorge um seine Freunde und Gefährten auf der Erde, deren Schicksal ihm unbekannt war. Er konnte die Gedanken an sie nie ganz verdrängen, auch wenn er sich anstrengte. Vor allem, seit er in geistiger Symbiose mit dem Hydree Gilam'esh dessen Leben und Wirken mit gelebt hatte, vor dreieinhalb Milliarden Jahren. (siehe MADDRAX 167 bis 169)

Der ihm zum … ja, zum Freund geworden war und dessen Sterben noch tief und schmerzhaft in seiner Seele nachhallte.

Wenn er denn tot war. Sicher, sein Körper war gestorben, aber Gilam'eshs Geist schien noch irgendwo in der Strahlanlage präsent zu sein – musste es sein. Sonst

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hätte der uralte Hydree ihn nicht auf diese Geistreise in die Vergangenheit holen können …

Gerade in Momenten wie diesen, wenn er stundenlang Wache halten musste, schweiften Matts Gedanken unweigerlich in diese Abgründe ab, die er gern einfach überspringen würde.

Matt hatte schon genug in seinem Leben mitgemacht um zu wissen, dass es überlebenswichtig war, umgehend nach vorne zu blicken und die Vergangenheit möglichst hinter sich zu lassen – zumindest solange, wie er beispielsweise auf einem Planeten zweihundertfünfzig Millionen Kilometer von seiner Heimatwelt entfernt festsaß. Häufige Gedanken an daheim würden ihn nur lähmen. Solange er nichts aktiv tun konnte, um nach Aruula, Rulfan, seiner Tochter und all den anderen zu suchen, die ihm am Herzen lagen, durfte er nicht in permanenter Sorge versinken, die letztendlich nur in melodramatischem Selbstmitleid enden würde. Eine Ablenkung von der derzeitigen verfahrenen, aussichtslos erscheinenden Situation auf dem Mars war dies ohnehin nicht.

»Denkst du noch oft an sie?«, erklang Chandras leise, weiche Stimme in seine Gedanken.

Als ob sie auf den Grund seiner Seele blickte, in seinen Gedanken las wie in einem Buch. Sie kannte ihn besser, als ihm lieb war. Was er gerne verdrängte, um sich den Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden, und einer unausweichlichen Entscheidung nicht stellen zu müssen – noch nicht. Dieser Tag würde früh genug

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kommen. Auch wenn er sich noch so sehr den Kopf darüber zerbrechen mochte, war dies nur ein theoretisches Grübeln, ein im Grunde philosophischer Monolog, der nichts mit der Realität zu tun hatte.

»Ich versuche, es nicht zu oft zu tun«, antwortete Matt aufrichtig. »Aber ich vermisse meine Freunde sehr, und Gilam'esh hat eine Menge in mir aufgewühlt.« Sie alle waren seine Familie, sein Anker gewesen, fügte er in Gedanken hinzu, aber er wollte dieses Thema nicht weiter ausführen.

Und Chandra auch nicht, denn sie sagte nichts mehr dazu und akzeptierte es auch, dass seine Antwort alle Freunde Matts umfasst hatte, obwohl sie ihn offensichtlich nur auf Aruula angesprochen hatte. Vielleicht hatte sie die Frage sogar umgehend bereut, kaum dass sie ihr entschlüpft war? Beide mieden normalerweise dieses heikle Thema.

Matts Blick schweifte von Chandra auf das Strahlgelände hinunter. Er hielt sie immer noch fest im Arm, anstatt das Gewehr im Anschlag zu halten. Doch es war alles ruhig. Nach wie vor, wie schon die ganze Zeit über. Nerven zermürbend ruhig.

Wenn mir nur endlich ein Ausweg einfallen würde, dachte er trübsinnig. Schuldgefühle quälten ihn, und er kam sich wie ein Verräter vor. Warum konnte ich es nicht verhindern?

* * *

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Zwischenspiel: Mond Phobos, einige Wochen zuvor Hondo Beffur wachte erst auf, als der automatische

Weckdienst auf volle Lautstärke schaltete und energisch plärrte:

»Raus aus den Federn! Ein neuer, herrlicher Tag hat begonnen! Die Sonne scheint, das Mondgesicht lacht, und alle Krater sind gereinigt!«

»Aus!«, krächzte Hondo, bevor es noch schlimmer wurde. »Ich bin wach!« Die quäkende Stimme erstarb augenblicklich. Ich muss den Wecker endlich anders programmieren, dachte Hondo wütend und gähnte. Das war allerdings leichter gesagt als getan, denn seine verwöhnte, rotznasige Nichte hatte einen Sicherungscode eingegeben, den Hondo ums Verrecken nicht knacken konnte. Welche Blamage gegenüber einer Zehnjährigen! Genau deswegen durfte niemand erfahren, auf welche Weise er geweckt wurde. Trotzdem: Wenn ich Noddi jemals allein in die Finger kriege, versohle ich ihr den Hintern, und zwar so lange, bis ihr der Code aus dem Gesicht fällt!

Er gähnte erneut und setzte sich auf. Gefiltertes Sonnenlicht fiel durch die Scheibe in seine bescheidene kleine Unterkunft. Der einzige Luxus, den man sich auf Phobos leisten durfte – ein Außenfenster. Allerdings extrem dick und hochgradig strahlungsabweisend, immerhin befanden sie sich hier oben mitten im Weltraum. Doch es war ein tröstlicher Anblick, die Sonne auf- und untergehen und die große Scheibe des Mars in regelmäßigen Abständen vorüberziehen zu sehen – vorausgesetzt, man erwachte nicht mit einem Kater. Der

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Rest des Universums war pechschwarz und unfreundlich, passend zu Hondos morgendlicher Laune.

Er erhob sich, kratzte sich den bleichen nackten Hintern und watschelte zu seiner Nasszelle. Wasser war hier oben natürlich teurer Luxus. Aber als angesehener Wissenschaftler, fand Hondo, hatte er ein Anrecht darauf, es wenigstens ein bisschen wie daheim zu haben.

Entsprechend verschwenderisch ging er auch damit um.

Manchmal verfluchte er seinen guten Ruf als fähiger Biochemiker, der ihn zu Enthaltsamkeit und Einsamkeit hier oben verdammte. Hondo war im Privatleben kein Kostverächter; normalerweise lebte er gern gesellig und hielt sich nach Dienstschluss meistens in den Vergnügungsvierteln von Elysium oder Hope auf. Doch als man ihm angeboten hatte, an der Erforschung des angeblich Sauerstoff erzeugenden Geosiphon-Pilzes mitzuarbeiten, hatte er nicht ablehnen können. Immerhin handelte es sich hier um ein archaisches irdisches Forschungsprojekt, das Wissenschaft, Terraforming und Besiedelung revolutionieren könnte, wenn es entschlüsselt wäre! Da konnte Hondo schlecht ablehnen; er liebte nicht nur Herausforderungen, sondern auch die bei Erfolg lockenden Ruhmesbezeigungen und Ehren.

Der Erdenmann Maddrax, der den Pilz zusammen mit seinem Shuttle QUEEN VICTORIA zum Mars gebracht – vielmehr eingeschleppt – hatte, hatte davor gewarnt, mit dem Geosiphon allzu leichtsinnig umzugehen, da er Wahnzustände auslösen konnte.

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Was Hondo Beffur im Übrigen nur bestätigen konnte, aber das war eine andere Geschichte. Nur ein kleiner Betriebsunfall nach einer durchzechten Nacht. Und eigentlich war er selbst auch gar nicht allein schuld, sondern vielmehr sein trotteliger Assistent, und es waren nur ein paar winzige Sporen im normalerweise keimfreien Raum ausgekommen, also keine Gefahr der Verbreitung. Eine gründliche Dekontamination, und alles war wieder im Lot. Na ja, fast. Hondo hatte noch einige Nächte lang unter seltsamen Halluzinationen gelitten, sobald das Licht gelöscht war und Stille herrschte und er sich auf den Schlaf vorbereitete. Aber wie gesagt, das war eine andere Geschichte, über die er nicht gern nachdachte und nie redete.

Ein Glück allerdings, dass allgemein so hohe Sicherheitsvorkehrungen herrschten. Nicht auszudenken, wenn der Pilz ahnungslos auf den Mars gebracht worden wäre …

Das irdische Shuttle war sofort nach der Ankunft auf Phobos stationiert und inzwischen in alle Bestandteile zerlegt worden, um alles gründlich zu untersuchen und intakte Materialien zu verwenden.

Sämtliche Arbeiten standen unter der Aufsicht von Leto Jolar Angelis – was Hondo nicht unbedingt als Fortschritt empfand. Dieser Mann war so unnahbar und unpersönlich, vor allem unnachgiebig und immer streng an den Vorschriften. Hondo konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der ehemalige Raumschiffkommandant den Freuden des Lebens

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zugetan war. Er bemitleidete die Interimspräsidentin Maya Joy Tsuyoshi, einen so faden Langweiler und Besserwisser geheiratet zu haben. Das hatte gewiss nur politische Gründe, denn alles war sehr schnell gegangen – gleichzeitig mit der Annahme ihres Amtes hatte die Präsidentin nämlich verkündet, künftig einen Mann an ihrer Seite zu haben, der ihr nicht nur als Berater diente, sondern auch ihr Leben mit ihr teilte.

Ja, das hatte einen ziemlichen Wirbel gegeben, denn damit hatte niemand gerechnet. Die beiden passten so überhaupt nicht zusammen. Reines politisches Kalkül, war die gängige Meinung, wenngleich sich der Sinn noch nicht ganz offenbarte. Hondo Beffur wusste eines: Politik hin oder her, er würde niemals heiraten. Und er würde, verdammt noch mal, Spaß haben!

Natürlich war er Herrn Leto schon lange ein Dorn im Auge, weil der überhaupt kein Verständnis für Hondos Lebensweise und fröhliche Sprüche hatte. Dem ist damals bei dem Anschlag auf den Raumhafen der Humor zusammen mit seinem Bein weggesprengt worden, dachte Hondo, während er sein Outfit im Spiegel betrachtete. Das war das einzige, worin sie eine Gemeinsamkeit hatten: Sie achteten beide auf ein stets korrektes Äußeres.

Hondos PAC (Persönlicher Armband Computer) meldete sich. »Wann kommen Sie ins Labor?«

Grekk, sein schrulliger Assistent. Dem Hause Braxton zugehörig. Wollte unbedingt weiterkommen, schaffte aber bisher diverse Hürden nicht. Unter anderem kam er nicht an Hondo vorbei.

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»Ich bin auf dem Weg«, antwortete Hondo. »Haben Sie es eilig?«

»Herr Leto hat eine Besprechung angesetzt.« »Heute? Seit wann ist das bekannt?« Der Schreck fuhr

Hondo in alle Glieder. Er war überhaupt nicht vorbereitet!

»Seit zwei Wochen, Chef.« Grekks Abbild auf dem Display konnte trotz der geringen Größe das Grinsen nicht verbergen.

Hondo hatte das Gefühl, im Treibsand zu versinken. »Warum haben Sie mich nicht rechtzeitig erinnert? Wenigstens gestern hätte ich –«

»Gestern waren Sie doch gar nicht da.« Ach ja, richtig. Eine gute Freundin auf dem Mars hatte

vor zwei Tagen Geburtstag gefeiert. Der Hin- und Rückflug dauerte zwar jeweils nur eine gute Stunde, aber Hondo hasste Hektik im Allgemeinen und Fliegerei im Besonderen. Wenn er sich also schon auf Reisen begab, dann musste es sich auch lohnen, nicht nur für eine Nacht. Hondo war gestern mit dem letzten Shuttle erst zurückgekommen.

Er lächelte süffisant. »Das macht Ihnen Freude, nicht wahr?«

»Ich erwarte Sie, Chef«, versetzte Grekk, ohne die Miene zu verziehen.

Hondo beendete die Verbindung. »Du kommst trotzdem nicht an mir vorbei, du armseliger Wicht«, knurrte er und ging ins Schlafzimmer, um sich noch einmal umzuziehen.

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* * *

Als Hondo Beffur in seinem Labor eintraf, war Leto Angelis bereits anwesend. Er nickte Hondo kurz zu und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder Grekk zu, der einer offensichtlich wissenschaftlichen Begleiterin Letos auf einem Rundgang gerade einiges erläuterte. Hondo schloss sich ihnen schweigend an. Er musste zugeben, sein Assistent war gut vorbereitet und machte seine Sache ausgezeichnet. In diesem Fall sicher gut für das Labor, denn es ging das Gerücht, dass in nächster Zeit das Personal größtenteils ausgewechselt werden sollte.

Gelegentlich machte Hondo kleine Anmerkungen und Ergänzungen, die auf subtile Weise deutlich machten, wer hier das Sagen und die größere Kompetenz hatte. Vor allem stellte er es so dar, als hätte er seinen Assistenten absichtlich »vorausgeschickt«, um ihm »eine Chance zu geben«.

Wie es aussah, machten sie beide ihre Sache gut. Die Frau, die Hondo inzwischen als Dame Ann Madge

Angelis vorgestellt worden war, machte ein zufriedenes Gesicht und nickte am Ende des Rundgangs Leto zu. »Ich sehe eine Entwicklung.«

Sofort schnellte Hondos Blutdruck in die Höhe. Hatte Leto etwa vorgehabt, das Labor zu schließen? Was war in letzter Zeit noch an ihm vorübergegangen? Er warf

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Grekk einen wütenden Blick zu, doch der zuckte nur die Achseln.

»Kommen Sie, Hondo«, forderte Leto ihn auf, »gehen wir nach nebenan in den Besprechungsraum. Ann, möchtest du dich noch ein wenig umsehen?«

»Gerne«, antwortete sie. »Wenn Sie so freundlich wären, Grekk, würde ich mir gern einige Kulturen unter dem Mikroskop ansehen.« Das war natürlich ein altertümlicher Ausdruck; dafür standen hoch entwickelte Computertechniken zur Verfügung. Doch manches behielt auch über die Jahrhunderte hinweg noch seinen Reiz, vor allem, weil dieser Ausdruck von der Erde stammte.

»Falls ich eine Empfehlung geben darf«, sagte Hondo hastig, während er Leto folgte, »sehen Sie sich Einsachtundvierzig Strich Drei an, das wird Ihnen Freude bereiten, Dame Ann! Zum Vergleich sollten Sie Zweiundsechzig Strich Eins und Dreizwanzig Strich Null anbieten, Grekk.« Er schloss die Tür und wandte sich um. »Bitte nehmen Sie doch –«

Leto saß bereits. Ganz entspannt am Ende des Konferenztisches.

Hondo führte die Geste nicht zu Ende und ging zum Automaten. »Möchten Sie etwas trinken? Heiß oder kalt?«

»Sind Sie nervös?«, fragte Leto. »Habe ich denn Grund dazu?«, gab Hondo schnell

zurück.

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»Finden wir es heraus.« Leto zeigte seine perfekten Zähne in einem höflichen Lächeln.

Hondo hätte sich gern einen Dreifachen eingeschenkt. Stattdessen drückte er die Taste für gesüßten heißen Gewürztee, und dann noch einmal für Leto, der darum bat. Mit zwei aromatisch duftenden Bechern kehrte er zum Tisch zurück.

»Sie sehen etwas übernächtigt aus«, stellte der ehemalige Kommandant fest, während er an dem Getränk nippte und anerkennend nickte. Marsianer erwarteten selbst aus dem Automaten hohe Qualität. Sie legten sehr viel Wert auf abwechslungsreiche, möglichst natürlich zubereitete, gut gewürzte Speisen und Getränke.

Hondo hoffte, dass seine Hand nicht zittern würde, als er den Becher hob. Er gab sich so unbefangen wie möglich. »Ja, eine Freundin feierte ihren Doppelzwanziger, und zwar sehr ausgiebig. Wäre unser Termin nicht gewesen, wäre ich erst heute zurückgekommen.« Er löschte seinen Durst mit dem scharfen Tee, der zugleich seinen Kopf klärte. Wenigstens war er perfekt gekleidet, das verlieh ihm ein klein wenig Selbstbewusstsein. Obwohl sonst ziemlich von sich überzeugt, fühlte er sich Leto Angelis gegenüber immer ganz klein. Noch ein Grund mehr, diesen Mann zu verabscheuen.

»Wir hätten es natürlich verschieben können«, meinte Leto höflich.

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»Oh, ich weiß, wie begrenzt Ihre Zeit ist, nun, da Sie … äh, auch im Rat stark eingebunden sind«, stotterte Hondo. »Ich möchte Sie nicht über Gebühr beanspruchen …«

»Sie haben Recht.« Leto trank aus und nahm eine aufrechte Haltung an. »Kommen wir zur Sache. Ich bin aus zwei Gründen hier. Der erste ist eher harmlos. Wie Sie wissen, überprüfen wir in gewissen Intervallen die Wirtschaftlichkeit unserer Forschungen. Deswegen habe ich Ann mitgebracht, die sich vom Fortschritt Ihrer Untersuchungen überzeugen soll. Sie müssen verstehen, dass wir bei den derzeitigen Unruhen auf dem Mars und durch die Erdbebenkatastrophe nicht unnötig Ressourcen binden können, die wir unter Umständen besser einsetzen können.«

Hondo wurde es abwechselnd heiß und kalt. »Ja, natürlich.« Er sah im Geiste seinen angenehmen Job schon davon flattern. Wenn das Labor geschlossen und sein Personal abgezogen wurde, blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder bei einer der Firmen anzuheuern und deren Zeitkonto zu füllen statt seines. »Aber wenn ich etwas dazu bemerken darf: Gerade durch die Katastrophen ist meine Arbeit wichtiger denn je. Die Atmosphäre des Mars ist sehr labil. Sie kann jederzeit wieder kippen, wie schon einmal geschehen. Und dann ist es wichtig, dass wir auf einen Sauerstoff erzeugenden Pilz zurückgreifen können, der, richtig positioniert, die Lage stabilisiert.«

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Leto nickte. »Das sieht Ann auch so, wie ich ihrer Bemerkung entnehmen konnte. Ich habe natürlich noch eine Schlussbesprechung mit ihr, aber ich denke, dass wir Ihr Labor weiterhin betreiben werden, unter Ihrer Leitung. Ann hat sich über Ihre letzten Berichte sehr positiv geäußert. Wie es aussieht, sind Sie inzwischen eine echte Koryphäe auf dem Gebiet.«

Das haute Hondo fast um. Gerade hatte er noch darüber nachgedacht, wie er am würdevollsten aus dem Leben scheiden sollte, und nun … erhielt er ein Lob von diesem Mann; ein Ereignis, das so gut wie nie vorkam? »Vielen Dank«, sagte er ehrlich berührt.

Leto winkte ab. »Allerdings möchte ich von Ihnen eine konkrete Aussage, ob Sie eine reelle Chance sehen, dass wir den Geosiphon jemals für unsere Zwecke nutzen können.«

»Aber ja«, versicherte Hondo und war umgehend in seinem Element. Er erklärte Leto in kurzen, verständlichen Worten, wie weit der Stand seiner Forschungen war, wo er demnächst schon die ersten Einsatzmöglichkeiten sah, und was er für die Zukunft plante. Jetzt war er ganz Wissenschaftler, mit Herz und Seele dabei.

Das honorierte auch Leto Angelis, indem er aufmerksam zuhörte, sich gelegentlich Notizen machte und diskussionswürdige Zwischenfragen stellte.

Hondo musste dem Leiter widerwillig Anerkennung zollen, dass er nicht nur den »Chef aller Chefs« spielte, sondern sich tatsächlich eingehend mit den Projekten

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befasste. »Sie sehen, dass es wirklich von Wert wäre, das Labor weiterzuführen«, schloss der Wissenschaftler. »Ich verstehe es natürlich, wenn der Einsatz einiger meiner Leute auf dem Mars vonnöten wäre, doch wenn möglich, möchte ich hier bleiben und weitermachen. Sie wissen vielleicht, wie unangenehm es ist, eine wichtige Versuchsreihe, von der man sich etwas verspricht, unterbrechen zu müssen.«

»Sicher, das werde ich berücksichtigen«, versetzte Leto. »Doch kommen wir jetzt zum zweiten Punkt, der leider unerfreulich ist.«

Hondo konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte. Er war jetzt völlig ruhig und blickte den neuen Eröffnungen gelassen entgegen. Auffordernd blickte er Leto an.

»Es werden Informationen verkauft«, informierte der ehemalige Kommandant. »Und nicht nur in einer Abteilung. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sämtliche Abteilungen, die mit dem irdischen Shuttle befasst sind, von verschiedenen Firmen bestochen werden.«

Hondo war schockiert. Natürlich hatte er etwas in der Art läuten hören, aber nicht viel darauf gegeben. »Wollen Sie etwa behaupten, dass auch … in meiner Abteilung …?«

Leto nickte. »Bedauerlicherweise haben wir auch eine Nachricht von hier aus abgefangen. Leider zu wenig, um etwas damit anfangen zu können. Es war nur vage von

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einer Lieferung die Rede, und dass sie zum passenden Zeitpunkt erfolgen würde.«

Deshalb also das Gerücht, dass sämtliches Personal ausgetauscht würde. »Und warum reden Sie so offen mit mir darüber?«

»Nun, ich habe zwei Möglichkeiten, Hondo. Entweder stecken Sie ganz tief mit drin, oder Sie sind sauber. In beiden Fällen muss ich Ihnen einen Schuss vor den Bug setzen, damit Sie gewarnt sind und entweder die Karten offen auf den Tisch legen oder diesen Mist bleiben lassen.« Leto erhob sich und ging zum Fenster, an dem gerade die ferne Sonne vorbeizog. »Motive hätten Sie genug, bei Ihrem Lebensstil. Andererseits haben wir keine auffälligen Bewegungen auf Ihrem Zeitkonto feststellen können.«

»Sie haben mich überprüft?«, protestierte Hondo. »Seien Sie kein Narr.« Leto drehte sich zu ihm um.

»Ich überprüfe jeden, der sich hier oben auf Phobos mit brisanten Dingen beschäftigt.« Er klopfte an die Unterschenkelprothese seines rechten Beins. »Ich bin durch eine harte Lehre gegangen, mein Freund, und habe gelernt, dass gesundes Misstrauen Schlimmes verhüten kann. Umso mehr, da ich durch meine Verbindung mit Maya Tsuyoshi in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt bin. Ich weiß also sehr viel über Sie.«

»Und ich genug über Sie, um sagen zu können, dass Sie ein protziger, arroganter Mistkerl sind, der sich für etwas Besseres als jeden anderen hält«, schnaubte Hondo wütend. Es war ihm gleich, ob er hier gerade seinen Job

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verspielte. Es war einfach unerhört, was sich dieser Mann erlaubte – so etwas hatte es auf dem Mars bisher noch nie gegeben!

Leto grinste. An ihm prallte alles ab, seine Fassade blieb stets gleich glatt, seine Haltung höflich und zuvorkommend. Hondo hatte sich durchaus schon gefragt, ob er jemals aus der Ruhe gebracht werden konnte, sich allerdings nicht gefordert gefühlt, es herauszufinden – bis jetzt.

»Sie sind ebenfalls kein Heiliger«, gab er zurück. »Aber seien Sie unbesorgt, Ihre Eskapaden interessieren mich nicht im Mindesten. Und Sie dürfen mich auch ruhig weiter beschimpfen, Sie werden Ihren Job trotzdem behalten.«

Hondo, der weitertoben wollte, stutzte verwirrt. »Ach. Wieso das?«

»Weil Sie ein Faulenzer sind, Hondo«, antwortete Leto. »Sie genießen einfach das Leben, ohne sich viele Gedanken zu machen. Ihr Ehrgeiz hält sich in Grenzen. Das heißt, Sie würden schon gern Karriere machen, aber nur mit minimalem Aufwand, damit Ihr Privatleben nicht darunter leiden muss. Sie sind intelligent und in Ihrer Wissenschaft unbestritten kompetent, deswegen fallen Ihnen immer wieder lohnende Jobs zu, die Ihnen ein angenehmes Leben bescheren. Aber das war's auch schon. Und Ihr Interesse an dem Geosiphon ist aufrichtig wissenschaftlicher Natur, denn Sie spielen gern und wollen den Dingen auf den Grund gehen.« Leto hob seine Hände. »Ich denke, das genügt, nicht wahr? Also,

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machen Sie weiter, halten Sie Augen und Ohren offen, und informieren Sie mich, sobald Sie herausgefunden haben, wer bei Ihnen die faule Stelle ist.«

Für Hondo war dies das Zeichen, dass die Besprechung beendet war, und er stand ebenfalls auf, um Leto hinauszubegleiten. Er zuckte zusammen und taumelte einen Schritt zurück, als der ehemalige Kommandant plötzlich dicht bei ihm war, so schnell, dass er die Bewegung gar nicht mitbekommen hatte.

Leto Angelis war um einen guten Kopf größer als Hondo, und er blickte jetzt mit aller Autorität auf den Wissenschaftler herab. In seinen Augen hatte sich ein beunruhigendes Licht entzündet. »Aber sollte ich dahinter kommen, dass Sie mich hintergehen oder mir Informationen vorenthalten, dann, Hondo, bei allen Sandteufeln des Mars, wird es keinen neuen Job mehr für Sie geben und auch keine fröhlichen Eskapaden mehr, das garantiere ich Ihnen!«, knurrte er tief aus der Kehle.

Hondo schluckte trocken, seine Knie wurden weich und er brachte keinen Ton heraus.

Doch im nächsten Augenblinzeln war Leto schon wieder distanziert und höflich, mit zuvorkommendem Lächeln. »Ich danke für dieses Gespräch, Hondo Beffur, und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg. Ich erwarte bald Resultate. Sie hören noch einmal von mir, sobald ich alle Berichte vorliegen und durchgearbeitet habe.«

Dann war er draußen, und Hondo blieb verwirrt und besorgt zurück. Was hatte er da gerade erlebt?

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Vor allem: Was genau ging in seiner Abteilung vor sich, und wieso hatte er davon noch nicht das Geringste bemerkt? Hondo Beffur nahm sich vor, in nächster Zeit weniger auf sein Privatleben zu achten und sein Augenmerk ganz darauf zu richten, wer hinter seinem Rücken irgendwelche Schweinereien anzettelte und so dumm war, sich dabei fast erwischen zu lassen. Ohne Hondo seinen Anteil abzudrücken.

* * *

Kronleuchter-Canyon, vor einigen Wochen – wie alles begann »Ich bin müde«, klagte Sonnentau. Sie war sehr blass

und stolperte erschöpft dahin. Sand stäubte unter ihren bloßen, zerschundenen kleinen Füßen auf und rieselte unbeeindruckt wieder auf die Düne herab.

Ewig ist der Sand des Mars, und ewig in Bewegung sind seine Dünen. Suche deine Spuren nicht, Wanderer, der du bist verloren. Bitte um Verzeihung, dass du taub und blind warst, und höre nun zu, und der alte Vater wird dich heim geleiten.

Sandperle blieb stehen, strich sich das lange weißblonde Haar zurück und sah sich um. Noch nie hatte sie den Canyon verlassen, ihre Heimat, in der sie aufgewachsen war und ihre Tochter geboren hatte. Ihr ein und alles, ihr Kleinod, das sie mehr schützte und liebte als den Schwarzen Kristall.

Gehst du im Sturm, so bedenke, dass er keine Strafe ist, sondern Reinigung. Alles Üble wird verweht, und was beständig ist, wird zurückbleiben. So reinige auch du dich,

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bevor du den Schmutz deiner Füße über das Antlitz des alten Vaters streifst.

Seltsam, dass Sandperle gerade jetzt die alten Gesänge in den Sinn kamen. Seit Generationen wurden sie von Mund zu Mund weitergegeben, aber gesungen wurden sie nicht mehr, seit Kristallträumer Schamane geworden war. Er lehnte den Weg der Altvorderen ab, denn sie waren noch nicht von der Erleuchtung des Schwarzen Kristalls beseelt.

In ihnen war noch viel Fehl und Mangel gewesen, und sie hatten den wahren Weg noch nicht betreten. Sie waren Suchende gewesen.

Gewiss achtete Kristallträumer ihre Vision und den Mut, dieser zu folgen und sich auf die lange gefahrvolle Reise zu begeben. Ohne sie gäbe es das Felsenvolk nicht, die Canyonleute, einzigartig auf dieser einsamen Seite der roten Welt. Einzigartig auch für die Verlorenen auf der anderen Seite, die nur im Wald lebten und nicht wussten, dass Felsen auch sprechen konnten. Und dass Felsen Dinge gebaren, Geschenke des alten Vaters, um dem Volk auf den Weg zur Erleuchtung zu helfen.

Sandperle hatte sich nicht beirren lassen, dass Kristallträumer die alten Lieder verbot. Sie sang sie weiter, wenn sie allein war, und sie sang sie auch Sonnentau vor, genauso wie ihre Mutter es mit ihr getan hatte, denn es durfte nicht vergessen werden, was die Erinnerung des Volkes war.

Und Kristallträumer würde nicht ewig da sein. Er war mächtig, aber er war auch nicht mehr jung. Fast dreimal

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so alt wie Sandperle. Sie konnte warten, wenn es sein musste. Sie war geduldig, das hatte sie als seine Frau schnell gelernt: zu schweigen und fügsam zu sein, und geduldig. Sandperle wirkte zart und zerbrechlich, aber sie war eine starke Frau.

Und sie war nicht allein – sie hatte Sonnentau. Und Schnellwasser, ihren jüngeren Bruder, um den sie sich schon seit der Kindheit kümmerte. Sein kindlicher Geist hatte die plötzlich erwachenden, starken mentalen Kräfte nicht ertragen können, und so war er in gewisser Weise immer ein Kind geblieben.

Sandperle tastete nach der Hand ihrer kleinen Tochter. »Nur noch ein bisschen, mein Schatz«, flüsterte sie. Sie konnte verstehen, dass das Kind müde war; es war noch viel zu klein für so eine weite Reise. Aber Kristallträumer hatte darauf bestanden, dass sie beide mitkamen.

Ja, sie hatten den Canyon verlassen, nachdem der Erdenmann Maddrax und seine Gefährten mit den fliegenden Käfern abgezogen waren. (siehe MADDRAX 163 »Canyon der toten Seelen«)

Das Felsenvolk hatte durch die Vorfälle im Kampf um den bösen hellen Kristall, den Maddrax mit sich genommen hatte, einen tiefen Schock erlitten. Aber der Schamane hatte keinen Zweifel offen gelassen, dass dies nur eine weitere Prüfung auf ihrem Weg zur wahren Erleuchtung sei.

»Denn«, so hatte Kristallträumer erklärt, »mir ist nun klar geworden, wie wahrlich verblendet unser Volk auf der anderen Seite ist, und es unterliegt zudem dem bösen

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Einfluss des Mannes von der Erde. Ich habe in einer Vision schreckliche Dinge gesehen, die unsere gesamte Welt bedrohen. Dieser Maddrax öffnet eine Tür für eine fremde Macht, die niemals hierher gelangen darf. Deshalb muss ich aufbrechen und handeln, bevor es zu spät ist.«

Das Volk war erneut schockiert gewesen. Aber es hatte keine Wahl gehabt und sich fügen müssen. Wie immer, seit es unter dem Schutz des Schamanen stand.

Kristallträumer hatte ihnen noch eine letzte Predigt dagelassen und ihnen aufgetragen, was sie während seiner Abwesenheit zu tun hatten.

Sandperle wäre gern zu Hause geblieben. Sie hatte Angst vor der Fremde, vor den unbekannten Gerüchen und Stimmen, vor all dem, was sie nicht verstehen würde. Es gab keinen Grund für sie, den Canyon zu verlassen, denn sie wollte Sonnentau behütet aufwachsen lassen, nicht Gefahren aussetzen. Aber wer widersprach dem Schamanen schon?

»Was ist los?« Kristallträumers scharfe Stimme riss Sandperle aus ihren Gedanken, und sie zuckte zusammen. Er hatte schon einen leichten Vorsprung gehabt und war wohl umgekehrt, als Sandperle und die kleine Tochter nicht mehr nachkamen.

»Können wir eine Pause machen?«, fragte sie. »Sonnentau ist sehr müde. Und ich, offen gestanden, auch.«

»Sieh mich an«, antwortete er und tippte mit dem verzierten langen Wanderstab an sein linkes Bein. »Ich

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bin sehr viel älter als ihr, habe einen verkrüppelten Fuß und gehe trotzdem schneller als ihr beide zusammen. Wir werden eine Pause machen, wenn ich sie brauche.«

Sandperle warf einen Blick zu Schnellwasser, dessen rotes Haar von der Düne herab leuchtete. Sie war sicher, dass auch ihr Bruder Ruhe nötig hatte. Aber er würde das natürlich nicht zugeben. Er war Kristallträumer total hörig.

Der Schamane drehte sich ohne ein weiteres Wort um und marschierte die Düne weiter hinauf.

Sandperle sah, dass Sonnentau kurz davor stand, in Tränen auszubrechen.

»Keine Wasserverschwendung hier in der Wüste!«, flüsterte sie hastig. »Komm her, ich trage dich eine Weile.« Sie hievte das kleine Mädchen auf ihre Hüfte und stapfte langsam durch den roten Sand, immer weiter hinauf.

»Ich hab Angst, Mama«, wisperte Sonnentau. Ihre riesigen, stets fragenden Augen waren auf ihren Vater gerichtet.

Sandperle wusste, dass ihr Kind das nicht einfach so dahinredete. Sonnentau verfügte wie Schnellwasser über besondere Kräfte; welche genau es waren, hatte bisher niemand herausfinden können, weil das Mädchen noch zu jung war. Allerdings war bereits deutlich erkennbar, dass sie anderen tief in den Geist blicken konnte. Sie war noch zu klein, um Gedanken verstehen zu können. Aber sie konnte erkennen, wenn jemand düster war, und Düsteres plante. Wenn ein Geist zerrüttet war. Sandperle

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wollte sich nicht ausmalen, welche schrecklichen Bilder ihre Tochter im Geist ihres Vaters sehen mochte.

»Hab keine Angst«, flüsterte Sandperle. »Die Tage werden heller enden, als sie begonnen haben.«

»Woher willst du das wissen, Mama?« »Ich kann es sehen. Schreckliche Zeiten werden auf

uns zukommen. Aber dich, mein Kind, sehe ich in der Sonne, wenn alles vorbei ist. Für dich wird der alte Vater noch mehr bereithalten als dies.«

Die nächsten Schritte schwieg Sandperle, um den Atem für den Aufstieg zu sparen. Obwohl ihre Tochter nur ein Leichtgewicht war, schleppte sie sie inzwischen wie eine schwere Last.

Schnellwasser erwartete sie kurz vor dem Dünenkamm. »Wo bleibt ihr denn!«, rief er vorwurfsvoll. »Wir haben nicht mehr viel Zeit!«

Kurz darauf sah sie den Grund für seine Ungeduld. Tief unter ihnen breitete sich eine gewaltige Ebene aus,

felsig und staubig, teils von Sand bedeckt. Und dort kauerte wie eine riesige flügellahme Larve ein Flugschiff. Genau so, wie Schnellwasser es beschrieben hatte.

»Sie haben bis jetzt gewartet«, sagte Sandperle. »Dann werden sie auch weiter warten, nicht wahr? Je näher wir kommen, desto intensiver ist dein Einfluss.«

»Aber es ist anstrengend«, erwiderte der Bruder. »Ich habe das schließlich zum ersten Mal probiert, und wenn es nicht ein verwandter Geist gewesen wäre …«

Kristallträumer hatte nämlich Schnellwasser beauftragt, eine Kontaktaufnahme mit einem der

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Menschen auf dem gestrandeten Luftschiff zu versuchen, von dem die Fremden berichtet hatten. Und es war gelungen! Sandperles Bruder hatte herausgefunden, dass einer der Techniker ein Mischblütiger war und das Erbe des Waldvolkes in sich trug.

So fand Schnellwasser heraus, dass das Luftschiff namens AENEA derzeit repariert wurde und bald den Rückflug nach Utopia antreten würde. Und genau dorthin wollte Kristallträumer, denn dort befand sich der Sitz des Bösen: der Strahl und der gestohlene Kristall. Eine weite Reise, doch der Schamane war zu allen Opfern bereit, solange er damit das Unglück abwenden konnte.

Der Weg zu dem Luftschiff war zu Fuß einige Tage entfernt, und Kristallträumer hatte Schnellwasser gezwungen, so viel Einfluss auf den Techniker zu nehmen, dass sich der Aufbruch verzögerte.

Das hatte Sandperles Bruder viel Kraft gekostet. In sein Gesicht hatten sich tiefe Furchen der Anstrengung gegraben, seine Augen blickten glanzlos und matt. Sandperle, die über besondere Heilkräfte verfügte, hatte Kristallträumer davor gewarnt, ihren Bruder über Gebühr zu beanspruchen: »Das könnte ihn endgültig den Verstand kosten – und das Leben! Dann ist er dir überhaupt nicht mehr von Nutzen.«

Aber der Schamane hatte abgewinkt. »Schnellwasser tut das, wozu er bestimmt ist. Der Vater wird ihn schützen, wie es sein Wille ist.«

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Und tatsächlich hatte Schnellwasser bis jetzt durchgehalten. Doch es war ihm anzusehen, dass seine Kräfte bald verbraucht waren.

Sandperle fragte sich, wie Kristallträumer diese Menschen dort unten veranlassen wollte, sie mitzunehmen. Er schritt bereits auf halbem Wege hinunter, ohne sich nach seiner Familie umzublicken.

* * *

»Genug der Verzögerungen!« Kommandantin July Tsuyoshi war äußerst ungehalten. »Soransan, es reicht mir! Wir sollten schon längst unterwegs sein, um für die Erdbebenopfer Unterstützung zu bringen!«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die AENEA viel zu wertvoll ist, um gleich wieder in den Sand gesetzt zu werden!«, verteidigte sich Techniker Soransan Chu. »Vor allem, wenn sie sofort wieder zum Einsatz kommen –«

»Das ist mir gleich!«, schnitt die Kommandantin ihm das Wort ab. »Sie machen uns jetzt startfertig, und dann geht es los. Und Sie werden dafür sorgen, dass mein Schiff oben bleibt, sonst lernen Sie mich erst richtig kennen!«

Ein Zwischenruf ließ beide aufhorchen. »Was ist denn das?« Ein anderer Techniker deutete

aufgeregt mit dem Finger zur Düne. Jemand kam von dort auf sie zu. Und oben auf dem

Dünenkamm standen noch zwei weitere Leute.

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July war sofort alarmiert. »Das müssen Canyonleute sein! Die können nichts Gutes im Schilde führen.« Sie rief nach zwei Leuten von der Einsatztruppe und wandte sich noch einmal Soransan zu. »Wenn ich zurück bin, erheben wir uns augenblicklich in die Luft, verstanden?«

»Ja, Kommandantin, selbstverständlich.« Auf einmal wurde der sonst eher lethargisch wirkende Techniker lebhaft und stauchte umgehend einige Hilfskräfte zusammen, seinen Befehlen schneller Folge zu leisten.

July Tsuyoshi achtete nicht mehr darauf, sie war bereits zu dem Mann unterwegs, der inzwischen den Fuß der Düne erreicht hatte und direkt auf sie zukam. Oder vielmehr hinkte. Er hatte einen verkrüppelten linken Fuß! Die Kommandantin wusste sofort, um wen es sich handelte; Maddrax und Chandra Tsuyoshi hatten den Schamanen des Felsvolkes ausführlich beschrieben. Bis hierher spürte sie den stechenden Blick seiner Augen, und ihre Hand glitt unwillkürlich zu ihrem Gürtel, obwohl sie nie eine Waffe trug.

Ihre Begleitung, ein Mann und eine Frau in der Uniform des Sicherheitsmagistrats, hoben unwillkürlich ihre Waffen an, doch July winkte sofort ab. »Bitte, der Mann ist unbewaffnet. Hören wir uns an, was er zu sagen hat.«

»Die anderen kommen jetzt auch runter«, bemerkte der Mann warnend.

»Es sind aber nur eine junge Frau und ein junger Mann … und die Frau trägt ein Kind auf dem Arm«,

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erwiderte die Frau, die offensichtlich sehr scharfe Augen hatte.

»Kristallträumers Familie«, erläuterte die Kommandantin. »Schätze, die wollen an Bord genommen werden.«

»Wie kommen Sie darauf?« »Möglicherweise haben die Vorfälle das Volk gegen

den Schamanen aufgebracht, und nun suchen sie Asyl.« »Sie werden sie doch hoffentlich nicht mitnehmen?

Der Mann ist gefährlich!« July hob eine Hand. »Wir weisen niemanden ab, der in

Not ist. Und nun verhalten Sie sich bitte ruhig und bewahren Sie einen Abstand von drei Metern zu mir. Handeln Sie erst auf mein Zeichen.«

Die beiden gehorchten, und July wartete in ruhiger Haltung ab, bis der Schamane sie erreicht hatte. Im Abstand von vier Metern blieb er stehen.

»Regen und Sonne mit dir, Tochter des Mars«, sagte er mit klangvoller Stimme, die sie gegen ihren Willen berührte, auf seltsame Weise zum Vibrieren brachte.

»Ich grüße dich, Schamane des Felsenvolkes«, antwortete sie möglichst förmlich und neutral. »Was kann ich für dich und die deinen tun?«

Kristallträumers Familie kam rasch die Düne herab. Der Schamane schien Julys Begleitung nicht zu

bemerken. Seine Lider senkten sich halb über seine durchdringenden Augen, als wolle er seinen Blick so mildern. »Wir kommen in Frieden. Und wir möchten in Frieden mit euch ziehen.«

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July nickte im Stillen; hatte sie es sich doch gedacht. »Das kann ich nicht so einfach entscheiden«, sagte sie ausweichend. »Ich muss zuerst mit der Regierung Rücksprache halten.«

»Ich dachte, dies ist ein freies Land?«, meinte Kristallträumer.

»Gewiss. Aber wir hatten Verwicklungen.« July nahm kein Blatt vor den Mund. »Mir wurde berichtet, dass meine Leute gefangen genommen wurden. Einige wurden schwer verletzt, zwei verloren sogar ihr Leben. Man kann nicht gerade behaupten, dass unsere Beziehung frei von Turbulenzen ist.«

»Ich tue nur, was meine Pflicht ist«, versetzte der Schamane sanft. »Und ich darf daran erinnern, dass eure Leute die Kampfhandlungen eröffnet haben. Ich selbst wurde von dem Mann namens Maddrax niedergestreckt, bevor ich eingreifen konnte. Vielleicht hätte ich andernfalls Blutvergießen vermeiden können.«

July war nicht selbst dabei gewesen, deshalb konnte sie nicht beurteilen, ob der Schamane die Wahrheit sprach. Er war ihr nicht geheuer, andererseits hatte er etwas an sich, das … ehrlich wirkte. Würdig. Wer wusste schon, was tatsächlich zu den Kampfhandlungen geführt hatte.

»Dann muss ich erst recht Rücksprache halten.« Sie hob leicht die Hand. »Ich bitte dich, solange hier zu warten und dich dem Schiff nicht weiter zu nähern, bis ich –«

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»Ist es nicht so, dass du längst hättest abfliegen müssen?«, unterbrach Kristallträumer sie. »Ich weiß, in welchen Schwierigkeiten ihr gerade steckt. Ihr habt große Sorgen.«

Woher konnte er das wissen? Die Ausläufer des Erdbebens waren nicht bis hierher spürbar gewesen. Die Canyonleute verfügten nicht über PACs oder einen sonstigen technischen Anschluss an die übrige Welt.

Die Augen des Schamanen waren nun fast geschlossen. »Ich weiß«, flüsterte er, »in welcher Sorge gerade du bist. Du hast noch keine Nachricht von deiner Familie …«

July schluckte. Sie erkannte, dass sie sofort das Gespräch abbrechen, Kristallträumer stehen lassen und abfliegen sollte.

»Ist es nicht so?« Die Stimme Kristallträumers war zu einem weichen, schnurrenden Summen herabgesunken. »Die Stadt liegt in Trümmern …«

Gegen ihren Willen fragte July: »Kannst du sehen, ob sie noch am Leben sind?«

»Wir sterben niemals, Tochter des Mars, denn wir sind ein Teil unseres Vaters. Die physische Existenz ist nur ein unbedeutendes Zwischenstadium unserer eigentlichen Entwicklung.«

»Das ist keine Antwort.« »Es ist die Antwort, die du brauchst, fehlgeleitetes

Kind. Ich will dir die Augen öffnen und dir zeigen, wie du deine Familie finden kannst. Und das ganz ohne Technik.«

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Julys Herz schlug ihr jetzt bis zum Hals. »Wirklich? Aber … wie?«

»Dazu brauchen wir Ruhe«, antwortete Kristallträumer. »Wir müssen uns gemeinsam in Trance versetzen. Da es für dich das erste Mal ist, muss ich dich führen. Das wird dauern, denn du bist ungeübt und deine Sinne sind durch deine städtische Lebensweise getrübt. Aber wenn du es wirklich willst, kannst du es schaffen. Du wirst Bescheid wissen, noch bevor wir die andere Seite erreichen.«

Die Kommandantin war hin und her gerissen. Seit dem Erdbeben hatte sie nichts von ihrem Mann und den Kindern gehört. Sie war halb verrückt vor Sorge; auch deswegen war sie dem Techniker Chu gegenüber so ungehalten gewesen. Sie wollte nach Hause, nach ihrer Familie suchen!

Trotz aller fortgeschrittener Technik hatte niemand bisher Auskunft über den Verbleib von Julys Familie geben können. Bekannt war, dass der große Gonzales-Tower zusammengebrochen war und bei seinem Sturz einen halben Straßenzug mit sich gerissen hatte. Auch andere Türme, darunter das Tsuyoshi-Haus, waren teilweise eingestürzt. Die Toten waren noch lange nicht alle gefunden, gezählt und identifiziert. Und wie durch ein Wunder tauchten immer wieder Überlebende auf.

Einige Informationen hatten an andere Besatzungsmitglieder der AENEA weitergegeben werden können – traurige und freudige Botschaften

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hielten sich dabei ungefähr die Waage. Aber July war nach wie vor im Ungewissen.

Wenn sie es endlich erführe … sie hoffte immer noch …

»Zögere nicht zu lange«, erklang Kristallträumers ferne Stimme in ihren Gedanken. »Es gibt viel zu tun, und ich kann dir helfen. Ich kann euch allen helfen – deswegen bin ich hier. Dies ist meine Mission.«

»Du könnest helfen … die Vermissten aufzuspüren? Überlebende zu entdecken?«, fragte die Kommandantin zögernd.

Kristallträumer nickte. Inzwischen war seine Familie angekommen und blieb in einigem Abstand zögernd hinter ihm stehen. Es war deutlich zu erkennen, wer das Sagen hatte, und wie er sich Gehör verschaffte. Kristallträumer wies auf Sandperle. »Meine Frau verfügt über eine außergewöhnliche Heilbegabung. Sie kann heilen, wo Technik versagt. Ihr Bruder Schnellwasser kann meine Kräfte verstärken. Selbst meine kleine Tochter Sonnentau kann euch bei der Suche unterstützen, denn sie kann Leben erspüren. Und noch vieles mehr.«

Sie konnten jede Hilfe brauchen, das stimmte schon. July konnte sich unterwegs immer noch mit dem Rat auseinandersetzen; notfalls übergab sie Kristallträumer und dessen Familie nach der Landung in Utopia dem Präsidialamt. Was nach all den Vorfällen vielleicht ohnehin keine schlechte Idee war.

Sie ging dabei kein Risiko ein, würde es sich andererseits aber nie verzeihen, eine solche Chance

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ungenutzt gelassen zu haben, wenn sie ihre Familie nicht wieder finden sollte.

»Also gut«, entschied sie. »Ihr dürft mitkommen, du und deine Familie. Aber unter dem Vorbehalt, dass wir euch jederzeit absetzen oder in Verwahrung nehmen können, sollte es zu irgendwelchen Vorfällen kommen. Außerdem müsstest du dich bedingungs- und widerspruchslos meiner Befehlsgewalt unterstellen.«

»Das ist akzeptabel«, stimmte der Schamane zu. »Ich verstehe natürlich dein Misstrauen mir gegenüber, und ich werde ebenso selbstverständlich eure Sitten respektieren. Um meinen guten Willen zu zeigen, dass ich wirklich nur hier bin, um euch zu helfen. Es wird wieder eine Zeit kommen, da ich es für sinnvoller halten werde, den Kontakt zu euch abzubrechen und zu meinem Volk zurückzukehren. Aber in Zeiten der Not sind wir immer noch ein Volk und müssen zusammenhalten. Das ist das Gesetz der Gründer, das jeder von uns in seinen Genen trägt und bewahren muss, ob wir nun in der Stadt, im Wald oder in den Felsen leben.«

July Tsuyoshi drehte sich zu ihren Begleitern um, die sie reichlich entgeistert anschauten, aber keinen offenen Widerspruch wagten. »Ihr geleitet unsere Passagiere an Bord und quartiert sie in einer Doppelkabine mit Verbindungstür ein«, ordnete sie an. »Gebt ihnen zu essen und zu trinken.« Sie betrachtete das kleine Mädchen, das an der Hand der Mutter stand und mit

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großen fragenden Augen zu ihr aufblickte. »Vor allem der Kleinen, sie sieht unterernährt aus.«

»Sie ist gesund«, sagte die junge Frau mit den langen weißen Haaren. Sie hatte eine zarte Stimme, doch konnte sie auch scharf klingen. »Sonnentau fehlt nichts, sie ist nur müde nach dem langen Marsch. Wir alle brauchen keine Heilversorgung, falls Sie daran denken. Ich selbst bin Heilerin und habe alles Notwendige dabei.«

»Schon gut«, beschwichtigte July und bereute ihre Entscheidung schon wieder. Doch nur für einen kurzen Moment, genauso lange, wie ihr Blick verschwamm, um sich dann wieder scharf zu stellen. Was mache ich mir Gedanken, dachte sie. Es ist alles in bester Ordnung, wir haben Verstärkung bekommen. Kein Sandsturm wird uns aufhalten, und schneller als gedacht werden wir in Utopia landen, bei diesem Schutz, den wir jetzt an Bord haben.

Der Start der AENEA verlief ohne Probleme. Ja, das Schiff schnurrte geradezu vor Freude, sich endlich wieder in die Luft erheben zu dürfen. Die Techniker waren einsatzbereit, jeden Moment einer Katastrophe entgegenzuwirken, aber alles ging reibungslos. Die von einem Schwesterschiff gebrachten Ersatzteile leisteten gute Dienste. Und das war auch gut so, denn nur noch die Notbesatzung war an Bord; der Rest war mit dem anderen Schiff abtransportiert worden.

Kristallträumer und seine Familie waren unauffällige, ruhige Gäste an Bord. Die meiste Zeit hielten sie sich in der großen Lounge auf, wo Sonnentau nicht müde

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wurde, direkt vor einer der Panoramascheiben zu kauern und staunend auf das Land hinabzublicken, das still unter ihr dahin zog. Die Kleine war es bisher gewohnt gewesen, von hohen Felsen umgeben zu sein und nur einen begrenzten Blick auf den Himmel zu haben. So war ihr erster Ausflug »nach oben« und dann der Rundblick von der ersten Düne ein unglaubliches Abenteuer gewesen, das sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte.

Nun konnte sie alles sogar noch aus der Vogelperspektive betrachten. Eine grandiose Weite, schier endlos, Himmel wie Boden. Und bald, so hatte es die Mutter versprochen, würde das Meer kommen. Dann würde sich unter Sonnentau blaues Wasser in gewaltigen Wellen dahinwälzen. Was für Wunder!

»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte July, die sich gerade etwas zu trinken holte und etwas entspannen wollte.

Die Kleine nickte. Ihre Mutter war ein Stück entfernt in einem Sessel eingeschlummert. Kristallträumer hockte meditierend auf dem Boden, mit glasigem Blick, und Schnellwasser tigerte am anderen Ende wie ein gefangenes Raubtier auf und ab.

»Das muss ja einzigartig für dich sein, so eine Reise zu unternehmen«, fuhr die Kommandantin fort.

»Ja«, antwortete Sonnentau. »Eine zweite Reise wird es nicht geben.«

»Für dich?« »Für dich.« Sonnentau blickte July ernst an.

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Die Kommandantin zuckte zusammen, als Kristallträumer plötzlich neben ihr stand. Sie hatte nicht bemerkt, wie er aufgestanden und zu ihr gekommen war.

Der Schamane lächelte. Irgendwie verschwommen, wie July fand. Oder waren es wieder ihre Augen, die ihr einen Streich spielten? Das passierte ihr ziemlich häufig in letzter Zeit.

»Wir müssen reden«, sagte Kristallträumer mit seiner sanften und dennoch eindrucksvollen Stimme. Man konnte gar nicht anders, man musste ihm zuhören. Was er sagte, hatte Gewicht. Er war ein beeindruckender Mann mit einem großen Wissen.

July nickte langsam. »Ich würde gern etwas über meine Familie erfahren«, sagte sie langsam. Dann sah sie den schwarzen Kristall, der an einer Kette um den Hals des Schamanen baumelte. Erschrocken wich sie zurück. »Dieser Kristall …«

Kristallträumers Lächeln vertiefte sich. »Was man sich darüber erzählt, ist Aberglauben. Ihr Städter seid jedoch Vernunftmenschen, wie man sagt; was ihr nicht erklären könnt, existiert eurer Meinung nach nicht. Und nun erschreckt dich so ein unbedeutender kleiner Stein?«

»Aber … die Strahlung …« »Die Strahlung ist im Canyon, und wir haben sie dort

zurückgelassen. Dieser Stein hilft dir, klarer zu denken, Zusammenhänge besser zu verstehen. Jeder Kristall, der aus dem Leib des Roten Vaters geborgen wird, besitzt besondere Kräfte, so wie jeder von uns. Alles ist miteinander verbunden, und die magnetische Strahlung,

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die von ihm ausgeht, kann positiv auf deine eigene magnetische Aura einwirken. Das ist das ganze Geheimnis und sogar annähernd wissenschaftlich erklärt. Besser als Aberglauben, nicht wahr?«

»Ich … ich bin nicht abergläubisch«, setzte sich July zur Wehr. »Ich habe gehört … und gesehen …«

Kristallträumer ergriff ihre Hände, und sie hatte das Gefühl, ein Stromstoß ginge durch ihren Körper. »Ich werde dir jetzt sagen, was ich höre und sehe. Bilde dir deine eigene Meinung und vertraue auf die Klarheit deiner Gedanken.«

* * *

Utopia, vor vier Wochen Niemand empfing die AENEA mit Jubel, als sie auf

dem Flughafen von Utopia landete. Es gab zu viel zu tun. Die Regierung hatte eine neue Präsidentin, Maya Joy Tsuyoshi, frisch vermählt mit Leto Jolar Angelis. In Utopia waren gleichzeitig Bergungs-, Aufräum- und Wiederaufbautruppen am Werk. Auch in den anderen Städten wurde eifrig wieder instand gesetzt.

So fiel es niemandem auf, dass neben der normalen Besatzung auch vier Passagiere von Bord gingen, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht an die Behörde gemeldet worden waren. Niemand kümmerte sich um die zwei Männer, die Frau und das kleine Mädchen, die, ohne sich umzusehen, sofort den Weg Richtung Wüste einschlugen, anstatt sich der Stadt zuzuwenden. Und

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zwar gingen sie Richtung Nordosten, wo sich deutlich der große Kegel des Mie-Kraters über die staubfelsige Ebene erhob.

Niemand fragte je nach diesen Passagieren. Es war, als wären sie nie an Bord gewesen.

* * *

Matthew Drax hatte sich von seiner langen Reise in die Vergangenheit erholt. Zumindest im wachen Zustand. Nachts schreckte er häufig hoch und war völlig desorientiert, glaubte sich immer noch im Geiste Gilam'eshs zu befinden, durch seine Augen zu sehen, durch seinen Mund zu sprechen …

Manchmal konnte er nicht unterscheiden, welches Leben er gerade lebte, welche Gedanken er gerade dachte. Zu intensiv war das alles gewesen. Obwohl hier nur Sekunden vergangen waren, hatte er ein ganzes Leben er-lebt. Matt hatte schon viel durchgemacht, aber diese Erfahrung … Sein Leben würde nie mehr so sein können wie früher. Auch wenn er sich nach außen hin als »ganz der Alte« gab, unbefangen und unkompliziert. Innerlich war ihm immer noch, als hörte er manchmal ein leises Flüstern in sich, das ihn ermahnte, sich in dieser oder jener Situation anders zu verhalten.

Doch er würde lernen, damit zu leben, wie er auch einst seinen Zeitsprung bewältigt hatte. Es brauchte eben seine Zeit, und die gab Matthew Drax sich. Was ihn

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allerdings nicht hindern sollte, sich mit Feuereifer auf ein wichtiges Projekt zu stürzen.

Denn das Bedeutendste, was sein Abenteuer ergeben hatte, war dies: Nun wusste er um die Bedeutung und Bedienung des Strahls; er hatte ihn ja selbst mit konstruiert und getestet! Und damit hatte er endlich einen Weg gefunden, wieder nach Hause zu kommen!

Dafür aber mussten sie den Strahl, der in eine ferne Zukunft gerichtet war – anders hätten die Hydree auf der Erde nicht Fuß fassen können – so justieren, dass er die Strecke ohne nennenswerte Zeitverzögerung überbrückte.

Dabei führte der Strahl nur in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. So reizvoll es auch gewesen wäre zu versuchen, auf diese Weise vieles ungeschehen zu machen – vielleicht sogar den Einschlag »Christopher-Floyds«! –, hätte es unweigerlich ein Zeitparadoxon bedeutet.

Allein der Gedanke daran hatte bei Sternsang, dem Uralten, Entsetzen hervorgerufen. »Manipuliere nie die Zeit, Junge!«, hatte er ihn eindringlich ermahnt. »Damit bewirkst du nicht nur deinen, sondern den Untergang aller. Alles kommt, wie es kommen muss, nichts geschieht ohne Grund.«

Dagegen war eine Justierung des Strahl auf die kleinstmögliche Einheit von wenigen Tagen in die Zukunft durchaus möglich; das hatte Matt in Gilam'eshs Geist bei Tests miterlebt, in denen man den Strahl auf

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den Marsmond Phobos gerichtet hatte. (siehe MADDRAX 168 »Das fremde Leben«)

Fakt war: Matt hatte endlich einen möglichen Weg nach Hause gefunden. Das war alles, was für ihn zählte.

Aber natürlich wurde es ihm nicht so einfach gemacht. Nach der langen Zeitspanne lag in der Anlage eine Menge im Argen. Bedingt durch die Beben in jüngster Vergangenheit waren zudem einige Steuerungen ausgefallen. Ersatzteile mussten erst produziert werden, es gab natürlich keine mehr. Und Matts Anweisungen waren mehr als unpräzise, denn er war weder Erfinder noch großartiger Konstrukteur, auch wenn Gilam'esh am Bau des Strahls entscheidend mitgewirkt hatte.

Immer wieder gab es Rückschläge, doch die Marsianer lernten schnell, und es war absehbar, dass der Strahl bald funktionieren würde. Sie würden ihn vollends aktivieren und dann mit der Justierung anfangen, die vermutlich noch einmal ein paar Wochen Zeit in Anspruch nehmen würde.

Matt übte sich in Geduld. Auch wenn es schwierig war, das Ziel so nahe vor Augen.

Aber die Regierung der Marsianer unterstützte ihn nun. Und die daran beteiligten Wissenschaftler waren ohnehin restlos begeistert, dass endlich jemand da war, der die Anlage verstand und wusste, was wie funktionierte.

Matt war auf dem Strahlgelände stets von einer Traube Forscher und Techniker umgeben, die immer

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neue Fragen vorbrachten und ihn längst behandelten wie ihresgleichen.

Bald, dachte Matt. Bald.

* * *

Zwischenspiel: Phobos Assistent Grekk reagierte ziemlich ungehalten, seit

Hondo plötzlich zum Workaholic mutiert war und mitunter sogar im Labor schlief. Aber der Wissenschaftler ließ sich nicht beirren, er kontrollierte nun alles ganz genau. Er beobachtete jede Bewegung seiner Mitarbeiter und wurde von Tag zu Tag übellauniger, weil ihm die feuchtfröhliche Abendunterhaltung abging.

Als Hondo Beffur merkte, dass sein Benehmen die anderen zunehmend irritierte und sie zwangsläufig irgendwann zu den richtigen Schlussfolgerungen bringen würde, wurde er etwas nachsichtiger, auch sich selbst gegenüber. Er gestattete sich gelegentliche kleinere Ausschweifungen, um niemanden misstrauisch zu machen.

Immerhin war es nicht das erste Mal, dass er so einen Stimmungswandel durchlebte, denn sein Labor war schon einmal zur Debatte gestanden, als Leto sich unzufrieden über den Fortgang der Entwicklung gezeigt hatte. Damals hatte Hondo sich ganz ähnlich verhalten. Und das war sein Glück, denn als geheimer Beobachter

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taugte er einfach überhaupt nicht. Dafür war er viel zu geradlinig und geradeheraus.

Während er einerseits wieder anfing, sich gelegentliche Sinnesfreuden zu gönnen, ging Hondo auf der anderen Seite dazu über, seinen Leuten heimlich hinterher zu steigen. Er würde schon noch herausfinden, wer ihn hinterging! Bestechung und Spionage in seiner Abteilung – das ging einfach zu weit. Vor allem, da Hondo die Absicht hatte, seine Forschungsergebnisse mit niemandem zu teilen, sondern sie meistbietend auf den Markt zu bringen – sobald Leto ebenfalls zufrieden gestellt war, natürlich. Aber Hondo wusste, dass in dem Pilz eine Menge mehr steckte, nicht nur der Sauerstoff. Den sollte Leto meinetwegen haben. Den Rest wollte Hondo ihm vorenthalten und verhökern.

Das bedeutete aber, dass zuerst der Schmarotzer, der es wagte, ihm ins Handwerk zu pfuschen, beseitigt werden musste.

Hondo schnaubte leise für sich, während er im Licht einer Taschenlampe durchs Dunkel tappte. Nachtschicht gab es momentan keine, weil sie nicht notwendig war, also lag alles still und verlassen da. Hondo konnte sich in aller Ruhe umsehen. Sollte ihn dabei jemand beobachten, wäre auch das nicht ungewöhnlich – er war auch früher schon nachts hier aufgetaucht, um nach seinen Kulturen zu sehen und ihnen sein Herz auszuschütten, wenn Kummer an seiner Seele nagte.

Da standen sie also, fein säuberlich aufgereiht, sorgfältig durchnummeriert.

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Hondo fand, dass die Sechziger-Reihen einen ganz besonderen ästhetischen Reiz hatten; bei ihnen verweilte er oft, um sie zu betrachten wie andere ein Gemälde.

Und da sah er die Lücke. Vierundsechzig-A fehlte. Eine seiner

Lieblingskulturen. Ein siedendheißer Schreck durchfuhr Hondo. Und das Schlimmste daran: Dies war schon einmal

passiert!

* * *

Utopia, vor zwei Wochen »Hey, hast du was zu essen? Gib mir was! Na los, gib

mir schon was!« Der Mann stolperte auf Eliana Margys zu. Sie hatte ihn hier noch nie gesehen. Mochten die Monde wissen, woher er auf einmal kam, wie lange er gelauert hatte. Hier gab es schon seit Tagen nichts mehr. Die Bagger waren noch nicht bis hierher vorgedrungen – aber das war nur eine Frage der Zeit. Der Baulärm war schon zu hören, und gelegentlich zog ein Gleiter über die Ruinen hinweg, um sie in Augenschein zu nehmen.

Vieles würde sich in Utopia ändern. Wahrscheinlich würde hier ein ganz neues Viertel errichtet. Vielleicht auch der neue Gonzales-Tower?

»Lass mich in Ruhe!«, fuhr Eliana den Mann an. »Ich habe nichts für dich.«

»Mach dich nicht über mich lustig, ich weiß, dass du was hast!« Der Mann war lang und dünn, die Kleidung

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schmutzig und zerrissen, seine Haare hatten schon lange keinen Kamm mehr gesehen. Er mochte kaum älter als Eliana sein. In seinen Augen glühte ein Irrlicht. Er streckte seine Hände aus.

Eliana ging in Abwehrhaltung. »Ich sagte: Hau ab!«, herrschte sie den Mann an. »Ich habe nichts, weder für dich, noch für mich! Seit drei Tagen habe ich nichts mehr gegessen, und bald bin ich so weit, ein Knochengestell wie dich anzunagen! Also sieh dich vor und komm mir nicht zu nahe!«

Nun wich der Bettler deutlich eingeschüchtert zurück. »Ist ja schon gut, beruhige dich«, murmelte er. »Man wird ja wohl noch fragen dürfen …« Leise vor sich hin schnatternd zog er sich zwischen die Ruinen zurück und war bald verschwunden.

Eliana entspannte sich wieder. Als ihr Magen laut und vernehmlich knurrte, legte sie eine Hand auf den Bauch und streichelte ihn leicht, als würde ihn das beruhigen. Sie hatte nicht gelogen, sie hatte tatsächlich vor drei Tagen zum letzten Mal etwas zu essen gefunden. »Was für ein Leben ist das«, flüsterte sie.

Noch eine Nacht würde sie es nicht ertragen können. Sie hatte keine Wahl: Sie musste eine Suppenküche aufsuchen, wenn sie nicht verhungern wollte.

Manchmal fragte Eliana sich, warum sie überhaupt am Leben blieb. Aber ihr Körper war einfach noch nicht bereit, sich aufzugeben. Er verlangte nach Nahrung, Schlaf und … ja, anderen Gedanken. Aber woran sollte sie schon denken? Sie hatte alles verloren. Ihren

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Verlobten Hagfinn, den sie sehr gemocht hatte. Ihren Job als Ingenieurin. Und die Chance, einmal oben im Tower der Gonzales' anzukommen, mit dem Status »adoptiert«, und eines Tages als Hagfinns Frau.

Sie hatte eine strahlende Zukunft vor sich gehabt. Doch die lag nun zerschmettert irgendwo unter den Trümmern, nachdem das Beben etwa ein Drittel der Stadt dem Erdboden gleichgemacht hatte. Eliana hatte das Beben miterlebt und wie durch ein Wunder überlebt. Wenn man das so sagen konnte.

»Sie können hier nicht durch, Frau.« Ein Exekutiver versperrte ihr den Weg, als eine Absperrung überklettern wollte.

»Aber … ich wohne da hinten …« Eliana deutete auf ein intaktes Gebäude jenseits der Trümmergrenze.

»Sie wohnen nirgends, Frau«, versetzte der Mann. »Aber ich kann Sie zum nächsten Magistratsbüro bringen, das Ihnen weiterhilft. Sie werden Unterkunft, Kleidung und Essen erhalten. Und bald auch Arbeit. Wir können jede helfende Hand brauchen.«

»Nein!« Eliana hob abwehrend die Hände. »Nein, nicht anfassen!«

»Ist ja gut«, sagte der Mann sanft. »Sehen Sie, ich bin weit genug weg von Ihnen, Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich will Ihnen wirklich nichts Böses. Kommen Sie einfach mit mir, dann wird es Ihnen bald besser …«

Eliana schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre langen strähnigen, ungewaschenen Haare flogen. »Nein, ich

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kann nicht. Ich will das nicht. Sie dürfen mir nicht zu nahe kommen! Ich will gehen. Ich will gehen!«

Der Mann lächelte immer noch und tat einen halben Schritt nach vorn. »Bleiben Sie doch ruhig, gute Frau. Lassen Sie sich helfen! Alles wird gut. Sehen Sie, wie weit die Bauarbeiten schon gediehen sind! Bald wird Utopia in schönerem Glanz denn je erscheinen, und Sie werden mit dabei sein, wenn es wieder an die Arbeit geht! Viele Einwohner sind schon wieder zurückgekehrt und setzen ihr gewohntes Leben fort. Kommen Sie, es gibt keinen Grund, sich zu verstecken und zu hungern! Ruinen wie diese wird es bald nirgends mehr geben, auch hierher kommt schon morgen der Bagger.«

»Hierher?« Erschrocken legte Eliana eine Hand an den Mund. »Aber das geht nicht! Ich wohne doch hier! Und Hagfinn ist hier irgendwo, und … und … Sie können doch nicht einfach … ohne uns zu fragen …«

»Aber verstehen Sie denn nicht, was ich sage? Wir machen alles wieder heil, und noch besser als vorher! Es ist das Beste für Sie!«

Eliana stand für einen Moment schwankend, dann spuckte sie den Mann an. Sie verfehlte ihn natürlich, denn er stand gut drei Meter entfernt von ihr und sie war viel zu kraftlos. Trotzdem verfehlte die Geste ihre Wirkung nicht, denn der Mann ließ seine Hände sinken, und sein Gesicht wurde starr.

»Hören Sie auf!«, schrie Eliana ihn an. »Sie haben überhaupt kein Recht dazu! Wie können Sie es wagen …

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wie können Sie nur!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte schluchzend davon.

»Was war denn das?« Eine Kollegin des Exekutiven kam hinzu. Sie beobachtete eine abgehärmte, abgerissene Frau, die wie von Sandteufeln gehetzt davonrannte.

»Nur wieder einer dieser Bebengeister«, antwortete der Kollege. »Manche weigerten sich, rechtzeitig die Stadt zu verlassen. Einige haben das Beben überlebt, aber nicht verkraftet. Diese armen Teufel irren seit Wochen durch die Ruinen, verloren in ihrer eigenen Welt. Einige konnten wir einfangen, aber ihnen nicht helfen. Der Großteil von ihnen gab sich noch auf dem Weg zur Klinik auf und starb.«

»Warum hast du die Frau nicht festgenommen?« »Ich bin nicht nahe genug an sie rangekommen. Aber

was hätte es auch für einen Sinn? Außerdem haben wir alle Hände voll zu tun, das weißt du genau. Vielleicht finden diese armen Tröpfe eines Tages wieder zu sich. Ansonsten kann man nichts für sie tun.«

»Was für eine bizarre Situation«, bemerkte die Exekutive. »Überall entstehen Prachtbauten, und die Menschen kehren nach Utopia zurück, als wäre nichts geschehen. Doch auf dieser Seite gibt es immer noch Ruinen, mit Überbleibseln aus der Vergangenheit, wie ein lebendiges Mahnmal. Gruslig, sage ich dir. Wir sollten trotzdem zusehen, dass wir diese Spinner alle einfangen und in eine Klinik bringen, während es mit

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dem Aufbau weitergeht. Das wirkt doch sonst sehr abschreckend, meinst du nicht?«

»Klar. Aber was soll ich machen? Wir sind nur einfache Exekutive. Ich habe schon drei Leute eingefangen, mein Lohn dafür waren zwei gebrochene Rippen, eine Knieverletzung und ein Gesicht voller Blutergüsse. Und völlig umsonst; keiner der drei hat es noch lange gemacht, die haben sich einfach aufgegeben. Trotzdem habe ich noch zweimal Eingaben gemacht, aber nie eine Antwort erhalten. Der Rat kümmert sich nicht um Bebengeister, die zwischen Trümmern umherirren. Es ist, als wären diese Leute alle schon für tot erklärt.« Er wandte sich ab. »Früher oder später werden sie verschwinden, so wie die Erinnerung an die Tragödie verblasst. Ich hoffe nur, dass es schnell geht.«

Eliana Margys hielt erschöpft inne. Sie hatte fürchterliches Seitenstechen, und ihr flimmerte es vor Augen. Halb blind tastete sie sich an zerborstenen Mauern weiter, in der Hoffnung, bald eine Suppenküche zu finden. Wenn sie so weitermachte, hielt sie keine weitere Nacht mehr durch.

Aber sie wollte leben, so bizarr es auch erschien. Es gab noch eine Aufgabe für sie, sie wusste es genau. Vielleicht hätte sie diese Aufgabe schon längst gefunden, wenn sie nicht immer allen Menschen ausgewichen wäre. Aber sie konnte die Nähe anderer kaum ertragen. Sie sahen alle so sauber aus, waren ganz anders als sie. Sie würden nie verstehen, was in Eliana vor sich ging. Das

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konnten nur diejenigen, die dasselbe erlebt und durchgemacht hatten wie sie. Obwohl auch diese Leidensgefährten sich nur selten zusammenfanden. Meistens versteckte sich jeder allein irgendwo und suchte erst in den Stunden der Dämmerung nach Nahrung. Man konnte einfach nicht teilen, weder das Essen, noch das Grauen. Kein Wunder, dass man sie Bebengeister nannte.

Vor allem brachte Eliana es nicht über sich, die Trümmer zu verlassen. Sie hegte immer noch Hoffnung, Hagfinn zu finden, der vielleicht hier irgendwo war, möglicherweise eingezwängt unter Trümmern.

Dass er erstens an einem ganz anderen Ort umgekommen war und zum zweiten nach der langen Zeit unmöglich unter dem Schutt überlebt haben konnte, war Eliana egal. Sie war fern jedes rationalen Denkens, wollte nur Hagfinn wiederhaben, sich an ihn klammern und ihn nie wieder loslassen. Erst damit würde das Grauen ausgelöscht und sie könnte zu einem normalen Leben zurückkehren. Bestimmt war er noch hier! Wartete auf sie, wollte gerettet werden. Da konnte sie nicht einfach …

Eliana stieß einen Schrei aus, als sie einen Stoß in die Seite erhielt. Sie verlor den Halt und stürzte. Instinktiv schlug sie um sich, um den Angreifer abzuwehren, aber er war längst über ihr, drückte sie zu Boden und legte seine Hände an ihre Kehle.

»Still!«, zischte der Mann. »Rühr dich nicht!«

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Eliana erkannte den Bettler von vorhin. Er musste ihr gefolgt sein! »Ich … ich habe doch nichts«, stieß sie krächzend hervor.

»Maul halten!«, brüllte er. »Denkst du, ich lass mich von dir für dumm verkaufen? Wenn du dich rührst, bring ich dich um!«

Eliana erstarrte wimmernd und schluchzend. Obwohl der Mann so dünn und schwach war, dass er nicht einmal die Luft in ihrer Kehle abschnüren konnte, brachte sie keine Kraft mehr auf, ihn wegzustoßen. Außerdem machte sie diese direkte Nähe, sein Gewicht auf ihr und sein übler Gestank, halb wahnsinnig. »Gehweggehweggehweg«, klagte sie.

»Sei still, sei doch endlich still«, faselte er nicht minder wirr wie sie, während er anfing, ihre abgerissene Kleidung zu durchsuchen. »Schöner Mantel, nehm ich …«

»Nein … nein …« Die Nächte waren am schlimmsten, wenn draußen die

Temperaturen auf den Gefrierpunkt herabsanken. Eliana hatte sich tief in einem zusammengebrochenen Haus ein Nest gebaut mit allen wärmenden Materialien, die sie finden konnte. Den Mantel hatte sie sich selbst zusammengeflickt. Trotzdem fror sie erbärmlich. Sie wusste, es gab an bestimmten Stellen Feuer, wo man sich wärmen konnte. Aber dann hätte sie die ganze Nacht in der Gesellschaft von Menschen verbringen müssen, das konnte sie einfach nicht.

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Wenn der Mann ihr den Mantel wegnahm, war sie verloren.

»Dieb!«, schluchzte sie und fing nun doch an, sich gegen ihn zu wehren, seine Hände wegzuzerren, hilflos mit flacher Hand auf ihn einzuschlagen. »Meinen Mantel kriegst du nicht!«

Er schlug zurück und schrie sie weiter an. Ineinander verkrallt rollten sie über den Boden, wobei die harten und spitzen Granitsteine, die überall herumlagen, mehr schmerzten als die gegenseitigen kraftlosen Schläge.

Plötzlich merkte Eliana, wie es leichter wurde. Sie hörte den überraschten Schrei des Bettlers und sah, wie er hochgerissen und von zwei Männern fortgeschleppt wurde. Eine Frau ging neben Eliana in die Knie und sah sie freundlich lächelnd an.

Eliana rappelte sich auf und hob abwehrend die Hand, als die Frau ihr helfen wollte. »Nicht … nicht zu nahe!« Sie raffte ihren Mantel vorn zusammen und fuhr sich durch die Haare. »Ich … es geht schon, danke.«

»Möchtest du etwas essen?«, fragte die Frau. Sie zog aus einer Tasche ein Stück Brot, brach zwei Stücke davon ab und biss von dem einen Stück ab, kaute deutlich sichtbar darauf herum, während sie das zweite Eliana hinhielt. Die zögerte, doch als die Fremde ihren Bissen hinunterschluckte, griff sie hastig nach dem angebotenen Stück und schlang es gierig in sich hinein.

»Ich bin Hera«, stellte sich die Fremde vor. »Eliana«, nuschelte sie mit vollem Mund. »Der wollte

mir den Mantel klauen. Vielen Dank.«

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»Nichts zu danken, Eliana. Sag mir, was machst du hier?«

»Hagfinn suchen«, flüsterte Eliana. »Hagfinn? Deinen Mann?« Eliana nickte. Sie deutete Richtung Stadtmitte.

»Gonzales-Tower. Der ganz große. Eines Tages wäre ich auch dort gewesen, ganz oben.«

»Das tut mir Leid, Eliana«, sagte Hera aufrichtig bedauernd. Es war seltsam, aber Eliana fasste zaghaftes Vertrauen zu dieser Frau. Sie strahlte so etwas Besonderes aus … Freundlichkeit, und Würde, und … Güte, ja, genau. Sie wollte Eliana nicht drängen, sie zu nichts zwingen. Gab ihr zu essen und kam ihr nicht zu nahe. Stellte nur Fragen, und die Antworten interessierten sie wirklich.

Das Brotstück war weg, aber Hera hatte noch mehr. »Langsam«, sagte sie lächelnd. »Du hast bestimmt schon lange nichts mehr zu dir genommen.«

Eliana nickte. Nachdem der schlimmste Hunger getilgt war, kaute sie jetzt auch langsamer und stellte fest, wie das Brot sie belebte und wärmte, und … zufriedener machte. Wohlgefühl breitete sich in ihr aus.

»Du bist ziemlich schön«, stellte sie fest. Hera trug ein langes, von einem Taillengürtel

geschnürtes Gewand in sonnig-hellem Gelborange, und Schnürstiefel. An einer Kette um den Hals hing ein daumengroßer, schwarz funkelnder Kristall. Ihr Gesicht benötigte kein Make-up, und sie trug ihre langen Haare offen.

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»Danke sehr«, strahlte Hera. »Eliana, was glaubst du, warum das Beben geschah und dich und Hagfinn trennte?«

Eliana senkte den Blick. »Wir haben zu viel verlangt«, flüsterte sie. »Waren zu selbstsüchtig. Arrogant. Der Vater hat uns bestraft …«

Hera nickte. »Du bist eine weise Frau, Eliana. Aber nur, weil du dich schuldig fühlst, brauchst du dich hier nicht zu verstecken.«

»Nein, nein … ich muss Hagfinn suchen …« »Eliana, Hagfinn ist tot. Du kannst ihn nicht mehr

finden. Tief in deinem Herzen weißt du das längst.« Eliana starrte Hera aus verschwimmenden Augen an.

»Ist das meine Strafe?«, wisperte sie. »Du bist nicht schuldig«, versetzte Hera sanft. »Die

Schuld tragen andere. Du bist nur eine Leidtragende.« Eliana rieb sich die schmutzige Stirn. »Doch, ich bin

schuldig!«, sagte sie heftig. »Ich bin Ingenieurin, verstehst du? Ich habe mich darum beworben, in der Anlage der Alten eingesetzt zu werden! Ich wollte wissen, wie der Strahl funktioniert, ich …«

»Du warst nur fehlgeleitet, verführt vom trügerischen Schein«, erwiderte Hera mild. »Du bist nicht verantwortlich für das, was geschehen ist, sondern andere. Nicht du hast Hagfinn umgebracht, sondern sie.«

Eliana hob den Kopf. Zaghaft flackerte Hoffnung in ihren Augen auf. »Ist das wahr?«

»Aber natürlich, und das weißt du auch«, sagte Hera fest. »Und du weißt ebenso, dass es nicht vorbei ist, denn

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sie machen immer noch weiter. Sie werden den Mars in den Untergang treiben, wenn wir nicht etwas unternehmen.«

»Aber … wie kann ich …« »Jede Stimme zählt, Eliana. Jeder ist von Bedeutung.

Mach dich nicht kleiner, als du bist. Ich wäre froh, wenn ich dich zur Unterstützung gewinnen könnte. Wir müssen verhindern, dass noch einmal eine solche Katastrophe geschieht, die Familien auseinander reißt! Eltern begraben ihre Kinder, so etwas darf nicht geschehen! Das fragile Gleichgewicht auf diesem Planeten ist ins Schwanken geraten, und wir müssen es wiederherstellen, sonst wird das ganze Volk zugrunde gehen. Und wer, wenn nicht das Volk selbst, kann dies verhindern?«

Eliana Margys erkannte, dass sie nun ihre Aufgabe gefunden hatte. Genau das war es gewesen, worauf sie gewartet und gehofft hatte. Sie hatte nun ein Ziel vor Augen, das zugleich Hagfinns Tod sühnen und andere vor demselben Schicksal bewahren würde. »Wie hast du dir das gedacht?«, fragte sie interessiert.

»Es gibt jemanden, der uns leitet«, antwortete Hera. »Der unsere Gedanken in Worte fassen kann. Worte, die gehört werden. Dieser Mann hat eine Vision, und er wurde vom Roten Vater zu uns geschickt, um uns vor Unglück zu bewahren. Er ist es, zu dem ich dich bringen werde, wenn du dich uns anschließen willst. Er wird froh und dankbar sein, dich an seiner Seite zu wissen. Und er

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wird dir helfen, deinen Schmerz zu lindern. Er ist gütig und weise.«

Die Frau deutete auf sich. »Sieh, was aus mir geworden ist. Vor kurzer Zeit noch war ich so wie du, ein verirrter Geist auf der Suche nach Wahrheit und Erlösung. Ich habe beides gefunden, und ich habe gelernt, mir zu vergeben – und unerbittlich gegen jene zu sein, die sich weigern, ihre Fehler einzusehen, und uns weiter in den Untergang treiben. Dies wird auch dein Weg sein, wenn du es willst. Entscheide noch nicht gleich! Wenn du bereit bist, komm heute vor Sonnenuntergang zum ehemaligen AFN-Gebäude. Weißt du, wo das ist?«

Eliana nickte. Hera fuhr fort: »Dort versammeln wir uns, und dann

werden wir zum Ort unserer Bestimmung aufbrechen. Als Zeichen, dass ich dir vertraue und dich als neue Freundin sehe, möchte ich dir etwas schenken.« Sie öffnete die Halskette mit dem Kristall und wollte ihn Eliana reichen.

»Das kann ich nicht annehmen!«, wehrte Eliana erschrocken ab. »Das ist viel zu kostbar!«

Hera lächelte. »Gerade deswegen solltest du das Geschenk annehmen, Eliana. Und mach dir keine Gedanken, er ist nicht der einzige seiner Art. Alle Freunde des Kristallträumers bekommen so einen Stein. Es ist das Zeichen unserer Zusammengehörigkeit, und der Beweis, dass wir Kinder des Mars sind und die

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Verantwortung übernehmen werden, unseren Vater zu schützen.«

Eliana machte große Augen. »Kristallträumer …«, wisperte sie. Zum ersten Mal seit dem Beben erhellte ein scheues Lächeln ihre Züge. Sie ließ es zu, dass Hera ihr nahe kam, die Kette um ihren Hals legte. Dann schloss sie die Augen, als die Frau ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange drückte.

»Ich freue mich sehr, wenn du dabei sein willst«, flüsterte Hera ihr ins Ohr. »Ich muss jetzt weiter, Eliana. Bis heute Abend – hoffe ich.« Sie stand auf, hob die Hand zum Gruß und lief dann leichtfüßig davon.

Eliana legte sacht ihre Fingerspitzen an die Stelle ihrer Wange, wo sie immer noch Heras warme Lippen spürte. Mit der anderen Hand hielt sie den schwarzen Kristall umschlossen. Es war beinahe so, als würde er Wärme ausstrahlen und wie ein Herz schlagen.

Bis zum Nachmittag saß Eliana an dem Platz, wo Hera sie gefunden hatte. Dann stand sie auf und ging langsam, aber von neuen Kräften erfüllt zum verabredeten Zielpunkt.

* * *

Zwischenspiel: Phobos Die fieberhafte Suche ergab nichts, die ganze Nacht

hindurch nicht. Hondo Beffur war völlig verzweifelt. Er war sicher, dass er nach den Tests jede einzelne Kultur an ihren Platz zurückgelegt hatte.

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Natürlich war er hin und wieder machlässig, vor allem, wenn er verkatert war. Aber er würde keinesfalls eine hochgefährliche Probe irgendwo herumliegen lassen. Zumindest nicht mehr, seit ihm tatsächlich einmal eine Kultur abhanden gekommen war, vor langer Zeit in einer kritischen persönlichen Phase, als er verlassen worden war und seinen Kummer tagelang ertränkt hatte. Damals hatte Assistent Grekk ihn gerettet, der tatsächlich die Kultur wieder fand – in irgendeinem Schrank und zum Glück nicht beschädigt. Grekk hatte immerhin kein Aufhebens um die Sache gemacht und auch später nie versucht, seinen Chef damit zu erpressen.

Doch nun war es wieder passiert – und Hondo war in der letzten Zeit stocknüchtern gewesen.

Also Diebstahl. Aber wer war so dumm und beging eine so offensichtliche, sofort erkennbare Tat?

Hondo verließ völlig verzweifelt sein Labor. Den Rest der Nacht tigerte er in seiner Unterkunft auf und ab und überlegte, was er tun sollte. Einerseits sollte er Leto sofort in Kenntnis setzen – dessen Drohung hockte ihm wie ein Schraubenwurm noch im Nacken –, andererseits aber kam dann vielleicht seine eigene Nachlässigkeit ans Licht und er verlor trotzdem seinen Job. Also was tun?

Normalerweise verbrachte Hondo seine Nächte auf angenehmere Weise. Er wusste Besseres mit diesen Stunden anzufangen; und wenn er sich schon keinen Vergnügungen hingab, dann hielt er wenigstens einen ergiebigen Schönheitsschlaf. Beides war ihm in jener Nacht nicht vergönnt.

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Hondo Beffur rannte auf und ab, auf und ab. Seine Glieder schmerzten, sein Kopf rauchte – aber er fand keine Lösung. Er war völlig panisch. Das Ende seiner Karriere schien gekommen.

Als Hondo am Morgen völlig übernächtigt in seinem Labor eintraf, war alles still und verlassen, genau wie gestern Nacht. Mit einem einzigen Unterschied: Seine Leute fehlten.

»Das gibt's doch nicht«, murmelte Hondo vor sich hin. »Bin ich jetzt total verrückt geworden? Was geht hier vor?« Sollte er Letos Büro anrufen und sich erkundigen, ob das Labor nun doch geschlossen worden war und man vergessen hatte, ihn zu informieren? Was eine Blamage ohnegleichen gewesen wäre. Alles sah leer und verwaist aus, als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen.

Der Wissenschaftler seufzte schwer. Dann ging er zu seinem Arbeitsplatz, um eine Verbindung zum Mars herstellen zu lassen.

In diesem Moment öffnete sich die Durchgangsschleuse zum keimfreien Labor … und Hondo erbleichte.

* * *

Der Wald »Hey, aus dem Weg, du!«

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Aquarius erhielt einen Schlag in die Seite und stolperte. Wütend fuhr der junge Mann mit den langen blauen Haaren herum. »Was soll das?«

»Na, was schon? Du stehst mir im Weg!« Der Mann, ganz offensichtlich ein Städter, wie unschwer an seiner Kleidung und dem schwammigen Aussehen erkennbar war, grinste breit. »Du hast hier ohne meine Einwilligung überhaupt nichts verloren, Wurzelfresser. Das ist jetzt mein Territorium!«

»Dein – was?« Aquarius glaubte sich verhört zu haben. »Dies ist unser Wald, und du bist hier lediglich Gast! Also benimm dich entsprechend und sei dankbar, dass wir dich aufgenommen haben!«

»Nimm dich bloß nicht so wichtig, Kleiner.« Der Mann hob den Zeigefinger. »Hier wird bald ein anderer Wind wehen, das kann ich dir versichern!«

Der junge Mann glaubte es. »Deine Aura ist schwarz«, flüsterte er. »Ich sehe deine finsteren Gedanken. Aber sie werden dir nichts nützen, denn wir wissen uns zu wehren.« Er verschwand seitwärts ins Gebüsch, ohne auf die Flüche des Mannes zu achten, die er ihm hinterher rief.

Was ist aus uns geworden, dachte Aquarius verzweifelt. Ich kann den Gesang des Waldes nicht mehr hören, weil das Geschrei der Städter alles übertönt.

Viele Tiere waren bereits aus der Region geflohen, wenn sie nicht sowieso schon geschossen und verzehrt worden waren.

Page 66: Der Prophet aus der Wueste

Angefangen hatte es damals mit dem Ausreißen der Bäume, als Windtänzer sein Nest, seine Heimat und seine Lieblingsfrau Rosen verlor. Die Städter hatten sich anschließend, von Reue geplagt, wieder zurückgezogen. (siehe MADDRAX 157 »Das Erbe der Alten«)

Doch nun kannten sie keine Grenzen mehr. Die Waldleute hatten sie aufgenommen, als viele nach

dem Beben ihre Behausungen verloren hatten und nicht wussten wohin. Manche waren auch in heller Panik in den Wald geflohen, weil sie glaubten, dass sie hier sicherer waren.

Und nun gingen sie einfach nicht mehr weg. Fingen an, die Bäume zu roden und vergrößerten die Lücke, die damals schon entstanden war. Sie bauten windschiefe Hütten und machten sich immer mehr breit. Sie verlangten Unterstützung von den Waldleuten, zwangen sie, die Tjork-Käfer beim Häuserbau einzusetzen, zertrampelten kostbare Pflanzen und walzten heilige Stätten nieder.

Sie benahmen sich nicht wie Gäste, sondern wie neue Eigentümer. Für die Waldleute hatten sie nur Spott und Beschimpfungen übrig. Viele äußerten, dass es endlich Zeit werde, sich um den Wald zu kümmern, der nicht nur für die Wurzelfresser da sei.

Immer häufiger kam es zu Streitigkeiten, sogar Handgreiflichkeiten zwischen Städtern und Waldleuten. Die Städter fingen an, Schutzwälle um ihre armseligen Hütten zu ziehen und erlaubten den Waldleuten keinen Durchgang mehr auf ihren gewohnten Pfaden.

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Wohin Aquarius auch ging, überall sah und roch er die Städter, ihre Hinterlassenschaften, ihre Zerstörung. Die Siebentöner waren schon lange verstummt. Der Wald war vergiftet.

Er hatte genug. Es musste anders werden. Aquarius kreuzte eine weitere Lichtung der Städter

und bemühte sich, Augen, Nase und Ohren zu verschließen vor dem, was sich ihm dort bot.

Da vertrat ihm jemand den Weg. »Was machst du hier?« Wieder einer dieser

aufgeblasenen Wichtigtuer. Hörten diese Männer denn überhaupt nicht mehr auf ihre Frauen? Glaubten sie, weil im Wald kein Matriarchat mehr herrschte, sich so verhalten zu dürfen?

Die Männer mochten im Wald angeblich das Sagen haben, so wie in den Städten angeblich die Frauen. Doch ganz so einfach war es nicht. Auch wenn diese unliebsamen Gäste es annehmen wollten.

»Ich bin auf dem Weg«, antwortete Aquarius mit seiner höflichsten Stimme. Er bemühte sich, seine Größe nicht zu sehr zur Schau zu stellen. Die Waldmenschen waren größer als der durchschnittliche Städter, ätherischer in der Erscheinung, und sie besaßen eine besondere Ausstrahlung. Gerade deswegen wurden sie oft abgelehnt: weil die Städter sich dadurch verunsichert fühlten; es nagte an ihrem Selbstwertgefühl.

»Und wohin?« Aquarius glaubte sich verhört zu haben. »Weshalb ist

das von Interesse für dich?«

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»Weil du hier nicht einfach durchlatschen kannst, deshalb«, sagte der Mann. Er mochte annähernd fünfzig Jahre alt sein, verweichlicht und wohl mehr dem Alkohol als anständigen Dingen zugetan.

»Dies ist mein Wald«, sagte Aquarius ruhig. Der Mann starrte ihn an, dann fing er brüllend an zu

lachen. Das lockte weitere Städter herbei, auch Frauen und Kinder. »Hat man so was schon gehört! Du erlaubst dir ja ganz schön viel, Bürschchen!«

Aquarius hatte genug. Die Grenze war überschritten. »Gib mir sofort den Weg frei.«

»Sonst – was?« Der Mann gestikulierte übertrieben. »Machst du dann irgendeinen Waldzauber mit mir? Uh, da habe ich aber Angst!«

Ein Kind bewarf Aquarius mit Gemüseresten. In diesem Moment fühlte er eine starke, kühle Hand

auf seinem Arm. Es war Felsspalter, Rosens Zwillingsbruder. Der Mann, der neben Windtänzer mehr als jeder andere Grund hatte, die Städter zu hassen.

»Genug jetzt«, sagte er ruhig. Felsspalter war Steinmetz, und er war bedeutend muskulöser als alle Städter zusammen. Eine wuchtige Erscheinung, der man sich nicht so schnell in den Weg stellte.

Aquarius schäumte vor Wut, er konnte sich kaum mehr bezähmen. Felsspalters Finger krallten sich schmerzhaft in seinen Arm, konnten ihn aber nur zurückhalten, kaum zur Besinnung bringen.

»Was mischst du dich da ein?«, tönte der Mann mutig – noch.

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Felsspalter machte einen Schritt auf ihn zu. »Gib sofort den Weg frei«, grollte er in tiefem Bass. Wild funkelte er die anderen an. »Verschwindet!«

Die Menschen wichen tatsächlich zurück, auch das Großmaul. Felsspalter zerrte den sich sträubenden Aquarius mit sich.

Allerdings keifte das Großmaul hinterher: »Das wird ein Nachspiel haben!«

»Ja, das wird es«, antwortete Felsspalter. »Sehr bald schon.«

»Du hättest nicht einfach so klein beigeben dürfen!«, schimpfte Aquarius unterwegs. »Denen müsste man es endlich mal zeigen!«

Felsspalter blieb stehen und schüttelte den jungen Mann. »Sag mal, hast du als Windtänzers Schüler überhaupt nichts gelernt?«, fuhr er ihn an. »Wir sind auf dem besten Weg in einen neuen Bruderkrieg! Mit Gewalt erreichen wir gar nichts!«

»Und was tun wir stattdessen?« »Wir gehen zu Windtänzer. Es muss etwas geschehen,

darin stimme ich dir zu.« Sie verließen den Hauptweg und schlüpften durchs

Gebüsch, als sie Städter kommen sahen – lange bevor diese sie bemerken würden.

»Ich verstehe nicht, wie du so ruhig bleiben kannst«, knurrte Aquarius, als sie wieder allein waren. »Nach allem, was –«

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»Ich bin nicht ruhig«, fauchte Felsspalter. »Denkst du, ich werde jemals vergessen oder verzeihen, was mit meiner Schwester geschehen ist? Mit unserer ganzen Sippe? Aber diese Tölpel hier tragen keine Schuld daran, die sind einfach nur dumm. Wir stehen weit über ihnen, das sollte dir eigentlich bewusst sein, als Auraseher! Ich verurteile nicht alle Städter, nur weil einige bösartig sind.«

Sie erreichten schließlich einen geheimen Versammlungsplatz, weitab aller Augen der Städter, tief im Wald verborgen, in unwegsamem Gelände. Nur jemand, der hier aufgewachsen war, konnte mühelos den Weg zwischen den dicht wachsenden, größtenteils dornigen Gehölzen finden.

Windtänzer war bereits da, ebenso Vogler, Starkholz, und noch einige andere bedeutende Frauen und Männer. Ebenfalls anwesend war die ehrwürdige Dame Vera Akinora Tsuyoshi, ehemalige Präsidentin und inzwischen als Weise Frau beim Waldvolk hoch geachtet. Bei ihr war auch ihre Enkeltochter Nomi Marlyn, Präsidentin Maya Tsuyoshis Tochter. Seit sich nach ein paar Wochen schwelender Ruhe wieder Krisen anbahnten, hatte die Präsidentin ihre Tochter in den Wald gebracht. Auch wenn hier nicht alles zum Besten stand, waren Vera und Nomi sicherer als in Elysium. Der Wald war groß und bot viele versteckte Plätze, die von den Städtern noch lange nicht gefunden werden würden.

»Es geht so nicht weiter«, platzte Aquarius heraus, noch bevor er die Baumsprecher begrüßt hatte, und fing

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sich dafür vor allem von dem gestrengen Vogler missbilligende Blicke ein. »Wir können das einfach nicht mehr hinnehmen, Meister!«

»Ich weiß, mein ehemaliger Schüler«, sagte Windtänzer. Eine sanfte Rüge, dass Aquarius ihn nicht mehr mit dem Titel belegen sollte. Aber müßig, denn inzwischen nannte ihn fast jeder »Meister«. Einige fingen sogar schon mit der Anrede »Verehrter« an; die Rituale zu seiner Einsetzung als künftiger Oberster Baumsprecher hatten bereits begonnen. Windtänzers Ruf war jetzt schon legendär, sein Ansehen kaum geringer als das Sternsangs.

Neben Windtänzer saß wie immer Morgenblüte, seine Tochter; ein ungewöhnliches Mädchen, schon kurz vor der Schwelle zur Frau. Anmutig, mit einer wundervollen, nahezu magischen Stimme gesegnet, Bienentänzerin, von ihrem Vater vergöttert. Die mentale Bindung der beiden war beinahe so stark wie die zwischen Sternsang und Windtänzer.

Auch ihre Mutter Rotbeer, von der Morgenblüte das leuchtendrote Haar geerbt hatte, war anwesend.

»Die Situation ist sehr ernst«, fuhr der Baumsprecher fort. »Die Städter breiten sich immer mehr im Wald aus und beschneiden uns in unseren Rechten.«

»Meiner Ansicht nach«, fing Starkholz an, »können wir allein da nichts ausrichten. Wir brauchen die Unterstützung der Präsidentin.« Er wandte sich Vera Akinora zu. »Stimmst du mir darin zu, ehrwürdige Schwester?«

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Die alte Dame nickte. »Ein Vertreter des Rates wird nicht genügen. Hier muss die Präsidentin persönlich einen Erlass herausgeben. Ansonsten wird die Situation eskalieren. Auch auf mich hören die Städter nicht; die meisten kennen mich ja nur noch vom Hörensagen und sehen in mir lediglich eine alte Frau, die sich nicht mehr einmischen sollte.«

Einige in der Runde protestierten, doch sie hob lächelnd eine Hand. »Ich danke sehr für eure Anteilnahme, aber dies ist nun einmal die Wahrheit, seien wir realistisch.«

»Dann bitten wir Maya zu kommen!«, sagte Aquarius auffordernd, nicht begreifend, warum es nicht längst schon geschehen war. Den Gesichtern der anderen sah er an, dass sie dasselbe dachten.

Die Antwort sollten sie umgehend erhalten. »So einfach ist das leider nicht, Aquarius«, erklärte Windtänzer. »Kristallträumer ist da.«

Diese Information schlug ein wie eine Bombe. Der Schamane des Canyonvolkes, der Dame Vera, Nomi und Morgenblüte als Geiseln hatte nehmen lassen! Dessen Einfluss mittels seines Mediums Schnellwasser Tausende Kilometer weit reichte, um junge Waldmenschen zu beeinflussen und als Werkzeug zu benutzen!

»Wo?«, fragte Vogler stellvertretend für alle. »Am Strahl«, gab Windtänzer Auskunft. »Er ist mit

der AENEA gekommen und hat sich sogleich auf den Weg zum Gelände dort gemacht, um mit seinen Predigten zu beginnen. Und er hat die negativ

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schwingenden Kristalle mitgebracht, mit denen er die Menschen seinem Willen unterwirft. Der Zulauf wird immer stärker. Maya hat jeden Tag Sitzungen, um zu beraten, was sie gegen ihn unternehmen können. Die restliche Zeit nehmen die Erdbebenopfer und der Wiederaufbau in Anspruch.«

»Das heißt«, stieß Aquarius wütend hervor, »wir sind allein, wie immer!« Er zog den Kopf ein, als Windtänzers leuchtend grüner Blick ihn traf.

»Wir können das allein in den Griff bekommen«, sagte der Baumsprecher ruhig.

Die Blicke aller richteten sich neugierig auf ihn.

* * *

Strahlgelände bei Utopia Eliana Margys staunte, wie viele Leute sich

versammelt hatten. Zuerst wollte sie flüchten, aber dann tastete sie nach dem schwarzen Kristall vor ihrer Brust und fühlte sich augenblicklich ruhiger, sogar irgendwie getröstet.

Hera löste sich aus der Menge und lief mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Eliana! Wie schön, dich zu sehen! Komm, ich stelle dir die anderen vor.«

Eliana ließ sich einfach mitziehen. Sie war wie betäubt, glaubte sich in einem Traum. Auf einmal, so schien es ihr, kehrte sie ins Leben zurück! Und plötzlich hatte sie keine Angst mehr vor der Berührung anderer. Nicht einmal die Nähe war ihr unangenehm. Weil jeder dieser

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Menschen dasselbe durchgemacht hatte wie sie und genauso dachte … das spürte sie. Sie waren alle wie eine einzige große Familie.

Turem schien einer der Anführer zu sein; ein großer, finsterer Mann, dessen Händedruck aber warm und herzlich war. Dann waren da noch Lucca, Meredith und Karyn, die ähnlich wie Hera von überall her verirrte Bebengeister aufgesammelt hatten. Man behandelte Eliana, als wäre sie etwas ganz Besonderes. Sie wurde an ein Feuer gesetzt, bekam einen Teller voll herzhafter Nahrung und einen großen Becher starken Gewürztees. Mit geschlossenen Augen ließ sie es sich schmecken.

Anschließend wurde sie zu einem provisorischen Lager geführt, in dem transportable Hygienekabinen aufgestellt waren. Zum ersten Mal seit Wochen konnte Eliana ausgiebig duschen und den Filz aus ihren Haaren waschen. Mit dem Dreck spülte sie auch die Schrecken seit dem Beben hinunter, und sie kam als neuer Mensch zum Vorschein – bleich und mager, aber mit beginnender Lebensfreude in den Augen. Der schwarze Kristall baumelte vor ihrer nackten Brust, als Hera sie mit einem dicken weichen Tuch in Empfang nahm. »Du bist aber auch sehr hübsch«, gab Hera ihr das Kompliment von heute Morgen zurück. »Ich habe doch gewusst, dass da eine Blume im Verborgenen blüht!«

Eliana erhielt neue Kleidung, die gleiche wie Hera, und fühlte sich geborgen. »Was wird jetzt geschehen?«, fragte sie.

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Hera deutete auf zwei große Kombirover, die am Rand des Lagers bereitstanden. »Wir haben nur noch auf dich gewartet, und jetzt fahren wir ab.«

»Wir fahren?«, staunte Eliana. »Aber wohin?« »Zu Kristallträumer«, antwortete ihre neue Freundin.

»Er erwartet uns am Sitz des Bösen.« Beim Strahl! Elianas Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie begriff, dass

sie nun Teil einer sehr großen, bedeutsamen Sache war. Mit leuchtenden Augen stieg sie zu anderen ehemaligen Bebengeistern in eines der großen Überlandgefährte.

Auf der Fahrt wurde nicht viel gesprochen. Eliana nutzte die Zeit, um zu schlafen, ohne Angst und Kälte.

Tief in der Nacht kamen sie an der Grenze zum Strahlgelände an, wo außerhalb des energetischen Sperrgitters ein großes Lager aufgeschlagen war. »So viele Leute«, staunte Eliana, als sie aus dem Rover stieg. »Sind das alles Anhänger von Kristallträumer?«

Hera nickte. »Neugierig?« »Ja, sehr«, sagte sie aufgeregt. »Er muss ein …

besonderer Mann sein, wenn ihm so viele Menschen folgen. Ich möchte unbedingt mehr über seine Vision hören!«

»Das wirst du«, versprach Hera. »Er wird bald zu euch sprechen. Komm, ich verschaffe dir einen guten Platz, von wo aus du ihn sehen kannst.«

* * *

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Matt Drax beobachtete vom Strahlgelände aus die Ankunft der beiden neuen Rover mit kritisch gerunzelter Stirn. »Jeden Tag werden es mehr«, murmelte er.

»Wir haben allen Grund zur Sorge, Junge«, erklang eine alte und dennoch kräftige Stimme neben ihm. Sternsang war wie immer aus dem Nichts aufgetaucht und stand neben ihm, die knorrige Hand auf seinen Stock gestützt. Das Alter hatte ihn in den letzten Wochen gebeugt; er war kaum mehr größer als Matt. Aber seine Ausstrahlung war unverändert, auch der Glanz seiner Augen. »Es wäre besser gewesen, Kristallträumer hätte den Tod gefunden.«

»Ich …«, fing Matt an, aber Sternsang hob eine Hand. »Ich habe nicht gesagt, dass du ihn hättest töten sollen.

Du konntest nicht verhindern, was geschehen würde. Es wäre nur einfacher gewesen, so meinte ich das. Bis zuletzt hoffte ich, es würde nicht so weit kommen. Aber nun ist er hier. Ich spüre seine starke Präsenz. Er ist beinahe so wie ich … doch in seinem Alter war ich noch nicht so weit.«

»Die radioaktive Strahlung im Canyon hat sie alle verändert«, erklärte Matt. »Und diese Kristalle …«

»Was hat es damit eigentlich auf sich?« Fedor Lux gesellte sich zu ihnen. Die Sonne war fast untergegangen, und sie warteten alle auf die Gleiter, die sie abholen würden.

Matt berichtete, welche Wirkung die auf Psi-Frequenz strahlenden schwarzen Kristalle auf ihn und die anderen gehabt hatten. »Die Menschen, die dort draußen lagern,

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tragen alle einen solchen Kristall. Der Schamane muss Hunderte mitgenommen haben. Aber sie zeigen bei diesen Leuten eine andere Wirkung als bei uns. Es scheint, dass sie eher ruhig gehalten werden, fast wie in Trance.«

»Das liegt an der veränderten Umgebung«, erklärte Sternsang. »Hier gibt es so gut wie keine Strahlung, mit Ausnahme der Schwingungen des Strahls. Das wird die Frequenz verändern. Außerdem sind es viel weniger Steine. Der Schamane hat das gewusst. Er kennt die Wirkung der Kristalle ganz genau.«

Matt richtete sich an den ätherischen Albino. »Was werden Sie unternehmen?«

»Nichts«, antwortete der Rat. »Ich kann es nicht, Maddrax. Bisher tut Kristallträumer nichts anderes als Reden zu schwingen. Solange die Leute nicht handgreiflich werden, kann ich nichts gegen sie unternehmen. Sie haben das gesetzliche Recht, dort draußen zu kampieren.«

»Das ist ein Fehler«, murmelte Matt. »Was sollen wir tun, Maddrax?«, gab Lux zurück. »Sie

alle einsperren? Wieder in den Ruinen von Utopia aussetzen? Nach Elysium fliegen und irgendwo unterbringen? Das geht nicht gegen ihren Willen. Sind Sie nicht selbst ein Verfechter der Demokratie und des persönlichen Freiheitsrechts?«

»Ich weiß ja«, brummte der Erdenmann und kratzte sich den Nacken. »Aber wir werden eine Menge Schwierigkeiten bekommen, Herr Fedor. Sicher, Sie

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könnten sich mit präventiven Maßnahmen Ärger einhandeln, aber es würde größere Probleme verhindern.«

»Die Stimmung ist gereizt genug«, erklang Chandras Stimme, die gerade hinzukam. »Das Volk gibt dir die Schuld an dem Beben, Matt. Kristallträumer sagt genau das, was sie hören wollen. Wenn wir ihn jetzt mundtot machen, gibt es einen Aufstand. Und Herr Fedor hat Recht, wir können die Leute gegen ihren Willen nicht einfach wegjagen. Sie befinden sich außerhalb des Sperrbezirks.«

Sternsang legte eine Hand auf Matts Schulter und stützte sich auf. »Bring mich in die Strahlgrotte, mein Junge«, bat er. »Ich bin müde, und meine alten Beine machen langes Herumstehen nicht mehr mit.«

»Sie könnten mit uns in den Tsuyoshi-Tower fahren, um etwas zu essen und in Ruhe zu schlafen, Verehrter«, schlug Chandra in ehrerbietiger Haltung vor.

»Nein, Tochter der Herbstblüte, ich möchte noch ein wenig meditieren«, lehnte der Uralte ab. »Meine Kräfte schwinden, und ich habe Windtänzer noch viel zu geben.«

Matt fragte sich nicht zum ersten Mal, wie diese Bindung über Tausende Kilometer hinweg funktionieren konnte. Aber er hatte es selbst miterlebt, dass Windtänzer und Sternsang mental miteinander verbunden waren, egal wie groß die Distanz war. Es schien wirklich so zu sein, dass der Oberste Baumsprecher seine Kräfte und sein Wissen auf seinen

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ehemaligen Schüler und designierten Nachfolger übertrug, und nicht nur ein Zeremoniell. Matt vermutete, dass zwischen den beiden nicht nur eine geistige, sondern auch eine genetische Verwandtschaft bestand. Schließlich trug auch Windtänzer die seltene Fähigkeit in sich, ein Weltenwanderer zu sein.

Einerseits wünschte er sich, der Reisegefährte und Freund wäre jetzt hier. Er könnte vielleicht zu einer Lösung beitragen, wie man Kristallträumer ohne viel Aufhebens wieder loswurde. Aber Windtänzer war im Wald gebunden und hatte dort mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen.

Andererseits waren die beiden Männer Todfeinde, und Windtänzer hatte schon einmal die Beherrschung verloren, als seine Familie angegriffen worden war. Wer wusste, ob sich die Stimmung nicht erst recht aufheizen würde, wenn Kristallträumer und Windtänzer noch einmal aufeinander trafen.

Matt führte den Greis in die Grotte des Strahls, wobei er den Eindruck hatte, dass Sternsang noch recht gut zu Fuß war – langsam, aber stabil.

»Der Tag ist nicht mehr fern, an dem du uns verlassen wirst«, sagte der Uralte, während sie über den Steg gingen. Sämtliches Wasser war inzwischen aus der Grotte abgepumpt und die Zugänge zu den gewaltigen Maschinen unterhalb des Strahls freigelegt worden. Sie hatten in den letzten Wochen eine Menge geleistet. Derzeit waren nahezu rund um die Uhr Wissenschaftler und Techniker unter Matts Leitung damit beschäftigt,

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den Strahl zu justieren. Eine scheinbar leichte Aufgabe. Matt hatte in den letzten Wochen die meiste Zeit an den Steuerungen verbracht und versucht, das richtige Ziel und die richtige Zeit herauszufinden.

»Kannst du das schon sehen, ehrwürdiger Sternsang?«, fragte er hoffnungsvoll. Bisher hatten sich alle Prophezeiungen des Uralten bewahrheitet.

»Gewissermaßen«, antwortete Sternsang. »Es ist schwer für mich, mich zurechtzufinden. Eine große Dunkelheit senkt sich auf uns herab.«

»Kristallträumer?« »Nein. Er ist mächtig, aber nicht so groß, wie er glaubt.

Der Vater wird es nicht zulassen, dass er die Macht an sich reißt. Aber ein anderer wird es tun.«

»Wie immer sprichst du in Rätseln, alter Freund.« Matt war der Einzige, der sich so einen lockeren Umgangston erlauben durfte. Nicht einmal Windtänzer war es gestattet.

Sternsang lächelte. »Das macht mich interessanter.« Unvermittelt wurde er ernst. »Matt, mein Junge, diese Welt wird bald zerrissen werden in einer schweren Prüfung. Der schwersten bisher.«

Matt nickte. »Mit meiner Ankunft hat es schon angefangen. Die Gesellschaft zerbricht. Und Kristallträumer wird es beschleunigen.«

Der Alte hielt seinen Arm fest. »Führe dein Vorhaben durch, egal was passiert«, sagte er eindringlich. »Egal, was es dich kostet. Die Kinder des Mars sind stärker, als es den Anschein hat. Vieles wird sich verändern, aber

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letztendlich wird das Volk gestärkt aus dem Leid hervorgehen. Deshalb lass dich nicht davon abbringen, durch den Strahl zu gehen. Du musst zurück auf die Erde und sie warnen, vor der Dunkelheit, die das Licht der Sonne auslöschen wird, die unseren beiden Welten Wärme und Licht schenkt. Ich sehe … ich sehe einen brennenden Fels. Dorthin musst du, und dort wirst du finden, was du so lange gesucht hast. Auch Antworten auf viele Fragen, aber nicht alle.« Er hob den Blick zur Decke der Grotte. »Die letzten Antworten bringt die Dunkelheit mit sich.«

Ächzend kauerte er sich nieder und nahm Meditationshaltung ein. »Matt«, schloss er, »ich werde hier bleiben, egal was geschieht. Versucht so wenig wie möglich an mich zu denken. Denn Kristallträumer weiß nicht, dass ich hier bin. Ich kann es vermeiden, dass er mich spürt. Aber ihr solltet nicht zu viel an mich denken oder über mich reden. Dieser Mann ist sehr, sehr gefährlich.«

»Ich verstehe«, sagte Matt, und zu seiner Verblüffung tat er das wirklich.

* * *

Elianas Herz pochte in der Kehle, als sich Kristallträumers Zelt endlich öffnete.

Aber hervor trat – eine Frau. Ätherisch schön mit ihren langen weißen Haaren und der zarten, hohen Gestalt. An

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der Hand hielt sie ein kleines Mädchen, dessen Anblick Eliana besonders rührte.

Alle Anhänger hatten sich um das Zelt versammelt, und Hera hatte Eliana wirklich einen guten Platz verschafft – schon in der dritten Reihe, mit direktem Blick auf den Zelteingang.

Ein Junge kam als nächstes zum Vorschein, mit feuerroten, kurzen struwweligen Haaren. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Wildes, Verstörendes, zugleich aber auch Mitleiderregendes.

Nun positionierten sich links und rechts vom Zelteingang Hera, Turem, Lucca, Meredith und Karyn. Sie lächelten in die Menge, zwinkerten dem einen oder anderen zu und lockerten so ein wenig die Spannung.

Ein Raunen und Flüstern ging durch die Menge, als dann endlich der von allen ersehnte Schamane erschien. Eliana sah einen älteren Mann, dessen Gesicht beseelt war von Weisheit, Güte, aber auch Entschlossenheit. Er stützte sich auf einen langen, kunstvoll verzierten Stab, denn sein linker Fuß war verkrüppelt. Seine Haltung war aufrecht. Eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung. Eliana zuckte zusammen, als sein Blick über die Menge schweifte und sie kurzzeitig wie ein leuchtender Blitz traf.

Der Mann neben ihr sagte leise: »Nimm mich auf in dein Licht, erleuchteter Meister, lass mich wandeln in deinem Schatten und ruhen in deiner Güte.«

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Eliana umklammerte mit einer Hand den schwarzen Kristall und wiederholte murmelnd die Worte, wie viele andere um sie herum.

Endlich begann der Meister zu sprechen. Seine Stimme wurde elektronisch verstärkt, sodass er bis in die letzte Reihe verstanden werden konnte.

* * *

»Verdammt«, sagte Fedor Lux, »die Medien sind da.« Er deutete auf die beiden Aufzeichnungsgleiter der ENT-und MP-Anstalten, die über der Versammlung schwebten. Mars-Pictures wurde von den Braxtons geleitet, es war also nicht ungewöhnlich, dass sie hier waren; die waren überall, wo sich etwas tat. Aber Elysium News Transmitter war ein halbstaatliches Organ des Tsuyoshi-Hauses. »Das wird unserer Präsidentin nicht gefallen.«

»Warum hat sie es nicht verhindert?«, fragte Matt. »C. L.«, antwortete Chandra und spuckte dabei die

Buchstaben aus. »Carter Loy Tsuyoshi, dieser Bastard, der leitet den

Sender!« Matt erinnerte sich an ihn. Er war Berater und wohl

auch Bettgefährte der damaligen Präsidentin Cansu Alison Tsuyoshi gewesen, Mayas machtgieriger Cousine. Cansu Tsuyoshi hatte damals das Todesurteil über Matt verhängt, wahrscheinlich mit Unterstützung Carter Loys. Durch seine Schuld hatte Windtänzer seine Lieblingsfrau

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verloren – und sich selbst beinahe eines Mordes schuldig gemacht. Waldleute hatten den Schwerverletzten gesund gepflegt und in die Stadt zurückgejagt. Bei ihrem Amtsantritt als Interimspräsidentin hatte Maya ihn und Cansu aus dem Rat entlassen.

Er nickte. »Der lässt sich kaum von Maya hineinreden, nachdem er seinen Beraterposten verloren hat. Wahrscheinlich kommt ihm das sogar gelegen, um die Präsidentin zu diskreditieren.«

»Gut kombiniert«, knurrte Chandra. Sie fummelte schon die ganze Zeit an ihrem PAC herum. »Verdammt, ich kriege keine Verbindung zu Maya!«

»Natürlich nicht«, bemerkte Fedor Lux. »Sie stören unseren Funk. Und ich schätze, wir werden auf unsere Gleiter warten müssen, bis Kristallträumer seinen Auftritt beendet hat.«

»In Großaufnahme will ich aber nicht erscheinen!«, rief Chandra empört. »Ich diene doch nicht der Volksbelustigung!«

»Bitte bleiben Sie«, sagte der Ratsmann. »Zeigen wir uns den Leuten gelassen und ruhig. Wir dürfen uns nicht verstecken.«

* * *

Zwischenspiel: Phobos Die gesamte Truppe, allen voran Assistent Grekk,

strömte aus der Schleuse und grinste Hondo

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verschwörerisch an. »Überraschung!«, sagte Grekk. »Haben wir Sie etwa erschreckt?«

Er hielt die fehlende Kultur hoch. Hondo stand kurz vor einer Ohnmacht und einigen

saftigen Bemerkungen, die er aber unterdrückte. »Was soll das alles?«

Eine Mitarbeiterin trat nach vorn. »Wir wollten Ihnen deutlich machen, was wir davon halten, dass Sie uns verdächtigen, Informationen zu verkaufen.«

»Aber … aber …«, stotterte Hondo, »Leto sagte mir … er hat Beweise …«

»Aber er befahl Ihnen bestimmt nicht, so plump vorzugehen, Chef«, meinte Grekk. »Unserer Ansicht nach hätten Sie zwei Möglichkeiten gehabt: sehr subtil nachzuforschen, oder ein Meeting einzuberufen und die Karten auf den Tisch zu legen. Was Sie jedoch getan haben, war Ausdruck deutlichen Misstrauens, und zwar gegenüber jedem von uns.«

Hondo ging um seinen Arbeitstisch herum und setzte sich. »Sie sind ja auch alle gleichermaßen verdächtig«, versetzte er. »Ich kenne niemanden von Ihnen gut genug, um meine Hand für ihn ins Feuer zulegen.«

»Und woran liegt das? Weil Sie sich immer nur um Ihre Angelegenheiten kümmern!«, rief die Wissenschaftlerin. »Sie sind doch hier nur Einzelkämpfer und darauf erpicht, alles Lob für sich einzustreichen! Seit wir zusammenarbeiten, haben Sie sich noch mit keinen von uns auch nur übers Wetter unterhalten! Geschweige denn, ob einer von uns Vorschläge über bestimmte

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Vorgehensweisen hätte … und so weiter. Als Leto bei Ihnen war, saßen wir alle wie auf Treibsand, weil wir Angst hatten, schon am nächsten Tag zurück zum Mars geschickt zu werden. Sie haben uns nicht informiert! Also haben wir Ihnen gegeben, was Sie wollten.«

Hondo Beffur musterte Grekk. »Das war Ihre Idee, oder? Was genau wollen Sie damit bezwecken?«

»Dass Sie sich überlegen, wie es weitergehen soll«, antwortete der Assistent. »Entweder arbeiten wir jetzt alle zusammen und Sie würdigen unsere Arbeit entsprechend in Ihren Berichten, oder Sie können in Zukunft allein weitermachen! Wir haben keine Lust mehr, den Kopf für Sie hinhalten zu müssen. Sie kommen und gehen, wie es Ihnen beliebt, und nicht selten sind Sie betrunken. Sie hätten schon eine Menge vermurkst, wenn wir nicht aufgepasst hätten! Wenn Sie wollen, dass wir Sie weiterhin decken, sollten Sie auch für uns da sein.«

Hondos Nasenflügel flatterten. »Soll das heißen, dass jeder von Ihnen nebenbei Geschäfte betreibt? Sind Sie denn alle miteinander verrückt geworden? Wissen Sie, was mir blüht, wenn das auffliegt?«

»Gar nichts wird auffliegen, Chef, solange wir zusammenhalten«, erwiderte Grekk. »Sie sind doch nur sauer, weil Sie bisher nichts vom Kuchen abgekriegt haben. Ich bin sowieso dagegen, Ihnen überhaupt einen Anteil zu geben, bei all dem, worüber wir im Austausch schweigen. Aber die anderen meinen, dass wir nicht darum herum kommen.«

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Hondo überlegte. »Ganz recht. Aber zuerst will ich wissen, was für ein Spiel hier läuft, bevor ich entscheide, wie es weitergeht.«

Im Grunde genommen waren es harmlose Dinge, die alle nichts mit dem Geosiphon zu tun hatten. Einige betrieben gemeinsam ein kleines Extra-Labor, in dem sie gewisse, auf dem freien Markt nicht erhältliche Substanzen herstellten, die aber allesamt »garantiert unschädlich« seien. Die anderen übernahmen die »Versteigerung«. Es war eine lukrative Angelegenheit, wie Hondo anerkennend feststellen musste, wofür vor allem äußerst kostendeckend die staatlichen Ressourcen genutzt wurden. Ein Abgrund tat sich da auf.

Nun gut, niemand war vollkommen. »Wir sind uns einig«, stimmte er schließlich zu. Und

hoffte, dass Leto auch weiterhin den Dingen nicht auf den Grund kam. Denn mit diesem Mann war alles andere als zu spaßen, wenn nicht alles absolut korrekt ablief.

* * *

Strahlgelände bei Utopia »Ich danke euch, dass ihr gekommen seid«, eröffnete

Kristallträumer seine Rede. »Und ich begrüße alle, die neu hinzugekommen sind. Mein Name ist Kristallträumer, und ich stamme von dem Volk aus den Felsen, aus dem sagenumwobenen Kronleuchter-Canyon auf der anderen Seite des Mars. Meine Vorfahren waren

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Waldleute, doch unsere Fähigkeiten haben sich sehr viel weiter entwickelt. Ich kann viele Dinge in der Zukunft sehen, und ich sehe in der Gegenwart weiter als die meisten von euch.«

Kristallträumers Stimme rieselte wie feiner Sand Elianas Rücken hinunter, erzeugte ein Kribbeln auf ihrer Haut und zwang sie, weiter zuzuhören.

Der Schamane erzählte von dem »bösen Stein«, den der Erdenmann namens Maddrax entwendet und mit sich genommen hatte. Damit hatte er das Böse hierher gebracht, ins Zentrum allen Übels.

Er wetterte gegen die Ketzerei der Alten, sich gegen Zeit und Raum zu versündigen, indem sie den Strahl erschaffen hatten. Damit sei das gesamte Gefüge durcheinander gekommen, der Strahl würde es heute noch durchschneiden wie ein scharfes Messer ein kostbares Stück Tuch.

Und dann sprach Kristallträumer darüber, wie kostbar das Leben auf dem Mars sei, mit wie vielen Opfern dem Planeten Atmosphäre und fruchtbare Schollen abgerungen worden seien und welche Verpflichtung sie als Kinder des Roten Vaters eingegangen wären, die Ressourcen in Ehren zu halten und dankbar zu sein für das, was er ihnen schenkte.

So ging es eine gute Stunde, und es war längst dunkel, als Kristallträumer endete. Sein Lager wurde von Scheinwerfern und Fackeln erhellt, sodass er weiterhin gut sichtbar war. Aber vor allem seine Stimme war es, die gehört werden sollte.

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Eliana Margys war hingerissen. Sie hatte noch nie so viele weise Worte gehört, vorgetragen von einer so klangvollen Stimme. Sie wusste, dass Kristallträumer in allem Recht hatte. Und dass er es war, der ihr eine neue Zukunft gab.

»Ich werde alles tun«, flüsterte sie. Als Kristallträumer endete, herrschte zuerst Stille.

Dann brach großer Applaus und Jubel los, und Eliana war nicht minder begeistert dabei.

»Er wird uns eine neue Zukunft geben!«, erscholl es rings um sie. »Die Kinder des Mars werden sich auf die wahren Werte besinnen!«

Eliana strahlte, als sie Hera auf sich zukommen sah. Sie umarmte ihre Freundin impulsiv und voller Glück, mit Tränen in den Augen. »Ich hätte nie gedacht … gehofft … ich bin ein ganz neuer Mensch …«

»Ich freue mich, dass es dir so gut geht«, sagte Hera lächelnd. »Um ehrlich zu sein, ich habe es gehofft, denn du wirst uns eine kostbare Hilfe sein.«

»Ich? Aber … warum ausgerechnet ich?« »Nun, du hast besondere Talente in dir, Eliana, die

bisher nicht gefördert worden sind. Kristallträumer hat sie natürlich sofort entdeckt, und er wird dir helfen, sie zu nutzen – damit du ihm helfen kannst.«

Elianas Pigmentflecken wurden dunkler. »Ich … ich bin ihm aufgefallen?«

»Und ob, meine Liebe. Ich habe ihm natürlich von dir erzählt, aber er hat dich auch gesehen, als er seine Predigt hielt. Ist dir denn nicht aufgefallen, dass seine

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Aufmerksamkeit vor allem dir galt?« Hera streichelte liebevoll ihr Haar.

Die ehemalige Ingenieurin schüttelte den Kopf. »Ich bin doch gar nicht würdig«, murmelte sie.

»Darüber sollte Kristallträumer entscheiden, denkst du nicht?«, meinte Hera aufmunternd. »Komm, er will dich sehen.«

»Was?« Elianas Nasenflügel bebten. »Jetzt gleich?« Hektisch fuhr sie sich durchs Haar. »Aber ich bin doch gar nicht …«

Hera lachte. »Hör schon auf, du siehst wundervoll aus! Eitelkeit ist hier fehl am Platze, Liebes, der Meister legt Wert auf Natürlichkeit und Anmut, und du besitzt beides.«

»Ich verstehe trotzdem nicht …« »Komm schon, stell keine Fragen, deren Antwort du

ohnehin gleich erhältst! Sei nicht so bescheiden, das hast du gar nicht nötig.«

Eliana folgte ihrer Freundin aufgeregt zu dem Zelt. Immer wieder sah sie sich um, ob sie jemand beobachtete, ob es nicht doch eine Täuschung war und eine andere gemeint wäre als sie.

Sie kam an der ätherischen Frau mit den weißen Haaren vorbei und wagte kaum, sie anzusehen. Sie hatte so etwas an sich … und dieses kleine Mädchen …

Die Frau beachtete sie nicht weiter, ebenso wenig das Kind. Sie schlenderten langsam durch die Reihen.

Dann hatten Hera und Eliana das Zelt erreicht.

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»Jetzt gehst du einfach hinein«, sagte Hera und gab ihr einen kleinen Schubs. »Wir sehen uns!«

Eliana traute sich nicht, noch eine Frage zu stellen, nicht so nahe des Eingangs. Zögernd schlüpfte sie durch die offene Zeltbahn und stand im düsteren Dämmerlicht, an das sich ihre Augen erst gewöhnen mussten.

»Hallo?«, sagte sie leise und schüchtern. »Man sagte mir, Sie … Sie wollten mich sehen, Meister?«

»Warum denn so förmlich?«, erklang eine verlockende Stimme aus den Tiefen des Zeltes. Dann trat Kristallträumer in den Lichtkreis der einzigen Fackel. Er lächelte, seine im Halbdunkel verborgenen Augen glitzerten.

»Willkommen, Eliana, liebe Freundin«, fuhr der Schamane fort. »Willkommen am ersten Tag deines neuen Lebens …«

* * *

Wald Windtänzer schöpfte Hoffnung. Sein Plan schien

aufzugehen. Zuerst hatten die anderen ihn für verrückt gehalten. Aber er hatte richtig argumentiert: Was hatten sie denn schon zu verlieren? Was konnte schief gehen? Nichts. Falls es nicht klappte, gingen sie einfach wieder auseinander und trieben hemmungslos weiter auf den Abgrund zu.

Aber falls es funktionierte, waren sie vielleicht einen Schritt weitergekommen.

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Wegen des Zeremoniells waren ohnehin die wichtigsten und begabtesten Männer und Frauen aller Waldsippen hier versammelt. Es kostete also nur geringen Aufwand, sie alle zu überzeugen und in eine Runde zu bringen.

Windtänzer hatte vor, mit den wichtigsten Vertretern der Städter, die sich hier im Wald breitmachten, und allen Sippenvertretern der Waldleute eine große Versammlung abzuhalten. Das Schwierigste war dabei vielleicht, die »wichtigsten Vertreter der Stadtmenschen« herauszufinden, da sie natürlich völlig dezentralisiert überall ihre Lager aufgeschlagen hatten. Sie hatten keine Obrigkeit, keinen Rat, niemanden, der ihnen irgendetwas vorschrieb. Das war ja das Problem, weswegen jeder machte, was er wollte.

Aber nach einigem Hin und Her wurden sich die Städter jeweils einig, wen sie als Sprecher ihrer Gruppe schickten.

Und während die Städter ausgesucht wurden, besprach Windtänzer sich mit den Baumsprechern, Sippenführerinnen und besonders talentierten Waldleuten, darunter auch Aquarius.

»Ich möchte«, hatte er ihnen klargemacht, »dass ihr euch in gemeinsame Meditation begebt und eine Verbindung zueinander zu bekommen versucht. Es soll ein Zusammenschluss sein, der nur Positives ausströmt und eine friedliche Atmosphäre schafft. Diese Atmosphäre soll auf die Städter übergreifen und sie dazu bringen, endlich einmal zuzuhören, ohne immer nur an

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ihre eigenen Interessen zu denken und sich von Vorurteilen lenken zu lassen.«

»Das haben wir noch nie versucht«, bemerkte Vogler. »Aber ich finde es sehr interessant. Ich würde es gern probieren.«

Nach einigem Zögern stimmten die anderen zu. So viele verschiedene Sippen auf einmal; das war

etwas ganz Neues. Obwohl sie alle einem Volk angehörten und sich in ihrer Lebensweise kaum unterschieden, legten die jeweiligen Sippen doch sehr viel Wert auf individuelle Abgrenzung und Eigenständigkeit.

Aber Windtänzer widersprach man nicht so einfach. Und man wollte sich auch nicht blamieren, indem man darauf hinwies, dass Sippe nicht gleich Sippe war. Denn das klang ziemlich nach Städter.

Verständlich allerdings war das Zögern für Windtänzer. Ihm war klar, dass so ein Zusammenschluss etwas sehr Intimes war, eine Nähe, die man sonst nur ganz wenigen gestattete. Auch, oder gerade weil das Waldvolk sich jederzeit und überall spüren konnte. Windtänzer hatte die Sippen für das Zeremoniell nicht per Boten zusammengerufen, sondern sie waren von sich aus losgezogen, als sie spürten, dass es so weit war.

Rational konnte man so etwas nicht erklären. Sie wussten es einfach.

Und nun sollten sie noch sehr viel mehr teilen. »Im Grunde genommen ist es nur eine Diskussion mit

dem Vater, die wir alle gemeinsam führen«, fügte der

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Baumsprecher hinzu. »Ich glaube, es wird für uns eine sehr wichtige Erfahrung – ganz gleich, wie die Städter reagieren.«

* * *

Am festgesetzten Tag erschien die Delegation der Städter auf einem eigens dafür angelegten Versammlungsplatz in der Nähe von Starkholz' Siedlung.

Die Waldleute hatten den Zusammenschluss einige Male geübt. Am Anfang hatte sie dazu sehr dicht beieinander sitzen müssen und sich an den Händen gehalten. Inzwischen war das nicht mehr notwendig; sie wussten, wie die Verbindung hergestellt werden konnte. Vor allem Morgenblüte war dabei ein wichtiges Medium, die die Kraft ihres Vaters noch verstärkte.

Windtänzer war zuversichtlich. Die Städter wirkten verunsichert, was sie durch

gewohnt polterndes Auftreten zu kaschieren versuchten. Sie wussten nicht, was auf sie zukam – vor allem wollten sie sich keine Bedingungen diktieren lassen.

Windtänzer lud sie ein, zwischen ihnen Platz zu nehmen. Getränke und Früchte des Waldes waren zur Erfrischung und als gastfreundliche Geste vorbereitet worden.

»Kommen wir zur Sache«, verlangte der gewählte Sprecher der Städter, ein Mann namens Rudram Saintdemar. »Was wollt ihr von uns?«

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»Es ist sehr wichtig, dass wir endlich einmal alle zusammenfinden und unsere Standpunkte deutlich machen«, begann Windtänzer mit klarer, ruhiger Stimme. Er würde für das Volk der Waldleute verhandeln, während die übrigen Brüder und Schwestern, angeführt von Morgenblüte, bereits in tiefer Konzentration versunken waren. »Es ist in letzter Zeit immer häufiger zu Missverständnissen gekommen, die vor allem unsere jungen Leute bedrücken. Wir sind es gewohnt, nach Belieben durch den Wald zu streifen. Doch dieses Recht wird derzeit beschnitten, und es würde mich interessieren, weshalb.«

»Nun, das liegt natürlich an der Sicherheit«, meinte Rudram Saintdemar.

»Aber hier im Wald seid ihr sicher«, versetzte Windtänzer. »Ich kenne eure Städte, sie sind offen und gastlich. Doch warum verschanzt ihr euch hier im Wald? Wir haben euch angeboten, bei uns unterzukommen, solange es notwendig ist. Wir sind weder an eurem Leben, noch an euren materiellen Habseligkeiten interessiert, da wir alles haben, was wir benötigen. Oder ist es etwa eine Tatsache, dass wir Waldleute uns jemals an euren Besitztümern vergriffen oder euch bedroht hätten?«

Der Städter schien peinlich berührt zu sein. »Nein … nein, natürlich nicht. Aber Sie müssen das verstehen, die Leute sind verängstigt …«

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»Natürlich verstehe ich das. Aber ich sehe keinen Grund, deswegen meine Leute anzugreifen und ihnen das Wegerecht zu verweigern. Ihr seid unsere Gäste.«

»Ja. Ich gebe zu, es ist etwas zu weit gegangen. Manche melden auf einmal Besitzansprüche an, weil sie … nun ja, es ist natürlich nicht richtig.«

Der Mann, zuerst nervös, gab auf einmal die provokante und ablehnende Haltung auf und fing sichtlich an, sich zu entspannen. Auch die verschlossenen und verkniffenen Gesichter seiner Begleiter glätteten sich.

Windtänzer registrierte dies zufrieden. Er wusste, dass es klappte. Auf der gesamten Lichtung breitete sich wie ein weiches Tuch eine angenehme, gelöste Atmosphäre aus.

Er wusste, nun hatte er die Aufmerksamkeit der Städter. Sie würden ihm zuhören.

»Ich möchte euch gern etwas über unsere Lebensweise erzählen«, setzte er fort. »Und darüber, wie fragil das Gleichgewicht des Waldes ist, stellvertretend für den gesamten Mars. Es ist sehr wichtig, dass ihr das begreift, damit wir eine neue, gemeinsame Basis schaffen können.«

Und zum ersten Mal hörten die Städter tatsächlich zu.

* * *

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Zwischenspiel: Phobos Hondo Beffur konnte kaum mehr schlafen. Sorge und

schlechtes Gewissen trieben ihn herum. Nahezu seit Anbeginn der Tests hatten seine Mitarbeiter also hinter seinem Rücken Zusatzgeschäfte gemacht, ohne dass er etwas davon gemerkt hatte.

Als er nun durch Leto auf ihre Spur gesetzt wurde, hatten seine Mitarbeiter ihn eingeweiht – und gleichzeitig unter Druck gesetzt. Sie hatten ihn zum Mittäter gemacht. Nun war er nicht mehr Herr in seinem eigenen Labor und hatte den Respekt seiner Leute, wenn er ihn je gehabt hatte, endgültig verloren.

Aber das war es nicht allein. Hondo fragte sich, ob sich wirklich jeder mit dem gemeinsamen Zubrot zufrieden geben würde. Oder ob nicht einer, ohnehin schon bestechlich, sich zusätzlich für einen unter Umständen sehr viel lukrativeren Job einspannen ließ.

Hondo Beffur dachte über viele Dinge nach. Vor allem darüber, inwieweit er ein Gewissen besaß, das nicht nur aus der Angst vor Leto resultierte.

Schluss, dachte er schließlich, ich muss es wissen. Und diesmal ging er tatsächlich subtiler vor. Er trieb

sich nicht mehr nachts in seinem Labor herum, sondern fing tagsüber an, nebenher eine Probe nach der anderen zu untersuchen. Zuerst die zuletzt verschwundene, dann ein paar andere, um keinen Verdacht zu erregen. Es sah aus wie eine neue Versuchsreihe, die er startete.

Dass er bereits eine ganz bestimmte Kultur im Auge hatte, konnte niemand vermuten, denn er arbeitete sich

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langsam voran und lenkte immer wieder durch Zwischentests ab.

Als er sicher war, dass der Betrieb im Labor wieder ganz normal lief und niemand auf ihn achtete, holte sich Hondo Beffur jene Kultur, die er seinerzeit »verlegt« hatte, in den sterilen Raum. Im Gegensatz zu der anderen Probe für den Streich war diese einige Tage weg gewesen und »zufällig« in einem offenen Schrank wieder gefunden worden.

Hondo war damals so peinlich berührt und erleichtert gewesen, dass er sie ganz schnell wieder weggesperrt hatte, um diese Angelegenheit so schnell wie möglich zu vergessen. Er hoffte inständig, dass das kein Fehler gewesen war.

Er legte die Kultur in dem Hochsicherheitskasten ab, ließ seine Hände in die Schutzhandschuhe gleiten und machte sich an die Arbeit.

* * *

»Hallo, Chef«, sagte Assistent Grekk munter. »Ich weiß, es ist spät, aber ich muss unbedingt mit Ihnen über eine Sache reden.«

Hondo hatte den ganzen Abend versucht, Leto zu erreichen, aber niemand war auf dem Mars erreichbar, nicht einmal das Präsidialbüro. Keine Ahnung, was da wieder los war. Als Grekk an seine Tür geklopft hatte, war er in Panik verfallen. Er wollte nicht öffnen, sah aber ein, dass er letztendlich keine Wahl hatte.

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»Ist mir schon klar, Grekk«, murmelte er. »Dachte mir, dass Sie irgendeine Sicherung eingebaut haben.«

»Ich bin eben etwas schlauer als Sie«, versetzte der Assistent lächelnd. »Ich habe das Glas eingesprüht und jeden Tag mit Blaulicht kontrolliert, ob es jemand angefasst hat. Und ausgerechnet heute haben Sie es getan! Wir brauchen also nicht mehr Versteck zu spielen.«

»Das ist richtig«, stimmte Hondo zu. »Schön, dass Sie mir Ihr Geständnis gleich mitliefern, denn ich habe leider keinen Beweis gegen Sie, nur einen Verdacht. Trotzdem habe ich Leto bereits in Kenntnis gesetzt –« Er brach ab, als er das breite, dämonische Grinsen Grekks sah. Der Mann war äußerst selbstbewusst.

»Mit Verlaub, das haben Sie nicht«, widersprach er und deutete auf Hondos Kommunikationsterminal. »Mir war klar, dass Sie es nur über Ihre private Leitung versuchen würden. Deshalb habe ich schon vor ein paar Tagen eine kleine Umleitung eingebaut, die Sie jedes Mal ins Nichts führt, sobald Sie eine offizielle Stelle anrufen würden. Sie verstehen, ich möchte mein kleines Geheimnis gern für mich behalten.«

»Machen Sie keinen Unsinn«, stieß Hondo blass hervor. »Es ist noch immer etwas zu retten, wenn Sie –«

»Hören Sie auf! Ich kenne Leto ebenso wie Sie. Wenn er es erfährt, wird es einen beispiellosen Prozess geben! Gerade weil in letzter Zeit so viele Bestechungen und Informationsverkäufe stattgefunden haben, wartet das Präsidialamt nur darauf, an jemandem ein Exempel zu

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statuieren.« Grekk ging langsam auf Hondo zu. Der wich seinerseits zurück. »Wenn Leto Sie nicht eingeschüchtert hätte, wäre es nie aufgeflogen. Aber Sie mussten ja plötzlich Ihren Moralischen bekommen, Sie Feigling!«

»Grekk, Sie sind sich offensichtlich nicht darüber bewusst, was Sie da getan haben!«, flüsterte Hondo. »Diese Probe ist ein gefährlicher Fehlschlag gewesen, deswegen war ich damals so außer mir, als sie verschwunden war. Sie ist durch genetische Manipulation virulent geworden und damit hochgradig übertragbar!«

»Aber die eigentliche Funktion erfüllt sie nicht – Sauerstoff zu überzeugen«, erwiderte Grekk. »Im Gegenteil, an der Luft stirbt das Virus schnell und richtet weiter keinen Schaden an. Nur kurzzeitige Halluzinationen.«

»Wie können Sie da so sicher sein? Haben Sie es denn getestet?«

»Es wurde getestet, ja. Keine Probleme. Für ein paar Stunden Irritation, aber das war es auch schon. Wir haben sogar ein Mittel, das recht schnell wieder den Normalzustand herbeiführt.«

Hondo merkte, wie ihm die Knie weich wurden. »Das ist nicht Ihr Ernst … wie lange wird damit schon gearbeitet? Und vor allem, wo?«

»Das braucht für Sie nicht von Belang zu sein, weil Sie sich an diesem Kuchen nicht beteiligen werden«, antwortete Grekk in seltsam leutseliger Stimmung.

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Über Hondos Rücken kroch eiskalte Angst. »Aber … was bezwecken Sie damit? Wie wollen Sie es einsetzen?«

»Auch das ist nicht Ihr Problem.« Grekk hatte Hondo nun durch die halbe Unterkunft getrieben, immer weiter weg vom einzigen Ausgang.

»Ich … ich wusste immer, wie ehrgeizig Sie sind, aber ich hätte nie geglaubt, dass Sie so weit gehen würden …«, stammelte Hondo. »Grekk, ich bitte Sie, ich muss es melden! Sich nebenher das Zeitkonto mit harmlosen Aufputsch- und Düngemitteln aufzufüllen ist eine Sache. Aber das hier – das ist eine Zeitbombe! Sie werden es nicht unter Kontrolle halten können. Ich weiß, ich bin nicht besonders vertrauenswürdig durch meinen Lebensstil, aber in diesen Belangen habe ich immer auf höchste Sicherheit geachtet! Denken Sie nach, Mann, Sie sind selbst Wissenschaftler! Das können Sie nicht verantworten. Nichts ist das wert!«

»Ach, es passiert schon nichts«, meinte Grekk lässig. »Es wird ja nur ganz lokal und begrenzt eingesetzt, und nur für kurze Zeit.«

»Glauben Sie das wirklich? Denken Sie, die Leute, für die Sie arbeiten, werden damit aufhören? So naiv können Sie nicht sein, Grekk!« Hondo hatte die Wand im Rücken. Er konnte nicht mehr weiter. »Und außerdem … wenn mir etwas passiert, wird man Sie verdächtigen, das ist Ihnen doch klar, oder? Außerdem ist das der Beweis, den Leto braucht!«

»Mir egal, ob das Labor geschlossen wird«, sagte Grekk. »Ich bin morgen früh sowieso weg, es ist schon

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alles arrangiert. Und Sie, mein Freund, werden ganz unverdächtig sterben. Schließlich sind Sie bekannt für Ihre hemmungslosen Saufereien und anschließenden Blackouts. Es wird nicht mehr als ein tragischer Unfall sein: ein etwas zu starker Cocktail, versetzt mit Adrenalin, wie Sie es schon früher zu sich genommen haben. Diesmal allerdings wird es ihr Herz außer Gefecht setzen. Und bis man Sie findet, selbst wenn Sie noch leben sollten, hat Ihr Gehirn schon so lange unter Sauerstoffmangel gelitten, dass sich nichts mehr darin finden lässt.«

Hondo überlegte zu schreien. Aber wer sollte ihn hören? Diese Räume waren schalldicht; was er bisher durchaus zu schätzen gewusst hatte, wenn er Besuch empfing. »Sie sind doch kein Mörder«, versuchte er Grekk deutlich zu machen, was er da vorhatte.

»Sie sind mir völlig gleichgültig«, versetzte der Assistent. »Es ist nichts Persönliches. Ich betrachte das rein wissenschaftlich. Und nun seien Sie ein braver Junge, setzen sich hin und lassen sich einen wunderbaren Drink von mir mixen. Wirklich, er wird Ihnen schmecken. Sie werden glücklich sterben, Mann, und das ist wahrhaftig nicht jedem vergönnt.«

* * *

Strahlgelände bei Utopia Nachdem Kristallträumers Predigten durch die

Medien übertragen wurden, bekam er immer mehr

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Zulauf. Von allen Seiten strömten die Leute herbei, und nicht nur aus Utopia. Auch aus anderen Städten setzten »Pilgerfahrten« ein. Sämtliche Zugänge zum Strahlgelände waren blockiert, das Lager fasste inzwischen an die dreihundert Menschen.

Die glühendsten Anhänger des Schamanen, seine engsten Vertrauten, trugen seine Worte weiter. Sie missionierten vor allem in Utopia, waren jedoch auch an der Bahnstation und auf dem Flughafen zu finden, wo sie Flugblätter und Parolen verteilten.

Die Holosendungen waren voll mit Diskussionen über den Wahrheitsgehalt seiner Predigten, aber auch über die gegenwärtige Zerrissenheit des Regierungsrats, dem viele Fehler und Untätigkeit vorgeworfen wurden. Im Kreuzfeuer der Kritik stand inzwischen auch die Interimspräsidentin selbst, weil sie nach gängiger Meinung bisher »viel zu wenig getan« hatte; wobei nicht deutlich ausgesagt wurde, was genau man von ihr erwartete.

Kristallträumer versäumte es nicht, immer wieder den Mann anzuprangern, der seiner Ansicht nach die Wurzel allen Übels war.

»Ist es nicht so«, fing er eine seiner Reden an, »dass das Unglück mit dem Tage begann, da der Mann von der Erde den Boden des Mars betrat und ihn so verunreinigte? Ist es nicht so, dass das Beben kam, als er das Böse nach Utopia trug? Ich habe ihn gewarnt, ich habe ihn angefleht, mich den negativen Kristall zerstören zu lassen, doch er hat nicht auf mich gehört! Er ließ uns

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angreifen, mit seinen überlegenen Waffen und den fliegenden Käfern, und brachte Blut und Tod über uns! Er ist es, dem wir all dies zu verdanken haben, ohne ihn wäre all dies nicht geschehen!«

Genau hier setzte Matt ein. Er hatte lange mit Chandra diskutiert, ja gestritten, weil sie es unverantwortlich fand, dass er sich der Öffentlichkeit zeigen wollte.

»Wenn du dich auf eine Diskussion mit dem Kerl einlässt, unterliegst du!«, hatte sie ihn gewarnt. »Außerdem sieht es nach Rechtfertigung aus!«

»Aber ich habe es satt«, erwiderte er. »Ich bin nicht der Buhmann für alles Schlechte dieser Welt, so einfach mache ich es ihm nicht. Es ist schon klar, was er tut: Er präsentiert dem Mob einen Schuldigen, damit er gehängt wird, und damit ist alles ausgestanden! Aber so lasse ich mich nicht benutzen.«

»Na schön«, gab sie schließlich nach, »aber ich begleite dich. Ich muss es, als Beobachterin der Regierung.«

Sie hatten den Moment abgewartet, und unbemerkt das Strahlgelände verlassen. Im Lager achtete niemand auf sie, alle lauschten gebannt der Predigt ihres Meisters.

Auch die Medien waren wie immer vor Ort, was Matt nur recht war. Er kündigte sich nicht an, er würde einfach plötzlich da sein und Kristallträumer entgegentreten. Darin sah er die einzige Chance, überhaupt noch etwas zu retten.

Nicht bei den Anhängern, die hier vor Ort waren. Vor allem nicht bei jenen, die einen schwarzen Kristall trugen. Er wusste, dass er hier nichts ausrichten konnte,

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aber darauf kam es ihm auch nicht an. Die Masse, die vor den Holosendern saß und zusah – sie musste er nachdenklich machen!

Matt ließ sich einen Sprachverstärker geben, damit auch er überall gehört werden konnte, und trat plötzlich hinter Kristallträumers Zelt hervor, mitten ins Geschehen. Die über dem Platz schwebenden Kameras richteten sich sofort auf ihn, und eine Schreckenswelle ging durch die Menge, als er Verteufelte urplötzlich auftauchte.

»Ich bin nicht für das Beben verantwortlich«, unterbrach Matt Kristallträumers Rede. »Ich habe es im Gegenteil zu verhindern versucht, aber ich kam zu spät, weil Kristallträumer es nicht zulassen wollte.«

Der Schamane fuhr zu ihm herum, ein wildes Funkeln lag in seinen Augen. Für einen Moment sah es so aus, als würde er die Beherrschung verlieren, aber er fing sich gerade noch. Ein joviales Lächeln glitt über seine Züge.

»Aber natürlich!«, rief er. »Tatsachen zu verdrehen ist eine beliebte Verteidigungsstrategie! Aber die Wahrheit bleibt immer die Wahrheit, egal wie sie dargestellt wird, Erdenmann!«

»Die Wahrheit ist«, versetzte Matt, »dass die Milliarden Jahre alte Anlage der Alten dem Verfall ausgesetzt ist wie jeder von uns. Als ich erkannte, dass die Energie der Anlage sich aufstaute, habe ich alles unternommen, um eine Katastrophe zu verhindern.«

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»Du willst behaupten, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da du auftauchst, die Anlage der Alten versagt?«

Chandra stieß neben Matt einen leisen Fluch aus. »Ich habe dir doch gesagt, lass dich nicht auf ihn ein! Du hast zu wenig Argumente, um gegen ihn bestehen zu können.«

Matt achtete nicht auf sie. »Es wurden Fehler gemacht«, räumte er ein. »Aber dies geschah aus Forscherdrang. Die Anlagen der Alten werden schon seit der Zeit der Gründer ausgegraben und erforscht!«

»Allerdings, und eine ganze Stadt ging dabei unter!«, dröhnte Kristallträumer. Er meinte das bei einem Beben zerstörte Vegas. Der Schamane hatte sich gut informiert. Er hob einen Arm. »Darum geht es mir ja: Wir müssen aufhören damit! Wir können nicht ungeschehen machen, was in der Vergangenheit passiert ist, aber wir können weiteres Unglück verhindern!« Mit dem Zeigefinger wies er auf Matt. »Er ist der Schlimmste von allen, denn er will den Strahl aus reinem Selbstzweck nutzen – nämlich um zur Erde zurückzukehren! Ihn braucht es nicht zu kümmern, was aus uns wird, denn er ist dann längst fort! Dieser Mann setzt unsere Existenz aufs Spiel! Das dürfen wir nicht zulassen!«

Der Mob schrie auf. Und dann setzte er sich in Bewegung.

»Verdammt«, zischte Chandra und hob den Arm zu ihrem Gesicht. »Sicherheitspersonal, sofort hierher!« Sie

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packte Matt am Arm und zog ihn mit sich. »Komm, weg hier!«

»Ich kann nicht einfach …«, begann er, sah aber ein, dass sie Recht hatte.

Kristallträumer hatte seine Anhänger aufgeheizt. Er bot ihnen ein Ventil, an dem sie sich austoben, sich rächen konnten für all das, was sie in den letzten Wochen erduldet hatten. Sie sahen in ihm den Schuldigen für den Verlust ihrer Familien und Freunde.

Ja, Chandra hatte Recht gehabt, er hätte es gar nicht erst versuchen sollen; eine vernünftige Diskussion war nicht möglich. Er kam nicht dazu, die Sache richtig zu stellen.

Damit endete Matts kurzer Versuch, sich in Diplomatie und Politik zu üben. Er war fremd hier, er sah schon fremd aus, er war kein Marsianer. Sie würden ihm niemals zuhören, ihm nie wirklich vertrauen. Wie denn auch, wenn sie schon selbst ein gespaltenes Volk waren, geteilt in Städter und Waldleute, die sich gegenseitig misstrauisch belauerten?

Während die Menge näher rückte, kamen bereits die bewaffneten Sicherheitsleute vom Gelände. Das machte sich in den Medien natürlich besonders gut.

»Du hast alles nur noch schlimmer gemacht!«, warf Chandra ihm vor.

Aber das ließ Matt nicht auf sich sitzen. »Ich habe versucht, größeres Unheil abzuwenden, und es höchstens etwas beschleunigt!«

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»Kommen Sie!« Eine Exekutive winkte ihnen. »Sie sollten das Gelände besser verlassen, wir haben bereits einen Gleiter angefordert.«

Doch Kristallträumer war noch nicht am Ende. »Nein!«, rief er mit erhobenen Armen. »Dies ist der falsche Weg, Brüder und Schwestern! Es ist sinnlos, einen Einzelnen zu bestrafen, sondern wir müssen die Wurzel allen Übels ergreifen und ausmerzen!«

Eine Frau stand plötzlich an seiner Seite; eine Städterin, die die übliche gelb-orangene Kutte einer Anhängerin trug, und sie rief in die Menge: »Schaltet den Strahl ab!«

Ihr Ruf wurde sofort aufgenommen. »Abschalten! Abschalten!«, kam es von allen Seiten.

Dann stürmte die Menge auf den Zaun zu. Um Matt und Chandra kümmerte sich niemand mehr.

Die weißblonde junge Frau wurde aschfahl. »Die werden das Gelände stürmen«, flüsterte sie. »Sie sind nicht mehr aufzuhalten. Wir müssen sofort das Energiegatter öffnen!« Sie schrie in ihren PAC: »Abschalten! Sofort die Sperre ausschalten, los!«

»Aber … das geht nicht!«, krächzte es aus dem Lautsprecher. »Diese Leute dürfen nicht auf das Gelände! Wir verlieren alles, wenn …«

»Wir haben bald Hunderte Tote hier draußen, wenn Sie nicht sofort handeln!«, brüllte Chandra. »Diese Leute sind in Hysterie verfallen, und sie werden in das Gitter hineinrennen, bis keiner mehr übrig ist! Wollen Sie dafür die Verantwortung übernehmen? Also, schalten Sie ab!«

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Matt wurde es schwindlig. Hatte er dies nun durch seinen Auftritt ausgelöst? Hatte er Kristallträumer genau das gegeben, worauf der Schamane gewartet hatte? Den Initialfunken, um nicht mehr nur zu reden, sondern auch zu handeln? Allmählich glaubte er selbst daran, dass er der Träger allen Unglücks war, dass er nichts als Tod und Elend brachte, wohin er auch seinen Fuß setzte.

»Es ist Wahnsinn«, sagte er verzweifelt. Die aufgebrachte Menge hatte das Energiegitter fast

erreicht, als der Sicherheitsleiter endlich ein Einsehen hatte und es abschaltete. Die Welle wogte gegen den Zaun, die ersten hangelten sich geschickt daran hoch und kletterten darüber, ließen sich auf der anderen Seite hinabfallen – und wurden sofort aufgegriffen.

Doch das war nur der Beginn. Das Tor wurde schließlich niedergedrückt, und wie ein Tsunami überschwemmten die Menschen das Gelände und fingen an, alles Erreichbare zu zerstören.

Die Sicherheitsleute mussten überall gleichzeitig eingreifen; gleichzeitig versuchten sie das Personal in Sicherheit zu bringen. Auf dem gesamten Gelände brach heilloses Chaos aus. Und die beiden Mediensender übertrugen all dies live, ohne dass es verhindert werden konnte.

Endlich erhielt Chandra eine Verbindung zu Maya. »Ich bin schon auf dem Weg«, erklärte die Präsidentin.

»Seht zu, dass ihr so viele Leute wie möglich dort rausbringt!«

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»Leichter gesagt als getan«, schnaubte Chandra. »Die sind völlig durchgedreht, und unsere eigenen Leute fangen an, einfach blindwütig zurückzuschlagen!«

»Er wird sie alle gefangen nehmen und öffentlich hinrichten«, vermutete Matt. »Auf Geiselnahme ist Kristallträumer ja spezialisiert.«

Sie waren inzwischen allein im Lager, mit Ausnahme der Sicherheitsleute, die noch um sie postiert waren. Kristallträumer überschritt unten gerade das niedergetrampelte Tor. Er war von einem Kreis seiner engsten Vertrauten umgeben, die respektvollen Abstand zu ihm hielten.

»Er versteht es, sich in Szene zu setzen«, murmelte Matt. »Verdammter Bastard. Sternsang hat Recht gehabt – ich hätte dich ein für alle Mal ausschalten sollen.«

»Wir werden auch so mit ihm fertig«, erwiderte Chandra.

Aber danach sah es momentan nun ganz und gar nicht aus.

Kristallträumer war allerdings immer noch für eine Überraschung gut.

Als er das Strahlgelände erreicht hatte, machte er vor dem Eingang zur Grotte Halt. Um ihn herum wurde gekämpft und zerstört, doch dies beeindruckte ihn nicht besonders. Schnellwasser stand neben ihm und wirkte sehr konzentriert. Seine Augen waren geschlossen und seine Lippen bewegten sich.

Kristallträumer hob seine Arme und rief mit Funkverstärkung: »Ruhe! Haltet ein!«

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Es dauerte ein paar Minuten. Aber sein Ruf pflanzte sich fort, und tatsächlich hielten seine Anhänger mehr und mehr inne.

Die Kämpfe hörten auf. Annähernd vierhundert Menschen drängten sich auf dem Gelände, die sich dem Mann zuwandten, der um Gehör bat.

Er ließ sie weitere Minuten warten, bis er ganz sicher war, ihre volle Aufmerksamkeit zu haben.

Dann begann er: »Dies ist ein bedeutsamer Moment, meine Freunde. Wir haben einen Teil unseres Ziels erreicht. Wir haben gezeigt, was der Wille des Volkes ist, was die Mehrheit sich wünscht. Wir haben gezeigt, dass wir nicht willkürlich mit uns umspringen lassen. Wir haben deutlich gemacht, dass die Gewalt vom Volk ausgeht, nicht von einer Oligarchie, die an der Masse vorbei regiert und nur nach eigenen Bedürfnissen handelt und entscheidet. Nun sind wir in der Lage, unsere Forderungen auch deutlich zu machen! Ab jetzt werden wir dem Willen des Volkes Nachdruck verleihen!«

Jubel brandete auf. »Was sollen wir tun, Meister? Sag es uns, und wir folgen dir!«

Matt griff sich stöhnend an den Kopf. »Ich sage es euch«, donnerte der Schamane. »Ich teile

meine Vision mit euch, und ich werde euch aus der Dunkelheit führen! Ich werde es verhindern, dass weiteres Unglück über uns kommt! Ich werde die Regierung zwingen, uns zuzuhören. Es wird Zeit, sich der Vernunft zuzuwenden!«

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Erneuter Beifall. Die von den Felsen zurückgeworfenen Stimmen schallten wahrscheinlich bis nach Utopia.

»Er gibt ihnen all das, was sie wollen«, sagte Matt niedergeschlagen. »Ein Ziel, eine Ablenkung von ihren Problemen, und er nimmt ihnen die Verantwortung, indem er für sie entscheidet. Natürlich folgen sie ihm, weil keiner mehr nachdenken muss.«

»Und nun«, fuhr Kristallträumer fort, als er sich wieder Gehör verschafft hatte, »werde ich euch sagen, was wir tun. Alle, die mir nicht folgen wollen, sollen dieses Gelände augenblicklich verlassen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, kein Leid wird ihnen geschehen. Aber sie dürfen nicht hier bleiben, es sei denn, sie lassen sich zur Vernunft bekehren und wollen sich auf die wahren Werte besinnen. Wenn nicht – geht!«

»Das hätte ich nicht geglaubt«, sagte Chandra verblüfft. »Was hat er nur vor?«

Matt wusste keine Antwort. »Alle«, wiederholte Kristallträumer, »die hier

gearbeitet haben, Wissenschaftler, Techniker, Sicherheitsleute, Arbeiter, müssen dieses Gelände verlassen, und zwar ohne Verzögerung! Ich kann keine Garantie übernehmen für diejenigen, die nicht Folge leisten. Und ich versichere euch, sollte der eine oder andere so tun, als wolle er mir Gefolgschaft leisten, um heimlich gegen mich zu arbeiten, werden wir seinen Verrat entdecken und bestrafen!« Er legte einen Arm um Schnellwassers schmächtige Schultern. »Mein junger

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Freund hier kann sehr schnell ergründen, ob jemand aufrichtig ist oder lügt. Zweifelt nicht an seinen Kräften! Wir sind der Wahrhaftigkeit verpflichtet, und wir werden sie durchsetzen, mit allen Mitteln! Heuchelei, Lüge und Hinterlist haben bei uns keinen Platz.«

Er machte eine kurze Kunstpause, dann schloss er: »Nehmt meine Worte ernst! Ich fordere zum letzten Mal auf, wer nicht hierher gehört, muss gehen! Es ist die letzte Möglichkeit, sich zu entscheiden. Für die Konsequenzen, gegen das eigene Gewissen zu handeln, trägt jeder von nun an selbst die Verantwortung!«

Nachdem seine letzten Worte verhallt waren, setzten sich die ersten in Bewegung. Sie kamen von überall aus den Felsen. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg durch die Menge der Anhänger und verließen einer nach dem anderen das Gelände. Zwanzig, fünfzig, hundert Leute. Die letzten Nachzügler waren gegangen, als Kristallträumer das Tor wieder aufstellen ließ und es verriegelte. Er machte damit deutlich, dass von nun an er darüber bestimmte, wer hinein durfte und wer nicht. Die Situation hatte sich verkehrt.

Wachen postierten sich am Tor. Andere nahmen ihre Patrouille entlang des Zauns auf.

Ein erdrutschartiger Sieg für den Mann aus den Felsen. Jahrhundertlang hatte sein Volk abgeschieden gelebt, fern der Entwicklungen, und doch hatte er innerhalb weniger Wochen alles aufgeholt und genau gewusst, wo er den Hebel ansetzen musste.

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Kristallträumer war alles andere als ein primitiver Fanatiker. Er wusste genau, was er wollte. Matt war sicher, dass der Schamane noch längst nicht am Ziel seiner Wünsche war. Er sah es so, dass Kristallträumer der geistige und politische Führer des ganzen marsianischen Volkes werden wollte.

* * *

Wald Windtänzer war nicht minder erschöpft als seine

Brüder und Schwestern. Sie hatten eine lange Verhandlung hinter sich. Auch Dame Vera Akinora hatte das Wort ergriffen und klarzumachen versucht, dass die Kluft zwischen den beiden Völkern nicht so groß war, dass sie nicht überwunden werden konnte. Im Gegenteil.

Sie alle miteinander konnten aber nur solange auf dem Mars bestehen, wie sie in Einheit mit der selbst geschaffenen Natur lebten. Die Wälder waren in entbehrungsreichen Jahrhunderten gewachsen; sie nun blindwütig abzuholzen, um an Rohstoffe und Platz zu kommen, würde das Volk ganz schnell seiner Grundlage entziehen.

Vor allem: Sie mussten für-, nicht gegeneinander arbeiten. Es war genug Platz da für alle. Niemand hatte das Recht oder den Anspruch, etwas für sich zu beanspruchen, das er anderen vorenthielt.

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Die Städter waren nachdenklich geworden. Einige packten im Anschluss an die Versammlung tatsächlich ihre Sachen und kehrten in die Stadt zurück.

Windtänzer machten den anderen klar, dass sie weiterhin als Gäste willkommen waren – allerdings nur vorübergehend geduldet. Eine Inbesitznahme, wie sie in den vergangenen Wochen stattgefunden hatte, würde es nicht mehr geben. Die Städter mussten ihre gerade erst errichteten Hütten verlassen und bekamen Baumnester zugewiesen. Alle städtischen Hinterlassenschaften wurden zerstört, gerodete Flächen neu bepflanzt. Den Städtern wurde das Versprechen abgenommen, dass sie sich nur auf Hauptwegen aufhielten und nicht mehr auf die Jagd gingen. Die Waldleute würden für alles Notwendige sorgen.

Ein großer Sieg, fand Windtänzer. Nachdem alle Städter und die meisten Waldleute den

Platz verlassen hatten, saß er noch eine lange Zeit still und dachte nach. Morgenblüte blieb bei ihm; sie war sehr erschöpft und wollte sich ein wenig erholen.

»Du wirst das Volk wieder einen, Vater«, sagte sie zufrieden. »Ich glaube, sie haben es verstanden und werden es weiter tragen.«

»Ich hoffe es«, meinte er. »Es hat schon viele Rückschläge gegeben, Tochter. Warten wir ab, was geschieht, wenn die Wirkung unseres Zusammenschlusses nachlässt.« Er strich ihr über das Haar und küsste sie auf die Stirn. Dann stutzte er. »Was ist mit dir?«

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Sie sah ihn verwundert an. »Was sollte sein?« »Deine … Stirn ist sehr heiß. Und sieh mal, auf deiner

Haut sind seltsame Flecken.« »Ach, das ist nichts weiter«, winkte sie ab. »Das war

nur die Anstrengung, sonst nichts. Ich fühle mich gut, nur völlig ausgelaugt. Du hast uns eine Menge abverlangt.«

»Ich weiß.« Er schmiegte sie an sich. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte, mein Kind. Du bist mein Halt, aus dir beziehe ich meine Kraft.«

»Du übertreibst, Papa«, lachte sie und kuschelte sich an ihn. »Sei nicht sentimental, das passt gar nicht zu dir.«

Sein Gesicht verdüsterte sich, und sie wurde ernst. »Was hast du?«

»Ich sehe Dinge«, antwortete er leise. »Visionen, die ich nicht verstehe. Eine unerklärliche Furcht kommt über mich, und ich kann nichts dagegen tun. Etwas naht, das selbst ein Erdbeben harmlos aussehen lässt.«

Morgenblüte setzte sich auf. »Du machst mir Angst. Was kann so groß sein? Woher mag es kommen?«

»Von sehr weit«, flüsterte er. »Ich … kann es nicht bestimmen, es ist nicht fassbar. Keine richtigen Bilder, mehr Gefühle, böse Ahnungen. Hauptsächlich sehe ich … Flammen. Und dahinter Dunkelheit.«

»Ist es der Strahl?«, forschte das Mädchen. »Hat Sternsang auf seinen Wanderungen etwas entdeckt? Oder … mitgebracht?«

»Nein. Nein, das ist es nicht.« Windtänzer schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, sich den Kopf zu

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zerbrechen. Aktuell haben wir andere Probleme, denen wir uns widmen müssen.« Dann runzelte er die Stirn und betrachtete seine Tochter kritisch. »Du gefällst mir wirklich nicht, Kind. Das sieht mir nicht nur nach Erschöpfung aus. Lass dich lieber untersuchen.«

»Ich weiß selbst genug über das Heilen …«, protestierte sie.

»Ich will, dass deine Mutter dich anschaut«, unterbrach er.

»Du bist übervorsichtig!«, wehrte sie scherzhaft ab. »Ich brauche nicht mehr so behütet zu werden, als wäre ich noch ein Kleinkind!« Sie stand auf. »Kümmere dich lieber mal um dich, Vater! Du solltest dich sehen: grau, müde, wie ein alter Mann siehst du aus mit deinen ganzen Knitterfalten!«

»Alter Mann!«, protestierte er scheinbar empört; ihre Heiterkeit steckte ihn an, und er erhob sich gleichfalls lachend. »Ich bin eine gut entwickelte Frucht, während du gerade deine ersten Blütenblätter öffnest! Nicht eine Falte ist in meinem Gesicht zu finden, und meine Lungen haben noch genug Ausdauer für einen Sprint zu unserer Wabe!«

»Niemand ist so schnell wie ich«, kicherte sie. »Weil du schummelst und immer abkürzt!« Er drohte

ihr mit erhobenem Finger. »Ich wette mit dir, dass du keine hundert Meter durchhältst, wenn du dich auf einen ehrlichen Lauf mit mir einlässt!«

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»Gemacht!«, rief sie und spurtete schon los. »Komm schon, du Langweiler! Soll ich unterwegs noch was für dich jagen?«

Windtänzer schüttelte den Kopf, dann setzte er sich in Bewegung. Das konnte ihm jetzt nur gut tun.

* * *

Tage später streifte Aquarius durch den Wald und genoss es, die Stimmen zu hören und dem Gesang des Windes zu lauschen.

Windtänzer vollbrachte wirklich Erstaunliches, und das in so kurzer Zeit! Ein Glück, dass der Baumsprecher stets einen kühlen Kopf bewahrte. Wer wusste, was inzwischen aus ihnen geworden wäre – vielleicht hätten sie sich schon längst gegenseitig die Köpfe eingeschlagen.

Der Großteil der Eindringlinge war verschwunden, auch die beiden Großmäuler, die dem jungen Mann zu schaffen gemacht hatten. Diejenigen, die noch geblieben waren, hatten nicht gewusst, wohin. Sie zeigten sich allerdings nunmehr respektvoll und genügsam, hielten sich zumeist in der Nähe der Baumwaben auf und fingen an, Fragen zu stellen. Nach dem Leben im Wald. Dem Gefüge der Tier- und Pflanzenwelt. Wie die Waldleute mit der Kälte zurecht kamen; und vieles mehr. Es sah so aus, als würde sich der Konflikt tatsächlich friedlich lösen lassen.

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Wahrscheinlich würde Windtänzer bald abreisen, nach Utopia, um sich Kristallträumer zu stellen. Die Nachrichten waren bis hierher in den Wald vorgedrungen: Der Schamane hatte das Strahlgelände besetzt und sich mit all seinen Anhängern dort verschanzt. Weiterhin hielt er flammende Reden über den wahren Weg der Erleuchtung, der Rückkehr zur Bescheidenheit und dem Einklang mit dem Mars.

Keine falschen Worte, wenn Windtänzer sie ausgesprochen hätte. Aber Kristallträumer benutzte sie als Mittel zum Zweck, als Waffe, um sich Macht zu sichern. Er wollte eindeutig nichts Gutes damit erreichen. Obwohl Aquarius sicher war, dass der Schamane tatsächlich daran glaubte, dass alles Übel mit dem Erdenmann Maddrax auf den Mars gekommen war. Aber er übertrieb es in seinem überzogenen Wahn, den Mars »zu reinigen« und das gesamte Volk auf den richtigen Weg zu führen, den nur er kannte. Kristallträumer betrachtete sich als Propheten, als Erlöser, und diesen Anspruch wollte er mit allen Mitteln durchsetzen.

Aquarius beneidete seinen ehemaligen Meister nicht. Sobald Windtänzer ein Problem gelöst hatte, stellte sich ihm schon das nächste in den Weg. Es sah ganz so aus, als könne niemand Kristallträumer Einhalt gebieten – außer Windtänzer. Wenn es so weit war, wollte Aquarius darum bitten, mitkommen zu dürfen. Er wollte dem jungen Schnellwasser begegnen, der mehr war als

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Auraseher, der die Gedanken anderer sogar kontrollieren konnte.

Plötzlich stutzte Aquarius. Dort war … etwas. Der junge Mann befand sich jetzt ziemlich am Rand des Waldes, am Ende von Windtänzers einstiger Siedlung. Hastig kletterte er einen Baum hinauf, verbarg sich im Laub und spähte angestrengt nach unten.

Er hörte Stimmen, die nicht hierher gehörten. Auf dem Grasland außerhalb des Waldes war ein Gleiter gelandet. Fünf Städter – drei Frauen und zwei Männer – schwärmten gerade aus, nahmen den Wald in Augenschein, machten sich Notizen, steuerten Kameras. Aquarius konnte die Logos der Häuser Tsuyoshi und Braxton erkennen.

Er konzentrierte sich und lauschte den leise geführten Unterhaltungen.

»… gut aus. Hier könnte man beginnen.« »Aber wir müssen natürlich über eine harmonische

Gesamtgestaltung nachdenken. Ich meine, alles niederwalzen, damit würden wir nur ein Abbild einer weiteren Stadt schaffen. Aber dies hier soll eine Oase werden, für Leute, die auf Komfort nicht verzichten wollen, aber nicht in der Stadt leben wollen!«

»Genau. Eine Einheit von Natur und Architektur. Der Platz dafür ist bestens geeignet! Sehen Sie nur den großartigen Ausblick auf den Mie-Krater. Vom Utopia-Meer können wir die Wasserversorgung ableiten. Und natürlich ein Freizeitgelände schaffen, mit allen möglichen Vergnügungen des Wassersports!«

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Aquarius traute seinen Ohren nicht. Ihm wurde schwindlig.

»Was meinen Sie dazu? Habe ich Ihnen zu viel versprochen?«

»Ich lasse gerade vermessen, was wir brauchen werden. Natürlich muss uns klar sein, dass wir auf erheblichen Widerstand treffen werden.«

»Dafür haben Sie ja mich als Anwältin. Ich meine, es kann einfach nicht angehen, dass diese Waldleute kostbare Ressourcen ausschließlich für sich beanspruchen! Dies ist eine Ungerechtigkeit, die geprüft und geklärt werden muss. Wenn es sein muss, auf gerichtlichem Wege. Der Mars ist schließlich für alle da.«

»Das mag schon sein, aber welchen rechtlichen Anspruch wollen Sie geltend machen?«

»Das ist doch ganz einfach. Das Gelände wird vermessen und in Parzellen aufgeteilt. Anschließend wird dokumentiert, wie viel davon in Privateigentum übergehen darf, wobei dem Staat natürlich entsprechende Abgaben zugesichert werden.«

»Und Sie denken, dass wir damit durchkommen?« »Wir befinden uns hier ganz am Rand eines Millionen

Quadratkilometer großen Gebiets. Selbstverständlich werden wir den Anspruch durchsetzen können! Ich sagte doch bereits, dass ein Ausgleich geschaffen werden muss, denn überlegen Sie mal: Es gibt nur eine Viertelmillion Waldleute auf einem Gebiet, das mehr als hundertmal so groß ist wie alle Städte zusammen, und dort leben fast zwei Millionen! Also, machen Sie sich

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keine Gedanken. Ich weiß schon, wie ich vorgehen werde.«

Aquarius hatte genug gehört. Ihm war übel. Windtänzer muss es erfahren, dachte er aufgewühlt. Und

zwar sofort! Wie naiv sie doch gewesen waren! Glaubten, nun seien alle Probleme beseitigt, nachdem

ein paar Städter zur Vernunft gekommen waren. Dabei fingen die Schwierigkeiten gerade erst an! Die Städter waren auf den Geschmack gekommen. Nun wollten sie alles haben.

Hastig kletterte Aquarius den Baum hinunter und rannte wie von Blauschillern gehetzt durch den Wald, auf der Suche nach Windtänzer.

* * *

Maya Tsuyoshi war längst eingetroffen, aber bisher hatte Kristallträumer jede Verhandlung mit ihr abgelehnt. Niemand wusste, was er vorhatte.

Chandra ließ den Leuten Nahrungsmittel und Decken zukommen, obwohl Matt sie am liebsten ausgehungert hätte. »Das können wir nicht machen«, hatte sie geantwortet. »Diese Leute können nichts dafür, sie stehen unter dem Einfluss dieses Wahnsinnigen. Wir müssen für sie sorgen.«

Die Versorgung wurde auch angenommen. Jeden Morgen wurde ein Transporter vor das Tor gefahren, von

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einer Wache drinnen abgeholt, entladen und wieder vor das Tor gestellt.

Maya hatte untersagt, etwas zu unternehmen, solange kein Gespräch mit dem Schamanen stattgefunden hatte.

»Er will uns mürbe machen«, sagte Matt während einer Besprechung. »Ich durchschaue seine Strategie. Er will die Stimmung im gesamten Volk gegen dich und die übrige Regierung aufheizen, Maya.«

Die Präsidentin nickte. Sie kauerte zusammengesunken auf dem Sessel.

Kristallträumers verwaistes Lager war abgebaut worden, dafür hatte man Notunterkünfte in Fertigteilen errichtet, in denen derzeit hundert Menschen untergebracht waren.

»Es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht mit ihm sprechen kann«, gestand Maya müde. »Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten!«

Sie konnte nicht ständig vor Ort sein, da sie in der Regierungsstadt anderen Pflichten nachkommen musste. Momentan reiste sie ständig hin und her und benutzte dabei meistens die Bahn der Alten zwischen Utopia und Elysium.

Leto Angelis, ihr Ehemann, vertrat sie während ihrer Abwesenheit im Rat und verlas regelmäßig Presseinformationen auf ENT.

Matt wollte nicht dramatisch werden, aber er konnte sich nicht mehr zurückhalten. »In einem hat Kristallträumer Recht: Ich bin an allem Schuld. Ohne mich wäre die Strahlanlage nie so intensiv erforscht und

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das Beben ausgelöst worden. Viele eurer jetzigen Probleme sind auf mich zurückzuführen.«

»O ja«, spottete Chandra, »nachdem du die Erde zerstört hattest, bist du hierher gekommen, um dein Werk fortzusetzen … Rede keinen Unsinn, Matt. Wir hätten den Strahl auch ohne dich erforscht, aber vermutlich nie herausgefunden, wie er funktioniert.«

»Ich fühle mich trotzdem verantwortlich«, versetzte er. Ein schwaches Lächeln erschien auf Mayas Lippen.

»Du hast uns lediglich die Schwächen unserer gesellschaftlichen Struktur aufgezeigt. Der Frieden und die angebliche Harmonie waren schon vor deiner Ankunft trügerisch und brachen unter der ersten Belastung in sich zusammen.« Sie seufzte. »Es ist schon klar, warum Kristallträumer so einen Zulauf hat, obwohl er bisher nur heiße Luft von sich gibt. Das Volk hat keine Perspektive – er bietet ihr eine, auch wenn sie den Untergang nur beschleunigt. Und die Zeit arbeitet für, nicht gegen ihn.«

Matt stand auf. »Trotzdem ist mir noch unklar, was er eigentlich vorhat. Wir dürfen in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen, um schnell reagieren zu können … Das erinnert mich daran, dass ich mit der Wachablösung dran bin. Entschuldigt mich bitte.«

Maya nickte. Sie runzelte die Stirn, als Matt nach seiner Waffe griff, schwieg aber. Jeder kannte ihre Abneigung gegen Waffen. Ihr Vater war einst von einem bis heute unbekannten Attentäter aus unerfindlichen

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Gründen erschossen worden. Seitdem hatte sie sich immer um friedliche Lösungen bemüht.

Jahrhunderte lang waren die Marsianer ohne Waffen ausgekommen. Nun gehörten sie bereits zum Standard.

»Ich muss ohnehin wieder nach Elysium«, sagte die Präsidentin. »Morgen früh bin ich zurück, und dann werde ich das längst überfällige Gespräch mit Kristallträumer erzwingen. Haltet hier die Stellung und verständigt mich, wenn sich etwas tut.«

* * *

Epilog: Heute Alles blieb ruhig dort unten, seit Tagen schon. Man

belauerte sich gegenseitig, wartend auf ein Zeichen. Selten sah man einen Anhänger Kristallträumers im Freien; meist verbargen sie sich in den Felsen. Was sie die ganze Zeit machten, war nicht ersichtlich. Matt konnte sich nur über die Geduld der Leute wundern. Nicht das geringste Anzeichen von Unruhe; der Schamane hatte sie alle voll im Griff. Vielleicht wussten sie auch schon von seinem Plan. Vielleicht führten sie ihn sogar gerade aus.

»Ich hätte es verhindern müssen«, murmelte er. Chandra schüttelte den Kopf. »Das konntest du

ebenso wenig voraussehen wie jeder andere von uns.« »Wir hätten den Leuten die Kristalle wegnehmen

sollen. Ich hätte Kristallträumer niederschlagen und wegschaffen können, damit diese Leute wieder zur Vernunft gekommen wären!«

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»Nein. Es hätte ein Blutvergießen gegeben. Es war schon riskant genug, sich ihm plötzlich zu nähern, und beinahe wäre es auch schief gegangen. Aber er war nicht genug an dir interessiert, sonst hätte er dich nicht so einfach in Buhe gelassen.«

Das stimmte: Kristallträumer schien überhaupt kein Interesse an Matt, Chandra und den anderen zu haben, die ihm im Canyon die Niederlage zugefügt hatten. Rachegelüste schien er nicht zu kennen, oder zumindest ließ er sich nicht von ihnen beherrschen. Das machte den Mann aber nur umso gefährlicher, weil er sich durch nichts von dem Weg zu seinem großen Ziel ablenken oder abhalten ließ.

Doch eine Hoffnung gab es noch. »Das Einzige, was mich hoffen lässt«, sagte Matt leise,

während er seinen Blick wieder auf das Gelände unten richtete, »ist unser Verbündeter.«

»Verbündeter?«, fragte Chandra erstaunt. Matt nickte. »Sternsang ist immer noch dort unten«,

antwortete er. »Und Kristallträumer weiß nichts von ihm.«

– Fortsetzung folgt –

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Das Abenteuer geht weiter!Im nächsten Band lesen Sie:

Die Lage am Strahl der Alten spitzt sich dramatisch zu, als die verblendeten Menschen dort mit Massenselbstmord drohen. Aber das ist längst nicht die größte Bedrohung für das Marsvolk! Der von Phobos eingeschmuggelte Sporenpilz gerät außer Kontrolle – im Wald bricht eine Seuche aus, was endgültig zu Aufständen und blutigen Kämpfen führt. Und dann geschieht zu allem Überfluss genau das, was Kristallträumer in einer Vision gesehen hat! Die Weissagung des Propheten erfüllt sich – und dem Mars steht seine größte Prüfung bevor!

Die Seuchevon Susan Schwartz