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1 Der Prozess von Franz Kafka Materialien zur Inszenierung von Rolf Bolt Empfohlen ab 15 Jahren Fach: Deutsch / Philosophie

Der Prozess - THEATER PADERBORN · Leider ist Franz Kafka an einem Teil seines Vermächtnisses sein eigner Exekutor geworden. Ich fand in seiner Wohnung zehn große Quarthefte –

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Der Prozess von Franz Kafka

Materialien zur Inszenierung von Rolf Bolt

Empfohlen ab 15 Jahren

Fach: Deutsch / Philosophie

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Liebe Lehrer*innen,

Franz Kafkas DER PROZESS, ein Stoff, der wie die meisten Werke Kafkas zahlreiche

Interpretationsspielräume bietet, wird am Theater Paderborn mit den Mitteln des Figurentheaters

erzählt. In diesem Prozess, dem Protagonist Josef K. ausgesetzt wird und der eine Dynamik

entwickelt, die sich jeglicher Logik zu entziehen scheint, bekommen die verschiedensten Objekte

ein Eigenleben. Es entstehen eindringliche Bilder, in denen die Figuren zum Teil überhöht oder

symbolisch überzeichnet dargestellt werden, um so dem absurden Charakter der Geschichte

eine passende Form zu geben. Dabei gibt die Inszenierung bewusst keine allein gültige

Interpretationsebene oder Modernisierung vor, sondern vertraut Kafkas eindringlicher Sprache

und der zeitlosen Aktualität und Übertragbarkeit seiner Geschichte.

In dieser Mappe haben wir Sekundärliteratur zum Stücktext und zur Rezeptionsgeschichte sowie

theaterpädagogische Übungen zusammengestellt, die es Ihnen ermöglichen sollen, die

Inszenierung ganz praktisch für Schüler/innen erfahrbar zu machen. Neben der Materialmappe

bieten wir auch stückbegleitende Workshops für Ihre Klasse als weiteres Vermittlungsformat an

– kontaktieren Sie uns hierfür unter [email protected].

Ihr Theaterpädagogik-Team des Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele GmbH

Nächste Premiere im Großen Haus: NORA ODER EIN PUPPENHAUS von Henrik Ibsen;

Premiere am 01.04.2017, empfohlen ab 14 Jahren

Nächste Premiere im Studio: WARTE, BIS ES DUNKEL IST von Frederick Knott; Premiere am

07.04.2017, empfohlen ab 16 Jahren

Nächste Empfehlung für Sie: GOTT WARTET AN DER HALTESTELLE von Maya Arad Yasur;

Premiere am 31.05.2017 im Großen Haus, empfohlen ab 16 Jahren. Zu der Inszenierung bieten

wir ebenfalls eine Materialmappe sowie stückbegleitende Workshops an (Kontakt unter

[email protected]).

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Besetzung

Josef K. Lars Fabian

Aufseher / Direktor-Stellvertreter / Prügler /

Advokat Huld / Geistlicher Stephan Weigelin

Franz / Onkel Denis Wiencke

Willem / Kaufmann Block /

Untersuchungsrichter Patrick Depari

Fräulein Bürstner / Leni Danielle Green

Frau Grubach Nancy Pönitz

Regie Rolf Bolt

Bühne, Kostüme & Puppen Rolf Bolt

Dramaturgie Anne Vogtmann

Regieassistenz Ilka Zänger

Regiehospitanz Moritz Vinke

Ausstattungsassistenz Carlotta Miaskowski

Technischer Leiter Klaus Herrmann

Bühnenmeister Paul Discher

Beleuchtung Fabian Cornelsen

Ton & Video Till Herrlich-Petry

Requisite & Puppenbau Annette Seidel-Rohlf

Kristiane Szonn

Leitung Kostümabteilung Edith Menke

Maske Ramona Foerder

Jill Brand

Premiere: Freitag, 24.03.2017 / 19:30 Uhr im Studio

Dauer: ca. 75 Minuten

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Inhalt

Auszug aus

Max Brods Nachwort zur ersten Ausgabe von Kafkas „Der Prozess“ 1925 Seite 5-8

„Wie Kafka unsere Facebook-Existenz voraussah“ von Rainer Stach Seite 10-13

Auszug aus

„Puppen- und Menschentheater“ Seite 15-16

DER PROZESS – theateraktiv

Zusammenstellung verschiedener Übungen Seite 18-24

Sekundärmedienpool: Literatur / Filme

Impressum Seite 25

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Max Brods Nachwort zur ersten Ausgabe von Kafkas „Der Prozess“ 1925

In diesem Auszug aus dem Nachwort zur ersten Ausgabe von Franz Kafkas „Der

Prozess“ berichtet der Herausgeber und Freund Kafkas, Max Brod, von dessen

literarischem Schaffen und dem Umgang mit seinem Nachlass. Max Brod erklärt, warum

er Kafkas Willen, seine Werke nach seinem Tod zu vernichten, nicht entsprochen und

viele seiner Schriften posthum veröffentlicht hat:

„Eigenartig und tief wie alle Lebensäußerungen Franz Kafkas war auch seine

Stellungnahme seinem eigenen Werk und jeder Publikation gegenüber. Die Probleme,

die er bei Behandlung dieser Angelegenheit austrug und die daher auch Richtschnur

jeder Veröffentlichung aus seinem Nachlass bleiben müssen, können in ihrem Ernst gar

nicht überschätzt werden. Zu ihrer wenigstens annäherungsweisen Beurteilung diene

das Folgende:

Fast alles, was Kafka veröffentlicht hat, ist ihm von mir mit List und Überredungskunst

abgenommen worden. Damit steht nicht im Widerspruch, dass er oftmals, in langen

Lebensperioden, seines Schreibens wegen (er sprach freilich stets nur von einem

„Kritzeln“) viel Glück empfunden hat. Wer ihn nur je in kleinem Kreise seine eigne Prosa

mit hinreißendem Feuer, mit einem Rhythmus, dessen Lebendigkeit kein Schauspieler je

erreichen wird, vorlesen hören durfte, der fühlte auch unmittelbar die echte unbändige

Schaffenslust und Leidenschaft, die hinter diesem Werke stand. Dass er es trotzdem

verwarf, hatte seinen Grund zunächst in gewissen traurigen Erlebnissen, die ihn zur

Selbstsabotage, daher auch zum Nihilismus dem eignen Werk gegenüber führten;

unabhängig davon aber auch in der Tatsache, dass er an dieses Werk (freilich ohne dies

je auszusprechen) den höchsten religiösen Maßstab anlegte, dem es allerdings, aus

vielerlei Wirrnissen entrungen, nicht entsprechen konnte. Dass sein Werk trotzdem

vielen, die zum Glauben, zur Natur, zur vollkommenen Seelengesundheit hinstreben, ein

starker Helfer hätte werden können, durfte ihm nichts bedeuten, der mit dem

unerbittlichen Ernst für sich selbst auf der Suche nach dem rechten Wege war und

zunächst sich selbst, nicht andern Rat zu geben hatte.

So deute ich für meine Person die negative Stellungnahme Kafkas zu seinem eignen

Werk. Er sprach oft von den „falschen Händen, die sich einem während des Schreibens

entgegenstrecken“ – auch davon, dass ihn das Geschriebene und gar das

Veröffentlichte in der weitern Arbeit beirre. Es gab viele Widerstände zu überwinden,

ehe ein Band von ihm erschien. Nichtsdestoweniger hat er an den fertigen schönen

Büchern und gelegentlich auch an ihren Wirkungen eine rechte Freude gehabt, und es

gab Zeiten, wo er wie sich selbst so auch sein Werk mit gleichsam wohlwollenderen

Blicken, nie ganz ohne Ironie, jedoch mit freundlicher Ironie musterte; mit einer Ironie,

hinter der sich das ungeheure Pathos des kompromisslosen nach dem Höchsten

Strebenden verbarg.

In Franz Kafkas Nachlass hat sich kein Testament vorgefunden. In seinem Schreibtisch

lag unter vielem andern Papier ein zusammengefalteter, mit Tinte geschriebener Zettel

mit meiner Adresse. Der Zettel hat folgenden Wortlaut:

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Liebster Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlass (also im

Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zu Hause und im Büro, oder wohin sonst

irgendetwas vertragen worden sein sollte und dir auffällt) an Tagebüchern,

Manuskripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos

und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das du

oder andre, die du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man dir nicht

übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.

Dein Franz Kafka.

Bei genauerm Suchen fand sich auch noch ein mit Bleistift geschriebenes, vergilbtes,

offenbar älteres Blatt. Es sagt:

Lieber Max, vielleicht stehe ich diesmal doch nicht mehr auf, das Kommen der

Lungenentzündung ist nach dem Monat Lungenfieber genug wahrscheinlich, und nicht

einmal, dass ich es niederschreibe, wird sie abwehren, trotzdem es eine gewisse Macht

hat.

Für diesen Fall also mein letzter Wille hinsichtlich alles von mir Geschriebenen:

Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer,

Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar

Exemplare der „Betrachtung“ mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des

Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden). Wenn ich sage,

dass jene fünf Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, dass ich den

Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im

Gegenteil, sollten sie ganz verlorengehn, entspricht dieses meinem eigentlichen

Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten,

wenn er dazu Lust hat.

Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften

Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos, soweit es erreichbar oder

durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist (die meisten Adressaten kennst du ja, in

der Hauptsache handelt es sich um ..., vergiss besonders nicht paar Hefte, die ... hat) –

alles dieses ist ausnahmslos, am liebsten ungelesen (doch wehre ich dir nicht

hineinzuschaun, am liebsten wäre es mir allerdings, wenn du es nicht tust, jedenfalls

aber darf niemand andrer hineinschauen) – alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen,

und dies möglichst bald zu tun bitte ich dich.

Franz

Wenn ich diesen kategorisch ausgesprochenen Verfügungen gegenüber dennoch

ablehne, die herostratische Tat auszuführen, die mein Freund von mir verlangt, so habe

ich hierzu die allertriftigsten Gründe.

Einige davon entziehen sich öffentlicher Diskussion. Doch auch die, welche ich mitteilen

kann, sind meiner Ansicht nach durchaus hinreichend zum Verständnis meines

Entschlusses.

Der Hauptgrund: als ich 1921 meinen Beruf wechselte, sagte ich meinem Freunde, dass

ich mein Testament gemacht hätte, in dem ich ihn bäte, dieses und jenes zu vernichten,

andres durchzusehen und so fort. Darauf sagte Kafka und zeigte mir den mit Tinte

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geschriebenen Zettel, den man dann in seinem Schreibtisch vorgefunden hat, von

außen: „Mein Testament wird ganz einfach sein die Bitte an dich, alles zu verbrennen.“

Ich entsinne mich auch noch ganz genau der Antwort, die ich damals gab: „Falls du mir

im Ernste so etwas zumuten solltest, so sage ich dir schon jetzt, dass ich deine Bitte

nicht erfüllen werde.“ Das ganze Gespräch wurde in jenem scherzhaften Ton geführt,

der unter uns üblich war, jedoch mit dem heimlichen Ernst, den wir dabei stets einer bei

dem andern voraussetzten. Von dem Ernst meiner Ablehnung überzeugt, hätte Franz

einen andern Testamentsexekutor bestimmen müssen, wenn ihm seine eigne Verfügung

unbedingter und letzter Ernst gewesen wäre.

(…)

Weitere Gründe: die Order des Bleistiftblatts ist von Franz selbst nicht befolgt worden,

denn er hat später ausdrücklich die Erlaubnis gegeben, dass Teile der „Betrachtung“ in

einer Zeitung nachgedruckt, und dass drei weitere Novellen veröffentlicht würden, die er

selbst mit dem „Hungerkünstler“ vereinigt und dem Verlag „Die Schmiede“ übergeben

hat. Beide Verfügungen stammen ferner aus einer Zeit, wo die selbstkritischen

Tendenzen meines Freundes den Höhepunkt erreicht hatten. In seinem letzten

Lebensjahre aber hat sein ganzes Dasein eine unvorhergesehene, neue, glückliche,

positive Wendung genommen, die diesen Selbsthass und Nihilismus derogiert. – Mein

Entschluss, den Nachlass zu veröffentlichen, wird übrigens durch die Erinnerung an all

die erbitterten Kämpfe erleichtert, mit denen ich jede einzelne Veröffentlichung von Kafka

erzwungen und oft genug erbettelt habe. Und dennoch war er nachträglich mit diesen

Veröffentlichungen ausgesöhnt und relativ zufrieden. – Schließlich entfällt bei einer

postumen Veröffentlichung eine Reihe von Motiven, zum Beispiel, dass Veröffentlichung

weitere Arbeit beirren könnte, dass sie die Schatten persönlich peinlicher

Lebensperioden aufrief. (…)

Ich fühle sehr wohl, dass ein Rest bleibt, der besonders zartsinnigen Menschen die

Publikation verbieten würde. Ich halte es aber für meine Pflicht, dieser sehr

einschmeichelnden Verlockung des Zartsinns zu widerstehn. Entscheidend ist dabei

natürlich nichts von dem bisher Vorgebrachten, sondern einzig und allein die Tatsache,

dass der Nachlass Kafkas die wundervollsten Schätze, auch an seinem eignen Werk

gemessen das Beste, was er geschrieben hat, enthält. Ehrlicherweise muss ich

eingestehn, dass diese eine Tatsache des literarischen und ethischen Werts genügt

hätte (selbst wenn ich gegen die Kraft der letztwilligen Verfügungen Kafkas gar keinen

Einwand hätte) – meine Entscheidung mit einer Präzision, der ich nichts

entgegenzusetzen hätte, eindeutig zu bestimmen.

Leider ist Franz Kafka an einem Teil seines Vermächtnisses sein eigner Exekutor

geworden. Ich fand in seiner Wohnung zehn große Quarthefte – nur ihre Deckel, den

Inhalt vollständig vernichtet. Ferner hat er (zuverlässigem Bericht zufolge) mehrere

Schreibblocks verbrannt. In der Wohnung fand sich nur ein Konvolut (etwa hundert

Aphorismen über religiöse Fragen), ein autobiographischer Versuch, der vorläufig

unveröffentlicht bleibt, und ein Haufen ungeordneter Papiere, die ich jetzt sichte. Ich

hoffe, dass sich in diesen Papieren manche vollendete oder nahezu vollendete Erzählung

finden wird. Ferner wurden mir eine (unvollendete) Tiernovelle und ein Skizzenbuch

übergeben.

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Der kostbarste Teil des Vermächtnisses besteht mithin in den Werken, die dem Grimm

des Autors rechtzeitig entzogen und in Sicherheit gebracht worden sind. Es sind dies

drei Romane. „Der Heizer“, die schon veröffentlichte Erzählung, bildet das erste Kapitel

des einen Romans, der in Amerika spielt, und von dem auch das Schlusskapitel existiert,

so dass er keine wesentliche Lücke aufweisen dürfte. Dieser Roman befindet sich bei

einer Freundin des Toten; die beiden andern – „Das Schloss“ und den „Prozess“ – habe

ich 1920 und 1923 zu mir gebracht, was mir heute ein wahrer Trost ist. Erst diese

Werke werden zeigen, dass die eigentliche Bedeutung Franz Kafkas, den man bisher mit

einigem Recht für einen Spezialisten, einen Meister der Kleinkunst halten konnte, in der

großen epischen Form liegt.

(…)

Das Manuskript des Romans „Der Prozess“ habe ich im Juni 1920 an mich genommen

und gleich damals geordnet. Das Manuskript trägt keinen Titel. Doch hat Kafka dem

Roman im Gespräch stets den Titel „Der Prozess“ gegeben. Die Einteilung in Kapitel

sowie die Kapitelüberschriften rühren von Kafka her. Bezüglich der Anordnung der

Kapitel war ich auf mein Gefühl angewiesen. Doch da mir mein Freund einen großen Teil

des Romans vorgelesen hatte, konnte sich mein Gefühl bei der Ordnung der Papiere auf

Erinnerungen stützen. – Franz Kafka hat den Roman als unvollendet betrachtet. Vor dem

Schlusskapitel, das vorliegt, sollten noch einige Stadien des geheimnisvollen Prozesses

geschildert werden. Da aber der Prozess nach der vom Dichter mündlich geäußerten

Ansicht niemals bis zur höchsten Instanz Vordringen sollte, war in einem gewissen Sinne

der Roman überhaupt unvollendbar, das heißt in infinitum fortsetzbar. Die vollendeten

Kapitel, mit dem abrundenden Schlusskapitel zusammengenommen, lassen jedenfalls

sowohl den Sinn wie die Gestalt des Werkes mit einleuchtendster Klarheit hervortreten,

und wer nicht darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Dichter selbst an dem Werke

noch weiterzuarbeiten gedachte (er unterließ es, weil er sich einer andern

Lebensatmosphäre zuwandte) – wird kaum seine Lücke fühlen. – Meine Arbeit an dem

großen Papierbündel, das seinerzeit dieser Roman darstellte, beschränkte sich darauf,

die vollendeten von den unvollendeten Kapiteln zu sondern. Die unvollendeten lasse ich

für den Schlussband der Nachlassausgabe zurück, sie enthalten nichts für den Gang der

Handlung Wesentliches. Eines dieser Fragmente wurde vom Dichter selbst unter dem

Titel „Ein Traum“ in den Band „Ein Landarzt“ aufgenommen. Die vollendeten Kapitel sind

hier vereinigt und geordnet. Von den unvollendeten habe ich nur eines, das offenbar

nahezu vollendet ist, mit einer leichten Umstellung von vier Zeilen als Kapitel 8 hier

eingereiht. – Im Text habe ich selbstverständlich nichts geändert. Ich habe nur die

zahlreichen Abkürzungen transkribiert (zum Beispiel statt F. B. „Fräulein Bürstner“ – statt

T. „Titorelli“, voll ausgeschrieben) und einige kleine Versehen berichtigt, die

offensichtlich nur deshalb in dem Manuskript stehen geblieben sind, weil es der Dichter

einer definitiven Durchsicht nicht unterworfen hat.“

M.B.

Alexander Reck: „Materialen zu Franz Kafka ‚Der Prozess‘.“ Husum 2004.

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„Unsere Behörde wird von der Schuld angezogen.“

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Wie Kafka unsere Facebook-Existenz voraussah

Der Kafka-Biograf Reiner Stach äußert sich in diesem Essay über die Aktualität von

Kafkas „Der Prozess“ und nimmt dabei Bezug auf den Umgang mit persönlichen Daten

in unserer heutigen Zeit.

„Kafkaesk ist seit Langem ein Lieblingsbegriff des gehobenen politischen Journalismus.

Er hat Aura, und er enthält genau die kleine Dosis Ironie, die davor schützt, nach der

Bedeutung des Begriffs allzu genau befragt zu werden. Glaubt man den von Google

Ngram gelieferten Statistiken, so erlebte der Begriff den Höhepunkt seiner Karriere

schon um die Jahrtausendwende. Was möglicherweise daran liegen könnte, dass die

Zahl der anspruchsvollen politischen Analysen insgesamt zurückgeht. Darüber erzählt

uns Google nichts.

Nun gibt es Indizien und vielleicht auch gute Gründe dafür, dass der Trend sich umkehrt

und kafkaeske Zustände wieder häufiger diagnostiziert werden. Als kürzlich der Anwalt

John W. Whitehead einen Artikel mit „Kafka’s America“ überschrieb, war der

Zusammenhang unmittelbar einleuchtend: nicht öffentliche Rechtsprechung, geheime

bürokratische Prozeduren, Aufhebung der Privatsphäre – das alles kennen wir aus

Kafkas berühmtestem Werk „Der Process“ oder doch zumindest aus dem ebenso streng

stilisierten Albtraum, den Orson Welles daraus für das Kino machte.

Kafka gilt als einer der Begründer der literarischen Moderne, er riss sich los von seinen

Wurzeln, die tief ins 19. Jahrhundert zurückgehen, war dafür aber mit Fühlern

ausgestattet, die bis ins 21. Jahrhundert reichen. Gewiss gibt es auch bei Kafka

zeitgebundene Motive, die uns nicht mehr unmittelbar einleuchten – so kann es zum

Beispiel schwierig sein, heutigen Schülern, die in Patchwork-Familien leben, Kafkas

lebenslanges „Vaterproblem“ zu erklären. Beim „Process“ hingegen wird der Leser in

eine von Verfolgung und Angst geprägte Welt so unwiderstehlich hineingezogen, als

seien dies Fantasien, die wir alle teilen.

Leser innerhalb der Machtsphäre des Kommunismus konnten sich diese überwältigende

Wirkung noch daraus erklären, dass Kafka im Grunde ihre Gegenwart schilderte, also

den Zustand einer fundamentalen Rechtslosigkeit des Einzelnen, den er vorausgesehen

und als Erster eindringlich geschildert habe.

Doch war Kafka durchaus kein Prophet — insbesondere hat er die systematische

Verfolgung und Vernichtung der Juden nicht vorhergeahnt, der seine drei Schwestern

und viele weitere Menschen aus seinem Umfeld zum Opfer fallen sollten. Er hatte als

Jugendlicher pogromartige Zustände in Prag erlebt, es kam vor, dass sich die Familie

Kafka in ihrer Wohnung mehrere Tage lang verbarrikadieren musste. Doch staatlich

tolerierten Mord an Juden, wie er etwa in Russland vorkam, kannte Kafka nur aus der

Zeitung.

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Schon der oberflächlichste Blick auf den „Process“ zeigt, dass es ihm hier nicht um die

Leiden unschuldiger Opfer gegangen sein kann. Der Protagonist Josef K. ist nicht

sonderlich sympathisch, er hat keine lebendigen Beziehungen zu anderen, und er wird

offenkundig von einer verborgenen Schuld gequält. Die Hinrichtung erfolgt mit K.s

Einverständnis, ist also eigentlich ein Suizid. Gegen den erklärten Willen des

Angeklagten geschieht in diesem Roman überhaupt nichts, und dies allein macht jede

eindimensionale politische Deutung zunichte. Ebenso aber auch ein plattes Verständnis

von Aktualität. Schließlich leben wir nicht in Gesellschaften, in denen man von

Uniformierten aus dem Bett geholt und in einem Steinbruch erstochen wird. Oder?

Dass wir dennoch eine unheimliche Aktualität Kafkas verspüren, hat Gründe, über die es

nachzudenken lohnt. Elias Canetti hat den scheinbar so unpolitischen Kafka als einen der

größten Experten der Macht bezeichnet, und er hatte gute Gründe dafür. Denn Kafka

schildert nicht nur, wie Menschen zu Opfern werden – was literarisch noch nicht

besonders verdienstvoll wäre –, vor allem zeigt er, wie sehr die Macht darauf

angewiesen ist, dass ihre Opfer „mitmachen“. Das ist ein Phänomen, das unsere oft zu

enge Definition des Politischen übersteigt und dessen Nähe zu den Erkenntnissen der

Psychoanalyse offensichtlich ist.

Wie Freud die Fortpflanzung von Macht beschrieb, beeindruckte Kafka, da es sich mit

seinen eigenen Erfahrungen deckte. Wer schon als Kind zu hören bekommt, dass er

unfähig, minderwertig oder böse sei, der wird einen beträchtlichen Teil seiner

Lebensenergie allein dafür aufwenden müssen, sich gegen ein derartiges Selbstbild zur

Wehr zu setzen. Solche Menschen werden von der Macht unweigerlich infiltriert, danach

haben sie das Gift im eigenen Körper: Schuldbewusstsein, Gefühle der

Minderwertigkeit, Zwanghaftigkeit. Diese Infiltration kann man in Kafkas „Process“

gleichsam in Zeitlupe verfolgen, und der widerstandslose Gang zur Hinrichtungsstätte ist

nur ihr trauriger Höhepunkt.

Es beginnt sehr subtil, aber wirkungsvoll damit, dass Josef K. unter Beobachtung gestellt

wird. Viele Augenpaare sind auf ihn gerichtet, und wildfremde Menschen wissen über

seinen Prozess Bescheid. Ab dem Augenblick, da Josef K. zum Angeklagten, also zum

Verdächtigten erklärt wird, erleidet er eine Einschränkung seiner Privatsphäre. Man redet

über ihn, man deutet auf ihn. Dabei bleibt er körperlich und sozial völlig unversehrt,

selbst seinen Job in einer Bank macht niemand ihm streitig. Dennoch fühlt sich K. wie ein

gehetztes Wild, und Kafka gelingt es, das Klima der Angst so zu verstärken, dass auch

der Leser zwischen realer Bedrohung und Paranoia nicht mehr unterscheiden kann.

Für solche berührungslosen Verfolgungen sind wir weit stärker sensibilisiert als frühere

Generationen von Kafka-Lesern. Das hat naheliegende Gründe, die mit atmosphärischen

Veränderungen der Gesellschaft zu tun haben. Denken wir beispielsweise an den

Beschluss der Europäischen Union Ende 2004, Gesichtsbilder und Fingerabdrücke aller

ihrer Bürger digital zu erfassen. Dieser Beschluss kam unter massivem Druck der USA

zustande, die dafür sicherheitspolitische Gründe anführten. Mittlerweile ist es in keinem

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Land Europas mehr möglich, einen neuen Reisepass zu bekommen, ohne die eigenen

Fingerabdrücke zu liefern. Während vor gar nicht langer Zeit das Abnehmen von

Fingerabdrücken in Kriminalfilmen stets als Stigmatisierung dargestellt wurde.

Ähnliches geschieht mit Gesichtsbild und Gesichtserkennung. Sobald ich mich durch

eine Großstadt bewege, sind Tausende von Kameras auf mich gerichtet. Deren

Botschaft lautet, erstens, dass jeder ein potenzieller Täter ist, also auch ich und die nette

Frau, die mir in der U-Bahn gegenübersitzt, und zweitens, dass ich jetzt sicherer lebe als

zuvor, da doch alle anderen ebenfalls wissen, dass sie unter Beobachtung stehen.

Wobei völlig unklar bleibt, ob hinter all diesen Kameras tatsächlich menschliche Augen

lauern. (…)

Es bedarf keiner ausgeprägten sozialen Fantasie, um vorherzusehen, wohin die

unbeschränkte Kumulation von Überwachungstechniken führen muss: Sie wird das

Verdächtigsein zu einem natürlichen sozialen Zustand machen. Man konnte das auch

schon vor dem sogenannten NSA-Skandal wissen. Denn Datenspeicher sind gefräßig,

ganz gleich, in wessen Händen sie sich befinden, und Daten über Menschen haben die

Tendenz, sich zu immer detaillierteren Profilen zu verdichten. Welche ethischen

Bedenken sollten einen Staat, der ein ernstes Sicherheitsproblem hat oder haben

könnte, daran hindern, diese Instrumente auch zu nutzen?

(…)

Im „Process“ stellt der Angeklagte die Frage nach dem Sinn des Verfahrens anfangs

noch sehr energisch, dann jedoch immer seltener. Stattdessen lässt er sich mit

umständlichen Beschreibungen bürokratischer Prozeduren abspeisen und hegt eine Zeit

lang die Illusion, auf diese Weise dem Verständnis des eigenen Schicksals

näherzukommen. Das ist eine Sackgasse, die wir sofort wiedererkennen und die uns

tatsächlich Kafkas Fiktionen erschreckend nahebringt.

Auch in den öffentlichen Debatten zum Thema Überwachung und Terrorprävention wird

häufig der Anschein erweckt, als seien diese Probleme technisch zu lösen. Gewiss ist es

interessant, sich neue Verschlüsselungstechniken auszudenken oder die Frage zu

diskutieren, ob Cloud Computing und Online Storage unter den neuen Verhältnissen

noch empfehlenswert sind. Und natürlich ist es legitim, wenn europäische Regierungen

darüber nachdenken, Datenleitungen, die über die USA führen, durch eigene zu

ersetzen.

Dieses Starren auf technische Probleme macht jedoch auf Dauer dumm. Josef K. verliert

seinen Prozess, weil er sich auf Verfahrensfragen konzentriert. Die Informationen, an die

er gelangt, besagen ja nur, dass bürokratische Vorgänge eben komplex sind, sodass sie

selbst schicksalhafte Entscheidungen manchmal spontan hervorbringen. Verantwortlich

ist also niemand, weshalb es für Widerspruch auch keine zuständige Adresse gibt. (…)

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Noch problematischer wird es, wenn wir aus den oberen Zonen der Macht zu hören

bekommen, es werde doch nur das vollstreckt, was wir uns insgeheim wünschen. So

wurde jahrelang jede Kritik daran, wie Facebook mit den persönlichen Daten seiner User

umgeht, mit dem lässigen Argument beantwortet, die klassische Idee der Privatsphäre

sei ohnehin obsolet. Als reagierten die sozialen Netzwerke nur auf einen historischen

Mentalitätswandel, der längst stattgefunden habe.

Daran ist sogar etwas Wahres. Ich brauche es nicht zu dulden, dass Google Street View

mein Grundstück digital erfasst und das Bild online stellt, doch dies verhindern zu

wollen, verursacht Scherereien, und so geschieht es eben. Niemand zwingt mich dazu,

mit einem Häkchen zu bestätigen, dass ich die Geschäftsbedingungen von Facebook

oder irgendeiner anderen Online-Großmacht zur Kenntnis genommen habe. Ich tue es

dennoch, ohne von dem Kauderwelsch etwas verstanden zu haben, das heißt, ich

gewöhne mich daran, vertragliche Bindungen blind einzugehen – was die andere Seite

dann als Beweis des Vertrauens verbucht. Und schließlich richte ich mich in einer

historisch neuen Form von „Pseudo-Privatheit“ ein (wie das Sascha Lobo genannt hat),

die darauf hinausläuft, dass ich dem Staat schulterzuckend Einblick gewähre –

Hauptsache, die Nachbarn erfahren nichts über mich.

Für Kafka war die Bürokratie das schlechthin moderne Phänomen. Die Bürokratie als

solche aber ist nicht schuldig, sie ist kein Subjekt. Verantwortlich sind allein wir, die zu

schnell das Häkchen setzen, unsere Fotos und Adressen mit zu vielen teilen und das

Löschen zu häufig vergessen. Formell haben wir die Freiheit, in unserem persönlichsten

Leben zu tun, was uns beliebt, und dennoch wird das Gefühl immer drängender, dass

wir diese Freiheit bereits verschenkt haben. „Dann sind Sie also frei?“, fragt jemand den

Helden von Kafkas Roman „Der Verschollene“. „‚Ja, frei bin ich‘, sagte Karl, und nichts

schien ihm wertloser.“ Das kann nicht das Schlusswort sein.“

Veröffentlicht am 31.01.2014

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article124410648/Wie-Kafka-unsere-Facebook-Existenz-

voraussah.html

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„Ich bin aber nicht schuldig, es ist

ein Irrtum. Wie kann denn ein

Mensch überhaupt schuldig sein.

Wir sind hier doch alle Menschen,

einer wie der andere.“

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Puppen- und Menschentheater

Der folgende Ausschnitt aus einem Artikel in „Das andere Theater“ – die offizielle

Zeitschrift der UNIMA Deutschland (Vereinigung von Puppentheatermachern),

beschäftigt sich mit Einsatz und Wirkungsweise von Puppen auf der Theaterbühne.

„Oberflächlich betrachtet ist Puppentheater verkleinertes Menschentheater. Diese

falsche Einschätzung hat historischen Ursprung. Da früher das Theater den oberen

Schichten vorbehalten war, fungierte das Puppentheater als Ersatz für das „niedere

Volk“. Da der Begriff „Puppe“ darüber hinaus Nähe zu Spielzeug hat, wurde und wird es

häufig als „Kindertheater“ klassifiziert. Die Bestrebungen einer Namensänderung – weg

vom Begriff „Puppe“ und hin zu „Figur“ – zeigen die Versuche, diesem Stereotyp zu

begegnen.

Worin liegt nun die Stärke der Puppe gegenüber dem Menschen? Als seine

Nachahmung bleiben allein die Vorteile, dass sie größer oder kleiner als ihr Vorbild sein

und andere Proportionen aufweisen kann. Eigenständig wird die Puppe vor allem in zwei

Aspekten. Erstens ist sie antigrav, sie widersetzt sich der Schwerkraft. Heinrich v. Kleist

begeistert sich in seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ nicht nur darüber, dass

Puppen sich niemals zieren, sondern vor allem „Bewegungen, die ihnen zum Gebote

stehen, in einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut vollziehen können, die jedes denkende

Gemüt in Erstaunen versetzt …(sie) nichts von der Trägheit wissen, weil die Kraft, die sie

in die Lüfte hebt, größer ist als jene, die sie an die Erde fesselt … nur ein Gott könne

sich auf diesem Felde mit ihr messen.“ So wünschte sich der Tänzer Fred Astaire von

seinem Gott diese „Schwerelosigkeit“, die ihm so fehlte.

Zweitens „arbeitet“ die Puppe auf einem anderen Abstraktionsgrad als der Mensch. Sie

ist Materie und Reduktion auf das Wesentliche, sowohl in ihren statischen Elementen

(ihrem Aussehen) wie auch in ihren dynamischen (in dem, was sie tut). Neben der realen

Metamorphose, also der wirklichen Verwandlung, ermöglicht die Puppe eine Metaphorik,

da sie nicht das ist, was sie vorgibt (z.B. Objekte, die sich wie Menschen verhalten).

Hierbei liegt die Metapher im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Konvention. Sie

folgt den Regeln der Analogie, bleibt aber doppeldeutig und fordert den Betrachter zur

Eigeninterpretation auf. So ist die Entwicklung von der realen Puppe zu immer

abstrakteren Formen auch in der Benennung der Theaterform von Puppen- zum Figuren-

und zum Objekttheater nur logisch.

Der Mensch als Schauspieler bleibt mehr Individuum als die Puppe, die weniger

persönlich und mehr als zu verallgemeinerndes Prinzip wahrgenommen wird. So darf sie

schärfer formulieren als ein Mensch, was vor allem bei Interaktionen Mensch-Puppe

(z.B. beim Bauchredner mit einer Puppe) angewandt wird. „Die spezifische

Abbildungspotenz des Puppenspiels quillt also aus einer grundsätzlichen Dualität, die die

Nichtidentität von Darsteller und Figur unmittelbar hervorhebt und aus deren Beziehung

ein gesonderter Gegenstand extrahiert werden kann.“ (K. Kavrakova-Lorenz)

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Die Darstellung von Tieren als verkleidete Menschen und der zwangsläufig damit

verbundene Abstraktionsgradwechsel, der beim Schauspiel mit Menschen oft etwas

lächerlich wirkt, tritt beim Puppentheater nicht auf.

Erfolgreiches Puppentheater kann mit einer einfachen Konstruktion oder mit einer

komplizierten möglich gemacht werden. Die Bewertung „Je komplizierter, desto

qualifizierter“ ist jedoch nicht angebracht.

Interaktionen von Menschen und Puppen – auch auf der Schauspielbühne – zeigen, dass

die systemischen Vorteile der Puppe immer häufiger wahrgenommen und dramaturgisch

verwendet werden.“

„Das andere Theater“. (Zeitschrift des UNIMA-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland), Nr. 74, 2010.

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„Trübselige Meinung. Die Lüge

wird zu Weltordnung gemacht.“

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Der Prozess – theateraktiv, für Schulklassen / Gruppen ab 15 Jahren

Bevor Sie mit Ihrer Klasse oder Ihrem Kurs die theaterpädagogischen Spiele und Übungen

beginnen, empfiehlt es sich, immer ein „Warm-Up“ zu machen. Diesbezüglich bietet das Internet

viele verschiedene Übungen.

Bei Fragen können Sie uns selbstverständlich gerne auch einfach persönlich kontaktieren.

Zugänge zum Stück

Diskussionsimpulse

1. Besprechen Sie mit der ganzen Klasse historische Situationen oder Fälle, bei denen Personen

unschuldig oder mit falschen Beweisen verhaftet wurden.

2. Fragen Sie die Schüler*innen dann nach persönlichen Erlebnissen, bei denen sie sich zu

Unrecht beschuldigt fühlten.

3. Leiten Sie eine Partnerübung an, durch die Gefühle der Ohnmacht und Machtlosigkeit

nachvollzogen werden können. Sie benötigen dafür eine Stoppuhr.

Die Schüler*innen finden sich zu Paaren zusammen. Partner A bekommt die Aufgabe, während

der Übung einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Partner B soll drei Minuten ohne

Unterbrechung von einer Situation erzählen, in der er / sie sich ungerecht behandelt gefühlt hat.

Nach drei Minuten wechseln die Partner die Aufgaben. Nach der Zeit wird gemeinsam

besprochen, was die einzelnen Paare erfahren haben.

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Übungen zur Inszenierung

1. Gespräch mit der Klasse

Besprechen Sie mit Ihren Schüler*innen die Funktion, die die Puppen in dem Stück hatten.

Warum wurden ausgerechnet Puppen für das Stück gewählt? Wie passte das Erscheinungsbild

der Puppen zum Stückinhalt? Wie haben die Schauspieler*innen die Puppen bespielt? Hatten

sie dabei eine spezielle Körpersprache, eine erkennbare Technik oder eine besondere Stimme?

Wie haben die Puppen insgesamt die Geschichte in ihrer Wirkung verändert?

2. Do it yourself! Aber anders

In dieser Inszenierung werden hauptsächlich gewöhnliche Gegenstände und Materialien als

Puppenfiguren eingesetzt. Es entsteht z.B. eine Figur aus einer Bettdecke oder eine Lampe wird

mithilfe von bestimmten Bewegungen zum Leben erweckt. Die Schüler*innen bekommen die

Aufgabe, über eine Woche eine Fotoserie zu erstellen, in der sie Gegenstände aus ihrer

Umgebung so in Szene setzen, dass diese lebendig wirken. Die Serien werden präsentiert und

es wird besprochen, was den Eindruck der Lebendigkeit unterstützt. Mit dieser Aufgabe soll ein

spezieller Zugang zum künstlerischen Arbeitsprozess des Entwickelns und Erschaffens von

„Puppen-Figuren“ für diese Inszenierung bewirkt werden.

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3. Emotionen & Mimik

Mehrere stückrelevante Textpassagen werden erneut aufgegriffen.

FRANZ Unsere Behörde wird von der Schuld angezogen.

K. Dieses Gesetz kenne ich nicht.

WILLEM Desto schlimmer für Sie.

K. Es besteht wohl auch nur in Ihren Köpfen

WILLEM Sie werden es zu fühlen bekommen.

FRANZ Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet

gleichzeitig, schuldlos zu sein.

FR. GRUBACH K. lief vor, fasste sie, küsste sie auf den Mund und dann über das

ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das

gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küsste er sie auf den

Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen.

Ein Geräusch aus einem Zimmer ließ ihn aufschauen.

K. Jetzt werde ich gehen.

FR. GRUBACH Er dachte noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war

damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedener

war.

FR. GRUBACH …Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines

Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der

Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und

streckte die Arme noch weiter aus.

K. Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnimmt? Einer, der

helfen will? Ist es ein einzelner? Sind es alle? Ist noch Hilfe? Gibt

es Einwände die man vergessen hat? Wo ist der Richter, den ich

nie gesehen habe? Wo ist das hohe Gericht, bis zu dem ich nie

gekommen bin?

FR. GRUBACH Er hob die Hände und spreizte alle Finger. Aber an K.s Gurgel

legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das

Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit

brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem

Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung

beobachteten.

K. Wie ein Hund!

FR. GRUBACH Es war, als sollte die Scham ihn überleben.

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Die Klasse wird in Gruppen unterteilt und jede Gruppe erhält eine der Textpassagen. Lassen Sie

die Schüler*innen den Text nochmal lesen. Die in der Passage aufkommende Emotion wird

besprochen, dann umgesetzt, indem ein*e Schüler*in die Emotion mithilfe ihrer / seiner

Körperhaltung und Mimik darstellt. Anschließend kann ein weiteres Gruppenmitglied zu diesem

Standbild Position beziehen und sich in einer assoziativen Körperhaltung dazustellen. Es entsteht

ein Stimmungsstandbild der jeweiligen Situation, das von jeder Gruppe am Ende präsentiert

wird. Wenn Sie die Arbeit noch vertiefen wollen, können die Standbilder auch zu bewegten

Bildern werden. Dabei folgen Sie derselben Struktur wie oben beschrieben und lassen die

Schüler*innen dann in einem zweiten Schritt den Standbildern eine Bewegung und ein

Geräusch, ein Wort oder einen Satz hinzufügen. Für theatererfahrene Schüler*innen kann ein

dritter Schritt soweit gehen, dass zwischen den bewegten Standbildern Interaktion und

Kommunikation entsteht.

Die Beschreibung der Atmosphäre durch Stimmungsbilder spielt auch bei der Inszenierung eine

große Rolle. Achten Sie mit Ihren Schülern während der Inszenierung darauf, welche Mittel zur

Erzeugung einer gewissen Stimmung eingesetzt werden und welche Wirkung diese bei ihren

Schüler*innen erzeugen.

4. Der eigene Körper als Marionette

Eine beliebte Übung zum Thema Puppenspiel ist „der Puppenspieler und seine Marionette“.

Diese Übung wird immer von zwei Personen durchgeführt. Dabei ist einer der Puppenspieler und

der andere dessen Marionette. Der Puppenspieler bestimmt die Bewegungsabläufe seiner

Marionette, durch, imaginäre Fäden, an denen er zieht, wodurch sich die Puppe leiten lässt.

5. Stückbezogene Übung

Um sich intensiver mit dem im Stück aufgegriffen Thema „Unschuldig – Schuldig?“ zu befassen,

bietet sich die Übung „Außenseiter“ an. Bei dieser Übung läuft die Gruppe erst durch den Raum.

Dabei sind alle sehr freundlich zueinander, schauen sich an und grüßen sich. Der Spielleiter

bestimmt nun einen Schüler*innen als Außenseiter. Die anderen meiden den Außenseiter, bei

einer stabilen Gruppe kann auch mit Steigerungen wie z.B. Beschimpfungen gearbeitet werden.

Das Los, der Außenseiter zu sein, sollte nicht nur einen treffen. Es kann auch mit

Außenseitergruppen gearbeitet werden. Vorab wird ein Zeichen vereinbart, das Grenzen (wenn

es für die Person unangenehmen wird) einzelner Personen signalisiert, die bei dieser Übung

sonst leicht verletzt werden könnten.

Danach bietet sich an, noch einmal Bezug zum Stück zu nehmen, indem man mit der Gruppe

diskutiert, wie sich zum einen die Außenseiter, aber auch die Insider bei der Übung gefühlt

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haben. Gab es Ähnlichkeiten mit der Situation Josef K.s bzw. der anderen Figuren in der

Geschichte? Es wäre auch spannend, Strategien des Ausgrenzens zu reflektieren, um damit die

Perspektive der Wächter oder mehr noch der „unbekannten Instanz“ zu verdeutlichen.

6. Puppe – vs. Spiel

Die folgende Szene soll einmal auf zwei verschiedene Arten umgesetzt werden: die

Schüler*innen sollen verschiedene Socken mitbringen und die Szene mit Händen in den Socken

als Figuren spielen– in der nächsten Runde fallen die Socken weg und die Schüler*innen

verkörpern selbst die Figuren der Szene. Besprechen Sie in der Gruppe das Ganze nach – wo

gibt es Gemeinsamkeiten / wo Unterschiede? Was war spannender zu spielen? Was hat mehr

Spaß gemacht, mehr Ideen freigesetzt?

IV / Der Prügler

K. Was treibt ihr hier?

F/W Herr! Wir sollen geprügelt werden, weil du dich beim Untersuchungsrichter über

uns beklagt hast.

K. Nun, ich habe mich nicht beklagt, ich habe nur gesagt, wie es sich in meiner

Wohnung zugetragen hat.

Und einwandfrei habt ihr euch ja nicht benommen.

WILLEM Herr, wenn Ihr wüsstet, wie schlecht wir bezahlt sind. Ihr würdet besser über uns

urteilen. Ich habe eine Familie zu ernähren, und Franz hier wollte heiraten, man

sucht sich zu bereichern, wie es geht, durch bloße Arbeit gelingt es nicht, selbst

durch die angestrengteste.

K. Ich habe auch keineswegs eure Bestrafung verlangt, mir ging es um ein Prinzip.

WILLEM Franz, sagte ich dir nicht, dass der Herr unsere Bestrafung nicht verlangt hat?

PRÜGLER Lass Dich nicht durch solche Reden rühren, die Strafe ist ebenso gerecht

als unvermeidlich.

WILLEM Höre nicht auf ihn. Wir werden nur gestraft, weil du uns angezeigt hast. Sonst

wäre uns nichts geschehen.

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Kann man das Gerechtigkeit nennen? Wir zwei, insbesondere aber ich, hatten

uns als Wächter durch lange Zeit sehr bewährt

- du selbst mußt eingestehen, daß wir, vom Gesichtspunkt der Behörde gesehen,

gut gewacht haben -

wir hatten Aussicht, vorwärtszukommen und wären gewiss bald auch Prügler

geworden wie dieser, der eben das Glück hatte, von niemandem angezeigt

worden zu sein,

denn eine solche Anzeige kommt wirklich nur sehr selten vor.

Und jetzt, Herr, ist alles verloren, unsere Laufbahn beendet, wir werden noch viel

untergeordnetere Arbeiten leisten müssen, als es der Wachdienst ist,

und überdies bekommen wir jetzt diese schrecklich schmerzhaften Prügel.

K. Kann denn die Rute solche Schmerzen machen?

WILLEM Wir werden uns ja ganz nackt ausziehen müssen.

K. Ach so. Gibt es keine Möglichkeit, den beiden die Prügel zu ersparen?

PRÜGLER Nein. Zieht euch aus!

Du musst ihnen nicht alles glauben, sie sind durch die Angst vor den Prügeln

schon ein wenig schwachsinnig geworden.

K. Ich würde dich gut belohnen, wenn du sie laufen lässt.

PRÜGLER Du willst wohl dann auch mich anzeigen, und auch noch mir Prügel verschaffen.

Nein, nein!

K. Sei doch vernünftig, wenn ich gewollt hätte, daß diese beiden bestraft werden,

würde ich sie doch jetzt nicht loskaufen wollen.

Ich könnte einfach die Tür hier zuschlagen, nichts weiter sehen und hören wollen

und nach Hause gehen.

Nun tue ich das aber nicht, Ich halte sie nämlich gar nicht für schuldig,

schuldig ist die Organisation, schuldig sind die hohen Beamten.

FRANZ So ist es!

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K. Hättest du hier unter deiner Rute einen hohen Richter, ich würde dich wahrhaftig

nicht hindern loszuschlagen, im Gegenteil, ich würde dir noch Geld geben, damit

du dich für die gute Sache kräftigst.

PRÜGLER Was du sagst, klingt ja glaubwürdig, aber ich lasse mich nicht bestechen.

Ich bin zum Prügeln angestellt, also prügle ich.

FRANZ Wenn du für uns beide Schonung nicht durchsetzen kannst, so versuche

wenigstens, mich zu befreien, ich bin doch zu meiner Handlungsweise nur durch

Willem gebracht worden, der im Guten und Schlechten mein Lehrer ist.

PRÜGLER Ich warte nicht mehr

FR. GRUBACH Da erhob sich der Schrei, den Franz ausstieß, er schien nicht von einem

Menschen, sondern von einem gemarterten Instrument zu stammen,

der ganze Korridor tönte von ihm, das ganze Haus musste es hören.

K. Schrei nicht.

Wenn die ganze unterste Beamtenschaft Gesindel ist, warum hätte gerade der

Prügler, der das unmenschlichste Amt hat, eine Ausnahme machen sollen.

Er hat mit dem Prügeln offenbar nur deshalb Ernst gemacht,

um die Bestechungssumme noch ein wenig zu erhöhen.

FR. GRUBACH Auch noch am nächsten Tag kamen K. die Wächter nicht aus dem Sinn;

er war bei der Arbeit zerstreut und mußte, um sie zu bewältigen, noch ein

wenig länger im Büro bleiben als am Tag vorher.

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Sekundärmedienpool: Literatur / Filme

Literatur:

Chantal Montellier und David Zane Mairowitz: The Trial. A Graphic Novel. London:

SelfMadeHero 2008.

Reiner Stach: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen & Kafka: Die Jahre der Erkenntnis & Kafka:

Die frühen Jahre. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2004, 2010, 1016.

Dreibändige Kafka-Biographie

Reiner Stach: Kafkas Geheimnis. Eine Einführung: Ein Hörbuch von Reiner Stach in der Reihe:

Kafka verstehen. Düsseldorf: onomato 2012.

Filme:

Orson Welles: „Der Prozess“, Frankreich, Italien & Deutschland 1962

Erste Verfilmung des Romans mit Anthony Perkins, Orson Welles und Romy Schneider

in den Hauptrollen

Steven Soderbergh: „Kafka“, Frankreich & USA 1991

Spielfilm, der Teile von Kafkas Leben mit Elementen aus Der Process, Das Schloss und

anderen Texten verbindet

David Hugh: „Der Prozeß“, Großbritannien 1993

Weitere Verfilmung des Romans mit Anthony Hopkins als Priester

Der Prozess to go (Kafka in 11,5 Minuten): https://www.youtube.com/watch?v=4CKyfgZmp-I

Witzige Kurzfassung des Romans mit Playmobilmännchen animiert

Impressum

Herausgeber Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele GmbH

Intendanz und Geschäftsführung Katharina Kreuzhage

Vorsitzender des Aufsichtsrates Michael Dreier

Redaktion Dramaturgie & Theaterpädagogik

Gestaltung Theaterpädagogik

Fotos Theater Paderborn / Christoph Meinschäfer

Förderer der Theater Paderborn Westfälische Kammerspiele GmbH

Stadt Paderborn / Kreis Paderborn / Ministerium für Familie, Kinder, Jugend und Sport des Landes NRW / Theaterfreunde e.V.

Quellen

Alexander Reck: „Materialen zu Franz Kafka ‚Der Prozess‘.“ Husum 2004.

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article124410648/Wie-Kafka-unsere-Facebook-Existenz-voraussah.html veröffentlicht am

31.01.2014

„Das andere Theater“. (Zeitschrift des UNIMA-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland), Nr. 74, 2010.