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Der Retter von Jomon

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AtlanIm Auftrag der Kosmokraten

Nr. 746

Der Retter von JomonDas Schicksal einer Welt entscheidet sich

von Peter Terrid

Seit der Jahreswende 3818/19, als Atlan unvermittelt in die Galaxis Manam-Turu versetzt wird, ist nach terranischer Zeitrechnung inzwischen fast ein ganzes Jahr vergangen. Der Arkonide hat in dieser Spanne, zumeist begleitet von Chipol, dem jungen Daila, und Mrothyr, dem Rebellen von Zyrph, mit seinem Raumschiff STERNSCHNUPPE schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten.

In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So ist zum Beispiel die Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gewährleistet – was sich auf den Kampf der Daila gegen ihre Unterdrücker positiv auswirken dürfte.

Es bei dem bisher Erreichten zu belassen, wäre grundfalsch. Atlan weiß das – und seine Gefährten ebenfalls. Und so folgen sie verbissen selbst der kleinsten Spur des Erleuchteten und der seines mysteriösen Werkzeugs EVOLO.

Die Verfolgung dieser Fährte bringt es mit sich, daß Chipol Dharys, seinem verschollenen Vater, begegnet. Doch der junge Daila kann keine Freude darüber empfinden, denn Dharys ist zum Werkzeug des Erleuchteten geworden.

Werkzeuge können aber auch anders als vorgesehen operieren. Das beweisen die Geschehnisse um den RETTER VON JOMON…

Die Hauptpersonen des Romans:Atlan, Chipol und Dharys – Der Arkonide und die Daila als Gefangene.

Hellenker – Kommandant der Ligriden auf Jomon.

Drasthor und Drastim – Hellenkers verräterische Stellvertreter.

Boorschon – Ein falscher Jomoner.

Plodar – Ihm soll ein Denkmal gesetzt werden.

1.Chipol hielt sich unglaublich gut. Nur sein schnelles Atmen verriet, wie es um den jungen Daila stand.

Nervenkraft war in unserer Lage auch dringend vonnöten. Selten zuvor hatte ich mich in einer derart aussichtslosen Lage befunden.

Während eines Weltraumspaziergangs, den ich mit Chipol unternommen hatte, um ihn von seinen unerfreulichen Grübeleien abzulenken, waren unversehens ligridische Schiffe im System des Planetoidenrings aufgetaucht – und die STERNSCHNUPPE war in Panik geraten. Vermutlich lag das an den Ereignissen der letzten Zeit, die STERNSCHNUPPE noch nicht hatte verarbeiten können. Das Auftauchen der Ligriden hatte das Schiff so geschockt, daß es die Flucht ergriffen hatte. Mrothyr hatte diese Flucht nicht verhindern können – wenn ich seinen letzten Funkspruch richtig aufgefangen hatte, war er von STERNSCHNUPPE betäubt oder gar getötet worden.

Chipol und ich waren zurückgeblieben. Zur Verfügung standen uns nur unsere Raumanzüge mit ihren Lebenserhaltungssystemen – und so, wie es im Augenblick aussah, hätte man diese Produkte hochentwickelter Technik auch als Todeskampfverlängerungsanlagen bezeichnen können.

Die Systeme funktionierten einwandfrei. Filter nahmen das beim Ausatmen anfallende Kohlendioxyd auf und spalteten es in Kohlenstoff und Sauerstoff auf, der dem Kreislauf wieder zugeführt wurde. Flüssige Körperausscheidungen wurden ebenfalls perfekt aufgearbeitet, feste Ausscheidungen getrocknet und komprimiert.

Im Klartext bedeutete das, daß wir etliche Zeit zur Verfügung hatten, bevor der Tod nach uns griff.

Versagten als erstes die Batterien, mußten wir ersticken oder erfrieren; hielten sie länger durch als wir, würde uns der Hunger umbringen.

Aber weitaus gefährlicher – wenigstens für Chipol – war die psychische Belastung dieser Zeit. Es gab viele Raumfahrer, die Rettungsanzüge nur mit äußerstem Widerwillen anlegten. Sie kamen sich vor, als seien sie lebendig eingesargt. Daß man sich mit einem solchen Anzug recht gut bewegen konnte, zählte nichts, verglichen mit der Tatsache, daß man darin zur Bewegungslosigkeit verdammt war. Ich konnte mich an erfahrene Raumfahrer erinnern, die fast in den Wahnsinn getrieben worden waren, weil es sie am Hinterkopf juckte und sie sich nicht kratzen konnten. Diese Anfälle konnten sich bei längerem Tragen steigern – und manchmal führten sie dazu, daß der Träger den Anzug öffnete, um sich kratzen zu können.

»Was machen wir jetzt?« fragte Chipol über Funk. Ich konnte seiner Stimme die mühevolle Beherrschtheit anhören, zu der er sich zwang.

»Ich sehe zwei Möglichkeiten«, antwortete ich. »Die eine ist vergleichsweise sicher, die andere spekulativ.«

»Nenn zuerst die sichere«, bat Chipol.

»Wir nehmen unsere Rückstoßaggregate und unsere Waffen. Der Energieausstoß ist so groß und charakteristisch, daß man uns mit Sicherheit anpeilen wird. Die Ligriden sind neugierig, sie werden uns an Bord nehmen.«

Ich hörte, wie Chipol schluckte.

»Hältst du es für möglich, daß wir einen von den Ligriden kennen?« fragte er halblaut. »Ich werde den verrückten Gedanken nicht los, daß da draußen Halphar herumschwirrt.«

»Ich weiß«, gab ich zurück. »Mir geht Ähnliches durch den Kopf.«

Die Wahrscheinlichkeit war verschwindend gering, das bestätigte mir der Logiksektor – aber der

Rest reichte völlig aus, Alpdrücken hervorzurufen. Halphar haßte uns, vor allem mich, und er war ein Feind von bemerkenswerter Intelligenz. Die Fehler, die er bei unseren ersten Kontakten gemacht hatte, würde er mit Sicherheit nicht wiederholen. Und was uns blühte, wenn Halphar uns zu fassen bekam, wagte ich mir gar nicht auszumalen.

»Und die andere Möglichkeit?«

»Wir hoffen darauf, daß die Ligriden abziehen und die STERNSCHNUPPE zurückkehrt, um uns wieder aufzunehmen.«

Chipol antwortete nicht. Er war klug genug, sich auszurechnen, wie gering unsere Hoffnungen waren, an Bord der STERNSCHNUPPE zurückzukehren.

Ich hatte inzwischen gelernt, das Hintergrundrauschen geistig auszublenden, das in unseren Lautsprechern zu hören war. Es stammte von den energetischen Turbulenzen, die den Planetoidenring durchzogen. Wenn man sich darauf konzentrierte, nahm man diese Funkstörung kaum noch wahr.

Plötzlich geriet sie wieder in den Vordergrund meiner Wahrnehmung. Irgend etwas hatte sich verändert – es waren Töne dazugekommen, die es vorher nicht gegeben hatte. Ein gleichmäßiges Brausen war zu hören…

Eine gleichmäßige, starke Energieentwicklung im System, analysierte das Extrahirn. Atombrand.Die Ligriden waren gründlich. Wahrscheinlich vermuteten sie, daß es außer der STERNSCHNUPPE noch andere versteckte Schiffe in dem Gewirr von Trümmern und Energiefeldern gab – und dies war ein probates Mittel, solche Schiffe ins Freie zu treiben.

Für uns kam das einem Todesurteil gleich – mit den Rückstoßaggregaten konnten wir niemals genug Geschwindigkeit entwickeln, um den 20.000 Kilometer durchmessenden Planetoidenring verlassen zu können.

Ich vermutete, daß Chipol die Veränderung nicht bemerkt hatte – und wenn, war er ohne Extrahirn wohl nicht in der Lage, den Wechsel zu analysieren. Ich beschloß, ihm nichts von dieser neuen Gefahr zu sagen.

Wir hatten uns nur wenig von dem großen Planetoiden entfernt, den wir bei unserem Spaziergang untersucht hatten. Das Mitbringsel von dem Trümmerstück, ein sehr seltsames, biegsames Schwert, hatte ich in einer Tasche meines Anzuges verstaut.

»Hast du dich entschieden?« fragte Chipol an.

»Noch nicht«, gab ich zurück. »Vielleicht fällt uns noch eine andere Lösung ein.«

»Du glaubst daran?«

»Ich gebe nie auf«, antwortete ich.

Was konnten wir tun, ohne uns den Ligriden auszuliefern? Es sah ganz danach aus, als hätten wir keine Alternative.

Wenn das aber geschah, konnte es Folgen haben, nicht nur für die Bewohner von Manam-Turu.

Hinter den Ligriden standen die Hyptons. Beide zusammen bildeten das Neue Konzil – und die Hyptons gierten danach, die frühere Niederlage in der Milchstraße auszugleichen. Von mir würden sie keine Hinweise bekommen, das wußte ich. Aber Chipol hatte sich im Umgang mit mir ein Wissen angeeignet, das den Hyptons nicht zugänglich gemacht werden durfte.

Wieder änderte sich das Hintergrundgeräusch in den Lautsprechern. Es klang fast so, als würde uns jemand anfunken.

Ich schloß die Augen und konzentrierte mich auf die Botschaft, die von den Hintergrundstörungen fast unkenntlich gemacht wurde.

»… pol«, konnte ich verstehen. »… nicht wechseln.«

Die Stimme war verzerrt, aber der drängende Tonfall war nicht zu überhören. Wer immer da nach uns suchte, er kam allmählich näher. Die Verständigung wurde besser.

Und dann erkannte ich den Sprecher.

Dharys, Chipols Vater!

Auch Chipol hatte die Stimme erkannt, er stieß einen Schrei aus.

Dharys war jetzt gut verständlich!

»Chipol, bleib an deinem Standort. Nicht wechseln. Ich weiß, wo du bist. Hier ist Dharys.«

Chipol stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Ich konnte ihn gut verstehen, aber ich war mir auch über die Schwierigkeiten klar, die auf uns zukamen.

Immerhin hatte Dharys mich töten wollen. Er war ein Werkzeug in der Hand des Erleuchteten – sein Auftauchen in dieser bedrängten Situation für uns daher alles andere als eine ungetrübte Freude.

»Atlan?«

»Ja, Chipol?«

»Ich werde auf der Hut sein«, sagte Chipol leise. »Auch wenn er mein Vater ist, vielleicht gerade deswegen.«

»Ich verstehe dich«, antwortete ich.

Wir hatten die Scheinwerfer ausgeschaltet, um Energie zu sparen. Vom Licht der Doppelsonne war hier nichts zu bemerken. Wir schwebten frei in der Leere und Dunkelheit des Raumes – unter diesen Umständen hatte der kurze Dialog mit Chipol etwas Gespenstisches an sich.

Zu all den anderen Sorgen und Nöten kam nun auch das Problem Dharys dazu. Gern hätte ich Chipols Vater davon überzeugt, was für ein Spiel der Erleuchtete wirklich trieb. Die Wahrscheinlichkeit, daß er mir glaubte, war allerdings gering – den Einfluß des Erleuchteten entkam man nicht so schnell und leicht, wie ich es mir gewünscht hätte. Und Dharys war geschickt und gerissen, im Zweifelsfall auch ein vorzüglicher Schauspieler.

Im Grunde konnte ich erst dann sicher sein, daß uns von Dharys keine Gefahr drohte, wenn der Erleuchtete tot war, unter Umständen nicht einmal dann.

Kam Dharys als Freund oder als Feind? In Chipols Fall konnte ich mir sicher sein – ich hatte nie den geringsten Zweifel daran gehabt, daß Dharys seinen Sohn liebte und für sich zurückgewinnen wollte.

Die Stimme des Daila war nun sehr klar zu hören. Er mußte in unserer Nähe sein.

»Atlan an Dharys. Wenn du eine Außenbeleuchtung an deinem Schiff…«

»Dharys an Chipol. Ich habe kein Schiff.«

Auch ein Verfahren, mit mir umzugehen. Er tat so, als existierte ich gar nicht.

»Kein Schiff?«

Ich konnte das Erschrecken in Chipols Stimme hören, und auch meine jäh erwachte Hoffnung sank wieder auf den Nullpunkt herab.

Die Lage hatte sich keineswegs verbessert – es saßen jetzt nur drei statt zwei Opfern in der Falle.

*

Mit großer Zufriedenheit betrachtete Hellenker die Lage. Die acht Raumschiffe der Zwillinge flogen in das System zurück. Das Raumschiff, das sie dort aufgestöbert und gejagt hatten, war verschwunden, es hatte sich absetzen können.

Ein Erkundungstrupp war unterwegs, um das zweite Raumschiff zu untersuchen, das von Hellenkers Flaggschiff flugunfähig geschossen worden war. Der Pilot – es schien nur ein Besatzungsmitglied zu geben – hatte das Schiff verlassen und steuerte genau jenen Ort an, von dem aus das erste Raumschiff seine Flucht angetreten hatte. Das hatte Hellenker von den Zwillingen erfahren. Drasthor und Drastim waren beeindruckend freundlich gewesen. Kein Wunder, sie wußten, in wessen Hand nun ihr Schicksal lag.

»Fremdschiff erreicht. Scheint verlassen zu sein!«

»Durchsuchen und abschleppen«, bestimmte Hellenker sofort. Der Typ war ihm unbekannt und daher von beträchtlichem Interesse. Vielleicht entdeckte man in diesem seltsamen Ringsystem die erste Spur, die zu einem neuen raumfahrenden Volk führte, das die Ligriden sich unterwerfen konnten – oder als Verbündete gewinnen. Das würde von der militärischen Stärke des Volkes abhängen.

Das Aufblitzen einer Detonation ließ Hellenker zusammenfahren.

»Fremdschiff explodiert, offenbar Selbstzerstörung. Suchmannschaft getötet.«

Die Meldung kam ruhig und gelassen. Hellenker nahm sich vor, ein Auge auf den Sprecher zu haben. Wer solche Nachrichten mit so beeindruckender Sachlichkeit vortragen Konnte, mußte fähig sein.

»Bedauerlich«, sagte Hellenker. »Ist die Spur des Piloten aufgenommen?«

»Zwei Beiboote verfolgen ihn. Sie halten Abstand, wie befohlen.«

»Gut so«, meinte Hellenker zufrieden. Wenn der fremde Pilot nicht völlig verrückt war, mußte seine Handlungsweise einen Sinn ergeben – und den wollte Hellenker ergründen.

»Die Flotte soll zu mir aufschließen«, ordnete er an. Es geschah den ehrgeizbesessenen Zwillingen nur recht, wenn sie nun zusehen mußten, wie Hellenker den Erfolg einheimste, den sie für sich bestimmt hatten.

»Beiboot an Flaggschiff. Haben zwei weitere Personen ausgemacht, die im Raum treiben.«

»Schiffe zu sehen?« fragte Hellenker nach.

»Keines. Die drei scheinen völlig ohne Hilfsmittel zu sein.«

Hellenker überlegte einen Augenblick lang.

»Gefangennehmen, aber mit größter Vorsicht. Ich will die Personen lebend – wer einen von ihnen tötet, kann seinen Helm bei mir abgeben.«

Diese Drohung mit einer vollkommen gesellschaftlichen Vernichtung des Betroffenen würde wohl ausreichen, um Hellenkers Befehl den gebührenden Nachdruck zu verleihen.

Die ganze Aktion verlief undramatisch. Die Besatzung des Beiboots spürte die drei treibenden Raumfahrer auf und gab ihnen mit ein paar Warnschüssen zu verstehen, daß sie keine Chance mehr hatten. Sobald die drei vom Traktorstrahl erfaßt und in eine Schleuse gezerrt worden waren, sorgte eine Lähmwaffe dafür, daß sie keinen Widerstand mehr leisteten.

»Zwei Daila und ein Fremder«, gab die Besatzung an das Flaggschiff durch.

»Beschreibung« forderte Hellenker knapp.

Die knappe Schilderung des Äußeren des Fremden ließ Hellenkers Puls schneller gehen – und erfüllte ihn mit abgründiger Freude.

Entweder war er es selbst oder ein Angehöriger seines Volkes – auf jeden Fall lieferte der aufgefischte Raumfahrer eine erste Spur, die zur Ergreifung des Mannes Atlan führen konnte, nach dem aus dem Hauptquartier fieberhaft gefahndet wurde.

Hellenker stieß einen Seufzer der Befriedigung aus.

»Flaggschiff an Beiboot – zurückkehren.«

Wieder einmal hatte sich die Philosophie von Hellenker bestätigt. Was immer auch geschah, es war vorbestimmt. Und seine Gward-Schulung war letztlich für diesen Erfolg verantwortlich.

Hellenker grinste in sich hinein. Die Zwillinge würden zerplatzen vor Wut. Ungewollt hatten sie den Triumph für Hellenker herbeigeführt, aber sie durften sich darauf nicht berufen, da der Start ihrer Schiffe ohne den Befehl von Hellenker geschehen war.

»Beiboot angedockt« lautete die nächste Meldung.

Hellenker zwang sich zur Gelassenheit. Es bestand eine gewisse Hoffnung, daß der fremde Raumfahrer tatsächlich Atlan war. Wenn es stimmte, hatte Hellenker endlich eine Möglichkeit, höchst ruhmvoll aus dem Militärdienst auszuscheiden und sich ausschließlich seinen philosophischen und künstlerischen Neigungen hinzugeben.

»Schafft die Gefangenen in die Zentrale«, befahl Hellenker seinen Offizieren.

Es dauerte nicht lange, bis der Befehl ausgeführt war. Auf Schwebetragen wurden die drei Betäubten in die Zentrale transportiert, jeder von einem Kampfrobot bewacht.

Hellenker beugte sich über den ersten Körper. Man hatte den dreien die Raumanzüge gelassen, nur die Helme geöffnet.

»Ein Daila, unverkennbar«, murmelte Hellenker. Er warf einen Blick auf den zweiten Daila. »Konnte sich um Vater und Sohn handeln.«

Sorgfältig verglich Hellenker in Gedanken das Signalement des Gesuchten mit den äußeren Daten des dritten Gefangenen. Die Übereinstimmung war so groß, daß Hellenker keinen Zweifel hatte – Atlan war sein Gefangener.

Hellenker überlegte einen Augenblick. Nein, es war noch nicht die Zeit, den Triumph an das Hauptquartier zu melden. Möglich, daß Atlan einen Doppelgänger hatte. Der Gedanke schien Hellenker zwar reichlich absurd, aber man konnte nie wissen. Hellenker war ein Ligride, der keine unnötigen Risiken einging.

»Schafft sie in sicheren Gewahrsam«, ordnete er an. »Bringt sie getrennt voneinander unter, die beiden Daila in eine Zelle.«

Hellenker ließ sich nichts anmerken. Seine Offiziere kannten die Suchmeldung natürlich auch, und sie hatten Augen im Kopf. Mit keinem Wort ging Hellenker darauf ein, daß Atlan gefaßt war. Mit freundlicher Zurückhaltung wandte sich Hellenker an den Piloten seines Flaggschiffs.

»Rückkehr nach Jomon«, befahl er und machte es sich in seinem Sessel bequem.

Das Flaggschiff nahm Fahrt auf und entfernte sich aus dem System der Doppelsonne. Hinter sich ließ es den Materiegürtel, der vermutlich einmal ein Planet gewesen war. Vor vielen Jahrtausenden war der Planet vermutlich von Naturgewalten zerrissen worden – jetzt bereitete der von den Ligriden entfesselte Atombrand den Überresten dieser Welt den Garaus. Wenn später einmal Raumfahrer dieses System anflogen, würden sie nur noch Staub finden.

Hellenker war mit sich zufrieden. Ein paar Tage noch, dann konnte er sich anderen Dingen widmen.

Er nahm sich vor, sich mit dem Verhör des Gefangenen Zeit zu lassen. Sein Triumph konnte noch größer und beeindruckender werden, wenn er nicht nur den Gefangenen dem Hauptquartier überstellte, sondern auch noch allerlei geheimes Wissen, über das der Gefangene verfügte.

Hellenker hatte von Halphar gehört, dem ersten ligridischen Kommandanten, der Atlan begegnet war. Atlan war Halphar entkommen, mitten aus der Raumfestung BASTION-V heraus. Bei Hellenker würde Atlan das nicht schaffen.

»Er wird sagen, was er weiß«, murmelte Hellenker kaum hörbar.

Halphar war kein übler Kommandant, unter den Militärgeistern der Gwyn-Schule war er einer der besten. Aber er war Militär, kein Mann des Geistes. Hellenker nahm sich vor, den fanatischen Gwyn-Anhängern eine eindrucksvolle Demonstration zu bieten – was ein Kenner und Könner des Gward in einer solchen Lage zu leisten vermochte.

Für Halphar – Hellenker kannte ihn noch aus der Schulungszeit – war Atlan der Anfang vom Ende gewesen. Für ihn, so nahm sich Hellenker vor, sollte er der überwältigende Abschluß seiner Karriere sein.

2.Dharys kam langsam wieder zu sich. Wo er erwachen würde, war ihm schon klar gewesen, als der betäubende Schuß ihn getroffen hatte – an Bord eines ligridischen Schiffes.

Der Erleuchtete hat mir wieder einen Streich gespielt, dachte Dharys beim Erwachen. Die Explosion seines wrackgeschossenen Schiffes hatte er aus der Ferne mitbekommen, und er wußte auch, was diese Detonation ausgelöst hatte. Er hatte keine Selbstzerstörung der LJAKJAR programmiert, also kam nur der Finder dafür in Frage.Die Schmerzen, die mit dem Ende der Gliederstarre verbunden waren, ertrug Dharys, ohne einen Laut von sich zu geben. Er wußte nicht, ob er über versteckte Kameras beobachtet wurde, die jeden Laut und jede Bewegung aufzeichneten.

Sobald er sich rühren konnte, sah Dharys sich um.

Er lag in einer kargen Zelle, und er war nicht allein. Ein paar Schritte entfernt lag Chipol, und an den leichten Muskelzuckungen konnte Dharys erkennen, daß auch sein Sohn gerade erwachte.

Dharys versuchte sich aufzurichten, sank aber wieder zurück.

Noch gehorchte ihm seine Muskulatur nicht einwandfrei.

Wie ging es nun weiter?

In gewisser Weise empfand Dharys ein wenig Erleichterung. Den Spion des Erleuchteten war er nun los – der Finder war mit der LJAKJAR vergangen. Selbst wenn der Erleuchtete jetzt nach Dharys suchte, er würde es schwer haben, ihn zu finden.

Der Erleuchtete.

Immer wieder kreisten die Gedanken von Dharys um die Person des Erleuchteten, den er nie zu sehen bekommen hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich Dharys vollkommen frei in seinen Entschlüssen und Überlegungen. Daß er von der geistigen Überwachung durch den Erleuchteten in die handfestere Gefangenschaft der Ligriden geraten war, konnte man fast schon als Fortschritt bezeichnen.

Wie sahen die Pläne des Erleuchteten aus? Welche Absichten verfolgte dieser Geheimnisvolle?

Es konnte Dharys gleichgültig sein. Mit schmerzhafter Deutlichkeit wurde ihm bewußt, daß er immer stärkeren Widerwillen gegen den Erleuchteten empfand. Aber damit allein war es nicht getan.

Wichtig war vor allem, wie es um ihn selbst bestellt war.

Die Familie Sayum existierte mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr – von Chipol und Dharys abgesehen. Hatte der Erleuchtete die anderen Mitglieder der Familie getötet? Hatte er nur geholfen oder selbst zugeschlagen oder einfach nur stillschweigend geduldet, was der Familie angetan worden war? Für Dharys war eine Antwort auf diese Frage außerordentlich wichtig.

Daß er zusammen mit Chipol die letzten der Familie waren, stand für Dharys fest. Für ihn kam es jetzt darauf an, die Rolle des Erleuchteten in diesem Drama klarzustellen.

Es gab eine Möglichkeit der Erklärung, die Dharys bis ins Mark traf – die These nämlich, daß der Erleuchtete selbst die Mitglieder der Familie hatte töten lassen.

Wenn das stimmte, war der Erleuchtete ein mörderisches Scheusal.

Und was war dann Dharys selbst, der so lange Zeit für den Erleuchteten gearbeitet hatte – freiwillig und aus Überzeugung, wie er sich mit klarer Ehrlichkeit erinnerte.

War er tatsächlich nicht mehr gewesen als ein willenloses Werkzeug in der Hand des Erleuchteten?

Wenn das stimmte, wie weit konnte man ihm dann vorwerfen, was er im Dienst dieses Scheusals getan hatte?

Dharys war ein zu gradliniger Charakter, als daß er sich in die verlockende Bequemlichkeit dieser Ausrede geflüchtet hätte.

Es galt, auch die andere Konsequenz in völliger Klarheit zu bedenken. Wenn er, und das hatte er stets geglaubt, aus freiem Willen gehandelt hatte, dann war seine Schuld nur quantitativ geringer als die des Erleuchteten. Von der Qualität her war er dann ebenfalls eine Monstrosität – beladen mit schwerster Schuld, aus der ihn niemand entlassen konnte.

Dharys warf einen Blick zur Seite. Chipol lag auf dem Rücken. Dharys konnte sehen, daß sein Sohn sehr blaß war. Auf seiner Stirn standen große Schweißtropfen. Wahrscheinlich hatte er starke Schmerzen auszuhalten.

Mit dieser Schuld beladen – wie konnte er da Chipol gegenübertreten? Chipol war längst so gereift, daß er sich selbst mit geschickten Ausreden nicht mehr hereinlegen ließ. Ihm konnte Dharys ebensowenig Sand in die Augen streuen wie sich selbst.

Es gab zwischen den beiden Extremen – willenloses Werkzeug des Erleuchteten oder willfähriger Helfer bei dessen Taten – eine Grauzone der Unsicherheit. Für keine der beiden Thesen gab es hinreichende Beweise. Selbst seine Erinnerung, daß er dem Erleuchteten aus freien Stücken gedient hatte, konnte nichts weiter sein als ein Ergebnis der Beeinflussung durch den Erleuchteten. Half das weiter?

Nein, Dharys Gewissensqualen wurden dadurch nicht geringer.

Die Schmerzen, die durch seinen Körper rasten, nahm der Daila kaum mehr wahr. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, ganz andere Schmerzen zu erdulden.

Wie kann ein Beeinflußter sich darüber klar werden, daß er beeinflußt ist. Logische Gedankenakrobatik half da nicht weiter. Von innen heraus ließ sich das Problem nicht lösen.

Dharys versuchte einen anderen Weg. Welchen Beweis würde ein Außenstehender – Atlan vielleicht? – anerkennen, wenn Dharys behauptete, beeinflußt zu sein?

Aussichtslos. Dieser Weg war versperrt.

Und andersherum? Atlan war ein intelligenter, scharfdenkender Mann. Welchen Beweis für die geistige Unabhängigkeit Dharys von dem Erleuchteten konnte der Arkonide akzeptieren?

Aufrichtige Reue?

Dharys wurde starr. Eine eisige Welle der Angst raste durch seinen Körper. Er hatte das Gefühl, als setzte sein Herzschlag aus.

Da war der Beweis – und nur er allein wußte es.

Reue empfand er, Schmerz und Trauer erfüllten ihn, wenn er an seine Rolle in den Diensten des Erleuchteten dachte. Ein Beeinflußter war dazu nicht fähig.

Chipol stöhnte unterdrückt. Wieviel von seinen Schmerzen hatte er Dharys zu verdanken? Dharys wußte es nicht.

Er verkrampfte sich immer mehr.

Niemand würde, niemand konnte ihm diesen Schmerz glauben. Nur er allein wußte, daß diese Reue echt war, nicht geschauspielert. Von außen war das nicht zu erkennen – es konnte nichts weiter sein als ein neuer Trick eines Beeinflußten, sich wieder ins Vertrauen zu bringen und eine neue Schandtat vorzubereiten.

Es war ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gab. Dharys war für immer gezeichnet, aus der Gesellschaft ausgestoßen.

Wahrheit und Beweisbarkeit waren zwei unterschiedliche Dinge, begann Dharys zu begreifen. Daß er dem Erleuchteten nicht mehr dienen wollte, war zweifelsfrei wahr, er wußte es – und es war nicht beweisbar, und das wußte Dharys auch.

Das Paradoxon war unauflösbar, eine Falle, aus der es kein Entrinnen gab.

Oder doch?

Das eisige Angstgefühl, das seinen ganzen Körper erfüllte, machte einer anderen Empfindung Platz – ein unglaublicher, weißglühender Haß breitete sich in Dharys aus.

Und dieser Haß galt dem Erleuchteten. Mit unglaublicher Klarheit sah Dharys, daß er den Erleuchteten vor allem aus einem Grund haßte – der Erleuchtete hatte ihm jegliche innere Würde genommen. Mochten andere wieder Vertrauen zu Dharys fassen, mochte er die Liebe seines Sohnes, den Respekt seiner Freunde wiedergewinnen – seine Selbstachtung war für immer verloren.

Es war ein lautloser Kampf, der in diesen langen Minuten ausgetragen wurde – ein Kampf, bei dem es auf ganz andere Art und Weise als üblich um ein Leben ging. Dharys kämpfte, alles in ihm wehrte sich gegen die grauenvollen Konsequenzen seines Nachdenkens.

Gab es irgendeine Möglichkeit, aus diesem unauflöslich erscheinenden Dilemma herauszukommen?

In den Augen von Dharys nur eine einzige: er mußte den Erleuchteten töten.

Während Chipol gegen seine körperlichen Schmerzen ankämpfte, tat Dharys in aller Stille einen Schwur – alle Kraft und Leidenschaft dareinzusetzen, den Erleuchteten zu Strecke zu bringen.

Und das ohne Chipol und Atlan. Erst wenn er den Erleuchteten getötet hatte, wollte er mit seinem Sohn wieder Kontakt aufnehmen, dann erst, so fühlte Dharys, war er der Zuneigung seines Sohnes wieder würdig – vielleicht…

Es fragte sich nur, wie er das bewerkstelligen wollte – allein, ohne Hilfe. Und wie sollte man jemanden zur Strecke bringen, von dem anscheinend niemand wußte, wo er war und wie er überhaupt aussah?

Dharys stieß einen halblauten Seufzer aus.

Ein Weg war ihm eingefallen, der zum Erleuchteten führte – und dieser Weg führte über das Geschöpf des Erleuchteten, über EVOLO.

Langsam reifte in Dharys ein Plan. Er nahm während des Fluges immer mehr Gestalt an, bis Dharys einigermaßen sicher war, ihn auch durchführen zu können.

Er wollte mit den Ligriden zusammenarbeiten. Sie wurden an EVOLO sicher interessiert sein – und EVOLO mußte den Erleuchteten in irgendeiner Form kennen. Dies war die Schwachstelle beim Erleuchteten, und diese Schwäche wollte Dharys ausnützen.

Chipol war inzwischen vollständig erwacht. Er wirkte schwach – das hilflose Treiben im Weltraum und die Gefangennahme durch die Ligriden hatten ihn nicht nur körperlich sondern auch geistig sehr stark beansprucht.

Chipol sah seinen Vater an und kniff ein wenig die Augen zusammen. Dharys versuchte den Blick offen zu erwidern, aber nach kurzem Kontakt sah er zur Seite.

»Schmerzen?« fragte Dharys knapp.

»Ich kann es aushalten«, gab Chipol zurück. Es klang nach Zurückweisung. Dharys nickte langsam.

»Atlan ist ebenfalls gefangengenommen worden«, sagte er.

»Das habe ich gesehen«, gab Chipol verdrossen zurück. Er hatte sich aufgesetzt und betrachtete die karge Zelle. Seinem Vater gönnte er nur einen flüchtigen Blick. »Er wurde vor mir von dem Betäubungsschuß getroffen.«

Dharys überlegte, ob er das Gespräch fortsetzen sollte, auch gegen den deutlich spürbaren Widerwillen seines Sohnes. Dann schloß er die Augen.

Es war jetzt nicht die Zeit dafür. Später einmal – wenn der Erleuchtete tot war.

*

Hellenker konnte mit sich zufrieden sein. In geordneter Formation raste die Flotte, nun wieder ausschließlich unter seinem Kommando durch den Raum. Das Ziel des Fluges war Jomon, aber Hellenker war sicher, daß er bald weiterfliegen würde, um seine Auszeichnung in Empfang zu nehmen.

Der Sprechfunkverkehr zwischen den Schiffen war knapp und dienstlich. Keiner der beiden Zwillinge hatte es gewagt, auch nur ein privates Wort einfließen zu lassen. Die beiden mochten nach Hellenkers Wunsch ruhig schmoren.

Ab und zu warf Hellenker einen Blick auf die Bildschirme der verschiedenen Ortungssysteme. Auf dem Monitor der Energieortung war der lodernde Ring zu erkennen, den der Atombrand um die Doppelsonne gezogen hatte. Die seltsamen Zacken und Schlieren gaben dem Gebilde tatsächlich das Aussehen einer Krone.

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Jomon erreicht war. Hellenker brannte darauf, sich bald mit seinen Gefangenen unterhalten zu können.

»Funkspruch von Jomon«, hörte Hellenker jemanden rufen. »Der Stützpunkt wird angegriffen.«

Hellenker stutzte.

»Einzelheiten!« forderte er heftig.

»Angriff aus dem Raum, unbekannte Einheiten. Ein Bild wird gerade überspielt.«

Hellenker warf einen Blick auf den Monitor, auf dem die Skizze eines Raumschiffs zu sehen war. Den Typ hatte Hellenker nie zuvor sehen können.

»Wie viele Schiffe?« fragte er schnell.

»Ein Dutzend etwa«, lautete die Antwort.

Das war eine Streitmacht, die dem Stützpunkt durchaus gefährlich werden konnte, zumal der größte Teil der auf Jomon stationierten Flotte im Raum hing – die Zwillinge und Hellenker hatten den Stützpunkt fast aller Schiffe beraubt.

Hellenker hielt den Atem an.

Der Anschlag der Zwillinge aufsein Leben und seine Autorität als Stützpunktkommandeur hatte Hellenker überaus mißtrauisch gemacht – so mißtrauisch, daß er einen Augenblick lang sogar die abenteuerliche Hypothese erwog, die Zwillinge könnten hinter diesem Angriff auf Jomon stecken. Daß dieser Überfall gerade jetzt stattfand, da der Stützpunkt weitgehend von Schiffen entblößt war, konnte kein Zufall sein.

Hellenker verwarf den Gedanken. Die Zwillinge waren machtbesessen und karrieregierig, aber sie waren keine Verräter an ihrem Volk – wann hätten sie auch Kontakte zu einer Macht aufnehmen können, die diese Schiffe in den Einsatz geschickt hatte. Niemand an Bord der Flotte hatte je etwas von diesem Schiffstyp gehört, und die Zwillinge hatten fast ständig unter Aufsicht gestanden. Nein, das kam nicht in Frage.

Mit einem Handzeichen hatte Hellenker den Piloten seines Flaggschiffs angewiesen, die Geschwindigkeit zu erhöhen.

»Wir kommen so rasch wie möglich«, ließ er über Funk durchgeben.

Hastig überprüfte Hellenker, was er über die Lage in Manam-Turu wußte. Es gab das Neue Konzil aus Hyptons und Ligriden, es gab die Piraten von Manam-Turu und den Erleuchteten. Von dieser Person hatte Hellenker bisher sehr wenig erfahren, es wurde in Führungskreisen ein wenig darüber gemunkelt, mehr nicht.

Gab es außerdem noch eine andere Macht in dieser Galaxis, eine Macht, die bislang nicht in Erscheinung getreten war und sich nun als Mitspieler meldete? Auch das wirkte wenig wahrscheinlich – Jomon war als Stützpunktwelt so unbedeutend, es gab erheblich wichtigere Ziele für einen solchen Angriff.

»Kontakt in wenigen Minuten!«

Hellenker ließ Gefechtsalarm geben. Auf einem der Schirme konnte er die Gesichter der Zwillinge sehen. Sie schienen förmlich zu glühen – jeder Kampf war den Zwillingen recht, wenn er nur etwas für die Karriere abwarf.

Hellenkers Flotte fiel in den Normalraum zurück. Ein paar Augenblicke später waren die Verhältnisse überblickbar.

Der Diensthabende auf Jomon hatte nicht übertrieben – es war tatsächlich ein Dutzend Schiffe an dem Angriffbeteiligt, und das Ziel der Aktion war eindeutig der Ligridenstützpunkt.

»Höchstfahrt«, ordnete Hellenker an. In rascher Folge kamen die Meldungen der einzelnen Stationen. Jedes Schiff seiner Flotte war kampfbereit. Die zahlreichen Schotte waren geschlossen worden. Bei einem Treffer konnte so nur ein Teil des Schiffes von einem Vakuumeinbruch betroffen werden – und einmal mehr wunderte sich Hellenker über die absonderliche Bezeichnung des Phänomens. In Wirklichkeit brach natürlich kein Vakuum – ein Nichts – irgendwo ein, sondern Luft dehnte sich explosionsartig ins Nichts aus. Wie dem auch war, der Vorgang blieb der gleiche.

Hellenker betrachtete die Lage. Die fremden Schiffe stießen auf den Stützpunkt herab und nahmen ihn unter Feuer. Die Besatzung des Stützpunkts feuerte zurück, bislang ohne Erfolg. Die fremden Schiffe waren schnell und wendig und wurden offenbar von erfahrenen Piloten gesteuert. Allerdings richteten auch sie nur wenig Schaden an – der große Schutzschirm über dem Stützpunkt fing das Feuer auf und machte es unschädlich.

Hellenker stieß eine Verwünschung aus. Er hatte den Anflug auf das System nach den üblichen Vorschriften durchführen lassen – und das bedeutete, daß er zwei Lichtstunden vom Ziel entfernt in den Normalraum zurückgekehrt war. Es würde also noch geraume Zeit dauern, bis die Geschütze der ligridischen Schiffe wirksam feuern konnten.

»Raumtorpedos klarmachen«, bestimmte Hellenker ruhig.

Mitunter verwendeten die Ligriden Torpedos, die winzige Überlichtflüge durchführen konnten und daher über größere Entfernungen eingesetzt werden konnten. Allerdings waren die Triebwerke nur vergleichsweise grob einstellbar – beim Wiedererscheinen im Normalraum waren sie ein paar Lichtsekunden vom Ziel entfernt. Für ein positronisch gesteuertes, überlichtschnelles Ortungs- und Feuerleitverfahren, waren ein paar Flugsekunden natürlich Zeit genug, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und die heranrasenden Torpedos abzuschießen.

Die Geschosse gingen auf die Reise. Hellenker verfolgte die Flugbahn auf den Schirmen der Energieortung.

Er hatte sich nicht geirrt. Die ersten Torpedos kamen drei Sekunden vom Ziel entfernt an und waren ein paar Sekundenbruchteile später im Abwehrfeuer. Immerhin – ein Torpedo tauchte so nahe am Ziel im Normalraum auf, daß dem Gegner keine Zeit mehr blieb.

Eines der Fremdschiffe, verschwand vom Bildschirm, statt dessen tauchte der Feuerball der Detonation auf. Dennoch setzten die fremden Schiffe ihre Angriffe auf den Stützpunkt fort.

Gleichzeitig setzten sie sich aber auch gegen die Fernangriffe der ligridischen Flotte zur Wehr. Sie verwendeten ähnliche Torpedos wie die Ligriden, und Hellenkers Flaggschiffkommandant mußte seine ganze Kunstfertigkeit aufbieten, die Geschosse abzuwehren.

Hellenker interessierte sich nicht sonderlich für das Gefecht. Furcht dieser Art war ihm fremd, er sorgte sich nicht darum, ob sein Schiff getroffen werden könnte. Weitaus mehr interessierten ihn die Hintergründe des Kampfes – vor allem die Frage, wer die fremden Raumschiffe losgeschickt hatte, und warum Jomon das Ziel dieser Attacke war.

Gern hätte er eines der Fremdschiffe gekapert, um es untersuchen zu können, aber die Angreifer wandten sich zur Flucht als die ligridische Flotte sich ihnen immer bedrohlicher näherte.

»Sollen wir die Feinde verfolgen?« ließ Drasthor anfragen.

Hellenker hatte damit gerechnet. Es lag nahe, dem geschlagenen Gegner zu folgen – so nahe, daß Hellenker darin eine Falle witterte. Er hatte ein feines Gespür für solche Listen.

»Abgelehnt«, befahl er. »Rückkehr in den Stützpunkt.«

»Aber…«, begehrte Drastim auf.

»Mein Befehl ist eindeutig«, antwortete Hellenker schroff.

Er wurde den Verdacht nicht los, daß sich – wahrscheinlich durch dummen Zufall – ausgerechnet in seinem Machtbereich etwas zusammenbraute. Es waren zu viele Kleinigkeiten, die nicht stimmten, aber zusammengenommen eine große Gefahr darstellten – die rebellischen Zwillinge, das angebliche Auftauchen eines organisierten jomonischen Widerstands gegen die Ligriden, das Auffinden des langgesuchten Atlan, der plötzliche Überfall auf den Stützpunkt… Hellenker begann zu wittern, daß die Ereignisse auf und um Jomon wichtig zu werden begannen.

3.Brasher duckte sich tiefer in das Kellerloch hinein. Er zitterte am ganzen Leib.

Was er in den letzten Stunden erlebt hatte, war ein fürchterlicher Alptraum gewesen, angefüllt mit Szenen und Ereignissen, die sich Brasher niemals hatte vorstellen können.

Götter waren erschienen und hatten Feuer auf die Erde gespien, und die Himmelsgötter hatten Feuer zurückgeschickt. Ein gleißender Dom hatte sich plötzlich über die ganze Stadt gewölbt, wie ein zweiter, schillernder Himmel. Dennoch hatte das Feuer aus der Dunkelheit den Boden getroffen – Tote und Verletzte hatte es gegeben, und ein Stadtteil stand himmelhoch in Flammen. Überall auf den Straßen hasteten Jomoner durcheinander, verzweifelt rufend und nach Angehörigen schreiend. Zwischendurch war am nachtdunklen Himmel eine neue Sonne aufgegangen, strahlend grell, aber sie war sehr bald wieder erloschen.

Brasher konnte sich auf all das keinen Reim machen. Zwar hatte er inzwischen begriffen, daß die Himmelsgötter sterbliche Geschöpfe waren wie er auch, aber damit war nicht alles gesagt.

Brasher zitterte am ganzen Leib. Er hatte furchtbare Angst, daß dies jener Tag sei, an dem nach den alten Legenden das Ende der Schöpfung gekommen war und die ganze Natur sich in nichts auflöste.

Seit Stunden hatte Brasher nur eines getan – er war geflohen. Zuerst vor den Dienern des Edlen Hellenker, dann vor den Bütteln, die ihn im Auftrag von Hellenker gejagt hatten, danach vor dem Himmelsfeuer, und auch in diesem Augenblick wollte Brasher nur eines – sich in irgendeinen ruhigen Winkel verkriechen und darauf warten, daß dieser gräßliche Spuk irgendwie ein Ende fand.

Nirgendwo schien es eine Rettung zu geben. Brasher hatte es versucht, aber der glänzende Himmel, der sich über der Stadt wölbte, ließ niemanden durch.

»Verschwinde von hier, du Narr!« schrie jemand Brasher an. Ein alter, grimmig aussehender Jomoner mit dem Abzeichen eines Büttels stand vor Brasher. »Oder willst du hier sterben?«

»Sterben?« fragte Brasher verwundert.

»Die Ligriden werden gleich das Feuer löschen, und wer dann noch in der Nähe der Brahdzone ist, muß sterben.«

»Aber warum denn?« fragte Brasher.

»Weiß ich auch nicht – los, nimm die Beine in die Hand, Tölpel. Wenn du hier bleibst, wirst du ersticken.«

Brasher war heilfroh, daß der Büttel ihn nicht einfach festnahm und an den Edlen Hellenker auslieferte. Er stand auf und trabte hinter dem Amtmann her.

Der Büttel schien nicht gelogen zu haben. Brasher konnte sehen, daß alle Jomoner, die er traf, in die gleiche Richtung eilten – weg von dem Stadtviertel, in dem wahrscheinlich schon jedes zweite Haus brannte.

Die meisten hatten kaum mehr gerettet als das Leben, andere schleppten sich mit ihrer Habe ab. Und immer wieder waren Flüche und Verwünschungen zu hören, die den Ligriden galten.

»Ihr könnt anhalten«, machte sich der Büttel bemerkbar. »Wir sind weit genug weg.«

Brasher begriff wieder einmal nichts von dem, was um ihn herum geschah. Die Jomoner blieben stehen, setzten sich auf ihre Habe oder hockten sich einfach erschöpft auf den Boden.

Dann sah Brasher, wie sich über das riesige Feuer ein weiterer Feuerschein zu breiten begann, unter dem die Flammen der brennenden Häuser allmählich verschwanden. Minutenlang blieb dieser Schein, dann verschwand er mit einem Schlag, und es wurde dunkel. Der Brand hatte aufgehört.

Jetzt verstand Brasher – die Ligriden hatten eine Art Tuch über das ganze Viertel geworfen und den Brand so erstickt. Wenn sich noch ein lebendes Wesen in der Nähe befunden hatte, war es jetzt ebenfalls erstickt – ein gründliches, aber lebensverachtendes Verfahren, Brände zu löschen.

Brasher holte tief Luft. Diese Gefahr war, so schien es, überwunden – aber damit waren Brashers Probleme nicht gelöst.

Gjoph und Plodar waren von den Jomonern im Haus des Edlen Hellenker festgenommen und später von einem ligridischen Gleiter abgeholt worden. Wohin sie geschafft worden waren, wußte Brasher nicht.

Er hatte Hunger und Durst, war müde und zerschlagen und hatte nicht den kleinsten Kupferling in der Tasche. Vielleicht konnte er die Waffen verkaufen, die die beiden Ligriden ihm geschenkt hatten – obwohl das riskant war, den Gjoph und Plodar trugen die gleichen Waffen, und die Ligriden würden bestimmt nach jedem fahnden, der mit dem Abzeichen des Schwerts von Jomon herumlief.

Jemand stieß Brasher an.

»Hier, nimm und trink. Du wirst Durst haben.«

Dankbar nahm Brasher die Wasserflasche an. Der Mann, der sie ihm anbot, mußte wohlhabend sein, die Flasche war aus Metall, und das Wasser schmeckte kühl und frisch, als wäre es gerade erst geschöpft worden.

»Was hast du hier in der Stadt verloren?« fragte der Besitzer der Flasche. »Du kommst vom Land, und zwar von weit her, ich kann es an deiner Kleidung sehen.«

»Zwei meiner Freunde sind von den Ligriden eingesperrt worden«, antwortete Brasher und ließ die Flasche sinken. »Ich will versuchen, sie zu befreien.«

Der Mann, mit dem er redete, sah Brasher aufmerksam an. Nachdenklich nahm er die Flasche wieder an sich. Er sah aus wie jemand, der sich um alltägliche Dinge wie Brot und Wasser nicht zu kümmern brauchte.

»In einem Gefängnis der Ligriden stecken sie? Und du glaubst, du könntest sie da herausholen. Junger Freund, du weißt nicht, wovon du redest.«

Brasher nickte niedergeschlagen.

»Ich weiß nicht einmal, wo sie eingesperrt worden sind«, seufzte er.

Um sie herum wurde es allmählich ruhiger. Die Jomoner packten ihre Habseligkeiten zusammen und kehrten in ihre Häuser und Hütten zurück, soweit die Gebäude noch standen und nicht ausgebrannt waren.

»Du kannst mich Ophon nennen«, sagte der Mann. »Und vielleicht kann ich dir ein wenig helfen.«

In Brashers Gehirn war eine verrückte Idee entstanden.

»Gibt es hier in Jompol auch Magier wie bei uns?«

Ophon lächelte verhalten.

»Natürlich, Magier gibt es überall, aber nur wenige taugen etwas. Du kennst einen solchen Mann?«

»Er heißt Baarschach«, sagte Brasher. Verwundert stellte er fest, daß der Name seinem Gegenüber etwas zu bedeuten schien.

»Sieh an«, meinte Ophon. »Was für ein Zufall. Ich kennen hier in der Stadt einen Magier, der Boorschon heißt. Vielleicht haben die beiden etwas miteinander zu tun?«

»Kannst du mich zu diesem Mann führen?« fragte Brasher sofort. »Vielleicht sind die beiden irgendwie miteinander verwandt?«

Ophon überlegte kurz, dann machte er eine Geste der Zustimmung.

»Komm, ich zeige dir den Weg«, sagte er. »In diesem Durcheinander würdest du nie hinfinden.«

»Was ist eigentlich passiert?« wollte Brasher wissen. Ophon machte ein verwundertes Gesicht.

»Das weißt du nicht? Die Stadt ist von fremden Raumschiffen angegriffen worden. Der Edle Hellenker und seine Flotte haben die Feinde vertrieben.«

Die Begriffe schwirrten in Brashers Kopf herum, und noch immer konnte er damit nichts anfangen. Daß Jomoner einander bekämpften, war normal, auch wenn es meist nur auf Raufereien hinauslief. Daß es auch ernsthafte Gefechte gab, hatte er erfahren müssen; Gavrans Überfall auf das Wahron-Gut fiel ihm ein.

Aber eine ganze Stadt angreifen und in Brand setzen? Das hatte nichts mehr mit Kampf zu tun – Brasher fiel kein Wort ein, mit dem er eine solche Handlung hätte bezeichnen können.

Ophon führte Brasher durch die Stadt. Er kannte eine Reihe von Abkürzungen – so behauptete er jedenfalls – aber Brasher wurde das Gefühl nicht los, daß Ophon in voller Absicht einen so komplizierten Weg einschlug, um Brasher später das Wiederauffinden des Hauses möglichst schwer zu machen.

»Hier wohnt Boorschon«, erklärte Ophon schließlich. Er war in einer verwinkelten Gasse vor einem flachen Haus mit schiefen Wänden stehengeblieben. »Ich werde dich bei ihm einführen.«

Brasher wartete geduldig. Ophon betätigte den Türklopfer, der die Form einer geballten Faust hatte. Wenig später wurde die Tür geöffnet.

Brasher riß die Augen weit auf. Der Mann, der auf der Schwelle erschienen war, hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Baarschach.

»Ah, Brasher. Du hast also zu uns gefunden, sehr gut.«

»Wie…?« stammelte Brasher entgeistert.

»Ich habe dich erwartet«, meinte Boorschon gelassen. Er schien an der Angelegenheit nichts verwunderlich zu finden. Boorschon trat einen Schritt zur Seite und ließ seine Besucher eintreten.

Im Innern seiner Behausung sah es ähnlich aus wie in Baarschachs Felsenhöhle. Die Übereinstimmung war frappierend.

»Setzt euch«, meinte Boorschon freundlich. »Ich nehme an, daß du viele Fragen hast, Brasher. Wo sind übrigens Gjoph und Plodar?«

»Gefangen von den Ligriden«, stieß Brasher hervor. »Woher weißt du, daß ich hier bin?«

»Das wußte ich nicht, jedenfalls nicht so genau. Mein Freund und Bruder Baarschach hat mich allerdings wissen lassen, daß du und deine Freunde hierher unterwegs wart. Erzähle, was ist passiert?«

Brasher berichtete, ein wenig unbeholfen und bei technischen Sachen oft nach Worten suchend, was ihm und seinen Begleitern widerfahren war.

Boorschon verstand ihn offenbar ohne Schwierigkeiten.

»Zwei Ligriden, die wie einer aussehen«, murmelte Boorschon schließlich. »Das müßten die Zwillinge sein. Sieh an, sie wollen Hellenker ans Leben. Das ist gut zu wissen.«

»Können wir irgend etwas für Gjoph und Plodar tun?« fragte Brasher drängend. »Ich habe Angst, die Ligriden werden…«

»Das werden sie«, unterbrach Boorschon grob. »Ophon, laß deine Verbindungen spielen. Ich will wissen, wo man die beiden eingesperrt hat.«

Der Schlag des Türklopfers hallte durch das Haus. Boorschon wölbte die Brauen, stand auf und öffnete. Brasher wäre fast von seinem Sitz gepurzelt, als er sah, wer Boorschon besuchte – ein

weiterer Jomoner, der Baarschach und Boorschon überaus ähnlich sah. Nur an der Kleidung ließen sich die drei auseinanderhalten. Höchst verwunderlich, fand Brasher.

»Wichtige Nachrichten«, sagte der Besuch noch beim Eintreten. »Hellenker ist gerade von einem Erkundungsflug zurückgekehrt. Er hat drei Gefangene mitgebracht, darunter zwei Daila und einen daila-ähnlichen Mann mit roten Augen und weißen Haaren.«

Über das Gesicht von Boorschon flog ein triumphierendes Lächeln.

»Sehr gut«, lobte er. »Das ist mehr, als wir erwarten konnten. Du bist sicher, daß es sich um Atlan handelt, Beerscher?«

»Nicht zur Gänze, aber das wird sich wohl feststellen lassen«, antwortete Beerscher.

»Wie lange wirst du dafür brauchen?« fragte Boorschon nach.

»Zwei bis drei Stunden. Unsere Leute sind vorbereitet.«

Boorschon nickte langsam.

»Wir müssen in dieser Nacht noch zuschlagen. Wenn Hellenker Zeit bekommt und Atlan ausführlich verhören kann, wird er wertlos für uns, vielleicht sogar gefährlich.«

Beerscher nickte.

»Dann holen wir ihn heute nacht heraus«, schlug er vor. Boorschon grinste breit und warf einen Blick über die Schulter. Er deutete auf Brasher.

»Wir werden auch seine Freunde befreien, vorausgesetzt, sie sind im gleichen Gefängnis untergebracht. Je mehr Leute wir herausholen, um so schwieriger wird für die, Ligriden die Fahndung.«

»Ich werde gehen und die Vorbereitungen treffen«, sagte Beerscher. Ohne auch nur einen Blick auf Brasher oder Ophon zu werfen, verließ er wieder das Haus. Boorschon machte ein sehr zufriedenes Gesicht.

»Heute nacht noch schlagen wir zu«, versprach er. »Sobald deine Freunde wieder in Freiheit sind, meldet ihr euch bei mir. Ich werde euch dann helfen, in euer Tal zurückzukehren.«

Brasher nickte still.

Irgend etwas stimmte da nicht. Wie wollte Baarschach seinem Freund Boorschon mitgeteilt haben, daß Brasher, Gjoph und Plodar in Jompol waren? Von den Ereignissen auf Burg Gorm konnte Baarschach nichts wissen, erst recht nicht von der Reise in der ligridischen Flugmaschine. Eine Nachricht von Baarschach zu Boorschon war mit Sicherheit zwei bis drei Wochen unterwegs, ehe sie ihr Ziel erreichen konnte – schließlich könne Baarschach schwerlich einen der unglaublich teuren Kuriere bezahlen. Die standen ohnehin nur den hohen Herren Jomons zur Verfügung.

Und dann die Art, in der Boorschon redete. Brasher hatte schon mitbekommen, daß die Bewohner der Hauptstadt von den Ligriden und ihrer – wie nannte sich das? Technik – ganz anders sprachen als Landbewohner, die mit solchen Dingen nie in Berührung kamen. Boorschon aber benutzte die Namen all dieser geheimnisvollen und unbegreiflichen Dinge mit einer Geläufigkeit, die für Brasher unbegreiflich war.

Mehr noch – während Brasher langsam zu begreifen begann, daß die Ligriden keine Götter waren, redete Boorschon von den Ligriden… wie von seinesgleichen, schoß es Brasher durch den Kopf. Er wußte nicht, was all das zu bedeuten hatte; die Rätsel wurden immer größer und zahlreicher.

»Wir werden Waffen brauchen«, meinte Boorschon. »Moderne Waffen. Komm, ich zeige dir, wie man damit umgeht.«

Mit dem Wort modern konnte Brasher wieder einmal nichts anfangen. Gehorsam folgte er Boorschon in den Keller des Hauses.

Aus einem verschlossenen Kasten förderte Boorschon etwas zutage, was wie eine metallene Wurzel aussah.

»Dies hier ist der Griff, das ist der Abzug«, erklärte Boorschon. »Wenn du diesen Hebel auf dich zu ziehst mit dem Finger, kommt hier vorn ein Blitz heraus. Das ist eigentlich alles, was du wissen mußt.«

Er hielt die Waffe auf Brasher gerichtet, und der machte unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Brasher hatte einmal ein Tier gesehen, das von einem Blitzschlag getötet worden war, ein scheußlicher Anblick.

»Keine Angst, im Augenblick ist kein Magazin in der Waffe. Versuch es einmal selbst – ziel auf die Wand dort drüben.«

Boorschon tat irgend etwas, und plötzlich war die Wand verschwunden. Statt dessen konnte Brasher hinausschauen auf eine Waldlichtung.

Er wußte aber ganz genau, daß es draußen vor Boorschons Haus gar keinen Wald gab. Zauberei, schoß es durch Brashers Kopf.

»Ziel auf die Tiere, die du sehen kannst.«

»Ich habe aber gar keinen Hunger«, gab Brasher zu bedenken. »Warum sollte ich dann auf ein Tier schießen, wenn es mich nicht angreift.«

»Es geht nur darum, daß du lernst zu zielen und zu treffen. Das sind gar keine richtigen Tiere, nur Projektionen.«

»Pro…«, stotterte Brasher in dem vergeblichen Bemühen, das Wort nachzusprechen, auch wenn er den Sinn nicht begriff.

»Ach, ihr…« sagte Boorschon. Er murmelte eine Bemerkung in einer Sprache, die Brasher nicht verstand – es war weder jomonisch, noch klang es nach der Sprache der Ligriden.

»Tu einfach, was ich dir sage. Es wird weder dir noch den Tieren etwas passieren!«

Brasher gehorchte. Tiere tauchten auf der Lichtung auf, Brasher zielte mit der Waffe darauf und betätigte den Abzug. Er brauchte einige Zeit, bis er sich an diese Waffe gewöhnt hatte, aber dann wurden seine Treffer immer besser – Boorschon behauptete es jedenfalls.

»Sehr gut«, lobte der Magier. »Und jetzt paß auf.«

Mit einem Zaubertrick ließ er den Wald wieder verschwinden und die kahle Wand des Kellers auftauchen.

»Dies ist ein Magazin, du wirst später noch ein paar davon bekommen. Paß genau auf, wie ich die Waffe lade…«

Der Unterricht dauerte, bis Geräusche über den beiden verrieten, daß Beerscher und seine Leute eingetroffen waren. Die beiden Jomoner verließen den Keller und kehrten in den Wohnraum zurück.

Beerscher hatte insgesamt fünfzehn andere Jomoner mitgebracht, und Brasher hatte sofort den Verdacht, daß es sich dabei um Galgenvögel handelte. Jeder der fünfzehn trug eine moderne Waffe, und die meisten sahen so aus, als wüßten sie schon recht gut damit umzugehen. Zusammengehalten wurde dieser Haufen vermutlich von der, allen gemeinsamen, Furcht vor Boorschon und Beerscher, das verrieten die Blicke der Männer.

»Man hat die Gefangenen im Verlies der alten Königsburg untergebracht«, wußte Beerscher zu berichten. Er grinste breit. »Das ist günstig für uns. Die ligridischen Roboter sind viel zu groß, um uns in den Gängen verfolgen zu können. Und außerdem kennen wir ein paar geheime Zugänge, von denen die Ligriden nichts ahnen.«

Boorschon wiegte den Kopf.

»Keine energetische Sicherung?« wollte er wissen.

»Darum brauchen wir uns nicht zu kümmern«, sagte Beerscher grinsend. »Das Schirmfeld wird rechtzeitig ausgeschaltet werden.«

Boorschon kniff die Augen zusammen.

»Du hast doch nicht…«

»Ich habe«, entgegnete Beerscher trocken. »Natürlich werden wir die Befreiten nicht an Drasthor und seinen Bruder ausliefern, wie sie erwarten.«

»Die Sache ist gefährlich«, meinte Boorschon nachdenklich. »Wenn die Zwillinge zuviel über uns erfahren, kann unser Auftrag scheitern.«

Beerschers Grinsen wurde noch breiter.

»An Arroganz sind die Ligriden nicht zu übertreffen, und die beiden sind sogar unter ihresgleichen als arrogant verschrien. Uns Jomoner nehmen sie nicht für voll, das ist unsere Chance.«

»Also gut, brechen wir auf.«

Boorschon musterte seine Mannschaft.

»Ihr wißt, worum es geht. Keiner von euch darf den Ligriden lebend in die Hände fallen – ich brauche euch nicht zu sagen, was das im Ernstfall bedeutet.«

Brasher schluckte.

Das Gefühl des Unbehagens in ihm wuchs immer mehr. Diese Befreiung würde, wenn sie gelang, den Zorn der Ligriden hervorrufen, und Brasher hatte gelernt, die Ligriden und ihre Macht zu fürchten.

Das Schlimmste aber war, daß er sein Leben in einer Sache wagte, deren wesentliche Teile er beim besten Willen nicht begriff.

4.Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis man mich zu einem ersten Verhör abholte – und ich hatte begonnen, mich fast danach zu sehnen.

Das Gefängnis, in dem man mich untergebracht hatte, mußte uralt sein, mit Sicherheit kein Bauwerk der Ligriden. Ich sah nacktes Felsgestein, grobe Klötze, durch Mörtel miteinander verbunden. Dies war kein Gefängnis, es war ein Verlies – mit solchen Örtlichkeiten kannte ich mich aus. Mehr als einmal in den zwölftausend Jahren meines Lebens war ich eingesperrt gewesen, am häufigsten auf der Erde. Wer immer ein solches Gefängnis baute, legte in aller Regel keinerlei Wert darauf, daß ein Gefangener sich wohl fühlte, sich beispielsweise ausstrecken konnte.

Die Erbauer dieses Verlieses mußten kleinwüchsig sein, eine Handbreit größer als eineinhalb Meter schätzte ich. Selbst für diese Geschöpfe waren die Zellen reichlich klein ausgefallen – mir kamen sie vor wie ein steinerner Käfig. Ich konnte bei der Höhe des Raumes nur sitzen oder hocken – die einzige Möglichkeit, meinen Körper ganz zu strecken, gab es, wenn ich mich gleichsam zur Raumdiagonale machte, was mindestens ebenso unbequem war wie das Hocken auf den feuchten Steinplatten des Bodens. Das Stroh stank ekelerregend, und was darin ab und zu raschelte, wollte ich mir lieber nicht genau ansehen. Ungeziefer war in Mengen vorhanden, fast in jedem Augenblick krabbelte irgend etwas über mich.

Ein Fenster gab es nicht, auch keine Entlüftung, die den üblen Geruch hätte mildern können.

Ich vermutete, daß die Ligriden diesen Bau von den Einwohnern des Planeten übernommen hatten. Wenn das stimmte, standen die Jomoner auf einer Zivilisationsstufe, die sich etwa mit dem Mittelalter vergleichen ließ. Auf Hilfe von den Jomonern zu hoffen, war daher aussichtslos.

Von dem, was sich seit unserer Gefangennahme abgespielt hatte, hatte ich so gut wie nichts mitbekommen. Es schien Kampfhandlungen gegeben zu haben – unbekannte Schiffe hatten den Stützpunkt der Ligriden auf Jomon angegriffen und waren in die Flucht geschlagen worden, das war alles, was ich in Erfahrung hatte bringen können.

Chipol und seinen Vater hatte ich für einen Sekundenbruchteil zu Gesicht bekommen, als wir aus dem Raumschiff in diese Verliese verlegt worden waren, seither war der Kontakt abgerissen.

Natürlich hatte ich mich der erprobten Mittel bedient, um Kontakt zu anderen Gefangenen zu bekommen, aber niemand hatte auf meine Signale geantwortet.

Es sah wieder einmal reichlich trostlos aus – und die Zeit arbeitete entschieden gegen mich.

Je länger ich in ligridischer Haft blieb, um so größer wurde die Gefahr, daß mein Erzfeind Halphar auftauchte – und dieser Ligride hatte mich in überaus schlechter Erinnerung.

Ich hatte jeden Winkel meiner Zelle untersucht, es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Meinen Raumanzug hatte man mir gelassen, nachdem alle technischen Gerätschaften abmontiert worden waren. Ich hatte ihn anbehalten, denn in der Zelle war es entsetzlich kalt.

Seit zehn Stunden hockte ich in diesem Loch, und die Enge wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher.

Das eigentliche Problem bestand gar nicht einmal in der tatsächlichen Enge – vielmehr war es das ständige Bewußtsein, daß es keine Möglichkeit gab, mich zu recken und zu dehnen. Die Psyche litt unter der Beengtheit weit mehr als der Körper, und ich mußte immer mehr Konzentration darauf verwenden, das Unbehagen darüber zu unterdrücken.

Außerdem plagte mich die Langeweile – und das war, wie ich die Ligriden kannte, sicherlich kein Zufall. Es war ein uralter psychologischer Trick, einen Gefangenen lange Zeit allein zu lassen. Er hatte dann genug Gelegenheit, sich aus sich selbst heraus zu ängstigen, sich auszumalen, wie das

Verhör wohl ablaufen würde. Es kam einem Schachspiel gleich, das auf Leben und Tod geführt wurde, mit einem Gegner, dessen Züge man nicht vorhersagen konnte.

Was wird der Verhörende als erstes fragen? Wie kann ich so darauf antworten, daß seine nächste Frage in eine Richtung zielt, die mir in den Kram paßt? Welche Möglichkeiten hat er, und wie antworte ich auf diese verschiedenen Fragemöglichkeiten… mit solchen Überlegungen konnte man eine förmliche Gedankenlawine auslösen, die auch den stärksten Intellekt zur Strecke brachte.

Wußte der Ligride, der diesen Stützpunkt kommandierte, wer ich war? Und wenn nicht…?

Müßige Spekulationen, gab der Extrasinn zu verstehen.

Ich beschloß zu einem anderen Hilfsmittel meine Zuflucht zu nehmen – Meditation und Tiefenentspannung. Zwar konnte ich die Perfektion eines indischen Yogi nicht erreichen und mich für geraume Zeit in einen todesähnlichen Schlaffallen lassen, aber es sollte wenigstens dazu reichen, das subjektive Zeitempfinden so zu verändern, daß ich das Warten auf die nächsten Ereignisse nicht mehr so intensiv empfand.

Der Versuch gelang, ich begann wegzudämmern und meine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Mein Herzschlag verlangsamte sich, die Lider sanken herab. Was es um mich herum gab, verlor immer mehr an Bedeutung, die Wände, der Boden, der Gestank, der Lärm…

Aufwachen!Der Impuls des Extrahirns war von schmerzhafter Stärke. Mit einem Schlag kehrte ich in die Wirklichkeit zurück.

Lärm?

Ich hörte Schreien und Rufen, dann das Krachen einer Explosion. Der Lärm war nicht sehr weit von mir entfernt.

Ich kroch hinüber zur Tür meiner Zelle. Auf dem Gang war es dunkel, ich konnte nichts sehen.

Immer wieder waren schmetternde Geräusche zu hören. Dazwischen erklangen Stimmen.

Es wurde heller – am Flackern des Lichts auf dem Gang konnte ich abschätzen, daß sich jemand mit einer Fackel näherte. Ein riesenhafter, verzerrter Schatten tauchte auf der gegenüberliegenden Wand auf.

Die Gestalt näherte sich, und ein paar Augenblicke später sah ich den Fackelträger unmittelbar vor meiner Zellentür. Ich stieß einen leisen Ruf der Verwunderung aus.

Die Gestalt auf dem Gang war ein verblüffend genaues Abbild jener Statue, die ich auf dem Planetoiden im Ring der Hybris gefunden hatte – zwei Arme, zwei Beine auf jeder Seite des Körpers, kleingewachsen, vom Bau des restlichen Körpers her annähernd hominid, mit pferdeähnlichen langen Schädeln und einer Nackenmähne.

Kein Zweifel – diese Wesen waren Nachkommen der ehemaligen Bewohner des Rings der Hybris.Ein zweiter Eingeborener tauchte auf. Er hielt eine kleine Ladung in der Hand, die er an meiner Zellentür befestigte. Ich verkroch mich in den entferntesten Teil der Zelle und hielt mir den Strohsack vor den Körper.

Eine Explosion krachte, die Druckwelle stieß mich hart gegen die Wand, die Hitze wurde von dem Stroh aufgefangen.

»Komm heraus«, wurde ich in der Verkehrssprache von Manam-Turu angeredet. »Wir wollen dir helfen.«

Ich kroch aus der Zelle heraus. Inzwischen hatten sich vier andere Eingeborene eingefunden. Sie trugen Waffen in den Händen – zum Teil moderne Energiewaffen, ansonsten Schwerter und Äxte.

»Zwei Freunde…«, begann ich. Mit einer Handbewegung schnitt mit der Eingeborene das Wort ab.

»Zwei Daila, wir haben sie bereits befreit. Los, beeile dich, wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Wir rannten los. An einer Kreuzung wandten wir uns nach rechts – gekommen war ich bei meiner Einlieferung von links. Ein paar Dutzend Schritte von mir entfernt, konnte ich Chipol und seinen Vater erkennen, auch sie waren von Eingeborenen umringt. Mit Gesten und Handzeichen machten sich die Eingeborenen verständlich. Wir wurden durch ein endlos erscheinendes Labyrinth von Gängen geführt. Unterwegs kamen wir an Opfern dieser Befreiungsaktion vorbei – Ligriden und ligridische Roboter. Auch drei der Eingeborenen waren bei dem Eindringen umgekommen. Ich nahm im Laufen einem der Toten die Waffe ab und steckte sie in den Gürtel.

»Jetzt wird es wieder gefährlich«, stieß mein Nebenmann hervor, offenbar der einzige in der Gruppe, mit dem ich reden konnte. »Wir müssen über einen freien Hof hinweg.«

Der Gefahrenort war bald erreicht. Wir gelangten an eine Tür, die aus den Angeln gesprengt worden war. Dahinter war ein beleuchteter Hof mit Pflastersteinen zu sehen.

Die Eingeborenen rannten einfach los. Die Spitze bildeten drei Mann, die jeder zwei Energiewaffen führten und damit gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen schießen konnten. Wild um sich feuernd liefen sie über den Hof. Geduckt hasteten Chipol und Dharys hinter ihnen her. Unsere Gruppe schloß sich ohne Zögern an.

Der Ort sah aus wie der Innenhof einer mittelalterlichen Burg, von hohen, zinnengekrönten Mauern umgeben. Auf den Wehrgängen sahen wir Ligriden, die sich unter dem wilden Feuer der Eingeborenen duckten.

Ich sah, daß die erste Gruppe die andere Seite des Hofes erreicht hatte und dort im Dunkel verschwand.

Ich hob meine Waffe und feuerte ebenfalls. Es kam mir nicht darauf an, einen Ligriden zu verletzten oder zu töten – ich wollte sie nur in Deckung zwingen. Die Eingeborenen waren da weitaus hemmungsloser in ihrem Vorgehen. Ich sah einen getroffenen Ligriden von der Zinne herab in den Burghof stürzen. Reglos blieb er auf dem Pflaster liegen.

»Weiter!« drängte mein Begleiter.

Wir erreichten die andere Seite des Hofes. In der Mauer gab es dort eine herausgestemmte Öffnung. Ein Eingeborener mit einer Fackel in der Hand wartete dort auf uns.

Ich kroch in die Öffnung hinein. Es schien mir ein Abwasserkanal zu sein, vielleicht auch ein uralter Geheimgang, der den Burgbewohnern im Notfall eine Möglichkeit zur Verfügung stellte, ungesehen die Burg verlassen zu können.

Der Gang war eng, ganz besonders für mich. Ich schaffte es nur mit Mühe, mich durch die Röhre zu zwängen. Ohne den Raumanzug mit seiner überaus widerstandsfähigen Außenhaut hätte ich mir zahlreiche Schnitt- und Schürfverletzungen eingehandelt.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis wir wieder das Freie erreichten. Der Stollen mündete in einen tiefen, wasserlosen Graben.

Hinter uns war wieder das Toben einer Explosion zu hören. Ich vermutete, daß der Eingang des geheimen Stollens auf dem Burghof davon zerstört werden sollte.

»Geschafft«, stieß mein Nebenmann hervor. Er ließ die Waffe sinken. »Wo ist der eine Daila?«

Jetzt erst entdeckte ich, daß Dharys, nicht mehr zu sehen war.

»Er hat sich abgesetzt, Boorschon«, wurde meinem Begleiter geantwortet. »Er hat einen von unseren Leuten niedergeschlagen und ist verschwunden.«

Ich murmelte eine Verwünschung. Was versprach sich Dharys davon, sich auf eigene Faust auf einem ihm völlig fremden Planeten herumzutreiben. Als Daila war er auf dieser Welt auf den ersten Blick zu erkennen – es sei denn, es gab außer den Ligriden und den vierarmigen Bewohnern noch

eine andere Spezies. Chipols und meine Lage war nicht sonderlich besser – allerdings konnten wir wohl auf die Unterstützung der Eingeborenen hoffen.

Boorschon sah mich an.

»Wollt ihr mit uns kommen, oder ebenfalls auf eigene Faust flüchten.«

»Habt ihr ein Versteck für uns vorbereitet?«

Boorschon grinste breit.

»Haben wir – und dort werdet ihr völlig sicher sein.«

*

Hellenker machte eine Geste des Unglaubens, als ihm die Nachricht überbracht wurde.

»Sämtliche Jomoner, die beiden Daila und Atlan sind befreit worden«, wiederholte der Kadett beklommen. Für einen Militärschüler war es kein angenehmer Augenblick, dem Oberbefehlshaber solche Informationen zu überbringen.

»Verluste?«

»Drei Leute von uns, sieben Roboter und ein paar Jomoner«, berichtete der Kadett.

»Unglaublich«, murmelte Hellenker so leise, daß der junge Ligride ihn nicht verstehen konnte. Äußerlich tat Hellenker so, als sei er nicht im geringsten erstaunt. Haltung zu bewahren war eine der vornehmsten Tugenden ligridischer Erziehung.

»Und wie sind die Jomoner in die Burg hineingekommen? Meines Wissens ist das Gebäude durch einen Energieschirm gesichert.«

Der Kadett trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

»Der Schirm ist ausgefallen«, gab er zu. Hellenker faßte ihn schärfer ins Auge.

»Unfall? Technische Panne?«

Der Kadett senkte den Blick.

»Es gibt den Verdacht, daß es sich um Sabotage handelt«, sagte er unsicher.

Hellenker blieb wie angewurzelt stehen.

»Sabotage?«

Seine Stimme verriet seinen Unglauben. Er konnte sich einfach niemanden vorstellen, der durch solche Sabotage…

Oder doch?

»Du kannst abtreten. Ich werde mich um die Sache kümmern.«

Der Kadett unterdrückte mit Mühe einen Seufzer der Erleichterung und entfernte sich.

»Sabotage«, murmelte Hellenker betroffen.

In seinen Augen kamen nur zwei für ein solches Verbrechen in Frage – die Zwillinge Drasthor und Drastim. Aber was versprachen sie sich davon?

Hellenker beschloß, sich zunächst einmal Gewißheit zu verschaffen. Wichtig war für ihn, ob Drasthor und Drastim auf eigene Faust handelten oder womöglich nur stellvertretend für eine ganze Gruppe von Offizieren unter Hellenkers Kommando. Waren sie Einzeltäter, konnte man sie besser bekämpfen. Stand einer Gruppe hinter ihnen, würde Hellenker sich erheblich mehr anstrengen

müssen, dieser Verschwörung auf den Grund zu gehen, sämtliche Beteiligten ausfindig zu machen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Je größer der Kreis der Beteiligten war, um so größer fielen dann auch die Schatten auf Hellenkers Karriere aus – es mußte schließlich einen Grund geben, aus dem heraus die Offiziere in Hellenkers Kommando aufsässig wurden.

Hellenker stellte eine Verbindung zur Positronik des Stützpunkts her und ließ sich ein Itinerar der beiden Zwillinge auf den Bildschirm liefern.

Da jeder Offizier im Stützpunkt seine Anwesenheit melden mußte, gleichgültig, wo er auftauchte, ließ sich dank dieses Wegeverzeichnisses mühelos feststellen, wo sich Drasthor und Drastim während der letzten Tage aufgehalten hatten.

Im Anfang hatten sich die Ligriden nicht für diese Überwachung begeistern können. Dann aber hatte Hellenker dank dieses Systems ein paar Mannschaftsdienstgraden Beförderungen zukommen lassen, die sie sich durchaus verdient hatten, die ihr Offizier aber für sich reklamiert hatte. Hellenker hatte dem Offizier anhand des Itinerars einwandfrei nachweisen können, daß er an der Aktion höchstens als Zuschauer beteiligt gewesen war – und seit jenem Tag war das Verfahren auf dem Jomon-Stützpunkt anerkannt.

Hellenker betrachtete die Daten.

Die Zwillinge liebten offenbar Ausflüge, vor allem zur Burg eines Eingeborenenfürsten namens Rorque de Gorm. Auch vor ein paar Tagen hatten sie ihn aufgesucht. Was sie dort getan hatten, ging aus den Aufzeichnungen allerdings nicht hervor – sie hatten lediglich ihre Besuchsabsicht zu Protokoll gegeben und die Fahrtstrecke ordnungsgemäß abgerechnet.

Seit der Rückkehr nach Jomon hatten die Zwillinge den Stützpunkt aber nicht mehr verlassen, das ging aus dem Itinerar eindeutig hervor.

Hellenker schüttelte mißmutig den Kopf. Die Zwillinge hatten ein paar diensteifrige Tage hinter sich, wie das Wegeverzeichnis aufwies. In nahezu allen Stationen des Stützpunkts hatten sie sich sehen lassen – und wo immer sie aufgetaucht waren, hatte der Diensttuende der jeweiligen Station das festgehalten, auf die Minute genau.

»Hmmm«, machte Hellenker nachdenklich.

Er ließ sich das Itinerar der letzten Monate vorführen. Diensteifer konnte man den Zwillingen nicht absprechen, aber nie waren sie so aktiv gewesen wie in den letzten vierundzwanzig Stunden. Das hatte irgend etwas zu bedeuten.

Hellenker hatte eine Idee.

Er ließ sich einen Grundriß des Stützpunkts geben. Auf diesen Plan ließ sich Hellenker in zeitgeraffter Form die Bewegungen der Zwillinge einspiegeln – das Ergebnis war eine dreidimensionale Darstellung, bei der farbige Balken die Orte anzeigten, an denen sich einer der Zwillinge aufgehalten hatte – die Höhe des Balkens entsprach der Verweildauer. Das Ergebnis brachte Hellenker keine neuen Erkenntnisse.

Er versuchte es auf anderem Weg. In der gleichen Weise ließ er sich darstellen, wann und wo die Zwillinge jeweils nicht gesehen worden waren – berücksichtigt wurden dabei nur jene Abteilungen des Stützpunkts, die auf dem Weg zwischen zwei aufeinanderfolgenden Auftrittsorten der Zwillinge lagen.

Langsam kam Struktur in die Abläufe.

Drasthor und Drastim waren kreuz und quer durch den Stützpunkt gewandert – und dabei waren sie immer wieder auf ihrem Weg unbeobachtet und unregistriert an ganz bestimmten Räumen vorbeigekommen. Wenn man die Zeiten zusammenrechnete – die Positronik tat das in Windeseile – ergab sich das verblüffende Ergebnis, daß die Zwillinge fast die Hälfte des Tages darauf verwendet hatten, von einer ganz bestimmten, unbeaufsichtigten Sektion aus zu anderen Sektionen zu gehen,

sich registrieren zu lassen und dann wieder an den unbeobachteten Ort zurückzukehren. Dort hatten sie, zusammengerechnet, die andere Hälfte ihrer Dienstzeit verbracht – ohne Aufsicht.

»Raffiniert«, murmelte Hellenker anerkennend. Die Zwillinge waren gewitzte Burschen.

Hellenker wollte ganz sicher sein. Als letztes ließ er die Positronik ausrechnen, ob die Zwillinge bei normalem Gehtempo die einzelnen Stationen ihrer, emsigen Wanderung auch so hatten anlaufen können, wie das Itinerar es behauptete.

Die Auswertung ergab, daß die Zwillinge während des ganzen Tages nahezu ohne Pause aneinander vorbeigelaufen waren – und daß sie diese Wanderung nur dann hätten vollbringen können, wenn sie ohne Pause gelaufen wären.

Ganz anders sah die Sache aus, wenn man die Ähnlichkeit der Zwillinge berücksichtigte. Kein diensttuender Offizier hatte wahrscheinlich die genauen Personalien kontrolliert, sondern sich mit einer mündlichen Meldung zufriedengegeben und sie an die Positronik weitergeleitet.

Das Itinerar behauptete, daß Drastim zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum gewesen war – Drasthor zur gleichen Zeit fast einen Kilometer entfernt in einem anderen Raum. Fünf Minuten danach war Drastim in einem Nachbarraum jener Station gemeldet worden, in der sich kurz zuvor sein Bruder aufgehalten hatte – und umgekehrt.

Wenn man annahm, daß Drastim in Wirklichkeit nur ein paar Schritte weit gegangen war, um sich an anderer Stelle als sein Zwilling auszugeben, dann schmolz die nachweisbare Dienstzeit der Zwillinge auf ein Minimum zusammen. Und das gab den beiden hinreichend Zeit und Raum, sich anderen Dingen zuzuwenden.

Hellenker nickte zufrieden. Sein Verdacht hatte sich erhärtet. Jetzt kam es darauf an, ihn auch zu beweisen.

5.Die Unbequemlichkeiten nahmen kein Ende. Mein neuer Aufenthaltsort war noch um etliches beengter als die Zelle, aus der man mich herausgeholt hatte. Ich war in einen Kasten eingesperrt, den man in einen sechsrädrigen Wagen hineingebaut hatte. Über mir rumpelte die Ware, die ein jomonischer Händler angeblich aus der Stadt schaffte, um sie auf dem Land zu verkaufen.

Nur einen Tag lang hatten wir in dem Versteck verweilen können, das Boorschon für uns vorbereitet hatte. Immerhin hatte diese Zeit genügt, daß ich meinen Informationsstand hatte beträchtlich erhöhen können.

Der Planet hieß Jomon, seine Bewohner Jomoner, und seit ein paar Jahren war Jomon eine Stützpunktwelt der Ligriden, die die Bevölkerung gründlich ausplünderten. Mit Hilfe des Logiksektors und des fotografischen Gedächtnisses war es mir nicht schwergefallen, die Sprache der Jomoner zu erlernen.

Die Jomoner, die uns befreit hatten, gehörten zu einer Gruppe von Widerstandskämpfern gegen die Ligridenherrschaft, die sich von uns Hilfe und Unterstützung erhofften. Zu dieser Gruppe gehörten auch zwei der Jomoner, die mit uns befreit worden waren – Gjoph und Plodar wurden sie genannt. Die anderen befreiten Gefangenen hatte man einfach laufen lassen, damit die Ligriden mit der Jagd auf sie ein wenig Beschäftigung hatten.

Der schwere Lastkarren, gezogen von einem Vierergespann geduldiger Echsen, rumpelte über die Straßen von Jompol, der wichtigsten Stadt des Planeten, früher einmal Sitz des planetaren Königs, der jetzt nicht mehr war als eine Marionette der Ligriden.

Aus dem, was Gjoph, Plodar und deren Freund Brasher mir erzählt hatten, war hervorgegangen, daß Jomon von einem ausgesprochen gerissenen Ligriden kommandiert wurde. Dieser Hellenker war zweifelsfrei ein raffinierter Bursche mit einem gut entwickelten Gespür dafür, was die Ligriden den Jomonern zumuten konnten. Seine Taktik – Zuckerbrot und Peitsche – hatte den Widerstand der Jomoner gar nicht erst gefährlich werden lassen, zumal die Jomoner auf diesem Planeten über eine mittelalterlich anmutende Zivilisation und Technologie nicht hinausgekommen waren.

Daraufhin hatte ich meine Erlebnisse im Ring der Hybris für mich behalten – zum einen hätten die Jomoner mangels passender Begriffe in ihrer Sprache kaum verstanden, was ich ihnen erzählte, zum anderen hätte es sie sicherlich traurig gestimmt, zu erfahren, wie tief sie unter das technische Niveau ihrer Vorväter abgesackt waren.

Der Karren kam zum Stehen. Mein Extrahirn vermutete, daß wir die Tore der Stadt erreicht hatten.

Chipol bewegte sich ein wenig. Wir hockten zu zweit in dem Kasten, zusammengepfercht wie Dosenfische.

Wir konnten die schweren Schritte der jomonischen Wachen hören, die die Stadttore überwachten. Der pfiffige Hellenker hatte dafür gesorgt, daß alle häßlichen Seiten der ligridischen Herrschaft den Jomonern vorzugsweise von ihren eigenen Leuten vorgeführt wurden – es waren jomonische Wachposten, jomonische Tributeintreiber, jomonische Richter und Henker. Nur im äußersten Notfall zeigten sich die Ligriden selbst als Herren des Planeten.

»Wo wollt ihr hin mit dem Krempel?« hörte ich den Posten fragen.

»Weit nach Süden«, antwortete der Fahrer unseres Gespanns. »Dorthin, wo es noch Dumme gibt, die so etwas noch nicht kennen.«

Der Posten fiel in das boshafte Gelächter ein.

Die Ladung bestand in der Tat aus drittklassigen Waren, die allerdings in weiten Regionen Jomons Seltenheitswert hatten. Taue aus Plastikmaterial, die nicht faulten und rissen, wasserfeste Kleidung

und Schuhe, primitive Feuerzeuge, Messer und Äxte aus nichtrostendem, selbstschärfendem Stahl und dergleichen mehr – nichts davon konnte der Ligridenherrschaft bedrohlich werden.

Ich konnte hören, wie der Posten ein paar Mal um den Wagen herumging.

»Du kannst fahren«, sagte er schließlich. Mit einem Ruck setzte sich das Gespann in Bewegung.

Ich konnte hören, wie die Räder über das Holz der Zugbrücke holperten, dann war das Knirschen von Kies und Sand zu hören. Der gepflasterte Teil von Jompol hatte hier ein Ende.

Bis wir unser Versteck verlassen konnten, mußte noch einige Zeit vergehen – noch waren wir in Sichtweite der Wachen auf den Mauern der Stadt.

In Jompol war erstaunlich wenig nach uns gefahndet worden, und das wollte mir gar nicht gefallen.

Chipol bewegte sich wieder. Er war sehr schweigsam geworden nach unserem Zusammentreffen mit seinem Vater. Von Dharys fehlte nach wie vor jede Spur – wie er es fertiggebracht hatte, in Jompol als Daila unterzutauchen, war sein Geheimnis, auch was er sich davon versprach.

Meine Absicht war, erst einmal zur Ruhe zu kommen, dann wollte ich mir ein Funkgerät besorgen und Kontakt zur STERNSCHNUPPE aufnehmen, damit uns das Schiff auf Jomon abholen konnte.

»Werden wir den Jomonern helfen?« fragte Chipol leise.

»Ja – und zwar indem wir ihnen sagen, die Finger von den Ligriden zu lassen«, antwortete ich.

»Du willst sie einfach ihrem Schicksal überlassen?«

Chipols Frage war durchaus berechtigt.

Natürlich hatten die Jomoner unter den Ligriden zu leiden, selbst wenn ein geschickter Taktiker wie Hellenker diese Unterdrückung recht glimpflich ausfallen ließ.

Aber Widerstand gegen die Macht der Ligriden war völlig sinnlos – die Jomoner besaßen nicht nur keine technischen Hilfsmittel, sie besaßen nicht einmal die Kenntnisse, die sie gebraucht hätten, um diese Technologie auch nur bedienen zu können. Ich hatte es bei unseren Befreiern sehen können – die meisten hielten ihre modernen Waffen wie eine besondere Form von Keulen.

Auf Jomon einen Widerstand gegen die Ligriden in Szene setzen zu wollen, der diesen Namen verdiente, hätte nicht nur technische Möglichkeiten erfordert, die ich nicht hatte – es hätte in jedem Fall Jahre gekostet. Die Jomoner brauchten Waffen, vor allem auch Defensivwaffen, sie brauchten Schulung und Unterweisung – und dafür hatten wir weder Mittel noch Zeit.

»Wenn wir es schaffen, mit der Hilfe von Verbündeten, dem Neuen Konzil einen Schlag zu versetzen, werden die Ligriden Jomon eher räumen«, gab ich Chipol zu bedenken.

»Und wo sollen diese Verbündeten herkommen?«

Ich ging auf Chipols Frage nicht ein.

»He, ihr da unten, ihr könnt jetzt herauskommen!«

Ich griff nach oben und öffnete die Klappe. Dann krochen wir vorsichtig aus unserem Versteck heraus. Im Laderaum des Gespanns klapperte und schepperte es ununterbrochen, und es war schwierig, sich auf den Beinen zu halten. Der Weg war lausig schlecht, und so etwas wie Gummireifen oder Stoßdämpfer gab es bei den Jomonern nicht.

»Bleibt im Innern. Man darf euch draußen nicht sehen.«

Chipol suchte sich einen Sitzplatz, während ich nach einem Loch in der Plane Ausschau hielt, durch das ich einen Blick auf die Landschaft werfen konnte.

Boorschon kam zu uns in den Innenraum geklettert.

»Endlich haben wir Zeit, miteinander zu reden«, sagte er freundlich.

Er sah mich eindringlich an, dann sah ich, daß er verwundert zwinkerte, als habe er eine für ihn überraschende Entdeckung gemacht.

»Wo wollt ihr uns hinbringen?« wollte ich wissen.

»Zu Fürst Rorque de Gorm«, antwortete Boorschon. »Er zeigt es zwar nicht, aber er steht auf unserer Seite. Er hilft uns mit Nahrungsmitteln, Kleidern und sorgt für Verstecke, in denen die Ligriden unsere Leute nicht finden können. Wir haben beschlossen, daß er der neue Herrscher von Jomon sein wird, wenn wir die Ligriden vertreiben.«

»Stellt ihr euch das nicht ein wenig zu einfach vor?«

Boorschon wiegte den Kopf. Irgend etwas an diesem Jomoner behagte mir nicht, ich hatte nur noch nicht herausgefunden was.

»Wir werden mit gezielten Aktionen die Ligriden verwirren«, verkündete er.

»Wer ist wir?«

»Unsere Widerstandsbewegung, das Schwert von Jomon.«

Unwillkürlich dachte ich an meine Beute aus dem Ring der Hybris aber ich erwähnte sie nicht. Ich warf einen Blick auf Chipol. Er schien gelangweilt vor sich hin zu starren, aber mir entging nicht, daß er sehr aufmerksam zuhörte.

»Und wie sollen diese gezielten Aktionen aussehen?«

Boorschon grinste breit.

»Wir haben unsere Verbindungen«, behauptete er. »Wir werden die technischen Einrichtungen des Stützpunkts gezielt angreifen und funktionsunfähig machen.«

»Die Ligriden werden sich das nicht so ohne weiteres gefallen lassen«, gab ich zu bedenken.

Wieder wiegte Boorschon den Kopf.

Langsam dämmerte mir, was mich an dem Jomoner störte.

Da war zum einen die lebensverachtende Strategie, die er anscheinend verfolgte – die Ligriden würden sich solche »Aktionen« nicht einfach gefallen lassen, und ihre Antwort würde höchstwahrscheinlich Unschuldige treffen. Boorschon schien das nichts auszumachen.

Das andere war die befremdliche Selbstverständlichkeit, in der Boorschon Begriffe gebrauchte, die vor ein paar Jahren auf Jomon noch niemand gekannt hatte.

Ich konnte aus den Augenwinkeln heraus sehen, daß auch Chipol seine Aufmerksamkeit zur Gänze auf Boorschon gerichtet hatte.

Ein dritter Umstand – an den Anblick von Ligriden waren einige Jomoner gewöhnt. Aber Chipol sah nicht aus wie ein Ligride und ich ebenfalls nicht.

Ich hatte mich lange genug im Weltraum herumgetrieben, um zu wissen, daß fast alle Lebewesen Anfangsschwierigkeiten hatten, wenn es darum ging, sich an völlig fremde, exotische oder gar abstoßend aussehende Fremdweltbewohner zu gewöhnen – eine gewisse Befangenheit und Zurückhaltung war selbst bei erfahrenen Raumfahrern am Anfang nahezu unvermeidlich.

Boorschon zeigte nichts davon – er redete mit uns, als sei das völlig normal und alltäglich.

Ich beschloß, einen Schlag auf den Busch zu führen.

»Du bist kein normaler Jomoner«, sagte ich unvermittelt. Boorschon sah auf und grinste dann.

»Gut beobachtet«, antwortete er. »Die Jomoner nennen uns Magier und haben ziemlich viel Respekt vor uns.«

»Uns?«

»Wir sind vier – ich, Baarschach, Beerscher und Biirlyn.«

Ich runzelte die Brauen.

»Was seid ihr wirklich?«

Boorschon machte eine Kopfbewegung auf Chipol zu.

»Daila?«

Er machte eine Geste der Zustimmung.

»Richtig«, sagte er. »Wir kommen von Aklard.«

»Ihr seht nicht aus wie Daila«, warf Chipol ein.

»Natürlich nicht«, antwortete Boorschon. »Wir würden hier ja sofort auffallen. Wir sind für Daila-Verhältnisse alle vier ziemlich kurz ausgefallen, das macht es uns möglich, unter den kleinwüchsigen Jomonern zu leben. Und das hier« – er bewegte Arme und Beine – »sind positronisch gesteuerte Prothesen, die mit lebender Masse verkleidet worden sind. Natürlich müssen wir aufpassen – mit zwei Armen können wir nichts fühlen, auch keinen Schmerz. Es würde auffallen, wenn wir uns an einer dieser Hände beispielsweise verletzten, ohne zusammenzuzucken. Alles Übungssache.«

»Wie sieht es auf Aklard aus?« wollte Chipol sofort wissen.

»Prächtig«, beteuerte Boorschon. »Die beiden Gruppen der Daila beginnen allmählich zusammenzuarbeiten. Das geht nicht ohne Schwierigkeiten ab, nach all den Feindseligkeiten der Vergangenheit, aber es klappt immer besser. Wir haben uns zusammengetan, um mit aller Kraft gegen das Neue Konzil zu arbeiten – unter anderem hier auf Jomon. Wir werden den Ligriden eine Niederlage nach der anderen bereiten, bis wir sie erledigt haben.«

Ich blieb äußerlich ruhig. Die Sprache Boorschons gefiel mir gar nicht. Erledigt haben…, das hätte der Ligride Halphar sagen können. Zur Mentalität eines Daila paßte es nicht. Auch Chipol schien das zu spüren, ich sah es ihm an.

»Wir haben entsprechendes Material mitgebracht«, fuhr Boorschon fort. »Damit werden wir den Ligridenstützpunkt in die Luft jagen.«

»Sprengen?«

Boorschon nickte.

»Von innen heraus. Wir werden die Ladung hineinschmuggeln und dann fernzünden, wenn die Ligriden wieder einmal das große Schirmfeld aufgebaut haben.«

Boorschon grinste mich an.

»Eine wirkungsvolle Taktik, nicht wahr?«

Aus seinem Blickwinkel mochte das stimmen. Mir war klar, daß er nicht von herkömmlichen Sprengstoffen redete, sondern von einer atomaren Ladung. Deren Wirkung mußte sich vervielfachen, wenn Druck, Hitze und Strahlung sich nicht in die Landschaft hinein ausbreiten konnten, sondern von dem Schirmfeld zurückgeworfen wurden.

Ich wußte auch, daß die Ligriden – vermutlich genau aus diesen Überlegungen heraus – den größten Teil der Stationen des Stützpunkts in der Nähe der Hauptstadt Jompol errichtet hatte, teilweise sogar im Stadtgebiet selbst. Das große Schirmfeld hüllte also nicht nur den Stützpunkt, sondern auch Jompol ein.

Was Boorschon als wirkungsvolle Taktik anbot, war in Wirklichkeit kaltblütiger Mord an Tausenden von ahnungslosen Bewohnern von Jompol – je nach Größe und Stärke der Ladung würde von der Stadt und den darin lebenden Geschöpfen nichts mehr übrigbleiben.

Ich sah, wie Chipol die Stirn furchte. Der junge Daila hatte sehr viel Besonnenheit entwickelt, seit ich ihn kennengelernt hatte. Früher hätte er seine Bedenken herausgeplatzt, jetzt hielt er sich zurück.

»Wirkungsvoll, das stimmt«, antwortete ich. »Aber es dürfte auch andere Methoden geben, den Ligriden Ärger zu bereiten.«

»Wenn du eine kennst, laß sie mich wissen«, meinte Boorschon.

Ich wechselte einen raschen, unbeobachteten Blick mit Chipol. Der Junge mißtraute seinen maskierten Landsleuten ebenso wie ich.

»Du weißt, daß Dharys sein Vater ist«, gab ich zu bedenken. »Die Aktion kann also erst starten, wenn er gefunden und in Sicherheit gebracht worden ist.«

Einen Augenblick lang war in Boorschons Gesicht Verwunderung zu lesen, dann nickte er schnell.

»Selbstverständlich«, beteuerte er.

Diese als Jomoner verkleideten Daila waren völlig untypisch. Daß Boorschon nicht gewillt war, bei seinem mörderischen Anschlag Rücksicht auf Chipols Vater zu nehmen, lag auf der Hand – aber was mich wirklich entsetzte, war die Tatsache, daß Boorschon offensichtlich eine solche Überlegung weder angestellt hatte noch begreifen konnte. Und das bei einem Daila, deren Sippenzugehörigkeitsgefühl besonders stark ausgeprägt war.

Von einem schnellen Verschwinden von Jomon konnte jetzt keine Rede mehr sein – mir war klar, daß ich alles daransetzen mußte, diesen Anschlag zu verhindern. Nicht nur, weil Boorschons Plan ein Verbrechen an den Bewohnern von Jompol war – an Jomonern und Ligriden – sondern auch, weil die Ligriden einen solchen Anschlag nicht ohne Antwort lassen würden. Die Ligriden waren selbstbewußt bis zur Arroganz; die Demütigung eines solchen Schlages würden sie bestimmt nicht ungerächt lassen – und diese Rache würde noch mehr Opfer kosten.

Aber es war für mich auch noch eine zweite Frage aufgetaucht.

Ich wollte herausfinden, wer solche Scheußlichkeiten von langer Hand plante und in Szene setzte. Dieses niederträchtige Attentat war gewiß nicht bei Boorschon und seinen Freunden ausgebrütet worden – jemand steckte dahinter, und ich wollte wissen wer.

»Wir können in Ruhe darüber sprechen, wenn wir am Ziel angekommen sind«, meinte Boorschon. »Ich werde mich jetzt wieder um das Gespann kümmern.«

Er verließ uns und kehrte zurück zu seinem Platz auf dem Kutschbock. Ich sah Chipol an. Der junge Daila hatte die Lippen aufeinandergepreßt. Offenkundig machte er sich Sorgen um seinen Vater, jetzt mehr als je zuvor.

*

Wir brauchten fünf Tage, bis wir Burg Gorm erreichten – und selbst das war nach jomonischen Verhältnissen ein Geschwindigkeitsrekord. Er wurde dadurch möglich, daß der Fürst von Gorm zusammen mit anderen einen Kurierdienst unterhielt, den wir ausnutzen konnten. Die schnellsten Reitechsen standen uns zur Verfügung, und wir selbst schonten uns so wenig wie die Tiere – es war eine ausgemachte Strapaze, aber immer noch leichter zu ertragen als eine enge Kerkerzelle.

Den größten Teil unserer Begleiter hatten wir unterwegs zurückgelassen. Auf geheimen Wegen sollten sie nach Jompol zurückkehren und dort auf weitere Befehle warten. Bei uns geblieben waren Boorschon und die früheren Mitgefangenen – Gjoph und Plodar, sowie deren Freund Brasher.

Gjoph und Plodar zeigten sich uns gegenüber ziemlich zurückhaltend und respektvoll. Brasher

hingegen warf immer wieder mißtrauische Blicke auf uns. Von diesen dreien war er mit Abstand der intelligenteste. Boorschon verkehrte mit uns auf gleichem Fuß – und es war deutlich zu erkennen, daß er große Mühe hatte, seine Geringschätzung der Jomoner nicht allzu deutlich werden zu lassen.

Über den Anschlag und Dharys war nicht mehr geredet worden, seit wir den Lastkarren verlassen hatten und auf die Echsen umgestiegen waren.

Es war später Abend, als wir die Burg erreichten. Für jomonische Verhältnisse war es ein beeindruckendes Bauwerk, eine wirkliche Festung. Die Ligriden hätten allerdings nur ein paar Augenblicke gebraucht, um diese Burg zu stürmen.

Völlig erschöpft vom langen Ritt stiegen wir aus den Sätteln. Diener des Fürsten nahmen uns in Empfang. Offenbar hatte man uns schon von weitem kommen sehen – es waren heiße Bäder für uns eingelassen worden, und eine Mahlzeit wurde vorbereitet.

Die Badewanne war natürlich viel zu klein für mich, aber das änderte wenig an dem Genuß, sich den Staub der Straße vom Körper spülen zu können. Ich badete ausgiebig – danach war es allerdings ein wenig unangenehm, wieder in die alten Kleider schlüpfen zu müssen. Das Material war zwar hochwertig, aber nach etlichen Tagen begann es doch ein wenig unangenehm zu riechen – schon allein aus diesem Grund hoffte ich auf einen baldigen Kontakt mit der STERNSCHNUPPE.

Doch damit würde es vorerst nichts werden.

Diener nahmen uns erneut in ihre Obhut und geleiteten uns durch die Räume der Burg in einen großen Audienzsaal – und dort wartete eine unangenehme Überraschung auf uns.

Auf zwei Ehrenplätzen neben dem Fürsten von Gorm saßen zwei Ligriden – und in ihren Händen hielten sie Waffen, die auf mich gerichtet waren.

6.Brasher preßte die Lippen aufeinander und ballte verstohlen die Fäuste. Er wußte, daß er in der Falle saß.

Er kannte die beiden Ligriden – es waren dieselben, die ihn zusammen mit Plodar und Gjoph nach Jompol gebracht hatten. Ihnen hatte es Brasher zu verdanken, daß er von den Ligriden als Bombenattentäter gesucht wurde. Brasher und seine Freunde waren die einzigen Zeugen, die die Verbindung zwischen dem Anschlag auf Hellenker und den Zwillingen aufdecken konnten.

Seltsamerweise schienen die Ligriden ihn gar nicht zu beachten. Ihre Aufmerksamkeit schien einzig dem Mann zu gelten, der zusammen mit Gjoph und Plodar aus der Haft befreit worden war und mit seinen zwei Armen und Beinen und dem fahlen Bewuchs auf seinem verkümmerten Schädel fast schon häßlich aussah.

»Nun können wir doch miteinander reden«, meinte einer der beiden Ligriden. »Ich bin Drasthor, dies ist mein Bruder Drastim.«

»Nenne mich Gonozal«, antwortete der Fremde, von dem Brasher längst wußte, daß er in Wirklichkeit Atlan hieß.

»Gonozal? Ich dachte, du würdest Atlan genannt.«

»Wer sagt das?«

»Wir haben entsprechende Informationen – hauptsächlich von einem unserer Freunde. Du kennst ihn vielleicht, er wird Halphar genannt, und er brennt darauf, dich wiederzusehen.«

»Und wo soll dieses Wiedersehen stattfinden?«

»Hier auf Jomon. Wir wollten uns nur vergewissern, daß du auch wirklich der Gesuchte bist. Noch heute werden wir ihm einen Funkspruch übermitteln, und in ein paar Tagen wird Halphar mit einer Flotte hier auftauchen und dich in Empfang nehmen.«

»Euer Kommandeur«, antwortete Atlan gelassen – jedenfalls hörte es sich für Brasher so an – »wird nicht sehr erfreut sein über Halphars Auftauchen auf seinem Kommandogebiet.«

Der Ligride verzog das Gesicht zu einer Miene, die vermutlich eine boshafte Heiterkeit ausdrücken sollte.

»Laß das unsere Sorge sein«, gab der Ligride zurück.

Brasher versuchte sich die Dinge zusammenzureimen. Es war ihm ein Rätsel gewesen, wie Boorschon und seine Freunde es fertiggebracht hatten, in das Gefängnis einzudringen. Nun wußte er es – die beiden Ligriden hatten dabei geholfen. Und deren Bemerkung über Hellenker ließ nur einen Schluß zu, daß die Ligriden ihren Kommandeur nach wie vor auszuschalten gedachten – vermutlich mit Hilfe von Boorschon. Ein widerlicher Handel, und Brasher wurde den schlimmen Verdacht nicht los, daß es die normalen Jomoner sein würden, die letztlich für diesen hinterhältigen Plan würden büßen müssen.

Aufmerksam betrachtete Brasher Atlan, der in seiner Nähe stand. Deutlich war für Brasher zu spüren, daß Atlan sich vor den Ligriden nicht fürchtete – obwohl sie Waffen auf ihn gerichtet hielten.

Brasher überlegte sich, daß er in dieser Lage wenig unternehmen konnte. Er mußte auch seine eigene Haut retten. Noch schienen ihn die Ligriden nicht bemerkt zu haben – möglich war auch, daß für die Ligriden alle Jomoner gleich aussahen und Brasher deshalb nicht beachteten.

Brasher zog sich langsam zurück. Die Aufmerksamkeit aller war auf den Dialog zwischen Atlan und dem Ligriden gerichtet, und das wollte Brasher ausnutzen.

Er schaffte es, völlig unbemerkt den Raum verlassen zu können.

Auf dem Gang angekommen, atmete er erst einmal tief durch. Er hatte gehofft, nach den Abenteuern der letzten Zeit zurückkehren zu können in sein Tal und dort zu leben, mit Syvea oder ohne sie – aber nun sah es so aus, als zögen sich neue Gewitterwolken über den Köpfen der Beteiligten zusammen.

Einige Minuten lang wanderte Brasher ziellos durch die Burg und sann darüber nach, was er nun unternehmen konnte, um das Schlimmste zu verhindern. Dann kam ihm ein Gedanke.

Er mußte mit Syvea reden. Sie hielt sich seit Wochen in der Burg auf, vielleicht wußte sie mehr über die Verbindung von Rorque de Gorm zu den Ligriden.

Es war in Burg Gorm ziemlich leicht festzustellen, wer zu den Herrschaften gehörte und wer nicht. Die Gäste bewegten sich langsam und angemessen, die Dienerschaft hatte zu traben – wenigstens solange sie in, Sichtweite war.

Brasher hielt einen der Diener an.

»Ich suche das Mädchen, daß Gavran vor einigen Wochen hierher gebracht hat«, sagte Brasher.

Brashers Kleidung wies ihn noch immer als einen Bewohner des weit entfernten Gebirgstals aus, und entsprechend hochnäsig fiel die Antwort des Dieners aus. Immerhin, er gab Brasher wenigstens die gewünschte Auskunft.

Brasher hatte es schwer, Syvea zu finden. Häuser in dieser Größe kannte er kaum, und die Burg war alt und reichlich verwinkelt.

Aber schließlich fand Brasher, was er suchte.

Rorque de Gorm schien ein Mann zu sein, der zu Großzügigkeit fähig war. Syvea war in einem Flügel der Burg untergebracht worden, der weiträumig gestaltet worden war. Brasher fand sie in einem hochgewölbten, lichtdurchfluteten Zimmer, umgeben von kostbaren Möbeln, und mit einer Tätigkeit beschäftigt, die Brasher ein wenig sorgenvoll stimmte. Syvea schien zu lesen, langsam und sehr mühsam offensichtlich, aber sie las.

Brasher hatte diese Künste nie erlernt. Daß Syvea dazu imstande war, erfüllte ihn mit Hochachtung, aber auch mit Furcht, der ohnehin vorhandene Abstand könnte sich noch weiter vergrößern.

Brasher hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. Syvea hob den Kopf, und der freudig überraschte Blick, mit dem sie Brasher entgegensah, ließ dessen Puls schneller gehen.

»Brasher«, rief Syvea. Sie ließ das Buch fallen, rannte auf ihn zu. Im ersten Augenblick wollte sie ihn umarmen, aber dann, als sie ihn erreicht hatte, sanken ihre Arme herab.

»Du kommst, um mich abzuholen?« fragte sie.

»Das würde ich gern«, antwortete Brasher. »Du weißt das.«

Syvea nickte langsam.

»Und du weißt, daß es nicht geht – ich bin Plodar versprochen, und ich werde die Zusage meines Vaters halten.«

Brasher nickte.

»Wie bist du behandelt worden?« fragte er. »Hat der Fürst…«

Syvea lächelte zurückhaltend.

»Er hat zur Zeit noch eine andere Freundin«, sagte sie leise. »Um mich wollte er sich erst später kümmern. Du brauchst nicht so finster zu gucken, Brasher. Rorque de Gorm hat zwar viele Geliebte, aber er ist auf diesem Gebiet kein Mann der rohen Gewalt. Normalerweise erreicht er sein Ziel mit anderen Mitteln.«

Brasher stieß einen Seufzer aus. Auf der einen Seite freute er sich, auf der anderen Seite kehrte Syvea – Rorque de Gorm hatte es versprochen – ins Tal zurück, ohne daß auf ihren guten’ Ruf auch nur ein Schatten fiel. So oder so – für Brasher war sie nicht erreichbar.

»Ich möchte etwas wissen«, sagte Brasher. »Diese beiden Ligriden – sind sie Freunde des Fürsten?«

»Es scheint so«, antwortete Syvea. »Er ist sehr freundlich mit ihnen, aber wenn sie ihn verlassen… ich habe keine Beweise dafür, aber ich bin sicher, daß er sie tief im Innersten haßt. Du solltest seine Augen sehen, wenn er die Ligriden verabschiedet.«

Brasher nickte langsam.

Rorque de Gorm war ein Feind der Ligriden. Galt das auch für Boorschon und dessen Freunde?

Brasher vertraute auf seinen Instinkt. Der sagte ihm klar und deutlich, daß er Boorschon nicht trauen durfte. Mehr noch, Brasher hatte den absonderlichen Verdacht, als versuchten Boorschon und dessen Kumpane sowohl ihre Landsleute als auch die. Ligriden und Atlan zu hintergehen. Welchem Zweck diese Manöver dienen sollten, war Brasher allerdings nicht klar. Hinter alldem steckte ein Geheimnis, von dem Brasher noch nicht einmal einen Zipfel zu fassen bekommen hatte.

»Wie geht es dir und den anderen?« fragte Syvea.

Brasher leckte sich die Lippen. Was sollte er Syvea sagen? Daß Gjoph damit zufrieden war, daß Gavran seine Strafe gefunden hatte und Syvea ins Tal zurückkehrte? Daß Plodar sie liebte, aber auf seine ganz besondere, schwerfällige, kaum durchschaubare Art und Weise.

»Ganz gut«, log Brasher, obwohl ihm ganz anders zumute war.

»Und was wird nun werden?«

Brasher zuckte mit den Schultern.

»Wir müssen abwarten«, sagte er resignierend. »Irgendjemand anderer muß etwas unternehmen, wir sind dazu nicht imstande.«

»Und wer?«

Brasher hatte darauf nur eine Antwort.

»Atlan und sein Freund. Ich werde zu ihnen gehen.«

*

Langsam wurde für mich die Lage übersichtlicher.

Auf Jomon gab es insgesamt fünf verschiedene Parteien, die miteinander um die Macht auf dem Planeten kämpften.

Da waren die jomonischen Kämpfer wie Rorque de Gorm, wahrscheinlich auch Brasher und seine Freunde, die den Planeten wieder den Jomonern zurückgeben wollten.

Da war Hellenker mit seinen Ligriden, der diese Welt auszuplündern gedachte.

Der dritte Faktor waren die Zwillinge, die zwar eine ligridische Kontrolle des Planeten wollten, aber unter ihrer eigenen Aufsicht. Um Hellenker aus dem Weg räumen zu können, schreckten sie allem Anschein nach vor keinem Bündnis zurück.

Da waren die angeblichen Daila Boorschon, Baarschach und die beiden anderen, deren genaue Absichten mir immer noch ein Rätsel waren. Klar war nur, daß sie weder die Interessen der Ligriden noch die der Jomoner vertraten- und meine Zweifel, daß sie wirklich für die Daila arbeiteten, wurden von Stunde zu Stunde größer.

Als fünfte Partei konnte ich wohl Chipol und mich selbst ansehen, wobei die Rolle von Chipols Vater ausgespart blieb.

Und wer wollte, konnte als sechste Partei noch all die Jomoner bezeichnen, die von dem Drama überhaupt nichts mitbekamen, das zwischen den anderen Gruppierungen ausgetragen wurde.

All dies ging mir durch den Kopf, während ich mit den Ligriden plauderte. Es war ein gespenstischer Dialog, bei dem mehr zwischen den Zeilen gesagt wurde als im eigentlichen Text.

Meinen allmählich klareren Blick auf die Verhältnisse verdankte ich vornehmlich dem Extrasinn, der den Wortwechsel auf Nebenbedeutung untersuchte und entsprechend interpretierte.

Während dieses Dialogs hatte sich der Fürst des Landes, Rorque de Gorm, kaum eingemischt, aber seine Augen hatten mir sehr viel von dem verraten, was er dachte.

Schließlich standen die Ligriden auf.

»Wir sollten morgen weiter darüber reden«, erklärte Drasthor freundlich. »Als Zeichen unseres Vertrauens in eine ersprießliche Zusammenarbeit möchte ich dir diese Waffe schenken.«

Er hielt mir einen Energiestrahler hin, und er wußte natürlich, daß ich längst gesehen hatte, daß in der Waffe das Magazin fehlte.

»Es würde unsere Verbundenheit vertiefen, würdest du uns dafür deine Waffe überlassen«, sagte Drastim höflich.

Ob ich an diesem Spiel teilnahm oder nicht – das Ergebnis war das nämliche. Mit einem freundlichen Lächeln übergab ich meine geladene Waffe an den Ligriden.

»Wenn du möchtest, kannst du dich jetzt in deine Gemächer zurückziehen«, gestattete Drasthor.

Es war Rorque de Gorms Burg, er war der Hausherr, aber die Ligriden taten so, als hätten sie zu bestimmen. Ich sah verhaltenen Ärger in den Augen des Fürsten aufblitzen.

Ich verließ die Audienzhalle. Sobald sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, nahmen mich zwei ligridische Roboter in Empfang. Chipol, der zusammen mit mir den Raum verlassen hatte, bekam ebenfalls eine Roboterwache zugeteilt.

Folgsam marschierten wir hinter den Maschinen her, die uns zu den Unterkünften führten.

Neben den Robots gab es noch eine Wache aus Jomonern, die vor unserem Zimmer auf und ab marschierte – es sah nicht danach aus, als hätten wir eine Möglichkeit, dieser Überwachung zu entrinnen.

»Was willst du unternehmen?« fragte Chipol, sobald wir allein waren.

»Ich würde liebend gern wissen, welchen Plan die Zwillinge mit Boorschon ausgeheckt haben«, antwortete ich.

Es gab ein Geräusch am Fenster. Ich ging langsam hinüber und öffnete. An der Mauer hing ein Jomoner.

»Bleib, wo du bist, Brasher«, sagte ich leise.

Ein Plan schoß durch meinen Kopf. Ich wußte zwar nicht, mit welchem technischem Mittel uns die ligridischen Roboter überwachten, aber sie verwendeten mit Sicherheit irgendein Verfahren, daß ihnen verriet, wie viele Personen sich im Raum aufhielten – vielleicht eine Wärmemessung.

Verlassen konnte ich die Unterkunft daher nicht – wohl aber mit etwas Geschick meinen Platz mit dem von Brasher tauschen.

Flüsternd gab ich dem – Jomoner meine Instruktionen, und er ging sofort darauf ein. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann stand er im Zimmer, und ich hielt mich mit Zehen- und Fingerspitzen an der Außenmauer fest.

»Hast du Boorschon sehen können?« fragte ich Brasher wispernd.

Er machte eine Geste der Zustimmung.

»Wo kann ich ihn finden?«

»In der Nähe der Stallungen«, gab Brasher zurück.

»Ich werde mich beeilen«, versprach ich und gab das vereinbarte Zeichen. Brasher schloß das Fenster, und ich machte mich an den Abstieg.

Es war eine wolkenverhangene Nacht, ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Das spärliche Licht, das aus einigen Fenstern fiel, half mir bei der Kletterei nur wenig.

Wieder einmal kam mir das Extrahirn zu Hilfe.

Das fotografische Gedächtnis hatte sich das Aussehen dieser Mauer genau eingeprägt, der Logiksektor stellte die Berechnungen an und sagte mir, wo ich Halt für Hände oder Füße finden konnte.

Ich hatte Kletterpartien dieser Art schon früher absolvieren müssen und wußte daher aus Erfahrung, daß ich mich auf die Angaben des Extrahirns verlassen konnte.

Dennoch erlaubte ich mir einen leisen Seufzer, als ich nach dem anstrengenden Klettern endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Geräuschlos bewegte ich mich über den Burghof.

Die Stallungen waren leicht zu finden, auch ohne Extrahirn. Der scharfe Geruch, der mir aus den Echsenstallungen entgegenwehte, verriet das Ziel eindeutig.

Ich suchte mir einen Platz, der selbst bei Sonnenschein nur schwer einsehbar gewesen wäre, und wartete.

Meine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt. Jemand näherte sich den Stallungen, den Schrittgeräuschen nach zu schließen, ein Jomoner – die vier Füße machten andere Laute als die zwei eines Ligriden.

»Hierher!«

Der Ruf des Jomoners galt einem Ligriden. Es war Drastim, der sich Boorschon näherte. Ich hatte mich vorsichtig aus meinem Versteck nach vorn gewagt, so daß ich die beiden sehen und hören konnte. Boorschon trug eine abgeblendete Laterne.

»Mach das Licht aus, Dummkopf«, stieß der Ligride hervor. »Niemand braucht zu wissen, daß wir uns treffen.«

Folgsam löschte Boorschon das Licht.

»Nun zu unserer Absprache«, fuhr der Ligride fort. »Du bist weiter bereit, uns zu helfen?«

»Wenn der Preis stimmt, gern«, antwortete Boorschon. »Wir sind nicht so verrückt wie andere, die euch Ligriden gerne los wären – und auch nicht so dumm, unseren Vorteil nicht zu sehen. Wenn es euch gelingt, auf Jomon die Macht zu übernehmen, werden wir auf eurer Seite sein.«

Der Ligride gab ein zufriedenes Schnauben von sich.

Ich an seiner Stelle hätte Boorschon kein Wort geglaubt, auch ohne Kenntnis seiner Aklard-Herkunft. Daß der Bursche log, war fast mit Händen zu greifen.

»Als erstes werden wir Hellenker ausschalten müssen«, sagte der Ligride. »Und es wäre nicht übel, wenn sein Tod durch Jomoner verursacht würde.«

»Das läßt sich ohne Schwierigkeiten arrangieren«, gab Boorschon zurück. »Welcher Fürst soll angeblich dahinterstecken?«

»Ein Fürst? Eine gute Idee. Wir nehmen Karq von Kuran, angeblich ein besonderer Vertrauter von Hellenker.«

»Die Attentäter werden ihn verraten, das ist versprochen. Wird einer meiner Brüder dann das Fürstentum übernehmen?«

»Nach unserem Vergeltungsschlag«, sagte der Ligride.

Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß er gar nicht daran dachte, sich für die Dienste erkenntlich zu zeigen, die Boorschon ihm so bereitwillig anbot.

Hätten nicht die Leben von Tausenden von Jomonern auf den Spiel gestanden, hätte ich den Wortwechsel zwischen den beiden amüsant finden können – zwei Betrüger, die einander übers Ohr zu hauen versuchten.

»Wann soll die Aktion stattfinden?« wollte Boorschon wissen.

»Morgen abend«, antwortete der Ligride sofort. »Hellenker ist uns auf der Spur, wir dürfen ihm keine Zeit lassen.«

Boorschon dachte ein paar Augenblicke lang nach.

»Es geht«, antwortete er schließlich. »Wir setzen für die Aktion einen genauen Zeitpunkt fest – aber vorher muß ich meine Leute noch nach Jompol schmuggeln können.«

»Dafür werden wir sorgen«, versprach der Ligride.

Damit war der Plan perfekt:

Die Ligriden wollten Boorschons Leute einlassen, damit sie Hellenker töteten und ihnen den Weg an die Macht bahnten. Boorschon würde mit den Attentätern den Sprengsatz einschleusen, der den Ligridenstützpunkt einschließlich der Zwillinge vernichten sollte.

»Und was ist mit Atlan und seinem Freund?« wollte Boorschon wissen.

»Den nehmen wir mit, wenn wir in den Stützpunkt zurückkehren«, antwortete der Ligride.

Boorschon zögerte. Warum? Was hatte der Daila für ein Interesse an mir? Aus humanitären Gründen war er bestimmt nicht daran interessiert, uns von der Explosion fernzuhalten.

»Es würde günstiger aussehen, wenn ihr ihn erst nachher stellt und einfangt«, sagte Boorschon zögernd. »Man könnte auch dafür sorgen, daß der Tod von Hellenker wie ein Freitod aussieht – weil Atlan ihm entwischt ist. Das würde auch weniger Aufsehen erregen. Eine Aktion gegen die Fürsten von Jomon läßt sich später auch aus anderen Gründen in Szene setzen.«

»Einverstanden«, sagte der Ligride nach kurzem Nachdenken.

Inzwischen war auch das Extrahirn mit seiner Analyse fertig – das Ergebnis war eindeutig.

Zu Beginn hatte Boorschon von Chipol und mir gesprochen, danach ging es ausschließlich um meine Person. Boorschon wollte mich aus dem Anschlag heraushalten, nicht Chipol.

Seine Auftraggeber waren an mir interessiert – und das Extrahirn wußte nun auch, wer dieser Auftraggeber war.

Der Erleuchtete…

7.Hellenker machte ein energisches Gesicht. An der Schuld der Zwillinge zweifelte er nicht länger; es war nur fraglich, wie man sie vor einem ordentlichen Militärgericht beweisen sollte.

Daß es zu einer solchen Gerichtsverhandlung kommen würde, war für Hellenker eine feststehende Tatsache. Mit keiner anderen Lösung würde er sich zufriedengeben.

Er hätte die Möglichkeit gehabt, den Zwillingen das Beweismaterial zu präsentieren, sobald es ausreichend erschien. Dann wären Drasthor und Drastim gezwungen gewesen, Selbstmord zu begehen – aber daran war Hellenker nicht gelegen.

Er wollte die Zwillinge nicht nur körperlich vernichten, er wollte sie auch gesellschaftlich zugrunde richten. Nötig dafür war einwandfreies Beweismaterial, nur dann konnte Hellenker die Zwillinge gefangennehmen und so sicher einsperren lassen, daß sie keine Möglichkeit fanden, durch Freitod der Schande des Prozesses zu entgehen.

Bislang reichten Hellenkers Beweise dafür nicht aus – er brauchte mehr.

»Wo sind die Zwillinge jetzt zu finden?« fragte er bei der Positronik an.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten – Drasthor und Drastim waren wieder einmal nach Burg Gorm geflogen. Hellenker ließ sich die Daten des regierenden Fürsten geben.

Rorque de Gorm war ein sehr loyaler Untertan der Ligriden – das sagten die Daten aus. Es gab nicht den geringsten Verstoß, keine Beschwerden und Klagen, und bei den Tributlieferungen hatte sich Rorque de Gorm stets größter Zuverlässigkeit befleißigt.

Über das Gesicht des Ligriden flog ein Lächeln.

»Ein Täuschungsmanöver«, murmelte er.

Hellenker war kein Narr. Er war sich darüber klar, daß die Herrschaft der Ligriden über Jomon eine Diktatur war, auch wenn sie durch seine Führungsmethoden gemildert und verschleiert wurden. Hellenker war auch intelligent genug, die Intelligenz der Jomoner nicht zu unterschätzen. Daß die Unterworfenen ab und zu wider den Stachel lockten, gehörte einfach zum Geschäft. Es kam darauf an, solche Aktionen wirkungslos und überschaubar zu halten, und das war Hellenker gelungen.

Die Tricks, mit denen die Jomoner, allen voran ihre Fürsten, die Ligriden hereinzulegen oder zu schädigen versuchten, gingen in die Hunderte – verfälschte Waren, falsche Gewichte, Lieferungsverzögerung waren nur ein paar der Sabotagepraktiken, an die sich Hellenker längst gewöhnt hatte.

Nach dieser Erfahrung war sich der Ligride sicher – ein so braver und folgsamer Fürst der Jomoner spielte ein doppeltes Spiel. Hellenker hätte an Gorms Stelle wenigstens ein paar Minuspunkte zu sammeln versucht, um nicht aufzufallen. Rorque de Gorm hatte das versäumt.

»Hm«, machte Hellenker.

Die Frage war nun, ob der Fürst mit den Zwillingen zusammenarbeitete oder nicht.

Hellenker kam zu der Schlußfolgerung, daß Rorque de Gorm kein Mitverschwörer der Zwillinge war – vermutlich nutzte er den brennenden Ehrgeiz dieser beiden für seine Zwecke aus.

Hellenker ließ sich mit der nächsten Mannschaftsstation verbinden.

»Eine Patrouille soll sich die Burg des Fürsten Rorque de Gorm einmal sehr genau ansehen«, befahl Hellenker. »Sehr genau – ich bin sicher, daß dort etwas gegen uns geplant wird.«

Der diensttuende Offizier machte ein verwundertes Gesicht.

»Aber…«, stotterte er verwirrt. »Soweit ich weiß, sind die Offiziere Drasthor und Drastim dort des

öfteren zu Besuch.«

»Eben deswegen«, gab Hellenker zurück und trennte die Verbindung. Mit seiner Maßnahme konnte er zwei Treffer zugleich landen – zum einen Rorque de Gorm überprüfen und zum anderen den Zwillingen einen kleinen Schrecken einjagen.

Der Interkom meldete sich. Hellenker stellte die Verbindung her.

»Einer der entflohenen Gefangenen steht vor dem Haus«, berichtete einer seiner Burschen. »Er will dich sprechen.«

Hellenker furchte die Stirn.

»Ist er bewaffnet?«

»Nein, und er ist auch nicht gefangen. Er sagt, er wäre freiwillig gekommen.«

Das klang sehr verwunderlich. Gefangener der Ligriden zu sein, war für kein Lebewesen angenehm – und wer begab sich schon aus freien Stücken in eine solche Haft zurück.

»Festnehmen und vorführen«, bestimmte Hellenker energisch. Er schaltete den Interkom aus und setzte sich.

Hellenker vermutete, daß der Gefangene ein Geschäft machen wollte – wenn er nicht geisteskrank war. Aber was konnte das für ein Geschäft sein?

Zwei Wachen erschienen. Sie hatten den Gefangenen – es war einer der beiden Daila – in die Mitte genommen.

»Du wolltest mich sprechen?«

Der Daila machte eine Geste der Bejahung.

»Allein«, sagte er. »Die Sache ist zu wichtig.«

Ein kurzer Blickkontakt mit den Wachen bestätigte, daß der Gefangene gründlich auf Waffen untersucht worden war.

»Setzt ihn dorthin«, bestimmte Hellenker und deutete auf einen Sessel. Das Möbel war nahe genug, um eine gute Unterhaltung führen zu können, zugleich aber auch weit genug entfernt, um Hellenker Zeit zu geben, bei einem selbstmörderischen Angriff schnell genug seine Waffe zu ziehen und zu schießen. »Danach könnt ihr gehen.«

»Nun?« fragte Hellenker, sobald die Wachen aus dem Raum verschwunden waren.

»Ich heiße Dharys«, stellte sich der Daila vor. »Ich bin einer der Verbannten.«

Hellenker nickte, er hatte verstanden. Sein Gegenüber verfügte über irgendwelche Psi-Kräfte und war deshalb von seinem Volk verstoßen worden.

»Meine Begabung ist Telepathie, sie ist allerdings nur sehr schwach ausgeprägt«, fuhr Dharys fort.

»Wir haben keinen Bedarf an Telepathen«, sagte Hellenker schroff.

»Es wäre mitunter von Nutzen, einen Telepathen zu haben«, gab der Daila zurück. Er machte einen erstaunlich selbstbewußten Eindruck, wenn man seine Lage bedachte.

»Ich höre.«

»Ich bin vor einigen Tagen befreit worden«, erklärte Dharys. »Es waren angeblich Jomoner, die mich aus deinem Gefängnis holten.«

»Angeblich?«

»In Wirklichkeit, das konnte ich den Gedanken meiner Befreier entnehmen, handelte es sich um Daila – wenigstens bei den Köpfen der Gruppe. Der Anführer war ein Daila in der Gestalt eines

Jomoners. Mit modernen Mitteln ist es durchaus möglich, einen kleinwüchsigen Daila äußerlich in einen recht großen Jomoner zu verwandeln.«

Jetzt war der Ligride neugierig geworden. Er beugte sich ein wenig vor.

»Und? Du sagtest angeblich!«»Es sind keine wirklichen Daila«, sagte Dharys. Er schien nach Begriffen und Worten zu suchen. »Die Grundstruktur ihres Wesens entspricht der eines Daila, aber der Kern davon… ich kann es nicht besser ausdrücken. Es sind keine richtigen Daila.«

»Ist das alles?«

Dharys holte tief Luft.

»Ich habe einen Verdacht«, sagte er dann offen. Hellenker hatte ein fast telepathisch anmutendes Gespür dafür, ob sein jeweiliges Gegenüber die Wahrheit sagte oder log. Dieser Daila war bereit, eine Menge auszusagen, aber natürlich nicht alles. Hellenker konnte spüren, daß er der Wahrheit so nahe wie möglich kommen wollte.

»Ich glaube, daß mein Befreier – er hat übrigens drei artverwandte Freunde oder Geschwister auf Jomon – in Diensten einer Macht steht, die gegen das Konzil arbeitet.«

Hellenker verzog das Gesicht zu einem Grinsen.

»Ein recht naheliegender Verdacht, wenn sie meine Gefangenen befreien.«

Wider Willen mußte auch Dharys lächeln.

»Ich glaube, daß sie für den Erleuchteten arbeiten.«

Dharys legte eine kleine Pause ein. Er wollte wohl abwarten, welchen Eindruck seine Worte auf Hellenker machten. Der Ligride verzog keine Miene.

»Und?«

Dharys berichtete, was er über den Erleuchteten wüßte. Einen Teil dieser Informationen kannte Hellenker bereits, anderes war ihm neu. Hellenker erkannte aus dem Bericht des Daila vor allem, daß Dharys sich wirklich um Ehrlichkeit bemühte.

Dann aber wurde es wirklich interessant. Was Dharys über EVOLO zu berichten hatte, war wahrscheinlich nicht nur für Hellenker neu.

»Ich kann jetzt nicht alles erzählen«, bemerkte Dharys. »Die vier falschen Daila wollen etwas unternehmen. Was es genau ist, habe ich nicht erkennen können, meine Telepathie ist sehr schwach geworden. Aber ich weiß, daß sie diesen Stützpunkt vernichten wollen.«

»Das können sie versuchen«, antwortete Hellenker gelassen. »Es wird ihnen nicht gelingen.«

»Sie haben, so scheint es, Helfer im Inneren des Stützpunkts.«

»Namen!« forderte Hellenker knapp. Dharys schüttelte den Kopf.

»Ich kenne diese Namen nicht.«

Das war ärgerlich. Hellenker hatte zwar den Verdacht, daß es sich dabei um die Zwillinge handelte, aber der Verdacht allein genügte nicht.

»Und was genau willst du von mir?«

Dharys zögerte.

»Der Erleuchtete hat meine Familie auf dem Gewissen«, sagte er dann leise. »Ich will dieses Geschöpf zur Strecke bringen.«

Dharys erläuterte seinen Plan.

Hellenker hörte aufmerksam zu. Ihm dämmerte, daß für den schlechten Kontakt zu den Hyptons in der letzten Zeit vermutlich ebenfalls der Erleuchtete verantwortlich war. Es sah ganz so aus, als versuche der Erleuchtete, einen Keil zwischen Ligriden und Hyptons zu treiben und das Neue Konzil so zum Scheitern zu bringen.

Aber aus den Erzählungen des Daila ging auch hervor, daß der Erleuchtete eine Schwachstelle hatte – ein Geschöpf namens Anima, das er als Faustpfand seiner Sicherheit in die Hände zu bekommen trachtete. Ebenso deutlich ging aus den Worten von Dharys hervor, daß auch das geheimnisvolle Objekt EVOLO damit zu tun hatte.

Hellenker betrachtete seinen neuen Informanten nachdenklich.

Dharys riskierte viel, wenn er sich in Hellenkers Hände begab. Es war auch möglich, daß er ein doppeltes Spiel trieb und Hellenker hereinzulegen versuchte.

Aber diese Möglichkeit erschien dem Ligriden wenig wahrscheinlich. Er vertraute auf seine oft erprobte Fähigkeit, seinen Gesprächspartner genau zu durchschauen. Dharys meinte es ernst, an seiner Wut und Erbitterung gab es für Hellenker keinen Zweifel.

Hellenker stand auf.

»Gut«, sagte er halblaut. »Wir werden zusammenarbeiten.«

Dharys hob die Hände, die noch immer aneinandergekettet waren.

»Du bist kein Gefangener mehr«, erklärte Hellenker ernst.

In diesem Augenblick meldete sich der Interkom…

*

Ich blieb reglos in meinem Versteck liegen obwohl ich Mühe hatte, meiner Erregung Herr zu werden.

Boorschon und der Ligride entfernten sich langsam. Ihr mörderischer Plan hatte feste Gestalt angenommen, jetzt kam es für sie nur noch darauf an, den Schurkenstreich auch auszuführen.

Was konnte ich tun, um dies zu verhindern?

Ich entschloß mich, Boorschon zu folgen. Er benutzte die ehrgeizigen Ligriden-Zwillinge nur als Werkzeug für seine Pläne, und die waren für mich erheblich interessanter als die Absichten von Drasthor und Drastim. Vor allem fragte ich mich, was den Erleuchteten dazu bewogen haben mochte, ausgerechnet diesen rückständigen Planeten auszusuchen. Was gab es hier für den Erleuchteten zu holen?

Das Unternehmen, das nun dem Höhepunkt zustrebte, war offenbar von recht langer Hand vorbereitet worden, und damit gewann die Frage nach dem wirklichen Zweck der Aktion an Gewicht.

Ich folgte Boorschon, der in die Burg zurückkehren wollte. Meine Schritte konnte er nicht hören – dennoch fuhr er plötzlich herum und richtete seine Waffe auf mich.

»Wer immer du bist, rühre dich nicht!« stieß Boorschon hervor.

Die abgeblendete Lampe in seiner linken Hand erleuchtete nur seine nächste Umgebung – er konnte mich unmöglich sehen. Gehört hatte er mich auch nicht…

Telepath, gab das Extrahirn durch.

Das konnte stimmen. Zwar vermochte Boorschon meine Gedanken nicht zu lesen, davor schützte mich die Mentalstabilisation, aber er konnte meine Anwesenheit wahrnehmen.

Selbstverständlich gehorchte ich nicht. Ich blockte meine Gedanken ab und machte zwei schnelle Schritte zur Seite.

Einen Sekundenbruchteil später feuerte Boorschon. Er hatte mich nicht mehr telepathisch erfassen können und schoß auf die Stelle, an der er mich zuletzt wahrgenommen hatte.

Ich machte einen Satz nach vorn und prallte mit dem Jomoner zusammen. Mit einem Kampfschlag entwaffnete ich ihn, der nächste Hieb ließ Boorschon halb benommen zurücktaumeln.

Ich bückte mich rasch und griff nach seiner Waffe.

Boorschon war immerhin noch gewitzt genug, die Laterne fallen zu lassen. Beim Aufprall auf den Boden erlosch das Licht – jetzt mußten wir beide mit dem Problem der Dunkelheit fertig werden.

Ich hielt den Atem an und lauschte. Während ich mich gebückt hatte, hatte ich Boorschon aus den Augen verloren. Ich wußte nicht, wo er stand. Aber vielleicht konnte ich sein Atemgeräusch hören.

Einen Augenblick lang erwog ich einen Schuß in die Luft; das Licht hätte ausgereicht, daß ich Boorschon sehen konnte, aber dadurch wurden dann vermutlich die Ligriden alarmiert.

Ich machte zwei Schritte zur Seite und wich dann zurück. Wo auf dem Burginnenhof ich mich aufhielt, wußte ich – das Extrahirn arbeitete gleichsam wie ein Trägheitsnavigationssystem.

Ich hatte vor, mich zurückzuziehen – von einem Kampf mit Boorschon konnte ich mir keinen Vorteil erhoffen.

Boorschon schien ähnliche Absichten zu haben…

Es war purer Zufall, daß wir zusammenstießen, und zwar mit solcher Wucht, daß ich ins Straucheln geriet.

Einen Herzschlag später hatte Boorschon mich gepackt. Mit zwei Fäusten schlug er auf mich ein, mit dem anderen Armpaar griff er nach meine Kehle.

Ich machte einen instinktiven Abwehrhieb, wuchtig geführt, aber ungezielt. Von Boorschon war ein Ächzen zu hören, dann wurde sein Griff locker. Er schien zurückzutaumeln. Wieder war das Ächzen zu hören.

Wenig später war es still. Ich richtete mich wieder auf. Was war geschehen?

Ein schrecklicher Verdacht überfiel mich – hatte mein ungezielter Hieb vielleicht den Körper des Jomoners so getroffen, daß er gestorben war? In vielen Kampfsportarten, auch im Dagor, das Fartuloon mich einstens gelehrt hatte, gab es Kampfhiebe, die auf der Stelle tödlich wirkten. Hatte ich ungewollt einen solchen Schlag gelandet?

Ich machte einen Schritt in die Richtung, in der ich Boorschon vermutete. Mein Fuß stieß gegen etwas Weiches auf dem Boden.

Nichts rührte sich. Ich beugte mich nieder, faßte vorsichtig zu…

Erschrocken zog ich die Hand zurück. Ich hatte nicht den Körper eines Jomoners oder eines Daila berührt – was da vor mir auf dem Boden lag und sehr rasch todeskalt wurde, war eine schleimige Gallerte.

Ich holte tief Luft.

Es gab nur eine Erklärung für dieses Phänomen. Ich hatte Boorschon tatsächlich tödlich getroffen, und der Tod hatte die Struktur des Geschöpfes aufgelöst, das einmal Boorschon gewesen war.

Nicht mehr als ein Kunstprodukt war der Jomoner mit der Daila-Identität gewesen, eine Plasmakreatur, vermutlich aus den Werkstätten des Erleuchteten.

Wenn Boorschon ein Telepath war, dann ist auch die Nachrichtenverbindung zwischen ihm und seinen Artgenossen klar, meldete der Extrasinn. Und vermutlich wissen sie in diesem Augenblick

auch schon, daß Boorschon tot ist.Ich verließ den Burghof und kehrte in mein Quartier zurück. Während ich noch an der Mauer emporstieg, konnte ich sehen, daß die Ligriden abflogen – die Positionslichter ihres Gleiters verschwanden in der Dunkelheit.

Es wurde Zeit, etwas zu unternehmen.

Unter dem Fenster hielt ich an und klopfte behutsam. Brasher öffnete das Fenster.

»Aufgepaßt«, sagte ich leise. »Ich komme jetzt herein. Paßt auf, daß der Weg zwischen Fenster und Tür frei ist.«

Chipol nickte und preßte sich an eine Seitenwand. Brasher folgte seinem Beispiel.

Ich schwang mich ins Zimmer hinein. Die Waffe, die ich Boorschon abgenommen hatte, zielte auf die Tür.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann flog sie auf, und sofort begann ich zu feuern.

Es war unser Glück – allerdings hatte ich damit gerechnet –, daß die Ligriden ihre Roboter angewiesen hatten, uns möglichst lebend gefangenzuhalten. Das setzte die normalerweise ununterbietbare Reaktionsschnelligkeit der Maschinen soweit herab, daß ich eine Chance bekam. Ich schaffte es, beide Robots zu zerstören, ohne daß sie mehr Schaden anrichten konnten als einen Schuß in die Decke. Außerdem bewirkte das kurze Feuergefecht, daß die Jomoner-Wachen in Panik das Weite suchten.

»Wir haben nicht viel Zeit«, klärte ich Chipol und Brasher auf. »Mein Verdacht hat sich bestätigt – Boorschon und seine Verwandten sind weder Jomoner noch Daila sondern irgend etwas anderes. Ich habe allerdings nicht die geringste Ahnung, was sie ausgerechnet auf diesem Planeten zu suchen haben.«

Brasher sah mich aufmerksam an.

»Was haben sie den vor?« wollte Chipol wissen.

»Einen Anschlag auf den Ligridenstützpunkt. Beerscher ist noch in Jompol, wo die beiden anderen zu finden sind, weiß ich nicht.«

»Vielleicht kann ich euch helfen«, mischte sich plötzlich Brasher ein.

»Du?«

»Ich weiß, wo einer von Boorschons Brüdern zu finden ist – bei uns im Tal. Und ich weiß auch, was sie auf unserer Welt suchen – sie wollen das Erbe der Berggeister.«

Ich runzelte die Stirn.

»Berggeister?« fragte ich.

Eine mystische Umschreibung für etwas, das die Jomoner nicht verstehen, bemerkte das Extrahirn.

»Ich werde es dir erzählen, wenn wir dorthin reisen.«

»Einverstanden«, sagte ich eilig. »Rufe deine Freunde zusammen – und wir sollten schnellstens mit dem Fürsten reden.«

Dazu hatten wir sehr bald Gelegenheit – die verschreckten Wachen hatten Rorque de Gorm geweckt. Er traf zur gleichen Zeit bei uns ein wie Gjoph und Plodar.

Rasch klärte ich Gorm darüber auf, was geschehen war.

»In diesem Fall müssen wir Hellenker warnen«, sagte Rorque de Gorm.

»Aber wie?«

Der Fürst lächelte verhalten.

»Da ich als treuer Diener der Ligriden gelte, hat man mir ein Interkom zur Verfügung gestellt.«

»Hervorragend«, sagte ich. »Vielleicht auch einen Gleiter?«

Rorque de Gorm lächelte wieder, und ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Die nächsten Stunden würden trotzdem zu einem Wettlauf mit dem Tod werden.

8.Hellenker war nicht wenig erstaunt, daß ein Jomoner ihn über Interkom anrief. Es gab zwar einige Jomonerfürsten, die man mit solchen Geräten ausgerüstet hatten, aber nur sehr selten benutzten die Jomoner diese Anlagen. Und keiner hatte bisher den Versuch unternommen, mit dem Leiter des Stützpunkts zu sprechen.

»Ich bin Fürst Rorque de Gorm«, stellte sich der Jomoner vor. Er wirkte ein wenig unsicher.

Hellenker wurde aufmerksam. Eine Patrouille war nach Gorm unterwegs, sie konnte aber noch nicht dort angelangt sein.

»Ich habe Informationen, daß zwei deiner Offiziere einen Anschlag auf den Stützpunkt planen. Der Bombenanschlag soll schon bald erfolgen, wahrscheinlich innerhalb der nächsten Stunden.«

Hellenker sah aus den Augenwinkeln heraus, daß Dharys aufgestanden und nähergetreten war, um den Fürsten anzusehen. Dabei geriet auch er in den Aufnahmebereich der Kamera.

, »Vater!« war hinter dem Rücken des Fürsten zu hören, aber der Sprecher wurde nicht sichtbar. Dafür bemerkte Hellenker, daß Dharys zusammenzuckte.

»Wer sind die Offiziere?« fragte Hellenker scharf.

»Drasthor und Drastim. Sie arbeiten mit einem jomonischen Magier zusammen, der Beerscher genannt wird. Beerscher müßte sich zur Zeit in Jompol aufhalten.«

Während Hellenker zuhörte, löste er einen Alarm aus.

Selbstverständlich wurde das Gespräch aufgezeichnet.

»Ich danke dir für die Warnung«, sagte Hellenker freundlich.

»Woher hast du die Informationen?«

Rorque de Gorm zögerte.

»Nun, wir können später darüber reden«, meinte Hellenker. »Ich werde ein Kommando zu dir schicken, das dich beschützen kann, während die Verräter festgenommen werden.«

»Die Offiziere sind nicht mehr bei mir«, sagte Gorm eilig. Er schien sich vor einem Auftauchen eines ligridischen Kommandos drücken zu wollen. Durchaus verständlich, befand Hellenker, für ihn aber ein Grund mehr, Rorque de Gorm genau zu überprüfen.

»Dennoch wirst du Schutz brauchen«, meinte Hellenker hartnäckig.

Er überlegte schnell. Der Ausruf konnte nur Dharys gegolten haben. Folglich war der Sprecher ein Daila – und es gab zur Zeit auf Jomon außer Dharys nur einen Daila. In dessen Nähe hielt sich dann wahrscheinlich auch der Arkonide auf. Für Hellenker war das ein Anlaß mehr, Rorque de Gorms Behausung genau erforschen zu lassen.

Außerdem mußte Hellenker dafür sorgen, daß die Zwillinge abgefangen werden konnten, noch bevor sie in den Stützpunkt zurückkehrten.

»Ich brauche keinen Schutz«, behauptete Rorque de Gorm.

»Meine Wachen werden dich sicher nach Jompol geleiten. Dort wird deine Aussage vonnöten sein, um den Verrat der Zwillinge zu beweisen. Eine ligridische Wache wird deiner Stellung angemessen sein.«

Rorque de Gorm war davon nicht überzeugt, das war ihm anzusehen. Aber er wagte keinen weiteren Widerspruch mehr.

Hellenker trennte die Verbindung.

»Der Rufer war dein Sohn, nicht wahr?«

Dharys machte eine Geste der Bejahung.

»Und in seiner Nähe treibt sich dann wohl auch der Arkonide Atlan herum«, fuhr Hellenker fort.

»Sehr wahrscheinlich«, antwortete Dharys. »Ich weiß nicht genau, welche Pläne der Arkonide hat – auf jeden Fall ist er ein hartnäckiger Gegner des Erleuchteten.«

»Damit aber nicht notwendigerweise ein Freund der Ligriden«, murmelte Hellenker.

Dharys schwieg dazu.

Hellenker ließ eine weitere Patrouille losfliegen und gab beiden Kommandos über Funk präzise Befehle. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

Hellenker ahnte, daß er am Beginn einer völligen Neuentwicklung der Politik des Neuen Konzils stand. Der Erleuchtete und sein geheimnisumwittertes Geschöpf EVOLO brachten in das Kräftespiel neue Akzente, die bedacht sein mußten. Vor allem begann sich immer deutlicher abzuzeichnen, daß einige Kräfte in diesem Spiel alles daransetzten, die anderen Mächte gegeneinander auszuspielen.

Hellenker wußte, daß man dagegen wenig machen konnte. War in eine Allianz wie die des Neuen Konzils erst einmal Mißtrauen eingesickert, ließ es sich kaum noch ausgleichen. Jede Maßnahme des Partners konnte bei entsprechendem Argwohn als neue Falle interpretiert werden.

Hellenker ließ sich von der Positronik die Daten der Flugortung geben. Zur Zeit waren sieben verschiedene ligridische Gleiter unterwegs. Hellenker sortierte die Patrouillen aus, die mit den Ereignissen der letzten Tage und Stunden nichts zu tun hatten, und bekam so ein Bild der Lage.

Drasthor und Drastim flogen Jompol auf geradem Kurs an. Eine Patrouille flog ihnen genau entgegen, der andere Gleiter näherte sich Burg Gorm in weitem Bogen. Hellenker überlegte kurz und verstärkte das Kommando, das Burg Gorm stürmen und durchsuchen sollte. Ein Mann, der es fertiggebracht hatte, einem Ligriden wie Halphar zu entkommen, durfte nicht unterschätzt werden. Möglich, daß dem Arkoniden auch in dieser Lage ein Trick gelang, der ihn vor der Gefangennahme durch die Ligriden bewahrte.

Wenig später trafen die ersten Meldungen ein.

Eine Patrouille hatte die Zwillinge erreicht. Drasthor und Drastim schienen geahnt zu haben, daß Hellenker einen Schlag gegen sie führen wollte. Sie hatten sich nicht ergeben, sondern auf den Patrouillengleiter das Feuer eröffnet.

Hellenker machte ein mißmutiges Gesicht als er die Meldung auf dem Schirm las.

Was mochte in die Zwillinge gefahren sein, daß sie sich so verhielten? Sie führten sich auf wie gewöhnliche Kriminelle.

Die Nachrichten wurden noch schlechter. Da die Patrouille mit einem Angriff überhaupt nicht gerechnet hatte, war die Besatzung von dem Feuerüberfall völlig überrascht worden. Der Gleiter war abgestürzt, die Besatzung tot oder verletzt – und das Fahrzeug, das die Zwillinge benutzten, hatte seinen Kurs geändert. Es flog nach Burg Gorm zurück…

Hellenker schüttelte den Kopf.

Nein, Drasthor und Drastim flogen nicht nach Gorm zurück – ihr Kurs wich ein wenig davon ab.

Das Rätsel wurde immer größer. Hellenker ließ sich nun alle Flugbewegungen der letzten Stunden einspielen, auch solche, die zivilen Charakter hatten.

Erst bei dieser Darstellung konnte Hellenker erkennen, daß es in der Nähe von Burg Gorm noch andere Flugbewegungen gab. Ein ziviler Gleiter nahm Kurs auf die Berge. Hellenker wußte, daß es in dieser Region nur einen zivilen Gleiter gab – das Fahrzeug, das man dem Fürsten Rorque de

Gorm zu Repräsentationszwecken zur Verfügung gestellt hatte. Auf die primitiven Eingeborenen machte es immer einen ungeheuren Eindruck, wenn ihre eigenen Herrscher dank ligridischer Hilfe durch die Lüfte reisen und aus der Höhe Lautsprecheransprachen abhalten konnten. Hellenker hatte stets mehr auf solche Machtdemonstrationen vertraut als auf Waffentechnik. Gerade bei primitiven Völkern war der Tod alltäglich. Auch auf Jomon hatte die durchschnittliche Lebenserwartung der Eingeborenen sehr niedrig gelegen. Unter diesen Umständen war es den Eingeborenen oft recht gleichgültig, ob sie von altertümlichen oder modernen Waffen getötet wurden – sie ließen sich nur in geringem Umfang erschrecken, und die Mittel, die sie wirklich hätten beeindrucken müssen, begriffen sie meistens nicht. Den Jomonern mit atomaren Sprengsätzen zu drohen, verfing nicht, weil die Eingeborenen sich darunter nichts vorstellen konnten.

Auf technische Mätzchen aber fielen sie herein, je bunter und primitiver um so besser.

In diesem Augenblick war jener Gleiter, den Hellenker dem Fürsten überlassen hatte, unterwegs – und es genügte ein Blick auf den Monitor, um Hellenker erkennen zu lassen, daß beide Fahrzeuge offenbar das gleiche Ziel hatten.

Was mochte es dort geben, was die Zwillinge in ihrer Notlage interessierte?

Hellenker kam nicht mehr dazu, sich über dieser Frage den Kopf zu zerbrechen. Der Interkom meldete sich.

»Wir haben den gesuchten Jomoner gefunden«, berichtete der Krieger. Der Tonfall seiner Stimme verriet Hellenker, daß die Nachricht damit noch nicht abgeschlossen war. »Er hieß Beerscher.«

»Hieß?«

Der Krieger machte eine Geste der Bejahung.

»Als wir versuchten, ihn festzunehmen, kam es zu einem Schußwechsel. Der Jomoner ist tot – er zerfiel vor unseren Augen zu einer amorphen Gallerte, obwohl kein Schuß ihn wirklich getroffen hat.«

»Selbsttötung«, murmelte Dharys im Hintergrund, laut genug, daß Hellenker ihn hören konnte. »Das sieht nach dem Erleuchteten aus.«

»Gibt es noch etwas?« wollte Hellenker wissen.

»Im Haus des Beerscher haben wir einen Sprengkörper gefunden«, berichtete der Krieger.

»Was für ein Sprengkörper?«

»Vermutlich eine atomare Ladung. Wir haben Spezialisten angefordert, die die Bombe entschärfen sollen.«

Hellenker überlegte kurz.

»Schafft das Ding aus dem Wirkungsbereich des großen Schirmfelds. Die Bombe soll draußen entschärft werden.«

Der Krieger bestätigte den Befehl. Hellenker schüttelte nachdenklich den Kopf. Was hatte diese Aktion zu bedeuten?

Eine Handvoll von Agenten auf Jomon reichte niemals aus, den Stützpunkt und die ligridische Macht in diesem System in Gefahr zu bringen. Schäden konnten sie anrichten, aber mehr auch nicht.

In Hellenker wurde der Eindruck immer stärker, als sei der Erleuchtete in seinen Handlungen nicht immer planvoll und überlegt – was sich hier auf Jomon abspielte, ergab keinen Sinn, erst recht jetzt nicht, da die Verschwörung den Ligriden bekannt geworden war.

Kurze Zeit später kam eine Meldung, daß die Bombe abtransportiert wurde. Hellenker gab Anweisung, das Schirmfeld kurz zu öffnen, damit der Transport hinausgelassen werden konnte. Als

zusätzliche Sicherheitsmaßnahme hatte man den Sprengkörper selbst in ein besonders energiereiches Feld gelegt.

»Was…?« murmelte Hellenker versonnen.

Das Aufheulen des Alarms ließ ihn aufschrecken. Über die Monitoren zuckten Blitze, Bilder waren nicht mehr zu erkennen.

»Was ist passiert?« rief Hellenker.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Die Agenten des Erleuchteten hatten Hellenker ausgetrickst. Die Bombe war hochgegangen, und zwar genau in dem Augenblick, in dem sie die Strukturlücke passiert hatte. Und es hatte sich nicht um eine atomare Entladung gehandelt, vielmehr um ein hochwirksames Hyperfeld, dessen zerstörerische Energien sich an den Strukturen des Schutzschirms entlanggefädelt hatten. Ihre Wirksamkeit hatten diese Hyperenergien dort entladen, wo die Schirmfelder des Stützpunkts erzeugt wurden – in den Generatoren und Projektoren.

Hellenker murmelte eine Verwünschung.

Jetzt wußte er, was diese Aktion für einen Sinn hatte.

Der Stützpunkt der Ligriden war schutzlos geworden, es gab keine Schirmfelder mehr.

Mit einem Tastendruck gab Hellenker Raumalarm – er wußte, was als nächstes passieren würde…

*

Brasher gab mir die Anweisungen, ich flog den Gleiter. Unsere Fahrt ging in die Heimat der Jomoner, die hinter mir saßen. Es war ein Gebirgsland, recht üppig bewachsen und nicht allzu hoch. Irgendwo dort hielt sich ein weiterer falscher Daila versteckt – und außerdem war dort möglicherweise noch mehr zu holen. In höchster Eile hatte Brasher alles herausgesprudelt, was er wußte. Es waren sehr interessante Dinge darunter gewesen.

»Mehr nach links!«

Ich führte die Anweisung aus. Der Gleiter, den Rorque de Gorm uns zur Verfügung gestellt hatte, war nicht auf dem neuesten Stand der Technik und hatte seine besten Jahre schon lange hinter sich. Für die Jomoner mochte er eine Kostbarkeit darstellen, ich fand ihn ein wenig unhandlich, außerdem entschieden zu langsam.

Immerhin gab es ein Ortungssystem an Bord, das mir verraten hatte, daß wir verfolgt wurden.

Hellenker mußte Chipols Ausruf gehört haben, als der in Hellenkers Büro seinen Vater erblickt hatte. Und der Ligride hatte sich bestimmt seinen Reim darauf machen können.

Auch ich hatte Dharys gesehen – er hatte auf mich nicht wie ein Gefangener gewirkt, eher wie ein Gast.

Das konnte nach Lage der Dinge nur eines bedeuten – Dharys hatte sich auf die Seite der Ligriden geschlagen, zumindest vorläufig.

Ich überließ das Durchkalkulieren des Problems meinem Logiksektor. Ich konzentrierte mich derweil auf die Lenkung des Gleiters.

Mit höchster Fahrt jagten wir durch das Gebirge. Ich flog so niedrig wie möglich, um den Ortungsschutz auszunutzen, den die massiven Felswände in gewissem Umfang gaben. Nach Brashers Angaben mußten wir unser Ziel in Bälde erreichen.

Ich drückte den Gleiter noch tiefer. Knapp fünf Meter über den Baumwipfeln jagten wir dahin.

Meinen Passagieren schien das zu gefallen – von den Risiken, die damit verbunden waren, ahnten sie nichts.

Ab und zu warf ich einen Blick auf meine Begleiter.

Seltsam, wie sich während dieses Fluges private und andere Probleme mischten. Wir waren unterwegs, um eine furchtbare Gefahr von ganz Jomon abzuwenden, aber der größere Teil der Beteiligten hing ganz anderen Problemen nach. Auch ohne Logiksektor war klar für mich zu sehen gewesen, daß Brasher hoffnungslos in Syvea verliebt war – hoffnungslos deshalb, weil Plodars ebenfalls verliebter Blick und Syveas oft verzweifelt wirkende Miene verrieten, daß Brasher keine Chance hatte.

Diese Probleme auch noch zu lösen, fühlte ich mich nicht berufen.

»Dort vorn müßte Baarschachs Hütte sein«, rief Brasher aus.

Ich ließ den Gleiter langsamer werden und setzte zum Landeanflug an. Chipol hielt die einzige Energiewaffe in der Hand, über die wir verfügten – er rechnete wie ich damit, daß Baarschach uns angreifen würde. Die verkappten Daila wußten dank ihrer telepathischen Verbindung, daß ihre Tarnung nicht mehr half – und von den Werkzeugen des Erleuchteten war ich inzwischen schon gewöhnt, daß sie in solchen Lagen rücksichtslos angriffen.

»Köpfe herunter«, rief ich, während der Gleiter zur Landung einschwebte. Gehorsam duckten sich die anderen.

Der Gleiter setzte auf, aber nichts rührte sich. Wortlos gab Chipol die Waffe mir.

Ich stieg aus dem Gleiter. Niemand war zu sehen. Vorsichtig näherte ich mich der Behausung des Magiers.

»Baarschach!« rief Brasher. »Komm heraus!«

Ich hastete hinüber zum Eingang. Was Brasher als Hütte bezeichnet hatte, war in meinen Augen nicht mehr als ein Bretterverschlag, durch den der Wind pfeifen konnte.

Ich spähte durch die Ritzen.

Im Innern war es dunkel, nur wenig Licht fiel durch die Spalten in den Raum. Es war gerade genug, um mich erkennen zu lassen, was mit Baarschach geschehen war. Das, was von ihm geblieben war, lag auf dem Boden, eine unstrukturierte Gallerte. Entweder war Baarschach getötet worden…

Kollektiver Selbstmord, kommentierte der Logiksektor.

Demnach brauchten wir mit den vier falschen Daila nicht länger zu rechnen. Es war allerdings möglich, daß der Erleuchtete noch andere Kommandos auf dem Planeten hatte absetzen lassen. Wenn die einzelnen Gruppen unabhängig voneinander arbeiteten, vielleicht nicht einmal etwas voneinander wußten, hatte der Erleuchtete nach wie vor die Möglichkeit, etwas zu unternehmen.

Ich öffnete die Tür und trat ins Innere. Meine Augen hatten sich inzwischen an das Dämmerlicht gewöhnt.

Auf den ersten Blick erinnerte mich Baarschachs Behausung an eine Alchimistenküche. Bei näherem Hinsehen aber fand ich die modernen Geräte, die Baarschach mit den absonderlichsten Verkleidungen versehen hatte.

Eines dieser Geräte war sogar offen zu sehen – ein Hyperkom. Der Leichnam des Pseudo-Daila lag genau davor. Ich vermutete, daß er vor seinem Tod noch eine Botschaft an den Erleuchteten abgegeben hatte – und was das bedeuten konnte, brauchte ich mir nicht lange auszumalen.

Brasher war nähergekommen. Angeekelt verzog er sein Gesicht, als er Baarschachs Überreste sah.

»Jetzt bist du an der Reihe«, sagte ich. »Du kennst als einziger den Weg zu den Geistern der Berge – und du wirst uns diesen Weg führen.«

»Ich bin nur ein einziges Mal dort gewesen«, stieß Brasher hervor. »Ich weiß nicht…«

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte ich drängend. »Können wir hinfliegen?«

»Nur das erste Stück«, meinte Brasher. »Den Rest müssen wir zu Fuß erledigen.«

»Dann vorwärts«, sagte ich. Ich untersuchte noch kurz Baarschachs Habseligkeiten und entdeckte dabei ein paar Handwaffen, die ich an meine Begleiter verteilte. Auch frische Magazine ließen sich finden.

Einige Kilometer weit konnten wir noch den Gleiter benutzen, dann ließen wir das Fahrzeug stehen. Zu sechst trotteten wir hinter Brasher her, der ein wenig glückliches Gesicht machte.

Besonders gute Läufer oder gar Kletterer waren die Jomoner nicht – bei ihren vier eng beieinander stehenden Beinen war das nicht verwunderlich. Chipol und ich kamen weitaus schneller vorwärts, aber wir mußten Rücksicht auf die Jomoner nehmen.

Einmal glaubte ich am Himmel ein metallisches Glitzern gesehen zu haben, aber als ich die Stelle schärfer ins Auge faßte, war davon nichts mehr zu erkennen.

Brasher gab sich alle Mühe, sich an den Weg zu erinnern, aber immer wieder mußten wir umkehren und an anderer Stelle den Weg fortsetzen.

Schließlich war Brasher sicher, die richtige Stelle gefunden zu haben. Hinter einigen mächtigen Steinblöcken gab es einen Eingang in eine Höhle.

Die Waffen in den Händen haltend, drangen wir in die Höhle ein. Ich hatte die Führung übernommen. Chipol sorgte für die Rückendeckung.

Schon nach kurzer Zeit war zu sehen, daß Brasher nicht gelogen hatte – hier war moderne Technik am Werk gewesen, um die Höhle tiefer in den Fels zu treiben. Deutlich waren die Stellen an den Wänden zu sehen, die mit einer Mischung aus Felsgestein und Plastmasse geglättet worden waren.

Und dann wurde es plötzlich hell.

Wir waren am Ziel angelangt – bei den Geistern der Berge.

Es waren ganz normale Jomoner, allerdings mußten sie schon seit vielen Generationen in den Tiefen des Berges gehaust haben – ihre Haut war heller, und die Augen zeigten erste Spuren von Albinismus.

Brasher übernahm es, uns den Bergjomonern vorzustellen, dann war ich an der Reihe, ein paar Fragen zu stellen.

Und was ich zu hören bekam, war erstaunlich.

9.Hellenker war nicht überrascht, er hatte damit gerechnet – Jomon wurde aus dem Raum angegriffen – die Ortungsergebnisse waren eindeutig. Eine Flotte von mindestens fünfzig größeren Schiffen war im Anflug auf den Planeten. Mit höchster Fahrt rasten die Schiffe auf Jomon zu, und eine kurze Kalkulation ergab, daß zu dem Zeitpunkt, an dem sie Jomon erreichten, der ligridische Stützpunkt genau unter ihnen liegen würde.

Das konnte kein Zufall sein – auch nicht, daß der Stützpunkt der Ligriden zu diesem Zeitpunkt praktisch ohne Defensivwaffen auskommen mußte. Beide Aktionen – der Angriff der Flotte und die Detonation der aufgefundenen Bombe – waren koordiniert.

Für Hellenker war nun klar, zu wem die Flotte gehörte, die schon einmal Jomon angegriffen hatte. Der Erleuchtete steckte dahinter und gab die Befehle.

Hellenker gab Anweisung, die nächstgelegenen Stützpunkte der Ligriden anzufunken und um Hilfe zu bitten – mit den Schiffen, die auf Jomon stationiert waren, konnte Hellenker selbst bei größter Tapferkeit seiner Leute diesen Angriff weder abfangen noch zurückschlagen.

Hellenker sah Dharys an. Das Gesicht des Daila verriet Verbitterung und Wut – auch er war von dem Angriff des Erleuchteten völlig überrascht worden.

»Wieviel Zeit haben wir noch?« wollte Dharys wissen.

»Zwanzig Minuten, dann haben die Schiffe Jomon erreicht.«

Dharys murmelte eine Verwünschung.

Hellenker überlegte, was er in dieser Lage tun konnte – es war erschütternd wenig. Nur wenn er den Befehl gab, Jomon fluchtartig zu verlassen, hatte er eine Chance. Dieser Befehl aber würde ihn den Kopf kosten.

Der Alarm hatte die Ligriden aufgeschreckt. Die Mannschaften stürzten auf die befohlenen Positionen. Die Schiffe wurden Start- und gefechtsklar gemacht, während Techniker fieberhaft daran arbeiteten, die defekten Schirmfeldgeneratoren wieder instand zu setzen. Die Wahrscheinlichkeit war sehr gering.

»Perfekt gemacht«, murmelte Hellenker bitter.

Daß die beiden Aktionen auf die Minute genau zusammengefallen waren, konnte dem Zufall zugeschrieben werden, der Rest aber war perfekte Planung.

Selbstverständlich hätte die Flotte der Angreifer auch erheblich näher an Jomon aus dem Hyperraum auftauchen können, aber das hatte der Erleuchtete vermieden.

Jetzt blieben den Ligriden zwanzig grausam lange Minuten des Wartens. Daß die Schirmfelder ausgefallen waren, wußte inzwischen jeder – und jeder konnte sich auch ausrechnen, was das bedeutete. Einzig die Schiffe boten noch Sicherheit, aber auch das nur dann, wenn jeder seinen Posten verließ und zu einem der Raumschiffe flüchtete. Hellenker hatte keinen Befehl zu Evakuierung gegeben – das bedeutete, daß die Ligriden auf ihren Positionen aushalten mußten, auch wenn sie der Übermacht der Angreifer nichts Wirksames entgegenzusetzen hatten.

»Funkverbindung gestört«, bekam Hellenker zu hören. Er nahm es ohne ersichtliche Gemütsregung zur Kenntnis.

»Willst du nichts unternehmen?« fragte Dharys.

Hellenker machte eine Geste der Verneinung.

»Ich habe getan, was getan werden konnte«, antwortete er. »Mehr ist nicht möglich.«

Dharys deutete auf den Bildschirm. Die Traykon-Flotte – Dharys kannte den Schiffstyp natürlich – formierte sich zum Angriff auf Jompol.

»Sie werden uns vernichten«, sagte der Daila.

»Möglich«, gab Hellenker trocken zurück.

Eine seltsame Freude erfüllte ihn.

Zu den tiefgründigsten Lehren des Gward gehörte es, in seinem Denken und Empfinden über die herkömmlichen Systeme hinauszuwachsen. Das geistige Medium, in das Könner durch intensive Meditation vorstoßen konnten, kannte Begriffe wie Tod und Leben nicht. Sie waren dort gegenstandslos, ähnlich wie andere universelle Parameter – Energie, Kausalität, Entropie.

Hellenker ahnte, daß er in kurzer Zeit feststellen konnte, ob seine meditativen Einsichten einer Probe durch die Wirklichkeit standhielten. Würde er es fertigbringen, im Angesicht des Todes die gleiche innere Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen wie sein verehrter Lehrer, dessen Tod durch Krankheit Hellenker erlebt hatte? Und würde er nach dem Ende seiner physischen Existenz wirklich Bestandteil eines anderen, geistigen Kosmos sein, der jedes normale Begriffsvermögen überstieg?

Hellenker überprüfte sich selbst. Sein Herz schlug ein wenig schneller als sonst, aber die Abweichung war nicht sehr groß. Seine Hände waren ruhig und zitterten nicht. Niemals zuvor hatte sich Hellenker den Geschöpfen in seiner Umgebung so überlegen gefühlt, wie in diesen Minuten kurz vor dem Untergang des ligridischen Stützpunkts auf Jomon.

Noch zehn Minuten.

Die Ligriden schossen Raumtorpedos ab, die aber von der Abwehr der Angreifer vernichtet wurden. Bei noch größerer Annäherung dieser Flotte verboten sich solche Waffen von selbst – sie hätten mehr Schaden auf dem Planeten angerichtet als beim Gegner.

Dharys warf einen mißbilligenden Blick auf Hellenker. Der lächelte schwach. Natürlich, Dharys war ein Daila und hatte nie die Schule des Gward durchlaufen. Ihn erfüllte die animalische Todesfurcht eines Wesens, das nie zu höheren Einsichten in die wirkliche Struktur des Universums vorgedrungen war. Hellenker beschloß, sich davon in seiner Gelassenheit nicht beeinträchtigen zu lassen.

Fünf Minuten.

Noch immer trennten Jomon und die angreifende Flotte Millionen von Kilometern, aber die Distanz schrumpfte in jeder Sekunde um knapp dreihunderttausend Kilometer. Um genau zielen und treffen zu können, mußten die Schiffe bis auf eine Lichtsekunde an Jomon herankommen.

Über den großen Bildschirm in Hellenkers Büro flimmerten die Anzeigen der Positronik. Leidenschaftslos registrierte der Rechner jeden Vorgang. Die Abwehrforts des Planeten waren gefechtsbereit – im Klartext hieß das, daß die Mannschaften ein oder zwei Schüsse abgeben konnten, bis sie die Treffen der Angreifer ohne Schutzschirm hinnehmen mußten. Handwaffen waren ausgegeben worden, um eventuelle Landungsversuche bekämpfen zu können. An allen wichtigen Positionen standen Roboter bereit, um Ausfälle zu ersetzen. Roboter waren zwar um etliche Zehnerpotenzen reaktionsschneller als Ligriden, aber sie besaßen keinen inneren Riecher für die Geräte, die sie bedienten. Hellenker hatte in seinem Stützpunkt Wert darauf gelegt, daß alle wichtigen Positionen von lebenden Wesen eingenommen wurden, erst im Notfall griffen die Robots ein.

Die Krankenstationen meldeten Einsatzbereitschaft, und Hellenker entging nicht die perverse Ironie, die darin lag. Wenn es nach dem Angriff der fremden Flotte Überlebende überhaupt gab, würden sie die Toten beneiden.

Noch drei Minuten.

Die Zeit verstrich entsetzlich langsam, kam es Hellenker vor.

Es gab jetzt kein Zurück mehr. Weglaufen war sinnlos, die Schiffe konnten nicht mehr schnell genug gestartet werden. Eine Kapitulation kam ohnehin nicht in Betracht – und wer immer auch die fremde Flotte kommandierte, würde sich vermutlich nicht auf Verhandlungen einlassen.

Dinge, Apparaturen, Ereignisse, die von lebenden Wesen konstruiert und in Gang gesetzt worden waren, hatten längst eine Eigengesetzlichkeit entwickelt, die von ihren Schöpfern nicht mehr abzustellen war.

Es sei denn…

In diesen Augenblicken glaubte Hellenker zu wissen, was letztlich der Auslöser für Katastrophen wie diese war – Eitelkeit oder Stolz in jeder nur denkbaren Form. Es war pure Eitelkeit, die ihn daran hinderte, den Angreifern eine Kapitulation anzubieten; es war der typisch ligridische Stolz, der auch ihn dazu gebracht hatte, den Jomonern ein Leben aufzuzwingen, daß sie nicht führen wollten.

Jetzt aber war es zu spät, aus dieser Einsicht noch Konsequenzen zu ziehen.

Der Angriff begann…

*

Ihre Sprache wirkte seltsam unbeholfen und verwirrend. Sie benutzten Begriffe, die in der üblichen Sprache der Jomoner nicht enthalten waren – nicht mehr, wie ich bald einsah.

Die Dinge, von denen die albinotischen Jomoner berichteten, lagen zum Teil Jahrzehntausende zurück. Zwar waren die Texte unverändert übernommen worden, aber die unglaublich lange Zeit hatte dennoch dazu geführt, daß Verstümmelungen sich eingeschlichen hatten – von einer Generation auf die nächste gab es immer weniger, die wirklich begriffen, wovon die Rede war.

Was die Alten aus der Berghöhle mir erzählten, gab nur zu einem geringen Teil einen Sinn, den sie auch verstanden – der Rest wurde einfach so erzählt, wie er überliefert worden war.

Ohne die Hilfe des Extrahirns hätte ich es schwerlich geschafft, der Datenflut Herr zu werden, die zudem reichlich ungeordnet war.

Immerhin schälte sich für mich langsam ein Bild der historischen Ereignisse heraus – und ein paar Einsichten konnte ich nur dadurch gewinnen, daß ich einen Informationsvorsprung hatte.

Vor vielen tausend Jahren hatten die Jomoner in Manam-Turu aus eigener Kraft die überlichtschnelle Raumfahrt entwickelt und ihre Heimatwelt verlassen. Sie hatten einige Planeten kolonisiert und andere, bereits bewohnte Welten ihrem Machtbereich eingegliedert.

Die Jomoner, die ich kennengelernt hatte, hatten sich durch Friedfertigkeit und Sanftmut ausgezeichnet – die Jomoner früherer Jahrtausende mußten harte, rücksichtslose Eroberer gewesen sein. Widerstand hatten sie gnadenlos gebrochen, und so hatte es dann auch nicht lange gedauert, bis sich ein Gegner eingestellt hatte, dem nicht so leicht beizukommen gewesen war.

Um diesem Gegner eine Falle zu stellen, war der Planet kolonisiert worden, auf dem wir jetzt standen. Siedler waren abgesetzt und angesiedelt worden. Gleichzeitig aber waren jomonische Techniker damit beschäftigt gewesen, den Planeten zu einem militärischen Stützpunkt aufzurüsten. Um den Feind zu täuschen, waren sämtliche technischen Anlagen im Innern von Bergen oder Meeren versteckt worden, alles kontrolliert von einem positronischen Großrechner, der wiederum unter der Kontrolle der Hauptpositronik auf dem Ursprungsplaneten gestanden hatte.

Aus irgendeinem Grund, den auf Jomon niemand begriffen hatte, war die Verbindung zur Mutterwelt abgerissen. Funksprüche wurden nicht mehr beantwortet. Einen direkten Kontakt zur Heimatwelt aufzunehmen, war den Jomonern ebenfalls nicht gelungen – der Ausfall der

Leitpositronik hatte sämtliche technischen Einrichtungen lahmgelegt. Nichts hatte sich mehr gerührt.

In dieser Notlage hatte der jomonische Führungsrat zu einem verzweifelten Mittel gegriffen. Eine große Zahl von Freiwilligen war zusammen mit dem ungeheuren Maschinenpark im Innern der Berge eingeschlossen worden – versehen mit der einzigen Aufgabe, das vorhandene Wissen mündlich weiterzutragen, bis eines fernen Tages der Kontakt zur Mutterwelt wiederhergestellt werden konnte.

Als ich das hörte, überlief mich ein Frösteln.

Ich erinnerte mich an mein Leben auf der Erde. Auch dort war im zwanzigsten Jahrhundert einmal die Anregung aufgekommen, einen Orden der »Atom-Priester« einzurichten, deren einzige Aufgabe es sein sollte, das technische Know-how der Menschheit in Gestalt einer »Atom-Religion« weiterzugeben, wenn nach einem atomaren Schlagabtausch der Supermächte die Zivilisation aufgehört hatte zu bestehen.

Die Jomoner hatten etwas Ähnliches getan – ohne daß es sich bewährt hätte.

Im Freien waren die Jomoner rasch auf einen primitiven Stand der Technik zurückgefallen. Die Alten in den Bergen hatten von Generation zu Generation den heiligen Auftrag erfüllt und waren dieser Tradition nur deswegen treu geblieben, weil sie sich im Lauf der Zeit körperlich dem Leben im Innern der Berge so angepaßt hatten, daß sie in der Außenwelt kaum noch leben konnten.

»Das ist unsere Geschichte, Fremder von den Sternen«, sagte der Älteste der Bergjomoner mit brüchiger Stimme. »Mehr weiß ich nicht. Wir werden weiter so leben, wie wir es tun, bis es uns nicht mehr gibt und die Legende vom Schwert von Jomon erloschen ist.«

»Schwert von Jomon?«

Ich sah Chipol an.

An das seltsame Gebilde, das ich im Ring der Hybris gefunden hatte, hatte ich seit geraumer Zeit nicht mehr gedacht. Der Griff und das zusammengerollte Schwert befanden sich noch in meinen Taschen.

»Das Schwert allein kann uns retten«, sagte der Älteste. »Es wird das Erbe der Ahnen erwecken und Jomon zu neuem Glanz führen.«

Ich schloß für einen Augenblick die Augen.

»Gesetzt den Fall, das Schwert wird gefunden, was dann?«

»Ich kann es dir zeigen«, sagte der Älteste. »Folgt mir.«

Er ging voran. Ein paar Einrichtungen gab es noch, die ohne die Hauptpositronik funktionierten. Die Beleuchtung gehörte dazu, ein perfektes Belüftungssystem und eine Wiederaufbereitungsanlage für Wasser und Nahrung. Nur dank dieser Technik hatten die Jomoner in den Anlagen überhaupt so lange überleben können.

Während der Älteste uns führte, setzte ich die einzelnen Mosaiksteine zu einem allmählich geschlossener werdenden Bild zusammen.

Irgendwie mußte der Erleuchtete von dem technischen Erbe der Jomoner erfahren haben, vermutlich durch seine Daila-Agenten, die wahrscheinlich aus ganz anderen Gründen hier abgesetzt worden waren. Sobald sie begriffen hatten, was hier zu holen war, hatten die Agenten alles daran gesetzt, die Ligriden von hier zu vertreiben.

»Dies ist der heilige Ort. Wir betreten ihn nur selten, es ist eine geweihte Stätte.«

Der heilige Ort erwies sich als eine hochmoderne Kommandozentrale, ein fast exaktes Ebenbild der Ruine, die Chipol und ich im Ring der Hybris gefunden hatten. Auch hier gab es Schaltpulte,

Sessel, Monitoren und einen unüberschaubaren Gerätepark.

Und auch hier gab es eine Statue, die einen Jomoner darstellte – nur mit dem Unterschied, daß dieses Standbild kein Schwert in Händen hielt.

Ich holte tief Luft.

Zuerst nahm ich den Griff aus der Tasche, dann das zusammengerollte Schwert. Ich verband die beiden Teile miteinander, während die Jomoner mich aus weitgeöffneten Augen anstarrten.

»Das Schwert!« ächzte der Älteste. »Wo hast du es gefunden?«

»In einem anderen Sonnensystem«, antwortete ich. Das Schwert hatte wieder seine ursprüngliche Form angenommen. Als Waffe war es wohl nicht zu gebrauchen.

Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, daß Chipol jäh erstarrte. Er hatte etwas gesehen.

Langsam drehte ich mich herum.

Sie hatten uns gefunden.

»So trifft man sich wieder«, sagte einer der beiden Ligriden. Ich hatte immer noch nicht gelernt, sie auseinanderzuhalten.

»Gib her!« sagte der andere. Sie hatten Waffen in den Händen und hielten sie auf uns gerichtet. Widerstand war sinnlos.

Ich streckte die Hand aus, aber bevor ich dazu kam, das Schwert von Jomon dem Ligriden zu übergeben, handelte einer der Jomoner.

Es war Plodar, der sich in Bewegung setzte. Er riß mir das Schwert aus der Hand und rannte damit los – auf das Standbild zu.

Die Waffe des Ligriden ruckte zur Seite. Ich versuchte ihm mit einem Fußtritt die Waffe aus der Hand zu schlagen, aber während die Hand mit der Waffe in die Höhe flog, hatte der Zwilling neben ihm bereits abgedrückt. Plodar brach unmittelbar vor dem Standbild zusammen.

Ich setzte einen Hieb an, während sich Brasher und Gjoph auf den anderen Ligriden stürzten.

Das Handgemenge war kurz und heftig. Es gelang mir, meinen Gegner zu entwaffnen und mit einem Dagor-Griff zu betäuben. Gjoph und Brasher waren weniger erfolgreich. Ihr Gegner schaffte es, sich ihrem Griff zu entziehen. Ein Fausthieb ließ Gjoph zurücktaumeln. Brasher hatte zwei Arme um den Leib des Ligriden geschlungen und packte mit zwei weiteren Händen den Waffenarm seines Gegners.

Der Ligride war unglaublich kräftig, er schaffte es auch, sich gegen Brasher erfolgreich zu wehren. Ich bückte mich, um die Waffe meines Gegners an mich zu nehmen…

»Aufhören!« schrie Syvea.

Unwillkürlich sah ich hoch.

Obwohl tödlich verwundet, hatte sich Plodar aufgerichtet. Er stand vor der Statue und versuchte das Schwert in die entsprechende Lücke zwischen den Händen hineinzuschieben.

Auch der Ligride erstarrte und sah fasziniert hinüber.

Ein paar Augenblicke lang geschah nichts, dann sackte Plodar in sich zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen.

Ein paar Herzschläge danach wurde es mit einem Schlag taghell in den Kontrollzentrum.

Das Schwert von Jomon tat, was von ihm erwartet wurde. Die Maschinen, die jahrzehntausende lang außer Betrieb gewesen waren, nahmen ihre Tätigkeit wieder auf.

Roboter tauchten auf, Kampfmaschinen. Offenbar war die Anwesenheit von Fremden im

Kontrollzentrum entdeckt worden, und die Hauptpositronik leitete sofort Abwehrmaßnahmen ein.

Ich blieb wie eingefroren stehen, desgleichen Chipol. Der Ligride aber bewegte sich und hob die Waffe – die Roboter schossen ihn sofort nieder.

»Ich erwarte Anweisungen von autorisierter Stelle«, meldete sich die Positronik über Lautsprecher.

Ich sah den Ältesten der Bergjomoner an, aber der war zu erschüttert, um reagieren zu können.

»Identifikation: ich bin die Person, die das Schwert von Jomon an seinen Platz zurückgebracht hat«, sagte ich laut.

»Bestätigung erforderlich«, lautete die Antwort.

»Er sagt die Wahrheit«, rief Brasher aus.

Es dauerte einige Minuten, bis eine brauchbare Kommunikation zwischen uns und der Positronik möglich war. Der Rechner hatte Zeit nötig, um die Informationen zu verarbeiten, die er von uns bekam. Erst als Brasher und Gjoph vorläufig als Befehlsgeber anerkannt waren, war die Positronik zur Mitarbeit bereit.

Und als erstes lieferte sie uns einen knappen Bericht über das, was sich im Heimatsystem der Jomoner zugetragen hatte…

Es waren Bilder, die mich tief erschütterten, nicht nur, weil diese kosmische Katastrophe unzählige Opfer gekostet hatte. Es ging auch um die Ursache für diese Katastrophe…

Um etwas Einzigartiges in der Galaxis Manam-Turu als ewiges Zeichen ihrer Macht zu schaffen, hatten die Ur-Jomoner den Plan ersonnen, die drei Planeten ihres Heimatsystems auf eine gleiche, synchronisierte Umlaufbahn zu bringen.

Es war genau jenes Projekt, das vor ähnlich langer Zeit mein Volk unternommen hatte. Bei den Arkoniden war der Plan gelungen – Arkon I, II und III hatten danach als strahlendes Dreigestirn der Macht die zentrale Sonne umkreist.

Den Ur-Jomonern war das Vorhaben mißlungen, alle drei Welten waren zerstört worden – geblieben war nur ein Etwas, das andere auf den Namen »Ring der Hybris« getauft hatten.

Danach aber ging die Positronik zu den Problemen des Tages zurück – und entfaltete ihre Macht.

10.»Unglaublich«, stieß Dharys hervor. »Ich kann es nicht fassen.«

Von einem Augenblick zum anderen hatte sich die Lage grundsätzlich geändert.

Auf geheimnisvolle, für Dharys unerklärliche Art und Weise war Jomon zum Leben erwacht. Die Meldungen, die in rascher Folge bei Hellenker eintrafen, berichteten von schier unglaublichen Dingen – von Abwehrforts, die plötzlich aus dem Meer aufgetaucht waren, von Berggipfeln, die sich geöffnet und Kampfstationen freigelegt hatten. In der Nähe von Jompol und allen anderen ligridischen Stationen auf dem Planeten, waren Scharen von Kampfrobots aufgetaucht – staubbedeckt und schmutzig, aber noch voll einsatzbereit.

Die ersten, die von diesem Erwachen betroffen waren, waren die Schiffe der angreifenden Traykon-Flotte. Massives Abwehrfeuer schlug ihnen entgegen, nicht nur von den ligridischen Batterien sondern auch von den Abwehrfestungen des Planeten. Die Traykon-Flotte hatte sich daraufhin erst einmal zurückgezogen. Dharys konnte sehen, daß sie sich zu einem zweiten Angriff formierte – diesmal aber galt die Attacke mehr den jomonischen Anlagen als den ligridischen Stationen. Was die Ligriden auf dem Planeten aufgebaut hatten, waren Spielzeugwaffen verglichen mit den Anlagen, die nun ins Geschehen eingriffen. Weite Bereiche Jomons, vor allem das Gebiet um Jompol, wurden von jäh entstandenen Schirmfeldern eingehüllt und so vor Angriffen gesichert.

Hellenker studierte fassungslos die hereinflutenden Meldungen.

»Sie werfen uns hinaus«, murmelte er erschüttert. »Einfach so, als wäre es völlig normal.«

Dharys konnte das Entsetzen des Ligriden verstehen. Mit dieser Entwicklung der Dinge hatte niemand rechnen können.

Die jomonischen Roboter trieben die Ligriden einfach vor sich her, auf den Stützpunkt zu. Wer floh, wurde nicht behelligt, wer Widerstand leistete, bekam die Kampfkraft der Maschinen zu spüren.

Auch in der Stadt selbst waren Roboter aufgetaucht. Offenbar hatten sie eine kleine Ewigkeit lang in unentdeckt gebliebenen Gewölben gelagert und waren durch einen Funkspruch aktiviert worden. Auch diese Maschinen beschäftigten sich nur damit, Jomoner und Ligriden zu trennen und die Ligriden auf den Raumhafen zu abzudrängen.

»Wir müssen uns absetzen«, sagte Hellenker seufzend. »Unsere Lage ist unhaltbar. Ich möchte nur wissen, was geschehen ist.«

»Ich weiß es auch nicht«, meinte Dharys. Er hatte den dumpfen Verdacht, daß Atlan etwas damit zu tun hatte, aber er sprach diese Ahnung nicht aus. Sie erschien ihn unbeweisbar.

Wieder griff die Traykon-Flotte an, und zum zweiten Mal wurden die Schiffe des Erleuchteten zurückgeschlagen. Ihre Verluste waren so hoch, daß danach selbst die kleine Flotte des Ligridenstützpunkts gegen die Traykon-Schiffe eine Chance hatten.

Hellenker murmelte pausenlos Verwünschungen, während er alle Vorbereitungen für den Rückzug treffen ließ.

Von ihrer Ausrüstung konnten die Ligriden kaum etwas mitnehmen, die Robots ließen ihnen weder Zeit noch Gelegenheit. Das einzige, was die Ligriden zu tun imstande waren, war, die Robots aufzuhalten und der Mannschaft mehr Zeit zu geben, in die Schiffe zu steigen. Sie standen startklar auf dem Raumhafen.

»Hoffentlich behalten die Jomoner diese Haltung bei«, murmelte Hellenker düster.

Dharys wußte, was der Ligride meinte. Wenn die gesamte ligridische Besatzungstruppe des Planeten in den Schiffen zusammengepfercht abflog, waren diese Schiffe von den jomonischen

Abwehrforts mühelos abzuschießen. Für geraume Zeit würden diese Schiffe kaum zu verfehlende Zielscheiben abgeben.

»Sie werden«, behauptete Dharys, obwohl er dafür nicht den geringsten Beweis hatte.

Es wurde Zeit, Hellenkers Hauptquartier zu verlassen. Die ersten Roboter der Jomoner tauchten am Rand des Gesichtskreises auf.

Hellenker und Dharys verließen das Haus. Vor der Tür stand ein fahrbereiter Gleiter. Hellenkers jomonisches Personal schien gar nicht begriffen zu haben, was sich abspielte – verstört rannten die Jomoner durcheinander. Vielleicht würden einige bald für ihre allzu eifrige Zusammenarbeit mit den Ligriden büßen müssen.

Der Gleiter fuhr los. Zur gleichen Zeit vernichtete eine kleine Desintegratorladung das technische Mobiliar in Hellenkers Räumen; den Jomonern sollte kein Geheimmaterial in die Hände fallen.

»Ich hatte mir den Abschied anders vorgestellt«, murmelte Hellenker.

»Es gibt Wichtigeres als Jomon«, gab Dharys zurück. »Den Erleuchteten und EVOLO – haben wir erst EVOLO, wird der Erleuchtete bald seine Macht verloren haben.«

Und dann, setzte Dharys in Gedanken hinzu, kann ich mich an ihm rächen für den Tod meiner Familie.Ab und zu blickte Dharys über die Schulter. Irgendwo auf Jomon war sein Sohn, den Dharys in diesem Augenblick nicht wiedersehen wollte – nicht solange er seine Rache an dem Erleuchteten nicht vollzogen hatte. Und sollte diese Rache nicht gelingen… dann war dies der Abschied von Chipol. Dharys hatte alle Mühe, sich zu beherrschen, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging.

Mit höchster Fahrt raste der Gleiter zum Raumhafen. Auf dem Weg zum Start- und Landefeld herrschte Chaos. Die Ligriden dachten nur daran, ihre Haut vor den unerbittlich heranmarschierenden Robots zu retten.

Es war vermutlich der dunkelste Tag in Hellenkers Leben – ein schmachvoller Rückzug von einem sicher geglaubten Besitztum. Und nach Lage der Dinge würden die Ligriden kaum imstande sein, diese Scharte wieder wettzumachen. Nach dem Start der ligridischen Flotte würde Jomon frei sein und frei bleiben.

Auf dem Raumhafen war das Chaos noch größer. Gleiter waren miteinander kollidiert, ein paar in Flammen aufgegangen. Rauchschwaden wurden vom Wind über den Platz getrieben und steigerten noch die Panik, die die Ligriden ergriffen hatten. An den Schleusen war es zu Handgemengen gekommen, erbittert wurde um einen Platz in den Raumschiffen gerungen.

»Reicht die Kapazität?« fragte Dharys den neben ihm sitzenden Hellenker.

»Sie reicht. Es wird allerdings sehr eng werden.«

Hellenkers Miene war finster. Immerhin – wo er auftauchte und von seinen Leuten gesehen wurde, genügte sein Anblick, sofort wieder Disziplin einkehren zu lassen. Bei der Mehrzahl der Ligriden schien Hellenker ein beliebter und respektierter Kommandeur zu sein.

Der Gleiter hielt vor einer Schleuse. Hellenker stieg aus und blieb neben dem Förderband stehen, das die Ligriden ins Innere transportierte.

Dharys bewegte anerkennend den Kopf. Die Eroberungspolitik der Ligriden schätzte der Daila überhaupt nicht, die Machtbestrebungen des Neuen Konzils gefielen ihm nicht – aber der Ligride Hellenker flößte ihm Respekt ein.

Nun wieder erheblich ruhiger stiegen die Ligriden in die Raumschiffe. Gleiter auf Gleiter kam herangerast, lud seine Fracht ab und kehrte um, um noch die letzten Ligriden einzusammeln, die den Robots der Jomoner Widerstand leisteten.

Wieder einmal hatte Jompol unter den Kämpfen zu leiden. Ein paar Häuser waren in Flammen aufgegangen, und das Feuer breitete sich aus.

»Beeilt euch!« schrie ein Offizier neben Dharys. Er trieb die Ligriden mit heftigen Handbewegungen an. Es war der Kommandant des Schiffes. Hellenker stand unbeweglich neben dem Transportband und wartete – solange er das Schiff nicht betreten hatte, durfte nicht gestartet werden.

Die Front hatte sich bis an den Raumhafen herangeschoben. An den Grenzen des Feldes blieben die jomonischen Roboter stehen.

Jetzt hätten die Geschütze der Schiffe eingreifen können, aber deren Einsatz hätte an der Niederlage auch nichts mehr geändert.

Es war ein sehr befremdlicher Anblick, der sich Dharys bot. Am Rand des Raumhafens vergrößerte sich die Schar der dort aufmarschierten Roboter. Sie sahen verwahrlost und heruntergekommen aus. Neben dem Förderband stand Hellenker hoch aufgerichtet in seiner besten Uniform. Er blieb dort schweigend stehen, bis der letzte Ligride das Schiff betreten hatte.

»Es wird Zeit«, sagte Dharys sanft. Hellenker machte eine Geste der Bejahung.

Während Dharys das rettende Schiff betrat, warf er einen letzten Blick auf Jomon.

Dieses Kapitel war für ihn abgeschlossen, jetzt war ein anderer Abschnitt seines Lebens angebrochen – die Zeit der Rache an dem Erleuchteten.

Und das Werkzeug dieser Rache sollte nach Dharys Willen das Geschöpf des Erleuchteten sein.

»EVOLO«, murmelte Dharys grimmig, dann verschwand er im Innern des Schiffes.

*

»Wir werden dieser Statue seine Züge verleihen«, sagte Brasher langsam. Er deutete auf den Leichnam von Plodar, der inzwischen mit einer Plane bedeckt worden war. Neben Brasher stand Syvea, verwirrt und augenscheinlich in gewisser Weise zufrieden mit dieser Lösung.

»Ausgerechnet Plodar«, murmelte Gjoph kopfschüttelnd.

Ich konnte ihn verstehen. Auch mir war aufgefallen, daß Plodar nach den Begriffen der Jomoner alles andere gewesen war als ein strahlender Held, eher ein gutmütiger Trottel. Aber er war es gewesen, der die technische Geheimwelt von Jomon reaktiviert und damit das Schicksal der Jomoner verändert hatte. Er war der Retter von Jomon.

Ich warf einen Blick auf den Ältesten. Er und seine Kollegen waren von den Problemen, die sich nun auftaten, hoffnungslos überfordert – diese Jomoner hatten zu lange fern von der Wirklichkeit gelebt. Ihr technischer Mystizismus war in der Zukunft überflüssig.

Auf großen Bildschirmen konnten wir verfolgen, was sich an der Oberfläche des Planeten tat. Unsere Aktionen verliefen programmgemäß.

Nach kurzer Debatte hatten Gjoph und Brasher mich gebeten, der Positronik die nötigen Befehle zu geben, um die Ligriden von Jomon zu vertreiben. Der Rechner hatte meine Anweisungen akzeptiert und befolgt – in diesen Augenblicken hoben die ligridischen Schiffe ab und verließen Jomon für immer. Sollten sie sich noch einmal auf Jomon zeigen, dann nur als Gesandte in friedlicher Mission – alles andere würde die Positronik zu verhindern wissen.

Die Zukunft des Planeten war in groben Zügen geregelt. In ein paar Tagen würden in dieser Schaltzentrale die Fürsten der Jomoner zusammenkommen und eine erste Regierung einsetzen, der die Positronik zu gehorchen hatte – sofern diese Regierung gewisse Spielregeln beachtete, die ich

dem Rechner eingegeben hatte. Diese Befehle hatte ich mit ein paar programmiertechnischen Tricks so in das Hauptprogramm der Positronik eingearbeitet, daß man sie so schnell nicht löschen konnte. Bis irgend jemand auf diesem Planeten in der Lage war, diese Programmierung wieder zu ändern, würde sich das Leben auf Jomon in einer demokratischen und liberalen Form so eingespielt haben, daß ein Rückfall in die Zeiten der Feudalherrschaft wenig wahrscheinlich war.

Die Schiffe der Ligriden stießen in den freien Raum vor. Die angreifenden Schiffe – vermutlich Einheiten, die dem Befehl des Erleuchteten unterstanden – hatten ebenfalls den Rückzug angetreten. Auch von ihnen drohte den Jomonern keine Gefahr mehr.

Ligriden gab es auf Jomon nicht mehr. Der überlebende Zwilling hatte in der Zelle, in die man ihn eingesperrt hatte, Selbstmord begangen – auf autosuggestivem Weg. Agenten des Erleuchteten waren auf Jomon ebenfalls nicht mehr zu finden, soweit wir das abschätzen konnten.

Ich holte tief Luft.

Das Ganze kam fast einem Wunder gleich – vor wenigen Stunden war die Lage noch schier hoffnungslos gewesen, jetzt war Jomon frei, und die Jomoner konnten sich daran machen, ihren Lebensstandard langsam zu erhöhen. Da der Sprung vom Mittelalter in die Moderne gewaltig war, hatte ich auch auf diesem Gebiet der Positronik gewisse Anweisungen und Einschränkungen hinterlassen, als Vorsichtsmaßnahme.

»Dieses Problem wäre geklärt«, meinte Chipol zufrieden. »Und was nun?«

Ich deutete auf den Bildschirm.

»Hinter den Ligriden her. Sie haben deinen Vater mitgenommen.«

Wir hatten über die Optiken der Robots sehen können, daß Dharys zusammen mit Hellenker auf dem Landefeld gestanden und auf das Eintreffen der letzten Ligriden gewartet hatte. Es gab für mich keinen Zweifel mehr – Dharys hatte die Fronten gewechselt und arbeitete mit den Ligriden gegen den Erleuchteten.

Ich hatte sogar noch mehr herausfinden können. Beim Betreten des Schiffes hatte Dharys etwas gemurmelt. Ich hatte ihn nicht hören können, aber das Bild auf dem Schirm war so gut gewesen, daß ich die Lippenbewegungen hatte verfolgen können.

»EVOLO«, hatte Dharys gesagt, und das Extrahirn hatte gefolgert, daß dies der Weg war, auf dem Dharys an den Erleuchteten herankommen wollte.

Das war natürlich auch für mich von größtem Interesse, ein Grund mehr, auf den Spuren des Daila zu bleiben.

Dazu war ein Raumschiff nötig – und genau daran mangelte es.

Zwar gehörte zur Ausrüstung von Jomon auch eine Flotte von Raumschiffen, aber die Positronik hatte mir verraten, daß keines dieser Schiffe von weniger als dreißig Mann zu fliegen waren – dreißig ausgebildeten Spezialisten, und auf Jomon gab es niemanden, der dafür die nötigen Kenntnisse mitbrachte.

Chipol stieß mich an.

»Was, glaubst du, ist das?«

Er deutete auf den Bildschirm, der eine Abbildung des Weltraums um Jomon zeigte. Deutlich war die abziehende Flotte der Ligriden zu erkennen – die anderen Schiffe hatten das System längst verlassen.

Aber da war noch ein Schiff – es näherte sich vorsichtig Jomon.

Ich runzelte die Stirn.

»Du nimmst an, daß es die STERNSCHNUPPE ist?« fragte ich.

»Ich hoffe es wenigstens«, gab der junge Daila zurück.

Unwahrscheinlich war es nicht. Zwar hatte das Schiff im Ring der Hybris die Nerven verloren und war in Panik geflohen, aber seither war viel Zeit vergangen. Ich hoffte, daß es Mrothyr gelungen war, die STERNSCHNUPPE wieder unter Kontrolle zu bringen. War das frühzeitig gelungen, konnte Mrothyr durchaus auf unserer Fährte geblieben sein. Mit der STERNSCHNUPPE durfte er sich natürlich nicht allzu nahe heranwagen an den Ligridenstützpunkt, aber jetzt gab es diesen Stützpunkt nicht mehr.

Ich forderte die Positronik auf, eine Funkverbindung zur STERNSCHNUPPE herzustellen – und widerrief diesen Befehl sofort. Die Ligriden brauchten nicht zu wissen, daß ich Kontakt zu dem Schiff bekam. Wahrscheinlich glaubte Hellenker, daß ich mit Chipol nun auf diesem Planeten festsaß und ausgeschaltet war – und es war für mich von Vorteil, daß er das glaubte. Um so leichter wurde es dadurch für mich, den Ligriden auf der Fährte zu bleiben.

Wenn das herannahende Schiff die STERNSCHNUPPE war, dann ging Mrothyr mit äußerster Behutsamkeit vor. Er tastete sich gleichsam an den Planeten heran, und so verging geraume Zeit, bis das fremde Schiff sich Jomon so genähert hatte, daß man eine Funkverbindung per Interkom herstellen konnte.

Die Störgeräusche waren gräßlich, aber die Verständigung klappte.

»Ich bin froh, daß ich euch gefunden habe«, gab Mrothyr durch. »Das Schiff hat sich gut erholt und ist einsatzbereit. Wie geht es euch?«

»Wir warten darauf, daß ihr uns abholt«, antwortete ich. »Andere Sorgen haben wir zur Zeit nicht.«

»Ich werde mich beeilen«, versprach Mrothyr.

Die Lage hatte sich gründlich gewandelt – jetzt waren wir es, die die Ligriden jagten und ihnen auf den Fersen blieben.

Und mit der unfreiwilligen Hilfe von Dharys und den Ligriden hoffte ich endlich eine brauchbare Spur zu finden, die zu dem Erleuchteten führte.

Der Erleuchtete hatte die Situation nicht mehr im Griff, seine Aktionen wurden bizarr und widerspruchsvoll.

Uns gab diese Schwäche des Erleuchteten eine Chance, ihn aufzustöbern und unschädlich zu machen.

Aber bis dahin würde der Weg noch weit sein.

ENDE

Nach den Erlebnissen der drei von der STERNSCHNUPPE und dem Geschehen auf Jomon blenden wir im Atlan-Band der nächsten Woche um zu Anima, Goman-Largo und Neithadl-Off.Dieses seltsame Trio aus Raum-Zeit-Abenteurern ist bekanntlich in die Gewalt der Hyptons geraten, die die Raumstation Manam-Pzan beherrschen. Doch die gegenwärtigen Machtverhältnisse sind nicht von langer Dauer, als der Erleuchtete zuschlägt.Mehr darüber berichtet H. G. Ewers im Atlan-Band 747. Der Roman trägt den Titel:DIE HÖLLE VON MANAM-PZAN

ATLANS EXTRASINNDharys und die Ligriden

Sind die Ligriden eigentlich echt? Das muß ich mich fragen. Ist Dharys noch richtig im Kopf? Das muß ich mich auch fragen.

Es gibt manchmal Themen, die ich mit Atlan nicht diskutieren kann. Er ist da stur und uneinsichtig. Da sagt meine Logik, daß es besser ist, wenn ich schweige. Die Ligriden sind ein solches Thema. Und Dharys. Atlan neigt dazu, manchmal die Augen vor Tatsachen zu verschließen. Dann hört er auch nicht auf mich.

Dharys hängt an Chipol. Atlan hängt an Chipol. Aber was will Dharys? Er hat seine Machtbesessenheit bereits bewiesen. Sein Sohn ist ihm weniger wert als jeglicher Einfluß. Sein Weg ist vorgezeichnet.

Er sucht die Macht. Er ist in dieser Beziehung schlimmer als der Erleuchtete, der sein Ziel wohl allein darin sieht, EVOLO zu vervollständigen. Und immerhin arbeitet er über 5000 Jahre an der Verwirklichung dieses unfaßbaren Planes. Dharys will mehr. Er will Macht. Und das sofort. Ihm ist scheinbar jedes Mittel recht, um an diese Macht zu gelangen. Der Erleuchtete hat ihn stark gemacht. Er hat seine bescheidenen Mutantenfähigkeiten ausgebaut. Fühlt sich Dharys jetzt so stark, daß er sich mit dem anlegen will, der ihn stark gemacht hat? Ist er noch richtig im Kopf? Oder wonach will er noch verlangen? Die Ligriden sind für ihn ein Instrument auf seinem, von ihm selbst vorgezeichneten Weg. Er müßte aber sehen, daß dieser Weg zu keinem wahren Erfolg führt. Was würde ihm die Herrschaft nützen? Würde er sie für sich haben wollen oder für Chipol? Vielleicht, ja, sehr wahrscheinlich, wird er auf diese Ausrede irgendwann verfallen. Er wird – so sehe ich das nach den Ereignissen auf Areffa – auch weiterhin seine Machtbestrebungen verfolgen und auch nicht davor zurückschrecken, die Hyptons als Partner zu gewinnen.

Oder mehr? Gar den Erleuchteten? Oder EVOLO?

Ein verirrter Daila, der seinen Sohn als Werkzeug zum Erreichen des Gipfels sieht, mehr ist Dharys nicht. Ich habe mir einmal überlegt, wie schön es wäre, wenn er sich mit Chipol aussöhnen könnte. Es hat nie einen Schimmer der Verwirklichung gegeben.

(Ich bin das logisch denkende ARK SUMMIA-Produkt in Allans Kopf, aber ich finde es auch logisch schade, daß Chipol sich zwangsweise von seinem leiblichen Vater entfremden muß.) Dharys startet in Richtung der Ligriden. Und dann in Richtung der Hyptons? Ich meine, ohne es ganz exakt begründen zu können, daß er das macht. Und dann wird er gegen den Erleuchteten agieren. Und gegen sein Geschöpf EVOLO?!

Dharys hat begonnen, etwas vom Rätsel der Ligriden zu erkennen. Noch spricht er es nicht aus. Die Ligriden, echsenartige Wesen, sind in meiner Betrachtung nicht echt. Sie sind Ligriden. Ligriden, das heißt in einer Sprache des früheren Konzils der Sieben, Gemachte. Aber die Ligriden wirken echt, nicht gemacht. Oder nicht?

Da muß man sorgfältig recherchieren. Und nachdenken. Die Vergangenheit muß befragt werden. Gab es da Parallelen? Ähnliches? Etwas, von dem die Ligriden in ihrer eigenartigen Verhaltensweise als Mitglied des sogenannten »Neuen Konzils« befangen oder gar »gemacht« worden waren? Die Hyptons sind nicht das Volk, das Gegebenheiten einfach akzeptiert. Die Hyptons sind in sich selbst handlungsunfähig. Aber sie beeinflussen. Das macht sie gefährlich. Und wenn sie die Ligriden als Verbündete gewählt haben, dann nicht ohne Grund!

Sie haben die Ligriden im Griff! Nichts in Manam-Turu deutet bislang darauf hin, aber Atlans Extrasinn denkt so. Es muß etwas mit der Vergangenheit der Hyptons zu tun haben. Mir ist noch alles bewußt.

Das Konzil der Sieben Galaxien. Die Laren. Die Mastibekks. Die Greikos. Die Hytpons… Die heimlichen Lenker. Besser und schlimmer als die Kelosker.

Die heimlichen Lenker waren und sind die Hyptons. Die anderen Völker des vergangenen Konzils existieren wohl noch, aber nur an der unteren Schwelle des Daseins.

Habe ich etwas mit meinem perfekten Verstand übersehen? Etwas, was mit den Ligriden zu tun hat? Ich beginne, an mir zu zweifeln. Ich habe etwas übersehen. Ich bin doch perfekt, was Erinnerungen betrifft? Habe ich auch bei Fartuloon versagt? Mich nicht gemeldet? War ich zu überrascht gewesen?

Ich mußte einsehen, daß auch der EXTRASINN nicht alles konnte und wußte, obwohl er etwas Besseres als ein totografisches Gedächtnis besaß. Und besitzt!

Mastibekks-Ligriden? Nein, falsch!

Hotrenor-Taak-Ligriden? Auch falsch.

Der Erleuchtete - Ligriden. Ganz falsch.

Ich war irgendwie inspiriert. Aber ich erkannte die Wahrheit nicht.

KETTENHUND, der Name von Dharys’ Schiff, das ihm der Erleuchtete gegeben hatte. Der Name »Kettenhund« paßte auf die Ligriden, auf die Gefolgsleute der Hyptons. Also mußten die Hyptons die Ligriden kennen! Von früher! Es gab aber kein Volk, das echsenähnlich war, im Konzil der Sieben Galaxien. Oder?

Egal, wie es ist. Atlan will von solchen Gedankenverbindungen nichts hören. Er vollzieht seine innere Trennung von den Kosmokraten. Er will er selbst sein.

Dharys und die Ligriden. Und die Hyptons. Er sieht das. Er hat Sehnsucht nach Sarah und Anima. Aber er spricht es nicht aus. Er sucht. Er sucht nach dem Erleuchteten, dem ehemaligen Juwel von Alkordoom. Und nach dessen Produkt EVOLO.

Er sucht. Aber er versucht zu wenig, Dharys zu verstehen oder die Ligriden zu ergründen. Er geht einfach so voran, auch wenn es ein Rückschritt sein könnte. Er sieht nicht, was sich hinter den Ligriden verbirgt.

Oder was Dharys noch anstellen wird.

Ich bin mir ganz sicher, daß der Daila-Mutant noch für manche böse Überraschung gut ist. Selbst als Agitator der Ligriden könnte ich ihn mir vorstellen. Oder als einen, der die Herkunft der Ligriden entschleiert.

Ein Diener des Erleuchteten muß doch zu etwas Besonderem fähig sein!

Er muß doch auch die Ligriden erkennen. Hellenker ist doch ein lebendes Beispiel.