Der Spiegel: Sarkozys Sturm

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  • 8/8/2019 Der Spiegel: Sarkozys Sturm

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    CHARLESP

    LATIAU

    /REUTERS

    I.

    Auf Abenteuerfahrt ber Ozeane und durch ferne Lnder

    wundert sich Obelix, der treue Freund des Asterix, hu-fig ber lokale Sitten und Gebruche. Der dicke Gallierin der blau-wei gestreiften Hose macht dann sein berraschtesGesicht, tippt sich an den rothaarigen Kopf und murmelt, wahl-weise: Die spinnen, die Briten oder Die spinnen, die Rmeroder wen immer er gerade vor sich haben mag. Dieser Tage,in denen links des Rheins das Volk wieder auf die Barrikadengeht, gegen eine offenkundig notwendige Rentenreform, wiees scheint, stellt sich die Frage anders: Spinnen vielleicht dieGallier? Sind die Franzosen verrckt geworden?

    In Marseille streikte vorige Woche die Mllabfuhr, durch Nan-terre zogen johlend die Schler. Busse und Bahnen blieben inihren Depots in Calais und Dijon, in Toulouse und Nizza, woder ffentliche Nahverkehr ganze Tage lang fast zum Erliegenkam. In Rennes und Caen, in Montpellier und Grenoble, in ins-

    gesamt 24 Universittsstdten verlieen Studenten ihre Hrsleund machten frhlich Straen und Innenstdte unsicher. In Poi-tiers gab es keine Post, in Paris keine Zeitungen. Weil Raffinerienund Treibstoffdepots blockiert waren, ging an mehr als 3000Tankstellen im Land der Sprit aus. Der Betrieb der Flughfenin Paris und andernorts war nachhaltig gestrt, es fielen reihen-weise Fernzge aus im ganzen Land, Lastwagenfahrer provo-zierten Staus auf Autobahnen und die dazugehrigen Bilder,auch solche von kleinen Brnden, gingen um die Welt.

    Wer die Ereignisse nur flchtig verfolgt, wer sich auf diehektischen Kurzmeldungen verlsst, muss zu dem Schluss kom-men, dass die Franzosen in diesen Tagen wider alle Vernunftdafr kmpfen, weiterhin mit 60 in Rente zu gehen und nichterst mit 62, wie es die Regierung durchsetzen will. Wre diesdie Wahrheit, msste man die Franzosen tatschlich fr ver-rckt halten, und Frankreich wre als ernstzunehmender Part-ner in Europa bis auf weiteres abzuschreiben. Aber die Wahr-heit sieht, zum Glck, ein wenig anders aus.

    Ja, es wird in Frankreich derzeit gegen eine fehlerhafte, un-gerechte, schlecht gemachte Rentenreform protestiert, und esgeht dabei keineswegs nur um die lcherlich kleinen Vernde-

    rungen, wie sie gerade berall kolportiert werden. Gleichzeitigaber bietet der Widerstand gegen dieses konkrete Reformpro-jekt einer sehr breiten, nur lose verknpften Protestbewegungden willkommenen Anlass, eine lnger schon angestaute Wutauf die Verhltnisse im Groen und Ganzen endlich loszuwer-den. Zu bezeugen ist in Frankreich in diesen Tagen ein veri-tabler Volksaufstand gegen eine von Skandalen geschttelte,nach halber Amtszeit abgehalfterte Regierung. Und der eigent-liche Adressat des Unmuts ist Nicolas Sarkozy, der unbelieb-teste franzsische Prsident der letzten 30 Jahre.

    II.

    Die Parade der kleinen und groen Fehltritte und Affrendes zurckliegenden Sommers gibt eine Idee davon, wo-

    her die groe Wut im Lande rhren knnte und wiesich Politikverdrossenheit auf Franzsisch heute buchstabiert:Whrend der Fuball-WM in Sdafrika kritisierte etwa die sch-ne, vorlaute Sport-Staatssekretrin Rama Yade den Fuballver-band fr die allzu luxurise Unterkunft der Nationalmannschaft,ehe ffentlich wurde, dass sie selbst fr ihren Besuch am Kapeines der teuersten Luxushotels gebucht hatte. Bald darauf wur-de ruchbar, dass Christian Blanc, ein fr den Groraum Pariszustndiger Staatssekretr, binnen zehn Monaten 12000 Euroseines Budgets fr kubanische Zigarren ausgegeben hatte, undBlanc verstand noch nicht einmal, warum es darber einen f-fentlichen Aufschrei gab. Andere Regierungsmitglieder, darunterIndustrieminister Christian Estrosi, berlieen die ihnen vomStaat bezahlten Funktionswohnungen in Paris ihren studie-renden Tchtern und diversen Familienmitgliedern. Schuldge-fhle? Keine. Entschuldigungen? Aber wofr denn.

    Dass Arbeitsminister Eric Woerth, zustndig fr die aktuellumkmpfte Rentenreform, berhaupt noch auf seinem Posten

    Ausland

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    E S S A Y

    S SD F R 60, A R. V U F

    Prsident Sarkozy, Proteste in Paris vergangene Woche: Volksaufstand gegen eine abgehalfterte RegierungORBANT

    HIERRY

    /ABACA

  • 8/8/2019 Der Spiegel: Sarkozys Sturm

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    und nicht lngst in Untersuchungshaft sitzt, grenzt an ein Wun-der. Woerth konnte, zu Zeiten, als er noch Haushaltsministerwar, keinen Interessenkonflikt darin erkennen, dass seine Frauin der Vermgensverwaltung der steinreichen LOral-ErbinLiliane Bettencourt arbeitete, und bis heute konnte er nochnicht einmal den Verdacht glaubhaft entkrften, seine Frau ge-zielt auf diesen Posten bugsiert zu haben. Dass sich Woerth in

    seiner Funktion als Schatzmeister der Regierungspartei UMPillegale Parteispenden bei ebenjener Madame Bettencourt ab-geholt haben knnte, in bar und im Umschlag, steht als Vorwurfweiterhin im Raum, Woerth bestreitet alles.

    Das Schlimme ist: In solchen Angelegenheiten besteht imheutigen Frankreich wenig Hoffnung auf Klrung oder gar Be-strafung. In der ra Sarkozy berlegen sich Richter und Staats-anwlte mittlerweile ganz genau, welche Verfahren sie an sichziehen, und auch das Parlament ist eine stumpfe Waffe gewor-den. Es gilt, unter Sarkozy, allerorten einen Verfall der einstso stolzen Republik und ihrer Werte anzuzeigen. Undenkbarin den Jahren vor dem Omniprsidenten, dass ein franzsischerStaatschef eine Brandrede auf die nationale Unsicherheit ge-halten htte, wie es Sarkozy im Sommer tat. Undenkbar auch,dass eine Vorgngerregierung eine vergleichbare Vertreibungs-politik wie die Sarkozys gegen die Roma ins Werk gesetzthtte.

    Die Mngelliste der Regierung Sarkozy ist lang. Ihre politi-schen Folgen werden mit jeder neuen Meinungsumfrage greif-barer. In einer serisen neuen Erhebung der vergangenen Wo-che bescheinigten ihm nur noch 6 Prozent der Befragten, dasser seine Sache sehr gut mache; 69 Prozent der Franzosenhielten Sarkozy dagegen fr einen schlechten oder sehrschlechten Prsidenten. Zweidrittelmehrheiten finden sichauch zusammen, wenn es darum geht, die Streiks und Protest-aktionen gegen die Rentenreform gutzuheien. Aber sogardaran ist dieser Prsident am Ende selbst schuld.

    III.

    Es hat sich auch in Frankreich herumgesprochen, dass diesolidarischen Rentensysteme nur funktionsfhig bleibenknnen, wenn sie demografischen und finanziellen Not-

    wendigkeiten angepasst werden. Die aktuelle Lage ist, grobgesprochen, in etwa vergleichbar mit jener in Deutschlandvor den Umbauten der vergangenen Jahre. Das gesetzlicheRentenalter liegt bei 65 Jahren (und soll nun auf 67 steigen),die Beitragszeit bei 40,5 Jahren (sie soll auf 41,5 steigen). Dassin der Berichterstattung stndig die Zahlen 60 und 62 auf-tauchen, resultiert aus verwirrenden Begrifflichkeiten, kultu-rellen Unterschieden und auch aus dem Versuch, die Positio-nen der Gewerkschaften und der Sozialisten ins Lcherlichezu ziehen.

    Tatschlich markieren die 60 Jahre nur das frhestmgliche

    Renteneintrittsalter fr Arbeitnehmer, die bis dahin schon 40Jahre und lnger in die Versicherung eingezahlt haben. Wer inFrankreich mit 60 in Rente geht, ohne die volle Beitragszeithinter sich zu haben, muss hohe Abschlge hinnehmen. DasProblem ist nur: Sarkozy hatte offenkundig nie Interesse daran,eine gesellschaftlich akzeptierte, gewerkschaftlich abgesegneteReform ins Werk zu setzen, diskutiert wurde die praktischnicht. Im Grunde wurde das Ergebnis schon vor dem Beginn

    jedweder Debatte verkndet, das Zukunftswerk am 13. Juli mitten in den groen Sommerferien auf einer Kabinetts -sitzung beschlossen und in seinen Kernpunkten als nicht mehrverhandelbar hingestellt.

    Anders gesagt: Die Regierung und Sarkozy allein ist letzt-lich Frankreichs Regierung in diesen Monaten hat die Mg-lichkeit einer tragfhigen, allgemein akzeptierten Lsung niegesucht. Sie hat die Rentenreform vielmehr als Kampfansagean Gewerkschaften, Sozialisten und sonstige Oppositionellebenutzt. Die Botschaft sollte von Beginn an sein: Mit euch ist

    sowieso kein Staat zu machen. Wir ziehen das allein unserePlne durch nichts und niemanden verwssern. Und dahinterstand gewiss auch die Hoffnung, die Linke mge sich neuerlichradikalisieren, um dann in kommenden Wahlkmpfen schlech-ter auszusehen.

    Das Ergebnis ist nun einseitig, schief und krumm. Die Ar-beitnehmer und besonders die Beamten tragen praktisch

    alle Lasten der Reform, die Arbeitgeber kommen weitgehendungeschoren davon. Arbeiter mit extrem langen Beitragszeitenwerden dafr noch bestraft, Frauen werden benachteiligt, Hr-teflle nicht vernnftig bercksichtigt. Es ist, kurz gesagt, eineunsoziale Reform. Die Art und Weise, wie sie (nicht) verhandeltwurde, ist in politischer Hinsicht vielleicht der grte Skandalund der Aufruhr dieser Tage eine logische Konsequenz.

    Es war Franois Mitterrand, der einst zu Protokoll gab, dassdie Ausbung des Prsidentenamts in Frankreich einem per-manenten Staatsstreich gleichkomme. Sarkozy nimmt seinenVorgnger beim Wort. Beharrlich erweitert er seine Macht.Die Riege der Minister ist lange schon nur noch ein Zuliefer-betrieb des Elyse-Palasts, Sarkozys Mehrheitsfraktion im Par-lament ist zu einem Club der prsidialen Jasager verkommen.Mediapart-Chef Edwy Plenel nennt Sarkozy mittlerweile nurnoch einen csaristischen Hyperprsidenten, der seinen Wil-len durchsetzt, um jeden Preis, so schnell wie mglich, undsei es mit Gewalt.

    IV.

    Die aktuelle Streik- und Protestbewegung hat am 7. Sep-tember begonnen, seither waren Millionen auf den Stra-en, an sechs, sieben nationalen Aktionstagen, undlngst nicht alle Demonstranten wurden dirigiert von Gewerk-schaften, Oppositionsparteien und sonstigen Verbnden. Esziehen jetzt Menschen mit, die man vorher bei Demonstratio-nen nicht gesehen hat, frisch Politisierte, Unorganisierte, diesich vor dem Umbau der franzsischen Demokratie in die fal-

    sche Richtung frchten und vor dem vermeintlich gesundenMenschenverstand, auf den sich die franzsische Regierungheute lieber beruft als auf die Verfassung.

    Zur groen Mehrheit dieser friedlichen Opposition gesellensich nun regelmig die Abgesandten einer desorientiertenVorstadtjugend, die vom Innenminister Sarkozy einst als Ab-schaum betitelt wurde und vom Prsidenten nun als solchebehandelt wird. Alles, was er ihr versprach, einen Marshall-Plan fr die Vorstdte, man stelle sich vor, hat sich in Luftund Lgen aufgelst. Nun sucht sie, es ist nicht weiter berra-schend, den Tumult der Strae, um Autos in Brand zu stecken,Lden zu plndern, Scheiben einzuschlagen. Und es wre nichtberraschend, wenn sich in nchster Zeit Szenen wiederholten,wie sie sich im Ausnahmezustand von 2005 schon einmal ab-spielten.

    Die ungemtliche Wahrheit in Frankreich ist heutzutage die,dass man eigentlich dauernd auf neue Eruptionen wartet; unddass Sarkozy nie, wirklich nie ein vershnliches Wort findet,dass er nie auch nur den Versuch macht, die Lage zu beruhigen,sondern sich immer aufschwingt, sie noch weiter anzustacheln.Anschlieend wird jeder Anflug von Gewalt genutzt, um dasoppositionelle Volk zu beschimpfen.

    Innenminister Brice Hortefeux, der seit Beginn der Roma-Verfolgung wirkt, als durchlebe er die schnsten Wochen seinesLebens, kommentierte Ausschreitungen in Lyon vergangeneWoche mit den Worten: Frankreich gehrt nicht den Randa-lierern, Plnderern und Steinewerfern, wobei offenblieb, obdamit nicht eigentlich auch die friedlichen Demonstranten ge-meint sein knnten. Und Premierminister Franois Fillon sagteber die fortgesetzten Streiks: Niemand hat das Recht, einLand in Geiselhaft zu nehmen. Das mag so sein. Die Fragelautet nur, im Frankreich dieser Tage, wer eigentlich geradedie Geisel ist; und wer der Geiselnehmer.

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