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Redaktion T. Fydrich, Berlin C. Reimer, Gießen Psychotherapeut 2007 · 52:51–54 DOI 10.1007/s00278-006-0527-5 Online publiziert: 12. Dezember 2006 © Springer Medizin Verlag 2006 Christina Meyer · Uwe Berger · Bernhard Strauß Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität, Jena Der supportive Ansatz im psychologischen Konsiliardienst bei einer schweren Krebserkrankung Behandlungsprobleme Der im Folgenden geschilderte Fall- bericht beschreibt zwei Kontakte im Rahmen einer psychologischen Kon- siliarepisode. Diese wurde von der Klinik für Allgemeine, Viszerale und Gefäßchirurgie eines Universitätskli- nikums beauftragt und zielte auf die Unterstützung einer jungen Krebs- patientin im unmittelbaren Vorfeld einer Lebertransplantation ab. Der Fallbericht umfasst die Darstellung der während dieser Kontakte auftre- tenden Reflexionen des Therapeuten bezüglich der Reaktionen der Pati- entin in der medizinischen Behand- lungssituation auf der emotionalen, kognitiven und Handlungsebene. Der Zugang zu eigenem inneren Erleben wird als wesentliche Grundlage des supportiven Ansatzes verstanden. Bei der 16-jährigen Manuela (Name geän- dert) wird einige Monate vor unserer ers- ten Begegnung in deren Heimatkranken- haus ein Leberkarzinom diagnostiziert. Ein Transplantationszentrum lehnt die Organverpflanzung nach abgeschlossener diagnostischer Evaluation telefonisch mit den Worten ab, dass diese bei dem fort- geschrittenen Befund nicht mehr möglich sei. Manuela möge sich zu Hause auf ihr Sterben einstellen. So wenden sich die verzweifelten El- tern an unsere Einrichtung, und es wird letztlich trotz der ungünstigen Prognose eine Lebertransplantation vorbereitet. An einem späten Freitagnachmittag, auf dem Weg aus der Klinik spricht mich eine Schwester an. Manuela sei gerade eben zur Lebertransplantation eingetrof- fen und möchte mich gerne noch einmal sprechen. Die Patientin, eine Jugendliche mit einem ausgedehnten Leberkarzinom, ist zwei Monate vorher in unserer Klinik zur Transplantation vorbereitet worden. Während dieser Zeit lerne ich sie ken- nen. Ein Arzt hat sie darüber informiert, dass es an der Klinik eine Psychologin ge- be und ihr eine Kontaktvermittlung ange- boten. Sie nimmt an. Es ist schwierig und bedarf mehrerer Anläufe, zwischen den vielen wichtigen Untersuchungen zur Vorbereitung der Organtransplantation eine ruhige Zeit für ein Gespräch zu finden. Ich bemerke, dass mir dieses „Hinausschiebenmüssen“ des Erstgespräches nicht nur ungelegen kommt, ich gewinne so noch einen Auf- schub bis zu dieser mich schon ein wenig ängstigenden, ersten, ungeschützten Be- gegnung mit einem aufblühenden und schon durch solch eine schwere Erkran- kung bedrohten jungen Menschen. Ich schlage ihr vor, das Gespräch in meinem Zimmer zu haben, und mir wird wieder mulmig bei dem Gedanken, allein mit ihr in meinem kleinen Büro zu sein, wo kein Bettgestell schützend zwischen uns steht. Wir werden dort dann allein sein mit dem, was ich vage spüre: ihre Angst, ihre Verzweiflung, so viele Fragen, so viel Hoffnung und auch reflektierte Skepsis. Es kommt jedoch anders: Manuela macht sie mir leicht, diese erste Begegnung, so wie sie mir alle weiteren auch leicht macht, auch die schwersten. Sie erzählt von ih- rem ehemaligen Freund, von dem sie sich kürzlich erst getrennt hat, von den ande- ren Mädchen ihrer Schulklasse, zweifelt ihre Attraktivität an, so wie viele Mädchen es in dieser unsicheren Zeit des Werdens tun, und: ihre klaren blauen Augen leuch- ten manchmal. Sie erzählt auch, dass nur wenige ihrer Bekannten von ihrer Krank- heit wüssten, wozu auch?! Sie ist ob der möglichen Reaktionen ihrer Schulfreun- dinnen verunsichert. Am letzten Tag ihres ersten Klini- kaufenthalts schwärmt sie von dem be- vorstehenden Urlaub mit dem Vater und der Schwester in der Türkei. Auch damit scheint sie es mir wieder leicht machen zu wollen. Vielleicht soll das für mich heißen: Sie wird bald weg sein, und ich muss mir keine Gedanken um sie machen. Es wird ihr dort gut gehen, und es wird jemand bei ihr sein, der sich um sie kümmert und der es gut mit ihr meint; also, so könnte sie sa- gen: Sorge dich nicht um mich! Ich habe sie da abgelegt, wo die meis- ten meiner Patienten ihren Platz haben: irgendwo in meinem Gedächtnis, wie un- 51 Psychotherapeut 1 · 2007 |

Der supportive Ansatz im psychologischen Konsiliardienst bei einer schweren Krebserkrankung

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Redaktion

T. Fydrich, Berlin

C. Reimer, Gießen

Psychotherapeut 2007 · 52:51–54

DOI 10.1007/s00278-006-0527-5

Online publiziert: 12. Dezember 2006

© Springer Medizin Verlag 2006

Christina Meyer · Uwe Berger · Bernhard Strauß

Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie,

Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität, Jena

Der supportive Ansatz im psychologischen Konsiliardienst bei einer schweren Krebserkrankung

Behandlungsprobleme

Der im Folgenden geschilderte Fall-

bericht beschreibt zwei Kontakte im

Rahmen einer psychologischen Kon-

siliarepisode. Diese wurde von der

Klinik für Allgemeine, Viszerale und

Gefäßchirurgie eines Universitätskli-

nikums beauftragt und zielte auf die

Unterstützung einer jungen Krebs-

patientin im unmittelbaren Vorfeld

einer Lebertransplantation ab. Der

Fallbericht umfasst die Darstellung

der während dieser Kontakte auftre-

tenden Reflexionen des Therapeuten

bezüglich der Reaktionen der Pati-

entin in der medizinischen Behand-

lungssituation auf der emotionalen,

kognitiven und Handlungsebene. Der

Zugang zu eigenem inneren Erleben

wird als wesentliche Grundlage des

supportiven Ansatzes verstanden.

Bei der 16-jährigen Manuela (Name geän-

dert) wird einige Monate vor unserer ers-

ten Begegnung in deren Heimatkranken-

haus ein Leberkarzinom diagnostiziert.

Ein Transplantationszentrum lehnt die

Organverpflanzung nach abgeschlossener

diagnostischer Evaluation telefonisch mit

den Worten ab, dass diese bei dem fort-

geschrittenen Befund nicht mehr möglich

sei. Manuela möge sich zu Hause auf ihr

Sterben einstellen.

So wenden sich die verzweifelten El-

tern an unsere Einrichtung, und es wird

letztlich trotz der ungünstigen Prognose

eine Lebertransplantation vorbereitet.

An einem späten Freitagnachmittag,

auf dem Weg aus der Klinik spricht mich

eine Schwester an. Manuela sei gerade

eben zur Lebertransplantation eingetrof-

fen und möchte mich gerne noch einmal

sprechen. Die Patientin, eine Jugendliche

mit einem ausgedehnten Leberkarzinom,

ist zwei Monate vorher in unserer Klinik

zur Transplantation vorbereitet worden.

Während dieser Zeit lerne ich sie ken-

nen. Ein Arzt hat sie darüber informiert,

dass es an der Klinik eine Psychologin ge-

be und ihr eine Kontaktvermittlung ange-

boten. Sie nimmt an.

Es ist schwierig und bedarf mehrerer

Anläufe, zwischen den vielen wichtigen

Untersuchungen zur Vorbereitung der

Organtransplantation eine ruhige Zeit

für ein Gespräch zu finden. Ich bemerke,

dass mir dieses „Hinausschiebenmüssen“

des Erstgespräches nicht nur ungelegen

kommt, ich gewinne so noch einen Auf-

schub bis zu dieser mich schon ein wenig

ängstigenden, ersten, ungeschützten Be-

gegnung mit einem aufblühenden und

schon durch solch eine schwere Erkran-

kung bedrohten jungen Menschen. Ich

schlage ihr vor, das Gespräch in meinem

Zimmer zu haben, und mir wird wieder

mulmig bei dem Gedanken, allein mit

ihr in meinem kleinen Büro zu sein, wo

kein Bettgestell schützend zwischen uns

steht. Wir werden dort dann allein sein

mit dem, was ich vage spüre: ihre Angst,

ihre Verzweiflung, so viele Fragen, so viel

Hoffnung und auch reflektierte Skepsis. Es

kommt jedoch anders: Manuela macht sie

mir leicht, diese erste Begegnung, so wie

sie mir alle weiteren auch leicht macht,

auch die schwersten. Sie erzählt von ih-

rem ehemaligen Freund, von dem sie sich

kürzlich erst getrennt hat, von den ande-

ren Mädchen ihrer Schulklasse, zweifelt

ihre Attraktivität an, so wie viele Mädchen

es in dieser unsicheren Zeit des Werdens

tun, und: ihre klaren blauen Augen leuch-

ten manchmal. Sie erzählt auch, dass nur

wenige ihrer Bekannten von ihrer Krank-

heit wüssten, wozu auch?! Sie ist ob der

möglichen Reaktionen ihrer Schulfreun-

dinnen verunsichert.

Am letzten Tag ihres ersten Klini-

kaufenthalts schwärmt sie von dem be-

vorstehenden Urlaub mit dem Vater und

der Schwester in der Türkei. Auch damit

scheint sie es mir wieder leicht machen zu

wollen. Vielleicht soll das für mich heißen:

Sie wird bald weg sein, und ich muss mir

keine Gedanken um sie machen. Es wird

ihr dort gut gehen, und es wird jemand bei

ihr sein, der sich um sie kümmert und der

es gut mit ihr meint; also, so könnte sie sa-

gen: Sorge dich nicht um mich!

Ich habe sie da abgelegt, wo die meis-

ten meiner Patienten ihren Platz haben:

irgendwo in meinem Gedächtnis, wie un-

51Psychotherapeut 1 · 2007 |

ter einer Decke, die dicke, aber auch dün-

ne Stellen hat.

Bis zu jenem Nachmittag, an dem mich

die Schwester anspricht, ob ich denn nicht

noch einmal umkehren könne, Manue-

la möchte mich eben noch einmal spre-

chen.

Während ich auf den Fahrstuhl nach

oben warte, sehe ich sie im Rollstuhl. Sie

ist sehr blass und mager geworden, sieht

mich nicht. Ich bringe meine Taschen zu-

rück in mein Zimmer und laufe zur Sta-

tion. Kein mulmiges Gefühl im Bauch -

auf mein Gedächtnis ist Verlass! Es hat of-

fensichtlich gespeichert, dass sie es einem

leicht macht, ihr zu begegnen.

Als ich das Vorbereitungszimmer be-

trete, sind die Schwestern mit flinken, si-

cheren Handgriffen dabei, das Notwen-

dige zu tun: Um die Not abzuwenden?

Wessen Not?

Ich meine, etwas zu spüren von ihrer

beflissenen Hilflosigkeit. Sie reden ihr und

vielleicht auch sich selbst Mut zu. Da liegt

eine fast Gleichaltrige, nur wenig Jünge-

re mit einer beängstigenden, unfassbaren

Krankheit, einem ungewissen Schicksal,

und sie sollen noch die Überlegenen sein

müssen? Sie sollen an ihr Verrichtungen

vornehmen?

Ich setze mich an das Kopfende des

Bettes, da, wo ich die Schwestern am we-

nigsten störe und Manuela nahe sein

kann und frage irgendetwas, an das ich

mich nicht mehr erinnere. Unsicher-

heit schwingt in meiner Stimme. Manu-

ela weist mich sehr direkt daraufhin, dass

wir schon mal beim „Du“ gewesen seien,

und ich erinnere mich, dass sie sich da-

mals auf meine Frage hin für das „Du“

entschieden hat.

Ich spüre, wie unsere Beziehung

schnell wieder die damalige Vertrautheit

erreicht. Wir reden über die vergangenen

Stunden. Sie hat telefonisch erfahren, dass

ein für sie möglicherweise passendes Or-

gan bereit stehe, und dass der Krankenwa-

gen sie in Kürze abholen werde. Die Mut-

ter ist noch unterwegs, der Vater deshalb

ungeduldig. Die Fahrt mit Blaulicht über

eine weite Strecke und mitten durch einen

Stau hat Manuela aufregend gefunden.

Warum? „Ich hatte das Gefühl, im Mit-

telpunkt zu stehen!“ Ihre Augen leuchten.

Das Wort „Kind“ kommt mir in den Sinn.

Ich frage nach dem Urlaub, wohl wissend,

mir eine Verschnaufpause für meine Un-

sicherheit damit zu verschaffen. Erst Be-

geisterung über die Reise, dann bezüglich

der Animationsveranstaltungen im dor-

tigen Hotel die Bemerkung: „Immer das-

selbe!“, wie ein Kind, das den Ernst eines

erwachsenen Lebens schon zu begreifen

hatte, das sich nichts mehr vorgaukeln

lässt, dem neben schillernden auch tief-

schwarze Töne bereits eine vertraute Er-

fahrung sind.

Ich frage danach, was sie gerade emp-

finde, eine Frage, die, so fühle ich, schon

nach dieser kurzen Zeit wieder möglich

ist. Sie freue sich auf das neue Organ, habe

aber auch Angst, davor, dass es kein für sie

passendes sein könnte. Sie möchte doch

noch nicht sterben, sie sei erst 17 und das

erst seit zwei Tagen. Ihre Schwester sei ein

Jahr und drei Tage älter als sie. Drei Tage

im Jahr also seien sie gleichaltrig - sie lä-

chelt, als ob dieser Schulterschluss mit der

gesunden Schwester ein magischer Ga-

rant sein kann. Und das Schlimmste, sagt

sie fast in einem Atemzug, sei ihr Hun-

ger. Und sie erklärt das mit dem Hunger

in aller Ausführlichkeit und hält dabei mit

beiden Händen ihren Bauch, der ihr „vor

Hunger“ schmerze.

Als ich ihr ganz nahe bin, um sie bei

einer schmerzhaften Vorbereitungsmaß-

nahme mit Atmungsanweisungen zu un-

terstützen, fragt sie ganz leise: „Warum ge-

rade ich?“. Noch ehe ich die Frage höre,

gibt sie sich selbst die Antwort: „Aber ich

möchte auch nicht, dass ‚es’ jemand an-

deres für mich hat“ und hat es mir wieder

einmal leicht gemacht.

Und sich selbst?

Inzwischen sind ihre Eltern eingetrof-

fen. Ich räume das Feld. Ich denke, sie

wird über mich und unsere Beziehung re-

den und überlege, wie es wohl der Mutter

damit gehen wird, dass da in dieser Situ-

ation noch eine Mutter bei ihrer Tochter

ist. Ich ziehe mich in mein Zimmer zu-

rück, bereit, die Patientin, ihrem Wunsch

entsprechend, in den Operationstrakt und

bis zur Narkoseeinleitung zu begleiten.

Dort, in meinem Sessel die ersten war-

men Sonnenstrahlen und meine Gesund-

heit genießend, wird mir plötzlich klar,

wie weit weg und auch wie nah ich ihr

doch bin. Ich bin so nahe bei ihr, dass ich

vergessen habe, dass es noch gar nicht fest-

steht, ob das Organ für sie in Ordnung ist,

und was sein wird, wenn eben nicht, und

auch ich spüre für einen Bruchteil von Se-

kunden Schmerzen da, wo sie ihre Hände

auf ihrem Bauch gehalten hat.

Und ich gehe wieder zur Station zu-

rück, da wo Manuela hinter einer Tür

mit ihren Eltern ist, und suche den Arzt,

um nachzufragen, wann der Eingriff sein

wird. Ich spüre Unruhe in mir.

Routinemäßig wird noch einmal eine

Lungenaufnahme angefertigt. Darauf ist

dann plötzlich „etwas zu sehen“, was nicht

ganz klar ist, sodass eine genauere Metho-

de angewandt werden muss, um eine Ent-

scheidung treffen zu können – eine weit-

reichende Entscheidung.

Ich betrete wie automatisch das Vorbe-

reitungszimmer und frage nach, ob das für

die Anwesenden in Ordnung sei. Die Zu-

stimmung kommt spontan von allen, und

ich spüre so etwas wie Erleichterung. Da

ist ein Fremder, vielleicht auch jemand,

der den Abgrund etwas verdecken kann

– jedenfalls eine Zeit lang.

Der Arzt tritt an ihr Bett und erklärt

mit klaren und zugleich einfühlsamen

Worten, dass da etwas sei auf dem Rönt-

genbild, was unter Umständen die Trans-

plantation unmöglich machen könne. Wir

erstarren. Durch das geöffnete Fenster

dringt der laute Schrei eines Bauarbeiters

in die lähmende Stille. Manuela fragt nach

und beantwortet sich die Frage selbst, so

schnell, dass ich gar nicht begreife. Ich

bin noch damit beschäftigt, den Mut des

Arztes zu bewundern und die Luft anzu-

halten, während sie schon wieder viel wei-

ter ist und besser als wir weiß und spürt,

was da los ist in ihr.

Der Arzt verlässt den Raum, um alles

Weitere zu veranlassen, und wir sind mit

dem Unfassbaren allein. Ich wage kaum,

in die Augen der anderen zu schauen.

und wir schweigen. Es ist, so fühle ich, ei-

ne schwere und schmerzende, auch eine

beißende Stille. Warum schreit sie nicht,

warum bäumt sie sich nicht auf, warum

beschimpft sie uns nicht, klagt nicht an?

Ihr Schweigen hat einen Grund, den ich

zu kennen glaube: Sie macht es uns wieder

einmal leicht. Oder: Sie begreift für diesen

Moment gerade nicht mehr. Oder: Wir al-

le haben in dieser Sekunde begriffen? Und

eine Minute später? Eigentlich scheint die

Dimension Zeit jetzt und in diesem Raum

nicht existent, ich spüre sie nicht.

52 | Psychotherapeut 1 · 2007

Behandlungsprobleme

Der Patientin fällt ihre Kette mit dem

Jesuskreuz ein, die ich auf ihre Bitte hin

vor nicht einmal einer Stunde gut in ih-

rer Jacke verstauen sollte, damit sie nicht

wegkommt. Wir sind erleichtert, können

etwas tun – für sie. Auch für uns? Ich frage

nach, ob sie gläubig sei. Sie überlegt, be-

jaht meine Frage und ich ermuntere sie,

das Kreuz und ihren Glücksstein, den sie

ebenfalls jetzt in ihrer Hand hält, zu der

nun anstehenden, so entscheidenden Un-

tersuchung mitzunehmen. Gemeinsam

mit einer Schwester fahren wir sie in ih-

rem Bett zur Computertomographie; die

Eltern begleiten uns. Unser Zug mutet

wie ein gemeinsamer Feldzug in eine un-

gewisse Schlacht an. Im Fahrstuhl, die El-

tern benutzen die Treppe, dreht sie sich

plötzlich nach mir um, schaut mich mit

ihren klaren blauen Augen an und fragt

mich, ob sie nun sterben muss. Ich ant-

worte ausweichend, indem ich sage: „Es

geht immer irgendwie weiter!“ und nen-

ne sie bei ihrem Namen. Sie denke das

auch, stimmt mir eifrig zu und meint da-

mit ein Leben nach dem Tod, während ich

in meiner Not auf eine andere, eventuell

noch mögliche Behandlungsform anspie-

len möchte.

Ich streiche über ihr Haar, bin mir si-

cher, dass mir das erlaubt ist, und kann

nicht mehr denken, auch nichts fühlen.

Sperre.

Erdgeschoß. Wir sind wieder auf fes-

tem Boden. Sind wir das?

Der Radiologe klärt über die anstehen-

de Untersuchung auf und fragt nach einer

eventuellen Kontrastmittelunverträglich-

keit. Diese sei bei ihr nicht sicher auszu-

schließen, erwidert die Mutter ängstlich

und hält die Tränen jetzt mit noch mehr

Mühe zurück. Manuela möchte trotzdem

die exaktere Untersuchung, auch wenn

Komplikationen zu befürchten stehen. So

genau möchte sie es wissen – was?

Ob es vielleicht doch nichts ist? Möchte

sie ihrem Feind so lieber in die Augen

schauen, als vor ihm die Augen zu ver-

schließen? Ist es das?

Da ich während der Untersuchung kei-

nen Blickkontakt zu ihr haben kann, gehe

ich zu den auf dem Korridor wartenden

Eltern. Der Vater kann seine Verzweif-

lung äußern. Die Mutter scheint ein Bün-

del Anspannung, doch es scheinen ihr

Kräfte zuzuwachsen – Aufschubkräfte.

Beiden ist klar, dass der nächste Morgen

noch schlimmer werden wird, wenn die

Anspannung wie ein Band, das ein bers-

tendes Fass mühsam zusammenhält, rei-

ßen kann. Und beide scheinen die Ah-

nung ihrer Tochter über die Natur dieses

Befundes zu teilen.

Die Fragen an den Arzt sind konkret,

verlangen aber nach einer ersehnten Ant-

wort. Ob nicht doch schon einmal trotz

eines solchen Befundes transplantiert

wurde? Ob es Vergleiche gebe und die

bange, verzweifelte Frage nach der Zeit,

die noch bleibt. Wie viel Mut muss hinter

diesen Fragen stecken und wie viel Ver-

zweiflung!

Die Operation müsse von einer noch

exakteren Diagnostik abhängig gemacht

werden. Leise Hoffnung bei den Eltern.

Doch für Manuela steht es fest. Oder

möchte sie mit ihrem inneren Wissen

zum Widerspruch provozieren? Schein-

bar ruhig und gelassen lauscht sie den Er-

klärungen des Arztes.

Mit ihr allein im Zimmer, fragt sie, ob

sie mich jetzt einmal an sich drücken dür-

fe, und bedankt sich bei mir. Bin nicht ich

diejenige, die zu danken hat?

Vier Tage später kommt sie, wieder

allein, um diese spezielle Untersuchung

durchführen zu lassen, die „endgültig

Gewissheit“ bringen soll. „Endgültig“ hat

etwas mit dem Wort „Ende“ zu tun, und

Gewissheit kommt von Wissen – und:

Wissen ist Macht, wie ein bekannter Aus-

spruch behauptet. Aber Macht worüber

und wozu? Macht über die Ohmacht des

Nichtwissens, Macht über die Angst? Zu-

mindest bekommt diese ein Gesicht und

bedeutet so nicht mehr nur Chaos in Kopf

und Bauch.

Als wir uns begegnen, hat sie Fragen

über Fragen: „Mein Vater macht sich fer-

tigt, er weint nur noch und schuldigt sich

an, was kann ich machen, wie kann ich

ihm helfen?“. Ich versuche, sie ein Stück

aus dieser Last der empfundenen Verant-

wortung zu nehmen.

Die Zeit bis zur Untersuchung wird

zur Ewigkeit. Wieder schafft sie es, ihren

Kummer darüber an ihrem unbändigen

Hunger festzumachen. Ein Pfleger, der

sehr um sie bemüht ist, sichert ihr zu, dass

sie ihr warmes Mittagessen auch noch am

Abend bekommen kann, falls es mit der

Untersuchung noch bis dahin dauern

sollte. Sie genießt diese Zuwendung, man

sieht es ihrem dankbaren Blick an, und

auch ich bin dankbar.

Die Magnetresonanztomographie

bringt eine noch umfangreichere Metas-

tasierung der benachbarten Körperregi-

onen ans Tageslicht. Die Leber selbst ist

inzwischen so ausgedehnt, dass sie fast

den gesamten Bauchraum ausfüllt und

Manuelas Beschwerden beim Aufstehen

und Hinsetzen erklärt. Damit werden die

ersehnte Transplantation und auch jegli-

ches andere operative Vorgehen definitiv

unmöglich.

Manuela schläft trotzdem erstaunlich

gut in dieser Nacht, in der sie wieder ein

Stück zu früh erwachsen wurde.

Am nächsten Morgen sprechen wir

über ganz banale Dinge. Sie signalisiert,

sie brauche eine Aus-Zeit. Sie wolle ihren

Vater zum Essen einladen und zeigt mir

stolz einen größeren Geldbetrag, der für

ein üppiges Mahl in einem guten Restau-

rant ausreicht. Mit ihrer Mutter möchte

sie nach Mallorca fliegen, das sei mit ca.

zwei Stunden Flugzeit vielleicht noch zu

schaffen. Und die 10. Klasse möchte sie

noch abschließen. Ich bemerke den Wi-

derspruch. Ich staune immer wieder über

diese Fähigkeit unserer Patienten, sich so

Flügel wachsen zu lassen, die wieder Kraft

spenden.

Manuela schenkt mir kurz vor ihrer

Entlassung ein Bild von sich, so, wie sie

einmal aussah. Ich bedanke mich und

hoffe, sie spürt nicht meine Unsicherheit,

die von dem Bild in meiner Hand her-

rührt. Ich werde es aufbewahren. Als ich

mich am Nachmittag von ihr verabschie-

den möchte, sehe ich, im Türrahmen des

sonnenüberfluteten Patientenzimmers

stehend, sie am Tisch sitzend mit einem

jungen hübschen Arzt. Ihre Augen strah-

len. Sie schaut mich an, und ich verste-

he. Ich ziehe mich zurück und weiß, dass

ich dieses Bild noch lange im Kopf haben

werde.

Diskussion

Die im Konsiliardienst eines Klinikums

der Maximalversorgung tätige Psycholo-

gin ist mit einer Vielfalt körperlicher Pa-

thologie und psychoreaktiver Symptoma-

tik konfrontiert. Schwere Organerkran-

kungen bedeuten für die meisten Be-

53Psychotherapeut 1 · 2007 |

troffenen eine existenzielle Bedrohung.

Ein wesentliches Arbeitsfeld eines psy-

chologischen Konsiliardienstes besteht

in der Begleitung von Menschen in be-

drohlichen Lebenssituationen. Diese zielt

u. a. auf die Prävention manifester reak-

tiver psychischer Erkrankungen ab. Wird

eine krankheitswertige psychische Stö-

rung im Sinne der „International Classi-

fication of Diseases- (ICD-)10“ diagnosti-

ziert, kann unter Umständen die suppor-

tive Begleitung von einer psychotherapeu-

tischen Intervention abgelöst werden, de-

ren Rahmen sich jedoch hinsichtlich Set-

ting und Frequenz mitunter deutlich von

der Arbeit mit neurotischen Patienten un-

terscheidet. In der Arbeit des Konsiliar-

dienstes wird bisweilen eine Multiplikati-

on verschiedener Methoden erforderlich,

die nicht etwa durch Beliebigkeit, sondern

durch zeitnahe, kontinuierliche Diagnos-

tik der sich kurzfristig verändernden Be-

dürfnisse des Patienten festzulegen ist. Es

existiert mittlerweile eine Reihe von, in

ihrer Wirksamkeit überprüften, psycho-

dynamisch orientierten, kognitiv-ver-

haltenstherapeutischen, hypnotherapeu-

tischen und entspannungsübenden Kurz-

zeittherapien, die bei unterschiedlichen

somatischen Krankheitsbildern eingesetzt

werden können (Freyberge et al. 1999).

Doch gerade in der somatisch-diagnosti-

schen oder der akuten Behandlungspha-

se, in der existenzielle Verunsicherungen

aufbrechen können, ist die Halt geben-

de Kontinuität der Beziehung von her-

ausragender Bedeutung. Die Reflexionen

des Therapeuten auf die mitteilende Öff-

nung für heftige Gefühle, wie Angst, Wut

und Verzweiflung, sind ein wesentlicher

Bestandteil einer gelingenden Begegnung

und können die vielschichtige Auseinan-

dersetzung des Patienten mit der Erkran-

kung unterstützen. Das Agieren in einer

therapeutischen Zweitwirklichkeit (Über-

tragung und Gegenübertragung) setzt die

differenzierte Kenntnis der vielfältigen

psychodynamischen Aspekte in der The-

rapeut-Patient-Beziehung, der Bedeu-

tung des sozialen Umfelds, insbesondere

der Situation der Angehörigen und eine

intensive psychotherapeutische Selbster-

fahrung unabdingbar voraus.

Einen theoretischen Kontext, der am

ehesten einen geeigneten Rahmen für

supportive Arbeit mit körperlich Kran-

ken bietet, stellt die humanistische Psy-

chologie mit ihrem personzentrierten An-

satz dar. Er beschreibt Bedingungen, die

durch eine besondere Art der zwischen-

menschlichen Beziehungsgestaltung Ent-

wicklung ermöglicht. Da, wo es um Ver-

arbeitung von Krisen geht, geht es immer

auch und in einer konzentrierten Form

um Entwicklung. Hierbei wird in der hu-

manistischen Psychotherapie dem Füh-

len eine entscheidende Rolle beigemessen

und bedeutet, wahrzunehmen, „… was

uns immer wieder neu bewegt und der

immer neuen inneren Bewegung eine der

immer wieder neuen Situation angemes-

sene Bedeutung zu geben. Wahrhaftig-

keit zu erleben in diesem realen Kontakt,

Selbstbegegnung in einer Begegnung: das

ist heilsam“ (Eberwein 1996, S. 96)

Auf die supportive Begleitung von kör-

perlich schwer Kranken bezogen, heißt

das, dass ich im empathischen Sinn ver-

suche, meine Einfühlung so zu richten,

dass ich so nah wie möglich an die Art

und Weise herankomme, wie jemand in

seiner momentanen Welt lebt. Voraus-

setzung dafür ist, dass ich im Sinne von

Kongruenz bezüglich unserer Beziehung

Zugang zu meinem eigenen inneren Er-

leben habe, das sowohl Gefühle, Intuiti-

onen, subtile Wahrnehmungen und inne-

re Impulse umfasst.

Fazit für die Praxis

In der Arbeit eines psychologischen Kon-

siliardienstes ist es wichtig, eine ange-

messene Balance zwischen Sicherheit ge-

bender Distanz zum Patienten und emo-

tionalem Tiefenkontakt zu finden, zu er-

reichen und zu halten. Dies ist ein beson-

derer und notwendiger Schwerpunkt in

der Aus-, Fort- und Weiterbildung für Kol-

legen, die in diesem Bereich tätig werden

wollen. Supportive Ansätze, die oftmals

keiner Psychotherapietheorie eindeu-

tig zuzuordnen sind, erscheinen ebenso

sinnvoll als orientierungsgebende theo-

retische Konzepte, wie das Denk- und Be-

ziehungsmodell der humanistischen Psy-

chologie.

Korrespondierender AutorDr. Christina MeyerInstitut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Klinikum der Friedrich-Schiller-UniversitätStoystraße 3, 07743 [email protected]

Interessenkonflikt. Es besteht kein Interessenkon-

flikt. Die korrespondierende Autorin versichert, dass

keine Verbindung mit einer Firma, deren Produkt in

dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Kon-

kurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentation

des Themas ist unabhängig und die Darstellung der In-

halte produktneutral.

Literatur

Eberwein W (1996) Abenteuer Hypnose. Kösel, Mün-

chen

Freyberger HJ, Brinker M, Reimer I, Freyberger H (1999)

Kurzzeitbehandlung im klinisch-psychosoma-

tischen Konsiliardienst. In: Rosendahl W (Hrsg)

Kurzzeitpsychotherapie in Theorie und Praxis.

Pabst, Lengerich

54 | Psychotherapeut 1 · 2007

Behandlungsprobleme