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Redaktion
T. Fydrich, Berlin
C. Reimer, Gießen
Psychotherapeut 2007 · 52:51–54
DOI 10.1007/s00278-006-0527-5
Online publiziert: 12. Dezember 2006
© Springer Medizin Verlag 2006
Christina Meyer · Uwe Berger · Bernhard Strauß
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie,
Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Der supportive Ansatz im psychologischen Konsiliardienst bei einer schweren Krebserkrankung
Behandlungsprobleme
Der im Folgenden geschilderte Fall-
bericht beschreibt zwei Kontakte im
Rahmen einer psychologischen Kon-
siliarepisode. Diese wurde von der
Klinik für Allgemeine, Viszerale und
Gefäßchirurgie eines Universitätskli-
nikums beauftragt und zielte auf die
Unterstützung einer jungen Krebs-
patientin im unmittelbaren Vorfeld
einer Lebertransplantation ab. Der
Fallbericht umfasst die Darstellung
der während dieser Kontakte auftre-
tenden Reflexionen des Therapeuten
bezüglich der Reaktionen der Pati-
entin in der medizinischen Behand-
lungssituation auf der emotionalen,
kognitiven und Handlungsebene. Der
Zugang zu eigenem inneren Erleben
wird als wesentliche Grundlage des
supportiven Ansatzes verstanden.
Bei der 16-jährigen Manuela (Name geän-
dert) wird einige Monate vor unserer ers-
ten Begegnung in deren Heimatkranken-
haus ein Leberkarzinom diagnostiziert.
Ein Transplantationszentrum lehnt die
Organverpflanzung nach abgeschlossener
diagnostischer Evaluation telefonisch mit
den Worten ab, dass diese bei dem fort-
geschrittenen Befund nicht mehr möglich
sei. Manuela möge sich zu Hause auf ihr
Sterben einstellen.
So wenden sich die verzweifelten El-
tern an unsere Einrichtung, und es wird
letztlich trotz der ungünstigen Prognose
eine Lebertransplantation vorbereitet.
An einem späten Freitagnachmittag,
auf dem Weg aus der Klinik spricht mich
eine Schwester an. Manuela sei gerade
eben zur Lebertransplantation eingetrof-
fen und möchte mich gerne noch einmal
sprechen. Die Patientin, eine Jugendliche
mit einem ausgedehnten Leberkarzinom,
ist zwei Monate vorher in unserer Klinik
zur Transplantation vorbereitet worden.
Während dieser Zeit lerne ich sie ken-
nen. Ein Arzt hat sie darüber informiert,
dass es an der Klinik eine Psychologin ge-
be und ihr eine Kontaktvermittlung ange-
boten. Sie nimmt an.
Es ist schwierig und bedarf mehrerer
Anläufe, zwischen den vielen wichtigen
Untersuchungen zur Vorbereitung der
Organtransplantation eine ruhige Zeit
für ein Gespräch zu finden. Ich bemerke,
dass mir dieses „Hinausschiebenmüssen“
des Erstgespräches nicht nur ungelegen
kommt, ich gewinne so noch einen Auf-
schub bis zu dieser mich schon ein wenig
ängstigenden, ersten, ungeschützten Be-
gegnung mit einem aufblühenden und
schon durch solch eine schwere Erkran-
kung bedrohten jungen Menschen. Ich
schlage ihr vor, das Gespräch in meinem
Zimmer zu haben, und mir wird wieder
mulmig bei dem Gedanken, allein mit
ihr in meinem kleinen Büro zu sein, wo
kein Bettgestell schützend zwischen uns
steht. Wir werden dort dann allein sein
mit dem, was ich vage spüre: ihre Angst,
ihre Verzweiflung, so viele Fragen, so viel
Hoffnung und auch reflektierte Skepsis. Es
kommt jedoch anders: Manuela macht sie
mir leicht, diese erste Begegnung, so wie
sie mir alle weiteren auch leicht macht,
auch die schwersten. Sie erzählt von ih-
rem ehemaligen Freund, von dem sie sich
kürzlich erst getrennt hat, von den ande-
ren Mädchen ihrer Schulklasse, zweifelt
ihre Attraktivität an, so wie viele Mädchen
es in dieser unsicheren Zeit des Werdens
tun, und: ihre klaren blauen Augen leuch-
ten manchmal. Sie erzählt auch, dass nur
wenige ihrer Bekannten von ihrer Krank-
heit wüssten, wozu auch?! Sie ist ob der
möglichen Reaktionen ihrer Schulfreun-
dinnen verunsichert.
Am letzten Tag ihres ersten Klini-
kaufenthalts schwärmt sie von dem be-
vorstehenden Urlaub mit dem Vater und
der Schwester in der Türkei. Auch damit
scheint sie es mir wieder leicht machen zu
wollen. Vielleicht soll das für mich heißen:
Sie wird bald weg sein, und ich muss mir
keine Gedanken um sie machen. Es wird
ihr dort gut gehen, und es wird jemand bei
ihr sein, der sich um sie kümmert und der
es gut mit ihr meint; also, so könnte sie sa-
gen: Sorge dich nicht um mich!
Ich habe sie da abgelegt, wo die meis-
ten meiner Patienten ihren Platz haben:
irgendwo in meinem Gedächtnis, wie un-
51Psychotherapeut 1 · 2007 |
ter einer Decke, die dicke, aber auch dün-
ne Stellen hat.
Bis zu jenem Nachmittag, an dem mich
die Schwester anspricht, ob ich denn nicht
noch einmal umkehren könne, Manue-
la möchte mich eben noch einmal spre-
chen.
Während ich auf den Fahrstuhl nach
oben warte, sehe ich sie im Rollstuhl. Sie
ist sehr blass und mager geworden, sieht
mich nicht. Ich bringe meine Taschen zu-
rück in mein Zimmer und laufe zur Sta-
tion. Kein mulmiges Gefühl im Bauch -
auf mein Gedächtnis ist Verlass! Es hat of-
fensichtlich gespeichert, dass sie es einem
leicht macht, ihr zu begegnen.
Als ich das Vorbereitungszimmer be-
trete, sind die Schwestern mit flinken, si-
cheren Handgriffen dabei, das Notwen-
dige zu tun: Um die Not abzuwenden?
Wessen Not?
Ich meine, etwas zu spüren von ihrer
beflissenen Hilflosigkeit. Sie reden ihr und
vielleicht auch sich selbst Mut zu. Da liegt
eine fast Gleichaltrige, nur wenig Jünge-
re mit einer beängstigenden, unfassbaren
Krankheit, einem ungewissen Schicksal,
und sie sollen noch die Überlegenen sein
müssen? Sie sollen an ihr Verrichtungen
vornehmen?
Ich setze mich an das Kopfende des
Bettes, da, wo ich die Schwestern am we-
nigsten störe und Manuela nahe sein
kann und frage irgendetwas, an das ich
mich nicht mehr erinnere. Unsicher-
heit schwingt in meiner Stimme. Manu-
ela weist mich sehr direkt daraufhin, dass
wir schon mal beim „Du“ gewesen seien,
und ich erinnere mich, dass sie sich da-
mals auf meine Frage hin für das „Du“
entschieden hat.
Ich spüre, wie unsere Beziehung
schnell wieder die damalige Vertrautheit
erreicht. Wir reden über die vergangenen
Stunden. Sie hat telefonisch erfahren, dass
ein für sie möglicherweise passendes Or-
gan bereit stehe, und dass der Krankenwa-
gen sie in Kürze abholen werde. Die Mut-
ter ist noch unterwegs, der Vater deshalb
ungeduldig. Die Fahrt mit Blaulicht über
eine weite Strecke und mitten durch einen
Stau hat Manuela aufregend gefunden.
Warum? „Ich hatte das Gefühl, im Mit-
telpunkt zu stehen!“ Ihre Augen leuchten.
Das Wort „Kind“ kommt mir in den Sinn.
Ich frage nach dem Urlaub, wohl wissend,
mir eine Verschnaufpause für meine Un-
sicherheit damit zu verschaffen. Erst Be-
geisterung über die Reise, dann bezüglich
der Animationsveranstaltungen im dor-
tigen Hotel die Bemerkung: „Immer das-
selbe!“, wie ein Kind, das den Ernst eines
erwachsenen Lebens schon zu begreifen
hatte, das sich nichts mehr vorgaukeln
lässt, dem neben schillernden auch tief-
schwarze Töne bereits eine vertraute Er-
fahrung sind.
Ich frage danach, was sie gerade emp-
finde, eine Frage, die, so fühle ich, schon
nach dieser kurzen Zeit wieder möglich
ist. Sie freue sich auf das neue Organ, habe
aber auch Angst, davor, dass es kein für sie
passendes sein könnte. Sie möchte doch
noch nicht sterben, sie sei erst 17 und das
erst seit zwei Tagen. Ihre Schwester sei ein
Jahr und drei Tage älter als sie. Drei Tage
im Jahr also seien sie gleichaltrig - sie lä-
chelt, als ob dieser Schulterschluss mit der
gesunden Schwester ein magischer Ga-
rant sein kann. Und das Schlimmste, sagt
sie fast in einem Atemzug, sei ihr Hun-
ger. Und sie erklärt das mit dem Hunger
in aller Ausführlichkeit und hält dabei mit
beiden Händen ihren Bauch, der ihr „vor
Hunger“ schmerze.
Als ich ihr ganz nahe bin, um sie bei
einer schmerzhaften Vorbereitungsmaß-
nahme mit Atmungsanweisungen zu un-
terstützen, fragt sie ganz leise: „Warum ge-
rade ich?“. Noch ehe ich die Frage höre,
gibt sie sich selbst die Antwort: „Aber ich
möchte auch nicht, dass ‚es’ jemand an-
deres für mich hat“ und hat es mir wieder
einmal leicht gemacht.
Und sich selbst?
Inzwischen sind ihre Eltern eingetrof-
fen. Ich räume das Feld. Ich denke, sie
wird über mich und unsere Beziehung re-
den und überlege, wie es wohl der Mutter
damit gehen wird, dass da in dieser Situ-
ation noch eine Mutter bei ihrer Tochter
ist. Ich ziehe mich in mein Zimmer zu-
rück, bereit, die Patientin, ihrem Wunsch
entsprechend, in den Operationstrakt und
bis zur Narkoseeinleitung zu begleiten.
Dort, in meinem Sessel die ersten war-
men Sonnenstrahlen und meine Gesund-
heit genießend, wird mir plötzlich klar,
wie weit weg und auch wie nah ich ihr
doch bin. Ich bin so nahe bei ihr, dass ich
vergessen habe, dass es noch gar nicht fest-
steht, ob das Organ für sie in Ordnung ist,
und was sein wird, wenn eben nicht, und
auch ich spüre für einen Bruchteil von Se-
kunden Schmerzen da, wo sie ihre Hände
auf ihrem Bauch gehalten hat.
Und ich gehe wieder zur Station zu-
rück, da wo Manuela hinter einer Tür
mit ihren Eltern ist, und suche den Arzt,
um nachzufragen, wann der Eingriff sein
wird. Ich spüre Unruhe in mir.
Routinemäßig wird noch einmal eine
Lungenaufnahme angefertigt. Darauf ist
dann plötzlich „etwas zu sehen“, was nicht
ganz klar ist, sodass eine genauere Metho-
de angewandt werden muss, um eine Ent-
scheidung treffen zu können – eine weit-
reichende Entscheidung.
Ich betrete wie automatisch das Vorbe-
reitungszimmer und frage nach, ob das für
die Anwesenden in Ordnung sei. Die Zu-
stimmung kommt spontan von allen, und
ich spüre so etwas wie Erleichterung. Da
ist ein Fremder, vielleicht auch jemand,
der den Abgrund etwas verdecken kann
– jedenfalls eine Zeit lang.
Der Arzt tritt an ihr Bett und erklärt
mit klaren und zugleich einfühlsamen
Worten, dass da etwas sei auf dem Rönt-
genbild, was unter Umständen die Trans-
plantation unmöglich machen könne. Wir
erstarren. Durch das geöffnete Fenster
dringt der laute Schrei eines Bauarbeiters
in die lähmende Stille. Manuela fragt nach
und beantwortet sich die Frage selbst, so
schnell, dass ich gar nicht begreife. Ich
bin noch damit beschäftigt, den Mut des
Arztes zu bewundern und die Luft anzu-
halten, während sie schon wieder viel wei-
ter ist und besser als wir weiß und spürt,
was da los ist in ihr.
Der Arzt verlässt den Raum, um alles
Weitere zu veranlassen, und wir sind mit
dem Unfassbaren allein. Ich wage kaum,
in die Augen der anderen zu schauen.
und wir schweigen. Es ist, so fühle ich, ei-
ne schwere und schmerzende, auch eine
beißende Stille. Warum schreit sie nicht,
warum bäumt sie sich nicht auf, warum
beschimpft sie uns nicht, klagt nicht an?
Ihr Schweigen hat einen Grund, den ich
zu kennen glaube: Sie macht es uns wieder
einmal leicht. Oder: Sie begreift für diesen
Moment gerade nicht mehr. Oder: Wir al-
le haben in dieser Sekunde begriffen? Und
eine Minute später? Eigentlich scheint die
Dimension Zeit jetzt und in diesem Raum
nicht existent, ich spüre sie nicht.
52 | Psychotherapeut 1 · 2007
Behandlungsprobleme
Der Patientin fällt ihre Kette mit dem
Jesuskreuz ein, die ich auf ihre Bitte hin
vor nicht einmal einer Stunde gut in ih-
rer Jacke verstauen sollte, damit sie nicht
wegkommt. Wir sind erleichtert, können
etwas tun – für sie. Auch für uns? Ich frage
nach, ob sie gläubig sei. Sie überlegt, be-
jaht meine Frage und ich ermuntere sie,
das Kreuz und ihren Glücksstein, den sie
ebenfalls jetzt in ihrer Hand hält, zu der
nun anstehenden, so entscheidenden Un-
tersuchung mitzunehmen. Gemeinsam
mit einer Schwester fahren wir sie in ih-
rem Bett zur Computertomographie; die
Eltern begleiten uns. Unser Zug mutet
wie ein gemeinsamer Feldzug in eine un-
gewisse Schlacht an. Im Fahrstuhl, die El-
tern benutzen die Treppe, dreht sie sich
plötzlich nach mir um, schaut mich mit
ihren klaren blauen Augen an und fragt
mich, ob sie nun sterben muss. Ich ant-
worte ausweichend, indem ich sage: „Es
geht immer irgendwie weiter!“ und nen-
ne sie bei ihrem Namen. Sie denke das
auch, stimmt mir eifrig zu und meint da-
mit ein Leben nach dem Tod, während ich
in meiner Not auf eine andere, eventuell
noch mögliche Behandlungsform anspie-
len möchte.
Ich streiche über ihr Haar, bin mir si-
cher, dass mir das erlaubt ist, und kann
nicht mehr denken, auch nichts fühlen.
Sperre.
Erdgeschoß. Wir sind wieder auf fes-
tem Boden. Sind wir das?
Der Radiologe klärt über die anstehen-
de Untersuchung auf und fragt nach einer
eventuellen Kontrastmittelunverträglich-
keit. Diese sei bei ihr nicht sicher auszu-
schließen, erwidert die Mutter ängstlich
und hält die Tränen jetzt mit noch mehr
Mühe zurück. Manuela möchte trotzdem
die exaktere Untersuchung, auch wenn
Komplikationen zu befürchten stehen. So
genau möchte sie es wissen – was?
Ob es vielleicht doch nichts ist? Möchte
sie ihrem Feind so lieber in die Augen
schauen, als vor ihm die Augen zu ver-
schließen? Ist es das?
Da ich während der Untersuchung kei-
nen Blickkontakt zu ihr haben kann, gehe
ich zu den auf dem Korridor wartenden
Eltern. Der Vater kann seine Verzweif-
lung äußern. Die Mutter scheint ein Bün-
del Anspannung, doch es scheinen ihr
Kräfte zuzuwachsen – Aufschubkräfte.
Beiden ist klar, dass der nächste Morgen
noch schlimmer werden wird, wenn die
Anspannung wie ein Band, das ein bers-
tendes Fass mühsam zusammenhält, rei-
ßen kann. Und beide scheinen die Ah-
nung ihrer Tochter über die Natur dieses
Befundes zu teilen.
Die Fragen an den Arzt sind konkret,
verlangen aber nach einer ersehnten Ant-
wort. Ob nicht doch schon einmal trotz
eines solchen Befundes transplantiert
wurde? Ob es Vergleiche gebe und die
bange, verzweifelte Frage nach der Zeit,
die noch bleibt. Wie viel Mut muss hinter
diesen Fragen stecken und wie viel Ver-
zweiflung!
Die Operation müsse von einer noch
exakteren Diagnostik abhängig gemacht
werden. Leise Hoffnung bei den Eltern.
Doch für Manuela steht es fest. Oder
möchte sie mit ihrem inneren Wissen
zum Widerspruch provozieren? Schein-
bar ruhig und gelassen lauscht sie den Er-
klärungen des Arztes.
Mit ihr allein im Zimmer, fragt sie, ob
sie mich jetzt einmal an sich drücken dür-
fe, und bedankt sich bei mir. Bin nicht ich
diejenige, die zu danken hat?
Vier Tage später kommt sie, wieder
allein, um diese spezielle Untersuchung
durchführen zu lassen, die „endgültig
Gewissheit“ bringen soll. „Endgültig“ hat
etwas mit dem Wort „Ende“ zu tun, und
Gewissheit kommt von Wissen – und:
Wissen ist Macht, wie ein bekannter Aus-
spruch behauptet. Aber Macht worüber
und wozu? Macht über die Ohmacht des
Nichtwissens, Macht über die Angst? Zu-
mindest bekommt diese ein Gesicht und
bedeutet so nicht mehr nur Chaos in Kopf
und Bauch.
Als wir uns begegnen, hat sie Fragen
über Fragen: „Mein Vater macht sich fer-
tigt, er weint nur noch und schuldigt sich
an, was kann ich machen, wie kann ich
ihm helfen?“. Ich versuche, sie ein Stück
aus dieser Last der empfundenen Verant-
wortung zu nehmen.
Die Zeit bis zur Untersuchung wird
zur Ewigkeit. Wieder schafft sie es, ihren
Kummer darüber an ihrem unbändigen
Hunger festzumachen. Ein Pfleger, der
sehr um sie bemüht ist, sichert ihr zu, dass
sie ihr warmes Mittagessen auch noch am
Abend bekommen kann, falls es mit der
Untersuchung noch bis dahin dauern
sollte. Sie genießt diese Zuwendung, man
sieht es ihrem dankbaren Blick an, und
auch ich bin dankbar.
Die Magnetresonanztomographie
bringt eine noch umfangreichere Metas-
tasierung der benachbarten Körperregi-
onen ans Tageslicht. Die Leber selbst ist
inzwischen so ausgedehnt, dass sie fast
den gesamten Bauchraum ausfüllt und
Manuelas Beschwerden beim Aufstehen
und Hinsetzen erklärt. Damit werden die
ersehnte Transplantation und auch jegli-
ches andere operative Vorgehen definitiv
unmöglich.
Manuela schläft trotzdem erstaunlich
gut in dieser Nacht, in der sie wieder ein
Stück zu früh erwachsen wurde.
Am nächsten Morgen sprechen wir
über ganz banale Dinge. Sie signalisiert,
sie brauche eine Aus-Zeit. Sie wolle ihren
Vater zum Essen einladen und zeigt mir
stolz einen größeren Geldbetrag, der für
ein üppiges Mahl in einem guten Restau-
rant ausreicht. Mit ihrer Mutter möchte
sie nach Mallorca fliegen, das sei mit ca.
zwei Stunden Flugzeit vielleicht noch zu
schaffen. Und die 10. Klasse möchte sie
noch abschließen. Ich bemerke den Wi-
derspruch. Ich staune immer wieder über
diese Fähigkeit unserer Patienten, sich so
Flügel wachsen zu lassen, die wieder Kraft
spenden.
Manuela schenkt mir kurz vor ihrer
Entlassung ein Bild von sich, so, wie sie
einmal aussah. Ich bedanke mich und
hoffe, sie spürt nicht meine Unsicherheit,
die von dem Bild in meiner Hand her-
rührt. Ich werde es aufbewahren. Als ich
mich am Nachmittag von ihr verabschie-
den möchte, sehe ich, im Türrahmen des
sonnenüberfluteten Patientenzimmers
stehend, sie am Tisch sitzend mit einem
jungen hübschen Arzt. Ihre Augen strah-
len. Sie schaut mich an, und ich verste-
he. Ich ziehe mich zurück und weiß, dass
ich dieses Bild noch lange im Kopf haben
werde.
Diskussion
Die im Konsiliardienst eines Klinikums
der Maximalversorgung tätige Psycholo-
gin ist mit einer Vielfalt körperlicher Pa-
thologie und psychoreaktiver Symptoma-
tik konfrontiert. Schwere Organerkran-
kungen bedeuten für die meisten Be-
53Psychotherapeut 1 · 2007 |
troffenen eine existenzielle Bedrohung.
Ein wesentliches Arbeitsfeld eines psy-
chologischen Konsiliardienstes besteht
in der Begleitung von Menschen in be-
drohlichen Lebenssituationen. Diese zielt
u. a. auf die Prävention manifester reak-
tiver psychischer Erkrankungen ab. Wird
eine krankheitswertige psychische Stö-
rung im Sinne der „International Classi-
fication of Diseases- (ICD-)10“ diagnosti-
ziert, kann unter Umständen die suppor-
tive Begleitung von einer psychotherapeu-
tischen Intervention abgelöst werden, de-
ren Rahmen sich jedoch hinsichtlich Set-
ting und Frequenz mitunter deutlich von
der Arbeit mit neurotischen Patienten un-
terscheidet. In der Arbeit des Konsiliar-
dienstes wird bisweilen eine Multiplikati-
on verschiedener Methoden erforderlich,
die nicht etwa durch Beliebigkeit, sondern
durch zeitnahe, kontinuierliche Diagnos-
tik der sich kurzfristig verändernden Be-
dürfnisse des Patienten festzulegen ist. Es
existiert mittlerweile eine Reihe von, in
ihrer Wirksamkeit überprüften, psycho-
dynamisch orientierten, kognitiv-ver-
haltenstherapeutischen, hypnotherapeu-
tischen und entspannungsübenden Kurz-
zeittherapien, die bei unterschiedlichen
somatischen Krankheitsbildern eingesetzt
werden können (Freyberge et al. 1999).
Doch gerade in der somatisch-diagnosti-
schen oder der akuten Behandlungspha-
se, in der existenzielle Verunsicherungen
aufbrechen können, ist die Halt geben-
de Kontinuität der Beziehung von her-
ausragender Bedeutung. Die Reflexionen
des Therapeuten auf die mitteilende Öff-
nung für heftige Gefühle, wie Angst, Wut
und Verzweiflung, sind ein wesentlicher
Bestandteil einer gelingenden Begegnung
und können die vielschichtige Auseinan-
dersetzung des Patienten mit der Erkran-
kung unterstützen. Das Agieren in einer
therapeutischen Zweitwirklichkeit (Über-
tragung und Gegenübertragung) setzt die
differenzierte Kenntnis der vielfältigen
psychodynamischen Aspekte in der The-
rapeut-Patient-Beziehung, der Bedeu-
tung des sozialen Umfelds, insbesondere
der Situation der Angehörigen und eine
intensive psychotherapeutische Selbster-
fahrung unabdingbar voraus.
Einen theoretischen Kontext, der am
ehesten einen geeigneten Rahmen für
supportive Arbeit mit körperlich Kran-
ken bietet, stellt die humanistische Psy-
chologie mit ihrem personzentrierten An-
satz dar. Er beschreibt Bedingungen, die
durch eine besondere Art der zwischen-
menschlichen Beziehungsgestaltung Ent-
wicklung ermöglicht. Da, wo es um Ver-
arbeitung von Krisen geht, geht es immer
auch und in einer konzentrierten Form
um Entwicklung. Hierbei wird in der hu-
manistischen Psychotherapie dem Füh-
len eine entscheidende Rolle beigemessen
und bedeutet, wahrzunehmen, „… was
uns immer wieder neu bewegt und der
immer neuen inneren Bewegung eine der
immer wieder neuen Situation angemes-
sene Bedeutung zu geben. Wahrhaftig-
keit zu erleben in diesem realen Kontakt,
Selbstbegegnung in einer Begegnung: das
ist heilsam“ (Eberwein 1996, S. 96)
Auf die supportive Begleitung von kör-
perlich schwer Kranken bezogen, heißt
das, dass ich im empathischen Sinn ver-
suche, meine Einfühlung so zu richten,
dass ich so nah wie möglich an die Art
und Weise herankomme, wie jemand in
seiner momentanen Welt lebt. Voraus-
setzung dafür ist, dass ich im Sinne von
Kongruenz bezüglich unserer Beziehung
Zugang zu meinem eigenen inneren Er-
leben habe, das sowohl Gefühle, Intuiti-
onen, subtile Wahrnehmungen und inne-
re Impulse umfasst.
Fazit für die Praxis
In der Arbeit eines psychologischen Kon-
siliardienstes ist es wichtig, eine ange-
messene Balance zwischen Sicherheit ge-
bender Distanz zum Patienten und emo-
tionalem Tiefenkontakt zu finden, zu er-
reichen und zu halten. Dies ist ein beson-
derer und notwendiger Schwerpunkt in
der Aus-, Fort- und Weiterbildung für Kol-
legen, die in diesem Bereich tätig werden
wollen. Supportive Ansätze, die oftmals
keiner Psychotherapietheorie eindeu-
tig zuzuordnen sind, erscheinen ebenso
sinnvoll als orientierungsgebende theo-
retische Konzepte, wie das Denk- und Be-
ziehungsmodell der humanistischen Psy-
chologie.
Korrespondierender AutorDr. Christina MeyerInstitut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Klinikum der Friedrich-Schiller-UniversitätStoystraße 3, 07743 [email protected]
Interessenkonflikt. Es besteht kein Interessenkon-
flikt. Die korrespondierende Autorin versichert, dass
keine Verbindung mit einer Firma, deren Produkt in
dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Kon-
kurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentation
des Themas ist unabhängig und die Darstellung der In-
halte produktneutral.
Literatur
Eberwein W (1996) Abenteuer Hypnose. Kösel, Mün-
chen
Freyberger HJ, Brinker M, Reimer I, Freyberger H (1999)
Kurzzeitbehandlung im klinisch-psychosoma-
tischen Konsiliardienst. In: Rosendahl W (Hrsg)
Kurzzeitpsychotherapie in Theorie und Praxis.
Pabst, Lengerich
54 | Psychotherapeut 1 · 2007
Behandlungsprobleme