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EuR – Heft 2 – 2008 143 Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag? Von Jörg Philipp Terhechte, Hamburg * I. Einführung Finis coronat opus: Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13. Dezember 2007 ist eine lange Periode der Unsicherheit ob der zukünftigen Verfasstheit der Europäischen Union zu Ende gegangen. 1 Die Europäische Union wird durch den „Reformvertrag“ ihr Gesicht grundlegend verändern und die Eu- roparechtswissenschaft wird dementsprechend in vielen Bereichen gefordert sein, Antworten auf neu aufgeworfene Fragen zu geben: Wie ist das zukünftige Ver- hältnis der europäischen Verträge – dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem ehemaligen EG-Vertrag, der durch Lissabon zum „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) wird – zu beschreiben? Wie wirken sich die Modifikationen der Institutionen auf die Europäische Union aus? Und wie ist die Rolle des Einzelnen im europäischen Integrationsprozess ange- sichts der zukünftigen Rechtsverbindlichkeit der europäischen Charta der Grund- rechte (Art. 6 Abs. 1 EUV n.F.) und des Beitritts der EU zur EMRK (Art. 6 Abs. 2 EUV n.F.) angemessen zu beschreiben? – um nur einige wenige zu nen- nen. Jenseits dieser konkreten Veränderungen wirft aber der Vertrag von Lissabon weitere, grundlegende Fragen auf: Ist etwa nach dem Scheitern des Verfassungs- * Dr. iur., Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Abteilung Europäi- sches Gemeinschaftsrecht, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg. Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verf. am 4. Februar 2008 vor dem Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staa- tes“ an der Humboldt Universität zu Berlin (Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht) gehalten hat. Ein herzlicher Dank für wertvolle Hinweise gebührt Prof. Dr. Armin Hatje, Hamburg, sowie Prof. Dr. Ingolf Pernice, Berlin. Die Vorschriften des Vertrags über die Gründung der Europäischen Union (EUV) und des zukünftigen Ver- trags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) werden nach der Nummerierung der konsoli- dierten Verträge vorgenommen und orientieren sich insoweit an der „Übereinstimmungstabelle nach Artikel 5 des Vertrags von Lissabon“, ABl. EU 2007 Nr. C306/202 ff. Es werden zitiert der EU-Vertrag = EU, der EG- Vertrag = EG, der EU-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon = EUV n.F., der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union = AEUV und der Vertrag über eine Verfassung für Europa = EVV. 1 Die offizielle Bezeichnung lautet „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/1; dazu etwa H.-J. Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrags, NJW 2007, S. 3153 ff.; A. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 ff.; A. Hatje/A. Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung?, NJW 2008 i.E.; A. Hofmann/W. Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, inte- gration 2008, S. 3 ff.; I. Pernice, Der Vertrag von Lissabon – Ende des Verfassungsprozesses der EU?, EuZW 2008, S. 65; F. C. Mayer, Die Rückkehr der europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissa- bon, ZaöRV 67 (2007), S. 1142 ff.

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EuR – Heft 2 – 2008 143

Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der

europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?

Von Jörg Philipp Terhechte, Hamburg*

I. Einführung

Finis coronat opus: Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13. Dezember 2007 ist eine lange Periode der Unsicherheit ob der zukünftigen Verfasstheit der Europäischen Union zu Ende gegangen.1 Die Europäische Union wird durch den „Reformvertrag“ ihr Gesicht grundlegend verändern und die Eu-roparechtswissenschaft wird dementsprechend in vielen Bereichen gefordert sein, Antworten auf neu aufgeworfene Fragen zu geben: Wie ist das zukünftige Ver-hältnis der europäischen Verträge – dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem ehemaligen EG-Vertrag, der durch Lissabon zum „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) wird – zu beschreiben? Wie wirken sich die Modifikationen der Institutionen auf die Europäische Union aus? Und wie ist die Rolle des Einzelnen im europäischen Integrationsprozess ange-sichts der zukünftigen Rechtsverbindlichkeit der europäischen Charta der Grund-rechte (Art. 6 Abs. 1 EUV n.F.) und des Beitritts der EU zur EMRK (Art. 6 Abs. 2 EUV n.F.) angemessen zu beschreiben? – um nur einige wenige zu nen-nen. Jenseits dieser konkreten Veränderungen wirft aber der Vertrag von Lissabon weitere, grundlegende Fragen auf: Ist etwa nach dem Scheitern des Verfassungs-

* Dr. iur., Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Abteilung Europäi-

sches Gemeinschaftsrecht, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg. Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verf. am 4. Februar 2008 vor dem Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staa-tes“ an der Humboldt Universität zu Berlin (Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht) gehalten hat. Ein herzlicher Dank für wertvolle Hinweise gebührt Prof. Dr. Armin Hatje, Hamburg, sowie Prof. Dr. Ingolf Pernice, Berlin.

Die Vorschriften des Vertrags über die Gründung der Europäischen Union (EUV) und des zukünftigen Ver-trags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) werden nach der Nummerierung der konsoli-dierten Verträge vorgenommen und orientieren sich insoweit an der „Übereinstimmungstabelle nach Artikel 5 des Vertrags von Lissabon“, ABl. EU 2007 Nr. C306/202 ff. Es werden zitiert der EU-Vertrag = EU, der EG-Vertrag = EG, der EU-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon = EUV n.F., der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union = AEUV und der Vertrag über eine Verfassung für Europa = EVV.

1 Die offizielle Bezeichnung lautet „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/1; dazu etwa H.-J. Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrags, NJW 2007, S. 3153 ff.; A. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 ff.; A. Hatje/A. Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung?, NJW 2008 i.E.; A. Hofmann/W. Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, inte-gration 2008, S. 3 ff.; I. Pernice, Der Vertrag von Lissabon – Ende des Verfassungsprozesses der EU?, EuZW 2008, S. 65; F. C. Mayer, Die Rückkehr der europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissa-bon, ZaöRV 67 (2007), S. 1142 ff.

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vertrags die „Verfassungsdiskussion“ auf europäischer Ebene beendet? Stehen das bewusst jegliche Verfassungssemantik ausklammernde Mandat der Regie-rungskonferenz aus dem Jahre 20072 und der Vertrag selbst – etwa in Anbetracht des neuen Austrittsrechts aus der Union gem. Art. 50 EUV n.F.3 – für eine Verab-schiedung von der „Verfassungsidee“?4 Verkörpert Lissabon also lediglich eine technische Änderung der Verträge? Oder kann weiterhin mit Recht von einer europäischen Verfassung, von grundlegenden Verfassungsurkunden einer Rechts-gemeinschaft – wie es der Europäische Gerichtshof formulierte5 – gesprochen werden? Geht mit Lissabon gar eine Stärkung der europäischen Verfassungsidee einher? Die folgenden Überlegungen wollen eben diesen Fragen nachgehen. Dazu soll zunächst die Entstehungsgeschichte des Vertrags von Lissabon geschildert wer-den (II.). Danach werden die Änderungen, die Lissabon mit sich bringen wird, ausführlich gewürdigt (III.). Anschließend gilt es, den modifizierten Sprachge-brauch, also die Abwesenheit der Verfassungssymbolik und -semantik, näher zu beleuchten (IV.), um dann die Frage zu beantworten, welche Rolle der Vertrag von Lissabon für die „Verfassungsdiskussion“ auf europäischer Ebene haben wird (V.). Die Überlegungen werden durch ein kurzes Fazit abgeschlossen (VI.).

II. Hintergründe: Die Reform der Reform als Grundmotiv

Der Vertrag von Lissabon wird sich zukünftig daran messen lassen müssen, wel-chen Platz er zwischen Nizza und dem gescheiterten Verfassungsvertrag einneh-men wird – und steht damit zwischen zwei völlig unterschiedlichen Verträgen. Der Vertrag von Nizza aus dem Jahre 2000 stand und steht für die partielle Unfä-higkeit der Union, sich effiziente Strukturen zu geben – selten hat eine Vertrags-revision so viel Kritik einstecken müssen wie diese.6 Eigentlich war Nizza die Rolle zugedacht worden, die europäischen Institutionen und Entscheidungsver-fahren grundlegend zu reformieren und so die Union insgesamt für die Osterwei-

2 Siehe Rat der Europäischen Union, Mandat für die RK 2007 (11218/07) v. 26. Juni 2007, Ziff. 3: „Der EUV

und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben. Die in den Ver-trägen insgesamt verwendete Begrifflichkeit wird diese Änderung widerspiegeln: der Ausdruck „Verfassung“ wird nicht verwendet, der „Außenminister der Union“ wird „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Si-cherheitspolitik“ genannt und die Bezeichnungen „Gesetz“ und „Rahmengesetz“ werden aufgegeben, wobei die bestehenden Bezeichnungen „Verordnung“, „Richtlinie“ und „Entscheidung“ (bzw. „Beschluss“) beibe-halten werden. Ebenso werden die geänderten Verträge keinen Artikel enthalten, in dem die Symbole der EU wie Flagge, Hymne und Leitspruch erwähnt werden. Was den Vorrang des EU-Rechts anbelangt, so wird die RK eine Erklärung verabschieden, in der auf die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU verwie-sen wird.“

3 Dazu etwa T. Bruha/C. Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union, AVR 2004, S. 1 ff.; W. Heintschel von Heinegg, in: C. Vedder/ders. (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag (EVV). Handkom-mentar, Baden-Baden 2007, Art. I-60 Rn. 1 ff; dazu ausführlich unten S. 151 ff.

4 So etwa M. Heinig, Europäisches Verfassungsrecht ohne Verfassungsvertrag?, JZ 2007, S. 905 ff. 5 EuGH Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 Rn. 23 – Les Verts; EuGH Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079

Rn. 21 – EWR I. 6 Vgl. dazu etwa K. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, Baden-Baden 2008, S. 17 ff.

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terung im Jahre 2004 vorzubereiten.7 Indes ist es den Staats- und Regierungschefs in Nizza nur teilweise gelungen, diese Aufgaben zu bewältigen.8 Den Beteiligten war wahrscheinlich schon bei der Unterzeichnung des Vertrags von Nizza be-wusst, dass eine weitere grundlegende Reform nicht lange auf sich warten lassen würde, zumal der Vertrag von Nizza dann auch noch in Irland bei einer Volksab-stimmung abgelehnt wurde.9 Diese Reform der Reform sollte eigentlich durch den „Vertrag über eine Verfas-sung für Europa“ (EVV)10 bewerkstelligt werden. Das Scheitern des EVV infolge der niederländischen und französischen Referenden kam schon deshalb für die Fachöffentlichkeit überraschend, weil der EVV für eine Überwindung der Män-gel, die Nizza hinterlassen hatte, stand. Woran der EVV letztlich gescheitert ist, ist bis heute nicht völlig auszumachen.11 Jedenfalls hatte man es mit einer Melan-ge aus ungenügender „Werbung“, verfehlter nationaler Politik und insbesondere auch mehrheitsunfähigen Regelungskernen der Verfassung selbst zu tun. Kriti-siert wurde die „Wirtschaftszentriertheit“ des Verfassungstextes, seine Länge (448 Artikel!) und seine unübersichtliche Anordnung. Keiner dieser Faktoren wird allein für das Scheitern des EVV in den Referenden verantwortlich gemacht werden können, aber alle werden ihren Teil dazu beigetragen haben. Trotz seines Scheiterns hat der EVV eine besondere Bedeutung für den Vertrag von Lissabon, denn viele Neuerungen, die die Verfassung mit sich gebracht hätte, finden sich nun im Reformvertrag – wenn auch teilweise in modifizierter Form – wieder.12 Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrags trat eine gewisse Stille um den zu-künftigen Kurs ein, die nach außen als „Reflexionsphase“ bezeichnet wurde. Do-miniert wurde diese Phase aber vorerst nicht durch eine kollektive Selbstbesin-nung, sondern zunächst durch ein Festhalten an den Gehalten des EVV – allen-

7 Ausführlich dazu A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union – der Vertrag von Nizza auf

dem Prüfstand, EuR 2001, S. 143 ff. 8 So waren nach Nizza immer noch 72 Bereiche der Einstimmigkeitsregel unterworfen und die Zahl der Kom-

missare blieb gleich hoch, dazu A. Hatje (Fn. 7), S. 156. 9 Beim ersten irischen Referendum über den Vertrag von Nizza im Jahre 2001 haben 54% der Wähler mit Nein

und 46% der Wähler mit Ja gestimmt, die Wahlbeteiligung lag allerdings nur bei 33,7%, vgl. dazu W. Hum-mer, Irlands „Nein zu Nizza“: Konsequenzen aus dem negativen irischen Referendum vom 7. Juni 2001, in-tegration 2001, S. 237 ff.

10 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. EU 2004 Nr. C 310/1. 11 Siehe dazu z. B. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl., Baden-Baden 2006, S. 673 ff.; P. Craig/

G. de Búrca, EU Law, 4. Aufl., Oxford 2007, S. 34 ff.; W. Heintschel von Heinegg/C. Vedder, Einführung, in: dies. (Hrsg.), EVV (Fn. 3), S. 39 f.; U. Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext, 2. Aufl., Tübingen 2007, Rn. 111 ff.

12 Ausführlich zu den Änderungen, die durch den Verfassungsvertrag eingetreten wären, etwa J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents. Verfassungsrechtliche Grundstrukturen und wirtschaftsverfassungsrechtliches Konzept, Baden-Baden 2004; R. Streinz/C. Ohler/C. Herrmann, Die neue europäische Verfassung, München 2005; C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union – Kommentar der Grundlagenbestimmungen, München 2006; C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EVV (Fn. 3); J. P. Terhechte et al (Hrsg.), Die europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, Baden-Baden 2005; A. Hatje/J. P. Terhechte (Hrsg.), Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR-Beiheft 3/2004, Baden-Baden 2004; K. Lenaerts/D. Gerard, The Structure of the Union According to the Constitution for Europe: the Emperor is Getting Dressed, ELRev. 29 (2004), S. 289 ff.; G. Nicolaysen, EU-Mitgliedstaaten: Ein neues verfassungsrechtliches Verhältnis?, in: T. Bruha/C. Nowak (Hrsg.), Die Europäi-sche Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, Baden-Baden 2006, S. 17 ff.

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falls der Zeitplan der Ratifizierung sollte nach hinten verschoben werden.13 So erstaunlich diese Linie im Lichte der Referenden zunächst wirken mag, so hat sie doch wahrscheinlich entscheidend dazu beigetragen, dass wesentliche Teile des EVV in den Vertrag von Lissabon „hinübergerettet“ werden konnten. Eine völlige Aussetzung oder ein völliger Neuanfang direkt nach den gescheiterten Referen-den hätte vermutlich zu wesentlich tieferen Einschnitten geführt. Die Reflexionsphase endete schließlich mit der deutschen Ratspräsidentschaft im Januar 2007, deren erklärtes Ziel darin bestand, eine neue Grundlage für den wei-teren Reformkurs zu schaffen. Anlass bot hier insbesondere das – bemerkenswert geräuschlose – 50-jährige Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge, das im Rahmen einer Gipfelkonferenz in Berlin begangen wurde und das die „Berliner Erklärung“ zum Ergebnis hatte.14 Diese Erklärung betont die Notwen-digkeit zur Reform der Verträge in besonderer Weise: „Deshalb sind wir heute, 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge in dem Ziel geeint, die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen“. Die Berliner Erklärung setzte so das nach außen hin sichtbare Signal zum erneuten Aufbruch. Der Durchbruch für den Vertrag von Lissabon wurde dann bereits mit der Eini-gung auf ein Mandat im Rahmen der Zusammenkunft des Europäischen Rates im Juni 2007 in Brüssel erzielt. Die Verhandlungen in Brüssel stellten den eigentli-chen Knackpunkt dar – hier hätte der gesamte Reformprozess erheblich gestört bzw. ganz zum Erliegen gebracht werden können. Tatsächlich gelang es aber, ein umfangreiches und sehr ins Detail gehendes Mandat zu erarbeiten, das letztlich die Verhandlungsspielräume der entscheidenden Regierungskonferenz im Okto-ber 2007 in Lissabon sehr verengte.15 Hiermit sollten offenbar die noch wachen Erinnerungen an das „gruppendynamische Fiasko“16 der langen Nächte von Nizza schon im Vorfeld produktiv aufgearbeitet werden. Wenngleich also durch das Mandat für die Regierungskonferenz ein Bündel geschnürt war, das Abweichun-gen kaum noch zuließ, blieben die Verhandlungen am 18. und 19. Oktober 2007 bis zum Ende spannend. Insbesondere ging es (noch einmal) um verschiedene Forderungen Polens, das den sog. Ioannina-Mechanismus im Primärrecht veran-kern und die Zahl der Generalanwälte beim EuGH erhöhen wollte. Während letz-teres relativ unkompliziert mehrheitsfähig zwischen den Beteiligten war, wurde hinsichtlich des Ioannina-Mechanismus ein recht unübersichtlicher Kompromiss ausgehandelt.

13 K. Fischer (Fn. 6), S. 22 f. 14 Erklärung anlässlich des 50. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge, abrufbar unter

<http://www.eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf> (15. 02. 2008); vgl. dazu T. Oppermann, Die Berliner Erklärung vom 25. März 2007, in: J. Ipsen/B. Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, Berlin 2008, S. 609 ff.

15 Zu den ambivalenten Inhalten des Mandats, insbesondere zu Ziff. 3, vgl. bereits oben Fn. 2. 16 A. Hatje, Entwicklungen zu einer europäischen Verfassung – zur aktuellen Debatte aus deutscher Perspektive,

in: G. Hohloch (Hrsg.), Wege zum europäischen Recht, Baden-Baden 2002, S. 73.

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III. Zukünftige Wandlungen in der Verfasstheit der EU – Der Vertrag von Lissabon im Überblick

Der Vertrag von Lissabon wird eine Reihe von tief greifenden Änderungen der bisherigen Verträge mit sich bringen, die das Bild der Europäischen Union nach-haltig verändern werden. Insofern liegt der Verdacht auf der Hand, dass es sich nicht nur um eine bloße Optimierung der technischen Abläufe in der Union han-delt, sondern um grundlegende Wandlungen in der Verfasstheit der Europäischen Union.17

1. Eine Union – drei Verträge

a) Die Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union

Die vielleicht hervorstechendste Änderung, die der Vertrag von Lissabon mit sich bringen wird, ist die Verschmelzung von Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft zu einer Europäischen Union. Gem. Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV n.F. tritt die Union an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft als deren Rechtsnach-folgerin. Mit Art. 47 EUV n.F. wird der Union ausdrücklich die Rechtsfähigkeit verliehen. Damit wird die alte Streitfrage, ob die Union Rechtsfähigkeit besitzt, hinfällig.18 Die Verleihung der Rechtsfähigkeit nach innen wird durch Art. 335 AEUV geleistet, der im Wesentlichen dem heutigen Art. 282 EG entspricht.19 Wenn auch die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an die Union unausweichli-che Folge der Fusion von Union und Gemeinschaft war, hat der Schritt offenbar dennoch für Unbehagen bei den Mitgliedstaaten gesorgt. Man kann die dem Ver-trag von Lissabon beigefügte Erklärung Nr. 24 zur Rechtspersönlichkeit der Eu-ropäischen Union kaum anders deuten. Sie stellt klar, dass die Rechtspersönlich-keit die Union keinesfalls ermächtigt, über die ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten hinaus gesetzgeberisch tätig zu sein oder über diese Zuständigkeiten hinaus zu handeln. Die Erklärung hat in erster Linie politische Funktion, denn ihr Inhalt verhält sich letztlich redundant zu den allge-meinen Prinzipien, die bereits heute gelten (wie etwa dem Prinzip der begrenzten

17 In Anlehnung an E.-J. Mestmäcker, Wandlungen in der Verfasstheit der Europäischen Gemeinschaft, in:

ders., Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, S. 49 ff.; auch er-schienen als Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge Heft 8 (2000).

18 Dazu etwa A. Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, Baden-Baden 2001, S. 20 ff.; A. von Bogdandy/M. Nettesheim, Die Verschmelzung der Europäischen Gemeinschaften in der Europäischen Union, NJW 1995, S. 2324 (2327); S. Griller, Die Unterscheidung von Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht nach Amsterdam, in: P.-C. Müller-Graff/J. Schwarze (Hrsg.), Rechtschutz und Rechtskontrolle nach Amster-dam, EuR-Beiheft 1/1999, S. 45 ff. (insbesondere S. 45-53).

19 Art. 335 AEUV wird gegenüber dem heutigen Art. 282 EG um einen Satz ergänzt, wonach die Union bei Fragen, die das Funktionieren einzelner Organe betreffen, aufgrund der Verwaltungsautonomie von den betreffenden Organen vertreten wird. Die Ergänzung greift somit die bislang gängige Praxis auf, vgl. zum Ganzen A. Hatje, in: H. von der Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), EU-Vertrag/EG-Vertrag, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 282 EGV Rn. 46 f.

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Einzelermächtigung gem. Art. 5 EG) und auch zukünftig gelten werden (vgl. Art. 5 Abs. 1, Art. 13 Abs. 2 EUV n.F.). Unmittelbare Folge der Verleihung der Rechtspersönlichkeit an die Union ist auch die Integration des Europäischen Rates (bislang Art. 4 EU) in den einheitli-chen institutionellen Rahmen der Union gem. Art. 13 EUV n.F. i.V.m. Art. 15 EUV n.F. Hierdurch entfällt die bislang bestehende Sonderrolle des Europäischen Rates als einzigem Organ der Union.20 Umgekehrt werden die anderen in Art. 13 EUV n.F. aufgezählten Organe damit zu Institutionen der gesamten Union. Die einheitsbildenden Potentiale, die von einer Union ausgehen, sind in der Sum-me kaum zu überschätzen. Zwar gestaltet sich die Gesamtkonstruktion der Euro-päischen Union auch zukünftig nicht gerade übersichtlich (dazu nachfolgend lit. b), dennoch sind durch den Wegfall der Europäischen Gemeinschaft wesentliche Zweifelsfragen gegenstandslos geworden. Nach außen (und damit insbesondere für den Unionsbürger) ist eine klarere Zuordnung möglich. Durch die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an die Union und das Ende der Gemeinschaft ist zwangsläufig aber auch Bewegung in die Systematik der Verträge gekommen.

b) Wandlungen der Vertragssystematik

Die Neuordnung der Verträge ist seit langem ein Thema im Europarecht.21 Insbe-sondere das Verhältnis von EU-Vertrag und EG-Vertrag hat in den vergangenen Jahren oft zu Diskussionen geführt, was schlicht mit den unterschiedlichen Gehal-ten der Verträge zu tun hat.22 Gängiges Erklärungsmuster war hier insofern das Tempelmodell, nach dem bestimmte Vorschriften des EUV das Dach der EU bilden (Art. 1-7 EU). Unter diesem Dach finden sich drei Säulen: Die erste Säule besteht aus den drei supranationalen Gemeinschaften EGKS, EG und EAG – seit dem Auslaufen des EGKS-Vertrags mit Ablauf des 23. Juli 200223 jedoch nur noch aus der EG und der EAG. Daneben findet sich in der zweiten Säule die Ge-meinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 11 ff. EU) sowie in der dritten Säule die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Straf-sachen (Art. 29 ff. EU). Der Sockel dieses Tempels wird durch die Schlussbe-

20 Siehe dazu etwa A. von Bogdandy/M. Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit

eigener Rechtsordnung, EuR 1996, S. 3 ff. (12 f.); O. Dörr, Zur Rechtspersönlichkeit der Europäischen Uni-on, EuR 1995, S. 334 ff. (337); A. Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union (Fn. 18), S. 22 ff.

21 Siehe dazu G. Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den europä-ischen Gemeinschaften, JuS 1992, S. 985 ff.

22 Dazu S. Griller, Die Unterscheidung von Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht nach Amsterdam, in: P.-C. Müller-Graff/J. Schwarze (Hrsg.), Rechtsschutz und Rechtskontrolle nach Amsterdam, EuR-Beiheft 1/1999, S. 45 ff.; O. Dörr, Noch einmal: Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften, NJW 1995, S. 3162 ff.

23 Dazu W. Obwexer, Das Ende der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EuZW 2002, S. 517 ff.; J. Grundwald, Das Ende einer Epoche – Das Erbe der EGKS, EuZW 2003, S. 193 ff.; vgl. auch K. Schmalen-bach, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl., München 2007, Art. 305 EG Rn. 2; J. P. Terhechte, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., Baden-Baden 2008, Art. 305 EG Rn. 1.

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stimmungen des EU-Vertrags gebildet, die wiederum für die Union und die Ge-meinschaften gelten (Beitritt etc.; vgl. Art. 46-53 EU).24 Zu Recht wurde in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Modell lediglich um eine Beschreibung des Ist-Zustandes der Union handelt, nicht aber um ein Modell, das rechtliche Aussagekraft hat.25 Ob das Modell wirk-lich anschaulich war, darüber lässt sich in der Tat streiten. Nur soweit die kom-plexen Beziehungen zwischen den Säulen außer Betracht gelassen werden (vgl. etwa Art. 301 EG), kann man mit dem Tempelmodell ein einigermaßen realisti-sches Bild zeichnen. Der EVV hätte das Ende des Tempel-Modells bedeutet, denn die Säulenstruktur wäre durch die Verschmelzung von EU-Vertrag und EG-Vertrag zu einem Ver-fassungsvertrag nicht mehr aufrecht zu erhalten gewesen, wenn auch der Verfas-sungsvertrag zumindest den EAG-Vetrag weiter neben sich stehen gehabt hätte.26 Zudem hätte der Verfassungsvertrag erhebliche Modifikationen der anderen bei-den Säulen mit sich gebracht – er hätte also zumindest aus dorischen Kapitellen ionische oder korinthische gemacht.27 Die Vorstellung von einem Vertrag, der das gesamte primäre Recht der Union umfasst, war also auch mit dem Verfassungs-vertrag nicht zu verwirklichen. Der Vertrag von Lissabon hat hier einen recht unübersichtlichen Weg eingeschla-gen: Auch zukünftig wird es zumindest drei Verträge geben, deren Verhältnis zueinander aber neu justiert wird. Gem. Art. 1 Abs. 2 S. 1 AEUV bilden der EUV n.F. und der AEUV die Verträge, auf die sich die Union begründet. Nach Art. 1 Abs. 2 S. 2 EUV n.F. sind die beiden Verträge rechtlich gleichwertig. Damit bil-den „die Verträge“ zukünftig einen einheitlichen und (größtenteils) homogenen Kern der Europäischen Union, um den dann der EAG-Vertrag wie ein Satellit kreisen wird. Der Status der EAG wird durch das Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon geklärt28, das im Wesentlichen Anpassungen an die neue Konstruk-tion der EU vornimmt, aber auch in Detailbereichen Neuformulierungen von Bestimmungen vorsieht. Durch das gleichberechtigte Miteinander der beiden Verträge ist freilich nicht gesagt, dass nun auch einheitlich die „supranationale Methode“ gilt, vielmehr wird im Bereich der GASP auch weiterhin der intergouvernementale Ansatz gel-

24 Vgl. etwa die Abbildungen bei R. Streinz, Europarecht, 7. Aufl., Heidelberg 2005, Rn. 85; U. Haltern, Euro-

parecht (Fn. 11), Rn. 100; s. a. C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 1 EUV Rn. 4; ausführlich dazu W. Schroeder, Verfassungsrechtliche Beziehungen zwischen Europäischer Union und Europäischen Gemeinschaften, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin/ Heidelberg 2003, S. 373 ff. (insbesondere S. 378).

25 Vgl. A. Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union (Fn. 18), S. 11 m. w. Nachw. 26 Siehe dazu vertiefend W. Heintschel von Heinegg, in: C. Vedder/ders. (Hrsg.), Europäischer Verfassungsver-

trag (Fn. 3), Art. IV-437 Rn. 5 27 Zu den Änderungen im Bereich der GASP vgl. etwa M. Joop/E. Regelsberger, GASP und ESVP im Verfas-

sungsvertrag – eine neue Angebotsvielfalt mit Chancen und Mängeln, integration 2003, S. 550 ff. 28 Protokoll Nr. 2 zur Änderung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. EU v.

17. 12. 2007 Nr. C 306/199-201.

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ten. Hier wird zukünftig die Unterscheidung ansetzen müssen, da die Unterschei-dung zwischen Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht wegfällt.29 Neben den Verträgen steht zukünftig eine noch nie gesehene Anzahl von Erklä-rungen und Protokollen, die die Gesamtanlage der Verträge sehr unübersichtlich gestaltet. Diese Anzahl (13 Protokolle, 65 Erklärungen!) könnte als Ausdruck der in Gefahr geratenen Einheit der Union verstanden werden, beziehen sich die Pro-tokolle und Erklärungen doch zumeist auf unilaterale Sonderwege oder aber auf Berichtigungen, Klarstellungen oder die Sicherung überkommener Prinzipien des Unionsrechts. So sehr diese Annexe aber das Bild stören, so ist ihnen gleichwohl auch zu verdanken, dass die Mitgliedstaaten überhaupt zu einer Einigung auf ein Gesamtpaket gelangen konnten. Hierin kann man auch die berühmte Quadratur des Kreises erblicken: Erklärungen und Protokolle sichern die Einheit des Ganzen durch eine Diversifizierung in Teilen.

2. Beitritt zur Union und Austrittsrecht

Der Vertrag von Lissabon hat die bestehenden Regeln für Änderungen des primä-ren Unionsrechts („Verfassungsänderung“) erheblich verändert, indem er die Konventsmethode30, die insbesondere der Erarbeitung des EVV zugrunde lag, nun offiziell zur Grundlage der Vertragsänderung macht. Von symbolisch gar nicht zu unterschätzender Bedeutung ist auch das neue Austrittsrecht, das mit Lissabon im EUV n.F. verankert wird, und korrespondierend dazu die Frage, ob es dann nicht auch ein Ausschlussrecht geben müsste.

a) Kriterien des Beitritts – Art. 49 EUV n.F.

Der Vertrag von Lissabon ist um eine Präzisierung der bislang recht kryptischen Beitrittsvoraussetzungen des heutigen Art. 49 EU bemüht, auch wenn das Thema „EU-Erweiterung“ in den nächsten Jahren nicht dieselbe Brisanz entfalten dürfte wie in den vergangenen Jahren.31 Im Wesentlichen geht es bei den Neuerungen um den von Österreich vehement geforderten Passus, dass Grundlage der Ent-scheidung über den Beitritt weiterer Staaten die vom Europäischen Rat vereinbar-ten Kriterien sein werden (Art. 49 S. 4 EUV n.F.). Damit sind zunächst die be-rühmten Kopenhagener Kriterien gemeint.32 Da diese aber nicht ausdrücklich im

29 Zukünftig wird man deshalb wohl nicht mehr von einer „Gemeinschaftsmethode“ sprechen können, es sei

denn, man will den Begriff ausschließlich auf die EAG beziehen. 30 Dazu F. C. Mayer, Macht und Gegenmacht in der europäischen Verfassung – Zur Arbeit des Europäischen

Verfassungskonvents, ZaöRV (63) 2003, S. 59 ff.; E. Brok, Der Konvent – eine Chance für die Europäische Verfassung, integration 2003, S. 338 ff.

31 Zum Beitritt zur EU vgl. etwa J. Zeh, Recht auf Beitritt?, Baden-Baden 2002; E. Šarcevic, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensentscheidung und Beitrittsrecht, EuR 2002, S. 461 ff.

32 Zu den Kopenhagener Kriterien vgl. etwa H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 49 EUV Rn. 10; J. P. Terhechte, Die Ausstrahlung des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsordnungen der Beitrittskandidaten am Beispiel des Wettbewerbsrechts, EWS 2002, S. 560 ff.

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Vertragstext fixiert sind, kann der Kriterienkatalog jederzeit erweitert bzw. modi-fiziert werden. Hiermit ist eine flexible Handhabung des Instruments „Beitritt“ möglich. Eine weitere Änderung des Art. 49 EU betrifft die in der Norm selbst niedergeleg-ten Voraussetzungen. Bislang musste der beitrittswillige – europäische33 – Staat die Grundsätze der Union achten, also insbesondere Art. 6 EU.34 In der Lissabon-ner Fassung ist nun von Werten der Union die Rede, die geachtet und gefördert werden müssen. Ob hiermit eine zusätzliche juristische Dimension in die Norm gekommen ist, ist schwer zu sagen. Angesichts der Tatsache, dass der EU-Vertrag zukünftig in Art. 2 EUV n.F. ausdrücklich auf die Werte der Union verweist, die erheblich über den bisherigen Katalog des Art. 6 EU hinausgehen, sind potentiell höhere Hürden für beitrittswillige Staaten aufgebaut worden. Namentlich geht es hier um die Werte Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern. Die Beobachter gehen jenseits der juristischen Bedeutung dieser Werte zudem von einem starken politi-schen Signal aus.35

b) Unzureichende Prozeduralisierung – das Austrittsrecht gem. Art. 50 EUV n.F.

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist freiwillig. So banal diese Fest-stellung klingt, so umstritten ist doch seit jeher eine mit dieser Feststellung un-trennbar verbundene Folge: Wenn die Mitgliedschaft freiwillig ist – so wird teil-weise behauptet – so muss es auch ein Austrittsrecht geben.36 Im Kern war sich die Europarechtswissenschaft zumindest darüber einig, dass ein austrittswilliger Staat faktisch nicht am Austritt gehindert werden kann.37 Indes sind die Verträge aber auf unbestimmte Zeit geschlossen (was auch zukünftig gilt, vgl. Art. 53 EUV n.F.), so dass man hierin den antizipierten Ausschluss eines Austrittsrechts erbli-

33 Siehe zu dem Kriterium des „europäischen Staates“ C. Dorau, Die Öffnung der Europäischen Union für

europäische Staaten, EuR 1999, S. 736 ff.; E. Šarcevic, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensent-scheidung und Beitrittsrecht, EuR 2002, S. 461 ff. (insbesondere S. 465 f.).

34 H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 49 EUV Rn. 9. 35 K. Fischer (Fn. 6), S. 173. 36 Vgl. T. Bruha/C. Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union, AVR 2004, S. 1 ff.; K. Doehring,

Einseitiger Austritt aus der EG, in: B. Kempen/D. Dörr/U. Fink u.a. (Hrsg.), FS Schiedermair, Heidelberg 2001, S. 695 ff.; W. Heintschel von Heinegg, in: C. Vedder/ders. (Hrsg.), EVV (Fn. 3), Art. I-60 Rn. 1 ff.; grundsätzlich zum Austrittsrecht auch A. Waltemathe, Austritt aus der EU – sind die Mitgliedstaaten noch souverän?, Bern/Frankfurt a.M. 2000; F. Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der EU, Baden-Baden 2000; J. H. H. Weiler, Alternatives to Withdrawal from an International Organization: The Case of the European Economic Community, 20 Israel L. Rev. (1985), S. 282 ff.; ders., The Transformation of Europe, 100 Yale Law Journal (1991), S. 2403 ff. (2412 ff).

37 So etwa J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, 100 Yale Law Journal (1991), S. 2403 ff. (2412).

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cken kann.38 Zudem liegt es auf der Hand, dass, je mehr man die Europäische Union als „bundesstaatsähnliches“ föderales Gebilde begreift, ein Austrittsrecht nur in Betracht kommt, soweit es ausdrücklich in den Verträgen niedergelegt ist.39 Diese Diskussion ist insbesondere durch den Verfassungsvertrag angeheizt wor-den, der ausdrücklich ein Austrittsrecht vorsah (Art. I-60 EVV).40 Gem. Art. 50 Abs. 1 EUV n.F. kann mit dem Vertrag von Lissabon jeder Mit-gliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen be-schließen, aus der Union auszutreten.41 Dieser Beschluss ist dem Europäischen Rat mitzuteilen, der dann mit dem betreffenden (Noch-)Mitgliedstaat ein Ab-kommen über die Einzelheiten des Austritts aushandeln wird (Art. 50 Abs. 2 EUV n.F.). Das Abkommen wird dann vom Rat, der mit qualifizierter Mehrheit (Art. 50 Abs. 4 S. 2 EUV n.F. i.V.m. Art. 238 Abs. 3 lit. b AEUV) und nach Zu-stimmung des Parlaments entscheidet, im Namen der Union geschlossen. Der Austritt wird i.d.R. mit dem Inkrafttreten dieses Abkommens oder spätestens zwei Jahre nach der Mitteilung an den Europäischen Rat i.S.d. Art. 50 Abs.1 EUV n.F. vollzogen.42 Um aber die Tür nicht völlig für den austretenden Staat zuzuschla-gen, sieht Art. 50 Abs. 5 EUV n.F. die Möglichkeit vor, dass dieser Staat wieder-um den Beitritt zur Union gem. Art. 49 EUV n.F. beantragen kann. Wenn auch diese Abläufe scheinbar eindeutig durch den Vertrag von Lissabon geregelt werden, so problematisch ist Art. 50 EUV n.F. doch im Detail. Jenseits der Frage, ob das neue Austrittsrecht deklaratorischen oder konstitutiven Charak-ter hat43 – bei einer „eigenen Rechtsordnung“44 spricht einiges für den konstituti-ven Charakter – ist in erster Linie problematisch, dass auf Seiten des austrittswil-ligen Staates keinerlei Begründungslasten etc. liegen. Schon hier zeigt sich eine ungenügende Prozeduralisierung des Austrittsrechts, denn was soll Gegenstand der Beratungen im Europäischen Rat sein, wenn nicht einmal der Grund des Aus-tritts offiziell benannt wird? Auch handelt es sich hier um eine „Alles-oder-nichts-Lösung“, wünschenswert wären aber bestimmte Fristen oder andere For-men rechtlich gebotener Reflexions- und Schlichtungsphasen gewesen.

38 Grundlegend zu dieser Position W. von Simson, Der politische Wille als Gegenstand der europäischen Ge-

meinschaftsverträge, in: B. Aubin/E. von Caemmerer u.a. (Hrsg.), FS Riese, Karlsruhe 1964, S. 83 ff.; siehe auch J. Schwarze, Das Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, S. 1 ff. (14 ff.); U. Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als „Herren der Verträge“, in: U. Beyerlin/M. Bothe/R. Hofmann/E.-U. Petersmann (Hrsg.), FS Bernhardt, 1995, S. 1161 ff.

39 T. Bruha/C. Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union, AVR 2004, S. 1 ff. (2). 40 Freilich ist es problematisch, von der faktischen Unmöglichkeit der Verhinderung eines Austritts automatisch

auf ein Recht auf Austritt zu schließen, vgl. A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, S. 143 f.

41 In der Bundesrepublik Deutschland müsste man hier im Lichte des Art. 23 GG eine Entscheidung des verfas-sungsgebenden Gesetzgebers nach Art. 79 Abs. 1 und 2 GG verlangen; dazu I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., Tübingen 2006, Art. 23 Rn. 46.

42 Art. 50 Abs. 3 EUV n.F. Nach dieser Vorschrift kann allenfalls der Europäische Rat im Einvernehmen mit dem jeweiligen Mitgliedstaat eine Verlängerung der Frist beschließen.

43 Dazu W. Heintschel von Heinegg, in: C. Vedder/ders. (Hrsg.), EVV (Fn. 3), Art. I-60 Rn. 3. 44 EuGH Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 ) – Costa/ENEL.

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Insgesamt verliert die Union mit dem Austrittsrecht am Rande ein Stück Identität – und zwar als Schicksalsgemeinschaft. Letztlich kommt man aber nicht umhin, in dem neuen Austrittsrecht zunächst ein primär symbolisches Instrument zu er-blicken, dessen praktische Relevanz gegen Null tendieren wird. Umgekehrt – und dies wird vielfach übersehen – vermag aber vielleicht gerade das Austrittsrecht die Legitimation insbesondere weittragender Entscheidungen der Union zu erhö-hen, denn kein Mitgliedstaat kann mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags noch behaupten, man habe keine Wahl gehabt – take it or leave it.

c) E contrario – Ausschlussrecht?

Eine Frage, die sich im Zusammenhang mit Beitritt und Austritt aus der Union schließlich stellt, ist, ob es noch einen weiteren Weg gibt, die Mitgliedschaft in der Union zu verlieren. Die Rede ist hier von einem Ausschlussrecht. Ob aber aus dem Austrittsrecht auch ein Ausschlussrecht gefolgert werden kann45, ist zweifel-haft. Schon der Vertrag von Nizza hat ein solches Recht nicht in das System des europäischen Verfassungsrechts integriert, obwohl die damalige Causa Österreich reichlich Anlass geboten hätte46, über ein derart ultimatives Instrument nachzu-denken. Stattdessen wurde der Sanktionsmechanismus des heutigen Art. 7 EU in das Unionsrecht eingefügt.47 Zu bedenken ist auch, dass ein so folgenschweres Instrument in einer Rechtsgemeinschaft einer soliden normativen Grundlage be-dürfte, die aber nicht ersichtlich ist, zumal so die zur Verfügung stehenden Me-chanismen der Verträge (Art. 7 EU oder das Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 226, 227 EG) z.T. außer Kraft gesetzt würden.48

3. Werteunion: Zur Struktur der neuen Ziel- und Wertebestimmungen

Die Europäische Union begreift sich zunehmend auch als Werteunion.49 Aus-druck dessen ist insbesondere Art. 2 EUV n.F., der die Werte der Union (nicht abschließend) aufzählt. Hierzu zählen die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit usw. Im Gegensatz zum heutigen Art. 6 EU ist die Aufzählung in Art. 2 EUV n.F. deutlich ausführlicher. Neu hin-

45 So etwa A. Puttler, Sind die Mitgliedstaaten noch „Herren“ der EU? – Stellung und Einfluss der Mitgliedstaa-

ten nach dem Entwurf des Verfassungsvertrags der Regierungskonferenz, EuR 2004, S. 669 ff. (678 f.). 46 Siehe F. Schorkopf, Verletzt Österreich die Homogenität in der Europäischen Union?, DVBl. 2000, S. 1036

ff.; W. Hummer/W. Obwexer, Die Wahrung der „Verfassungsgrundsätze der EU – Rechtsfragen der „EU-Sanktionen“ gegen Österreich, EuZW 2000, S. 485 ff.; S. Schmahl, Die Reaktionen auf den Einzug der Frei-heitlichen Partei Österreichs in das österreichische Regierungskabinett, EuR 2000, S. 819 ff.; A. Hatje, Loya-lität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union (Fn. 18), S. 79 ff. m. w. Nachw.

47 H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 51 EUV Rn. 3; H. Herrnfeld, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar (Fn. 23), Art. 51 EUV Rn. 2.

48 Vgl. auch J. Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, S. 1 ff. (31).

49 S. etwa C. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfas-sungsrecht?, JZ 2004, S. 1033 ff.; ders., in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 6 EUV Rn. 1.

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zugekommen sind Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen. Diese Werte als wesent-liche Strukturprinzipien der Union spielen insbesondere auch für den Beitritt neuer Mitgliedstaaten eine gewichtige Rolle, denn gem. Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV n.F. ist Voraussetzung der Mitgliedschaft in der EU die Achtung eben dieser Wer-te. Neben diesen Strukturprinzipien der Union enthalten sowohl der EUV n.F. als auch der AEUV noch weitere Bestimmungen, die Wertvorstellungen widerspie-geln bzw. die Strukturprinzipien konkretisieren. Zu nennen ist hier etwa die Auf-zählung einer Reihe sog. Querschnittsklauseln in Art. 8 ff. AEUV, wie z.B. für die Bereiche Umwelt (Art. 11 AEUV), Verbraucherschutz (Art. 12 AEUV) oder Tierschutz (Art. 13 AEUV), aber auch das Bekenntnis zur repräsentativen Demo-kratie in Art. 10 Abs. 1 EUV n.F. Diese Werte strahlen nicht nur auf das Handeln der Union nach innen aus, sondern sollen auch bewusst nach außen getragen wer-den (Art. 3 Abs. 5 EUV n.F.). Insgesamt reichert der Vertrag von Lissabon die Wertedimension, die in der Union lange Zeit als unterentwickelt galt, umfang-reich an. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das Selbstverständnis der Uni-on schon lange nicht mehr dem eines „Zweckverbandes funktionaler Integration“ (H. P. Ipsen) entspricht50, sondern dass das einigende Band der Union mittlerwei-le äußerst facettenreich ist.

4. Das Verhältnis der unionalen Ebene zu den Mitgliedstaaten

Der Vertrag von Lissabon wird das Verhältnis von unionaler und mitgliedstaatli-cher Ebene in verschiedener Hinsicht neu justieren. Der Vertrag wirft eine Reihe grundsätzlicher Fragen zum Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht auf, insbesondere hinsichtlich des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts. Zu-dem hat Lissabon die alte – und im Kern auf den Verfassungsvertrag zurückge-hende – Forderung nach einem einigermaßen übersichtlichen Kompetenzkatalog erfüllt. Aus der institutionellen Perspektive wird die Rolle der mitgliedstaatlichen Parlamente im Integrationsprozess nachhaltig gestärkt. Als Sachwalter des Uni-onsrechts kommt schließlich auch den mitgliedstaatlichen Gerichten und Behör-den eine besondere Rolle beim Vollzug zu, dessen Effektivität ein zentrales Motiv der neuen Verträge sein wird. Der Vertrag nimmt hier zukünftig die mitgliedstaat-lichen Gerichte stärker in die Pflicht.

a) Vorrang des Unionsrechts

Durch die Zusammenlegung von Union und Gemeinschaft stellt sich mit dem Vertrag von Lissabon die entscheidende Frage, wie das Verhältnis des gesamten Unionsrechts zum nationalen Recht ausgestaltet ist. Der Verfassungsvertrag hatte hier die Vorrangregel ausdrücklich aufgenommen (Art. I-6 EVV) und damit erst- 50 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschafsrecht, Tübingen 1972, § 8 Rn. 24 ff.

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mals ausdrücklich primärrechtlich verankert. Bis dahin war der Vorrang vor-nehmlich ein Produkt der gemeinschaftsrichterlichen Rechtsfortbildung, denn der EGV sah zu keinem Zeitpunkt eine ausdrückliche Kollisionsregel vor.51 Dogma-tisch handelt es sich letztlich um eine Rechtsanwendungsregel, deren Bedeutung für die Integration insgesamt nicht überschätzt werden kann, hebt sie doch die Union (bzw. die EG) aus dem Kreis der gewöhnlichen internationalen Organisati-onen heraus und verleiht dem Unionsrecht eine innerstaatliche Anwendungsrele-vanz, die weltweit ihresgleichen sucht.52 Als Meta-Regel des Unionsrechts wird sie gewöhnlich als „allgemeiner Grundsatz“ bezeichnet.53 Der Vertrag von Lissabon sieht keine ausdrückliche Regelung des Vorrangs des Unionsrechts mehr vor, was schon deshalb problematisch ist, weil nicht alle Be-reiche des Unionsrechts der „supranationalen Methode“ unterliegen. Insbesondere im Bereich der GASP dürfte die Rolle des Vorrangs für Diskussionen sorgen. Statt einer ausdrücklichen Regelung wurde dem Vertrag allerdings eine Erklärung beigefügt, die im Wesentlichen die Geltung des Vorrangprinzips in seiner heuti-gen Ausprägung voll bestätigt.54

b) Kompetenzausübungsregeln

Der Vertrag von Lissabon wird die bestehenden Kompetenzausübungsregeln des Unionsrechts nahezu unverändert lassen. Nach Art. 5 EUV n.F. wird auch zu-künftig das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zusammen mit den neuen Kompetenzkatalogen über das „Ob“ und das Subsidiaritäts- und Verhältnismä-ßigkeitsprinzip über das „Wie“ der Ausübung unionaler Kompetenzen entschei-den.55 Geändert wurde aber das „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“. Zukünftig werden – wie bereits erwähnt – die mitgliedstaatlichen Parlamente wesentlich stärker mit in die „Sub-sidiaritätskontrolle“ einbezogen. Soweit etwa die Mehrheit der nationalen Parla-mente der Ansicht ist, dass ein Gesetzgebungsakt nicht mit dem Subsidiaritäts-prinzip in Einklang steht, ist der Vorschlag noch einmal zu überprüfen (Art. 7 Abs. 3 des Protokolls). Insbesondere die Niederlande hatten versucht, ein Veto-

51 R. Streinz, Europarecht (Fn. 24), Rn. 193; zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vgl. H.-D. Jarass/S. Beljin,

Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsan-wendung, NVwZ 2004, S. 1 ff.; K. Lenaerts/P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, Lon-don 2005, Rn. 17-003 ff.; J. P. Terhechte, Temporäre Durchbrechung des Vorrangs des europäischen Ge-meinschaftsrechts bei Vorliegen „inakzeptabler Regelungslücken“?, EuR 2006, S. 828 ff. (834 ff.); ders., Der Vorrang des Unionsrechts, JuS 2008, S. 403 ff.

52 Grundlegend EuGH Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff. Rn. 12 – Costa/ENEL; EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125 ff. Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft; EuGH Rs. 106/77, Slg. 1978, S. 629 ff. Rn. 17/18 – Simmenthal II.

53 J. P. Terhechte, Temporäre Durchbrechung des Vorrangs des europäischen Gemeinschaftsrechts bei Vorlie-gen „inakzeptabler Regelungslücken“? (Fn. 51), S. 835.

54 Erklärung Nr. 17 zum Vorrang, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/256; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 505.

55 Ausführlich M. Nettesheim, Kompetenzen, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 415 ff.

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Recht der mitgliedstaatlichen Parlamente zu etablieren, was aber unter den Mit-gliedstaaten nicht mehrheitsfähig war.56 Der so gefundene Kompromiss stärkt zwar die Rolle der nationalen Parlamente erheblich, ist aber auch ausgesprochen kompliziert angelegt und könnte sich deshalb als Bremshebel im Rechtsetzungs-verfahren erweisen.57

c) Kompetenzverteilung

Schon während der Erarbeitung des Verfassungsvertrags war ein zentrales Anlie-gen die Systematisierung der unionalen Kompetenzen. Das bisherige System der Kompetenzzuweisung wurde als zu kompliziert und untransparent angesehen, insbesondere weil ein geschriebener Kompetenzkatalog, etwa vergleichbar mit Art. 70 ff. GG, Art. 34 franz. Verf. oder Art. 10 österr. Bundesverfassung, fehl-te.58 Schon der Verfassungsvertrag hat hier erhebliche Neuerungen mit sich ge-bracht: In einem eigenen Titel III im ersten Teil der Verfassung waren die Zu-ständigkeiten geregelt, sauber unterteilt in allgemeine Grundsätze (Art. I-11 EVV) und unterschiedliche Zuständigkeitstypen (Art. I-12 EVV), bei denen im Wesentlichen drei Typen unterschieden werden konnten: 1. die ausschließliche Zuständigkeit der Union (etwa für die Bereiche der Zollunion, der Wettbewerbs-regeln und der gemeinsamen Handelspolitik, Art. I-13 EVV59), 2. die geteilte Zuständigkeit der Union (so z. B. für den Binnenmarkt, die Sozialpolitik oder die Umweltpolitik, Art. I-14 EVV) sowie 3. die Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungszuständigkeiten der Union (etwa in den Bereichen Industrie und Kultur, Art. I-17 EVV).60 Dieses System hat der Vertrag von Lissabon in den Art. 2-6 AEUV weitgehend übernommen, dies gilt in erster Linie für die Eintei-lung in ausschließliche Zuständigkeit der Union (Art. 3 AEUV), geteilte Zustän-digkeit (Art. 4 AEUV) sowie die Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergän-zungszuständigkeiten der Union (Art. 6 AEUV).61

56 K. Fischer, Der Vertrag von Lissabon (Fn. 6), S. 467. 57 Kritisch auch A. Hatje/A. Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung (Fn. 1), i.E.;

A. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon (Fn. 1), S. 11. 58 Vgl. zum Ganzen M. Nettesheim, Die Kompetenzordnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, EuR

2004, S. 511 ff.; C. Trüe, Das System der EU-Kompetenzen vor und nach dem Entwurf eines Europäischen Verfassungsvertrags, ZaöRV 64 (2004), S. 391 ff.

59 Zu der problematischen Klassifizierung des Bereichs der Wettbewerbsregeln als ausschließliche Zuständigkeit der Union vgl. J. P. Terhechte, Die Rolle des Wettbewerbsrechts in der europäischen Verfassung, in: A. Hat-je/J. P. Terhechte (Hrsg.), Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR-Beiheft 3/2004, S. 107 ff. (110 ff.).

60 Hinzu kamen die Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik der Mitgliedstaaten (Art. I-15 EVV) sowie die Kompetenzen im Bereich der GASP (Art. I-16 EVV), die sich aufgrund ihrer Besonderheiten nicht eindeutig einem Kompetenztypus der geschilderten Trias zuordnen ließen. Vgl. zum Ganzen W. Obwexer, Gesetzgebung im Binnenmarkt – die Kompetenzaufteilung im Verfassungsentwurf, in: A. Hatje/J. P. Terhech-te (Hrsg.), Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR-Beiheft 3/2004, S. 145 ff.

61 Für den Bereich der Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik der Mitgliedstaaten vgl. Art. 5 AEUV und für die GASP Art. 2 Abs. 4 AEUV.

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Erheblich modifiziert wurde dagegen die sog. Vertragsabrundungskompetenz des jetzigen Art. 308 EG (zukünftig Art. 352 AEUV).62 Wenn auch der materiell-rechtliche Bestand der Norm nur geringfügig angetastet wurde, so steht doch zu erwarten, dass die prozeduralen Neuerungen zu einer eher eingeschränkten An-wendung des Art. 352 AEUV führen werden. Diese prozeduralen Änderungen betreffen insbesondere die Rolle des Europäischen Parlaments, das zukünftig im Verfahren der Mitentscheidung an den entsprechenden Rechtsakten auf Grundla-ge des Art. 352 AEUV zu beteiligen ist. Bislang sah der EG-Vertrag lediglich eine Beteiligung im Anhörungsverfahren vor. Dies kann u.a. dazu führen, dass Bereiche, die bislang lediglich eine schwach ausgeprägte Beteiligung des Parla-ments vorsahen, durch die Hintertür „demokratisiert“ werden – nämlich dann, wenn sich Rechtsakte auf zwei Ermächtigungsgrundlagen stützen. Hier wird man zukünftig das Mitentscheidungsverfahren zu Grunde legen müssen, wenn man einen Rechtsakt auch auf Art. 352 AEUV stützen will – und zwar auch dann, wenn die zweite Ermächtigungsgrundlage „nur“ die Beteiligung des Europäischen Parlaments im Anhörungsverfahren verlangt. Zudem hat die Kommission zukünftig gem. Art. 352 Abs. 2 AEUV die Pflicht, die nationalen Parlamente zur Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips auf Rechtset-zungsvorschläge aufmerksam zu machen, die auf Art. 352 AEUV gestützt werden sollen. Dieses „Frühwarnsystem“ ist Ausdruck des Gedankens der Subsidiarität. Zweifellos erhöht zudem die Rückkopplung mit den nationalen Parlamenten, kombiniert mit dem Verfahren der Zustimmung durch das Europäische Parla-ment, die demokratische Legitimation der auf Art. 352 AEUV gestützten Rechts-akte. Die Sorgen, die Art. 308 EG immer wieder in den Mitgliedstaaten hervorrief – und offenbar immer noch hervorruft –, drücken sich auch in zwei Erklärungen zu Art. 352 AEUV aus (Nr. 41 und 42), in denen im Wesentlichen wiederholt wird, dass die Union unter Berufung auf Art. 352 AEUV keine Rechtsakte im Bereich der GASP erlassen darf (der Erkenntnismehrwert der Erklärung ist in Anbetracht der Formulierung des Art. 352 Abs. 4 AEUV unklar und offensicht-lich redundant) bzw. ein allgemeines Bekenntnis zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Erklärung Nr. 42) erfolgt, das gleichfalls formal-juristisch keine Neuigkeiten enthält. Insgesamt bleibt abzuwarten, ob ausformulierte Kompetenzkataloge die ihnen zugewiesene Aufgabe der größeren Transparenz wirklich erfüllen können. Das System ist insgesamt recht komplex und zudem im Detail noch unausgereift. Es liegt deshalb auf der Hand, von einer eher paralysierenden Wirkung der neuen Vorschriften auf den Prozess der unionalen Rechtsetzung auszugehen, da hier viele kleine Probleme im Detail lauern.

62 Zu Art. 308 EG etwa M. Bungenberg, Art. 235 nach Maastricht, Baden-Baden 1999; ders., Dynamische

Integration nach Art. 308 und die Forderung nach einem Kompetenzkatalog, EuR 2000, S. 879 ff.

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d) Die zukünftige Rolle der nationalen Parlamente

Nach Art. 12 EUV n.F. tragen die nationalen Parlamente zukünftig verstärkt zur guten Arbeitsweise der Union bei, indem sie 1. eine aktivere Rolle bei der Recht-setzung der Union spielen sollen, 2. die Einhaltung der generellen Kompetenz-ausübungsregeln des Unionsrechts (Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprin-zip) überwachen, 3. im Rahmen des Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts eine größere Rolle spielen sowie 4. bei Vertragsänderungen bzw. 5. Bei-trittsverfahren zur Union eingebunden werden sowie 6. sich an einer interparla-mentarischen Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament beteiligen (Art. 12 lit. a-f EUV n.F.). Die konkrete Ausgestaltung dieser neuen Rolle der nationalen Parlamente erfolgt im Wesentlichen durch das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union.63 Hiernach werden um-fangreiche Informationspflichten, die die nationalen Parlamente schon in der Entstehungsphase europäischer Rechtsetzung mit einbeziehen, sowie das Recht, begründete Stellungnahmen zur Übereinstimmung eines Entwurfs mit dem Sub-sidiaritätsprinzip abzugeben, etabliert.64 Insgesamt sorgen diese Neuerungen, die eine Innovation gegenüber dem Verfas-sungsvertrag verkörpern, für eine verstärkte Einbindung der nationalen Parlamen-te in den Prozess der europäischen Rechtsetzung und stärken so dessen Legitima-tion erheblich.65 Fraglich ist aber, wie insbesondere die „Subsidiaritätskontrolle“ in der Praxis funktionieren soll, denn während die großen Mitgliedstaaten schon gefordert sein werden, diese „Kontrolle“ durchzuführen, kann daran gezweifelt werden, dass insbesondere die Parlamente der kleineren Mitgliedstaaten die not-wendigen Ressourcen aufbringen können, um sich aktiv an diesem Austausch beteiligen zu können. Interessant ist darüber hinaus die zukünftige Rolle der nationalen Parlamente bei „Grundentscheidungen“, die die Union als Ganzes betreffen. Durch die Einbin-dung in das Vertragsänderungsverfahren sowie in das neue Beitrittsverfahren wird den nationalen Parlamenten eine zentrale Rolle zugewiesen, die die Legiti-mationsbasis entscheidend verbreitern kann. Die Verträge setzen hier erfreuli-cherweise auf ein breit angelegtes Kooperations- und Partizipationsmodell. An-zumerken ist freilich, dass die nationalen Parlamente zunächst nur zu unterrichten sind, aber keine Interventionsmöglichkeiten haben. Trotzdem tritt hier ein parla-mentarisches Verbundideal zu Tage, das sich trotz aller zu erwartenden prozedu-ralen Schwierigkeiten als echtes Zukunftsmodell erweisen könnte.

63 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr.

C 306/148-150; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 459 ff. 64 Zu den Informationspflichten vgl. Art. 1-8 des Protokolls. 65 Ausführlich zur Rolle der nationalen Parlamente P. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, Berlin/

Heidelberg 2004, S. 163 ff.

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e) Nationale Gerichte und Gemeinschaftsgerichtsbarkeit

Der Verbundgedanke wird im Vertrag von Lissabon aber nicht nur mit Blick auf die Legislative stärker sichtbar, sondern auch in Hinblick auf die Judikative. Art. 19 EUV n.F. umschreibt – wie heute nahezu wortgleich bereits Art. 220 EG – die zentrale Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs, der die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sicherzustellen hat. Hiermit wird klargestellt, dass die Union die Rechtsförmigkeit und Rechtmäßigkeit ihrer Hand-lungen stets zu kontrollieren hat und diese Aufgabe auf europäischer Ebene in erster Linie der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit zugewiesen ist. Art. 19 Abs. 1 EUV n.F. ist damit zukünftig die Zentralnorm, wenn es um die dogmatische Verortung der „Rechtsgemeinschaftlichkeit“ der Union geht. Mit der Aufnahme dieser Be-stimmung in den Unionsvertrag wird dieses Moment europäischer Integrations-wirklichkeit stark betont und gleichzeitig auf die gesamte Union ausgedehnt. Indes betont Art. 19 Abs. 1 EUV n.F. zugleich, dass die Sicherung der Rechtsge-meinschaftlichkeit nicht durch die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit allein geleistet werden kann, sondern nur im Verbund mit den nationalen Gerichten. Deshalb weist Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV n.F. den Mitgliedstaaten die Pflicht zu, die erfor-derlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Hierbei handelt es sich schon der Formulierung nach nicht etwa um einen unverbindlichen Programm-satz, sondern in Verbindung mit dem Prinzip der Unionstreue (zukünftig Art. 4 Abs. 3 EUV n.F.) um eine positive Gestaltungspflicht der Mitgliedstaaten, deren Verletzung justiziabel sein dürfte. Dass in diesem Bereich nach wie vor Hand-lungsbedarf besteht, zeigen sowohl eine Reihe von Urteilen jüngeren Datums als auch die grundsätzliche Ausrichtung mancher Prozessordnung.66

5. Reform der Institutionen und Verfahren

Schon der Vertrag von Nizza sollte eine umfangreiche Reorganisation der europä-ischen Institutionen mit sich bringen, um die Union auch institutionell auf die bevorstehenden Erweiterungsrunden vorzubereiten.67 Wie bereits angedeutet, ist aber eine am Leitbild der institutionellen Effizienz und Zukunftsfähigkeit ausge-richtete Reform damals nicht geglückt.68 Demgegenüber trägt der Vertrag von Lissabon entscheidend zur Einheitlichkeit der Organisationsstruktur bei (dazu nachfolgend lit. a), modifiziert in weiten Teilen die Binnenorganisation und Ar-

66 Beispiele etwa bei C. Herrmann/T. Kruis, Die Rückforderung vertraglich gewährter gemeinschaftsrechtswid-

riger Beihilfen unter Beachtung des Gesetzesvorbehalts, EuR 2007, S. 141 ff.; J. P. Terhechte, Temporäre Durchbrechung des Vorrangs des europäischen Gemeinschaftsrechts bei Vorliegen „inakzeptabler Regelungs-lücken“?, EuR 2006, S. 828 ff.

67 A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union – der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand (Fn. 7), S. 146 ff.

68 So auch die Einschätzung von A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union – der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand (Fn. 7), S. 180.

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beitsweise der bestehenden Organe (dazu lit. b) und hat insbesondere einen gro-ßen Einfluss auf die unterschiedlichen Abstimmungsmodi (dazu lit. c).

a) Einheitliche Organisationsstruktur der Union

Der Vertrag von Lissabon ändert die bislang recht unübersichtliche Organisati-onsstruktur der Europäischen Union (bzw. der Europäischen Gemeinschaft) er-heblich.69 Dies folgt schon aus der neuen Stellung der Union, die in alle Positio-nen der Gemeinschaft nachfolgt, also auch deren Organe übernimmt. Bislang stützte sich die Union zwar auch auf einen einheitlichen institutionellen Rahmen (Art. 3 EU), dennoch war zu keinem Zeitpunkt vollkommen geklärt, wie das Ver-hältnis der Organe der EG zur Union bzw. umgekehrt zu bestimmen ist.70 Auch wenn Art. 5 EU ausdrücklich auf das Europäische Parlament, den Rat, die Kom-mission, den Gerichtshof und den Rechnungshof verweist, ist damit nicht automa-tisch gesagt, dass es sich dabei um Organe der Union handelt.71 Die Europa-rechtswissenschaft hat hier verschiedene Modelle angeboten, wie das Verhältnis der originär gemeinschaftlichen Organe zur Union beschrieben werden kann. Die Vorschläge schwankten zwischen Modellen, die eine Doppelstellung der gemein-schaftlichen Organe (als Gemeinschafts- und Unionsorgane) annahmen72 und solchen, die von einem Modell der Organleihe ausgingen.73 Diese Zuordnungs-schwierigkeiten werden durch den Vertrag von Lissabon weitgehend behoben: Zukünftig wird nur noch von Unionsorganen zu sprechen sein74, die in Art. 13 EUV n.F. ausdrücklich aufgezählt sind und neben den ursprünglichen Gemein-schaftsorganen nun auch ausdrücklich den Europäischen Rat umfassen. Dies bedeutet freilich nicht, dass den ehemaligen Gemeinschaftsorganen in allen Bereichen des Unionsrechts die gleichen Kompetenzen zukommen. So spielen etwa die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäi-sche Gerichtshof im Bereich der GASP auch künftig eher eine Nebenrolle (vgl. Art. 24 EUV n.F.). Der EUV n.F. spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einer „spezifischen Rolle“ des Parlaments und der Kommission (Art. 24 Abs. 1 EUV n.F.), die durch die Verträge weiter konkretisiert wird. Die Kompe-tenzen des EuGH sind dagegen im EUV n.F. ausdrücklich niedergelegt75: Sie

69 Vgl. dazu grundlegend M. Hilf, Die Organisationsstruktur der EG, Heidelberg/Berlin 1982; P. Dann, The

Political Institutions, in: A. von Bogdandy/J. Bast (eds.), Principles of European Constitutional Law, Oxford 2005, S. 229 ff.

70 Dazu H.-J. Blanke, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 3 EUV Rn. 13. 71 Vgl. dazu M. Hilf/E. Pache, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München,

Loseblatt, Stand: Oktober 2007, Art. 5 EUV Rn. 11 ff. m. w. Nachw. 72 So etwa G. Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den europäi-

schen Gemeinschaften (Fn. 21), S. 986; vgl. auch J. C. Wichard, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV (Fn. 23), Art. 5 EUV Rn. 8 m. w. Nachw.

73 Z. B. O. Dörr, Noch einmal: Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften (Fn. 22), S. 3164; D. Curtin, The Constitutional Structure of the Union: A Europe of Bits and Pieces, CMLRev. 30 (1993), S. 17 ff. (26); C. Stumpf, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar (Fn. 23), Art. 5 EUV Rn. 9.

74 Dies gilt freilich nicht für den EAG-Vertrag. 75 Vgl. Art. 24 Abs. 1 S. 6 EUV n.F.

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beziehen sich auf die Kontrolle der Einhaltung des Art. 40 EUV n.F. (sog. Unbe-rührtheitsklausel) und die Überwachung bestimmter Beschlüsse (vgl. Art. 275 Abs. 2 AEUV). Diese Sonderstellung der ehemaligen Gemeinschaftsorgane be-zieht sich zudem nicht nur auf die GASP, sondern zunächst auch auf Bereiche, die ehedem in der dritten Säule niedergelegt waren (polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen – PJZS). Der Gerichtshof verfügt in diesem Be-reich bislang gem. Art. 35 EU über eine weitgehend optionale Kompetenz, die von der Zustimmung der Mitgliedstaaten abhängig ist. Die Sonderbestimmung, die die PJZS letztlich weitgehend der Gemeinschaftsge-richtsbarkeit zu unterstellen vermochte76, wird zukünftig wegfallen. Nach einer Übergangsfrist von längstens fünf Jahren77 wird der gesamte Bereich der uneinge-schränkten Jurisdiktion des EuGH unterstehen – potentielle Einschränkungen gelten lediglich noch in Bezug auf das Vereinigte Königreich. Insgesamt ist mit dem Vertrag von Lissabon die Zuordnung der Institutionen deutlich einfacher geworden: Wenn auch die „supranationale Methode“ nicht überall sofort von den Unionsorganen angewendet werden darf, ist doch die insti-tutionelle Homogenität der Union entscheidend gestärkt und ein einheitliches Auftreten damit entschieden erleichtert worden.

b) Modifizierung und Verfestigung bestehender (Organ-)Strukturen

Neben der Vereinheitlichung der bestehenden Organisationsstruktur bringt Lissa-bon aber auch neue Akteure auf das europäische Organisationstableau bzw. be-wirkt nachhaltige Veränderungen der Binnenstrukturen der europäischen Organe. Ein Hauptmotiv ist hier die Verfestigung von Organisationsstrukturen und die Remodulierung allzu sperriger Kompromisse, die in Nizza ausgehandelt wurden.

aa) Der Europäische Rat als Organ der „ganzen“ Union

Der Europäische Rat (Art. 15 EUV n.F.) wird zukünftig durch einen Präsidenten geleitet (Art. 15 Abs. 5 EUV n.F.). Seine Amtszeit beträgt zunächst zweieinhalb Jahre, wobei eine einmalige Wiederwahl zulässig ist, sodass es insgesamt zu einer fünfjährigen Amtszeit kommen kann. Mit dem Amt eines Präsidenten wollte schon der Verfassungsvertrag mehr Kontinuität, Kohärenz und Sichtbarkeit für das Organ „Europäischer Rat“ schaffen (vgl. Art. I-22 EVV)78 – der Vertrag von Lissabon greift hier also nahezu deckungsgleich auf die Regelungen des Verfas-sungsvertrags zurück. Freilich war schon für den Verfassungsvertrag dieses Amt zwischen den Mitgliedstaaten nicht unumstritten. Die Gegner dieses Amts – vor-nehmlich die kleinen und mittelgroßen Mitgliedstaaten – befürchteten offenbar,

76 O. Suhr, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 35 EUV Rn. 2. 77 Siehe Art. 10 Abs. 3 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/

159-164; abgedruckt auch bei K. Fischer (Fn. 6), S. 482 ff. 78 Vgl. V. Epping, in: C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EVV (Fn. 3), Art. I-22 Rn. 1.

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durch eine Verfestigung der Strukturen im Europäischen Rat an Einfluss zu ver-lieren. Ob sich diese Befürchtungen bewahrheiten werden, wird weniger von der im Vertrag nur unscharf umrissenen Rolle des Präsidenten abhängen, sondern vielmehr von der Person, die die Rolle ausfüllen wird.79

bb) Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik

Juristisch schwieriger wird jedoch die Abgrenzung der Kompetenzen des Präsi-denten von einem weiteren Amt, das durch den Vertrag von Lissabon grundle-gend aufgewertet wird: dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicher-heitspolitik (Art. 18, 27 EUV n.F.). Mit dem Ausbau der Kompetenzen des Hohen Vertreters greift der Vertrag von Lissabon auf ein Konzept des Verfassungsver-trags zurück, nur dass die Bezeichnung für das neue Amt semantisch zurückge-stuft wurde (die Verfassung sprach noch von einem „Europäischen Außenminis-ter“, vgl. Art. I-28 EVV). Diese politisch motivierte Bereinigung des Sprach-gebrauchs war schon Bestandteil des Verhandlungsmandats. Die Hauptaufgabe des Hohen Vertreters ist es zukünftig, zusammen mit den Mitgliedstaaten die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik durchzuführen (Art. 24 Abs. 1 EUV n.F.; redundant: Art. 26 Abs. 3 EUV n.F.); hierbei kommt ihm erstmals ein Initia-tivrecht zu (Art. 30 Abs. 1 EUV n.F.). Der Hohe Vertreter ist zugleich einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission (Art. 18 Abs. 4 EUV n.F.). Schon hieraus folgt ein gewisses Ingerenzpotential, denn einerseits agiert er im einzig verbleibenden intergouvernementalen Bereich des Unionsrechts, und andererseits ist er Teil des supranationalen Organs schlechthin. Ob diese ambivalente Stellung als geglückt anzusehen ist, bleibt abzuwarten. Die offenbar damit verbundenen Hoffnungen auf Kohärenz im Auftreten der Union nach außen scheinen indes nicht zwangsläufig an dieser Doppelstellung zu hängen.80

cc) Das Europäische Parlament

Das Europäische Parlament war in den letzten Jahren fast immer der „Gewinner“ von Vertragsrevisionen, wurden doch seine Mitentscheidungsbefugnisse bei der unionalen Rechtsetzung nahezu jedes Mal ausgebaut.81 Doch auch seine Kontroll-funktion, insbesondere gegenüber der Kommission, ist in den Verträgen stetig

79 So auch T. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, DVBl. 2003, S. 1165 ff. (1174 Fn. 51);

derzeit werden Tony Blair, Bertie Ahern und Anders Fogh Rasmussen die größten Chancen eingeräumt, der erste Präsident des Europäischen Rates zu werden, vgl. dazu J. Fritz-Vannahme, Soap oder Shakespeare, ab-rufbar unter <http://www.zeit.de/online/2008/10/europa-kolumne-vannahme> (5. 3. 2008).

80 Dies wird schon daran deutlich, dass der Hohe Vertreter seinen Posten nicht durch die Niederlegung der Ämter der Kommission infolge eines Misstrauensantrags des Parlaments gem. Art. 17 Abs. 8 EUV n.F. ver-liert. Hiervon ist lediglich sein Amt als Vizepräsident der Kommission betroffen.

81 Vgl. A. Hofmann/W. Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen? (Fn. 1), S. 11 ff. mit Zahlenmaterial.

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ausgeweitet worden.82 Der Vertrag von Lissabon knüpft an diese Entwicklung nahtlos an. Die Frage, wieviele Mitglieder das Parlament zukünftig haben wird, wird aller-dings nur scheinbar eindeutig beantwortet. Gem. Art. 14 Abs. 2 EUV n.F. ist die Zahl der Abgeordneten auf 750 zuzüglich des Präsidenten begrenzt. Das heißt aber nichts anderes, als dass im Parlament zukünftig 751 Sitze zu vergeben sind. Diese Regelung ist Ergebnis des kompromisslosen Festhaltens Italiens an seiner Forderung, einen weiteren Sitz im Parlament zu erhalten. Offenbar wollte man auf den letzten Metern trotz dieser Forderung die runde Zahl 750 nicht mehr streichen. Der weitere Sitz wurde dementsprechend Italien durch die Erklärung Nr. 4 zugeschlagen. Jeder Mitgliedstaat entsendet zukünftig mindestens sechs und höchstens 96 Ab-geordnete, wobei die Verteilung wie bisher degressiv proportional erfolgt. Neu ist, dass die Verträge die Verteilung der Abgeordneten auf die Mitgliedstaaten nicht mehr explizit regeln, sondern dies in einem Ratsbeschluss erfolgen wird (Art. 14 Abs. 2 S. 5 EUV n.F.). Dies hat den Vorteil, dass bei Erweiterungen der Union künftig der Vertrag nicht jedes Mal angepasst werden muss, sondern die Sitzzahl je Mitgliedstaat sekundärrechtlich fixiert wird. Der Vertrag von Lissabon hat wie seine Vorgänger die Stellung des Parlaments bei der unionalen Rechtsetzung gestärkt. Dies kommt schon dadurch zum Aus-druck, dass das Mitentscheidungsverfahren zum Regelfall erklärt wird (Art. 289 Abs. 1 AEUV). Hiermit wird prozedural festgehalten, was im Grundsatz schon im EUV n.F. verankert wird, nämlich dass das Parlament und der Rat bei der Recht-setzung gleichberechtigt sind (Art. 14 Abs. 1 EUV n.F.). Auch werden die Fälle, in denen das Mitentscheidungsverfahren zu Grunde gelegt wird, ein weiteres Mal ausgeweitet: Dies betrifft etwa die Agrarpolitik83, die gemeinsame Asylpolitik84, die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen85 oder den Bereich des Katastro-phenschutzes.86 Insgesamt wird der Vertrag von Lissabon das Mitentscheidungs-verfahren in 35 Fällen einführen und damit auch statistisch zum am häufigsten eingesetzten Verfahren in den Verträgen machen.87

82 Dazu nun z. B. Art. 226 AEUV (Einrichtung eines Untersuchungsausschusses), 228 AEUV (Kompetenzen

des Bürgerbeauftragen), Art. 234 AEUV (Misstrauensantrag gegen die Kommission); zu den Kontrollkompe-tenzen des Parlaments auch K. Lenaerts/P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union (Fn. 51), Rn. 10-017 ff.

83 Art. 38 AEUV ff. 84 Art. 78 AEUV. 85 Art. 82 AEUV ff. 86 Art. 196 AEUV. 87 A. Hofmann/W. Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitu-

tionelle Grundfragen? (Fn. 1), S. 12.

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dd) Die Europäische Kommission

Erklärtes Reformziel hinsichtlich der Kommission war schon unmittelbar nach Nizza eine Verringerung ihrer Mitglieder. Der Nizza-Modus „je Mitgliedstaat ein Kommissar“ (vgl. Art. 213 EG) führt die Kommission unweigerlich an die Gren-zen der Arbeitsfähigkeit. Indes ist es in diesem Feld nicht gelungen, zu einer so-fortigen Reduktion der Zahl der Kommissare zu gelangen, vielmehr spielen die Verträge auch hier auf Zeit: Zwischen dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissa-bon und dem 31. Oktober 2014 stellt auch weiterhin jeder Mitgliedstaat einen Kommissar (Art. 17 Abs. 4 EUV n.F.). Erst ab dem 1. November 2014 gilt dann ein neuer Modus, nach dem die Anzahl der Kommissare dann zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten der Union entspricht – dies wären nach heutigem Stand 18 Kommissare.88 Die Kommission wird ab diesem Zeitpunkt gem. Art. 17 Abs. 5 EUV n.F. aus ihrem Präsidenten, dem Hohen Vertreter der Union für Au-ßen- und Sicherheitspolitik (als einer der Vizepräsidenten) sowie den weiteren Kommissaren bestehen. Für die Wahl der Kommission bleibt das Parlament zuständig (Art. 17 Abs. 7 EUV n.F.). Hiernach schlägt der Rat dem Parlament einen Kandidaten vor, der mit der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments gewählt wird. Anschließend stellt der so gewählte Präsident eine Liste der Mitglieder der Kommission zusammen, die schließlich einem Zustimmungsvotum des Parlaments unterliegt. Die Kom-mission wird dann auf Grundlage dieses Votums mit qualifizierter Mehrheit durch den Rat ernannt. Problematisch war aber immer wieder die Kontrolle über die Mitglieder der Kommission während und nach ihrer Amtszeit. Zwar sieht der EG-Vertrag die Möglichkeit eines Misstrauensantrags gegen die Kommission vor (Art. 201 EG)89, indes ist damit das Verhalten der Kommissare nach dem Ausscheiden aus dem Amte noch nicht abgedeckt. Der Vertrag von Lissabon führt neue Instrumen-te ein, die die persönliche Integrität der Kommissionsmitglieder auch ex post sicherstellen sollen. Bekanntlich hatte es in der Vergangenheit immer wieder Probleme auf diesem Feld gegeben.90 Die neuen Bestimmungen sehen die Mög-lichkeit vor, dass einem Kommissar bei Verletzung seiner Pflichten auf Antrag des Rates (der mit einfacher Mehrheit beschließt!) oder der Kommission selbst durch den Europäischen Gerichtshof die Ruhegehaltsansprüche oder andere Ver-günstigungen aberkannt werden (Art. 245 AEUV). Diese Neuerungen gehen auf den Verfassungsvertrag zurück, der in Art. III-347 eine ähnliche Vorschrift vor-

88 Diese Zahl könnte sich aber durch die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten bis 2014 noch verändern. 89 Dazu etwa A. Ott, Die Kontrollfunktion des Europäischen Parlaments gegenüber der Europäischen Kommis-

sion – Eine Bestandsaufnahme nach dem Rücktritt der Kommission und dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages, ZEuS 1999, S. 231 ff.; W. Kluth, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 201 EGV Rn. 1 ff.

90 Etwa die Causa Bangemann; vgl. dazu M. E. Kurth, Der Fall Bangemann – ein möglicher Präzedenzfall für Art. 213 II EG?, ZRP 2000, S. 251 ff.

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sah. Diese zunehmend komplexen Verantwortlichkeitsstrukturen sollen der hohen Bedeutung des Amtes als Kommissar gerecht werden.

ee) Der Europäische Gerichtshof

Aus institutioneller Perspektive betrifft der Vertrag von Lissabon den Europäi-schen Gerichtshof in zweierlei Hinsicht: Einmal wurde auf das Drängen Polens hin die Zahl der Generalanwälte von acht auf nun elf erhöht und folgerichtig Po-len ein ständiger Generalanwalt zugestanden.91 Zudem ist das Ernennungsverfah-ren für die Richter erheblich modifiziert worden.92 Zukünftig wird ein Ausschuss (sog. Eignungsprüfungsausschuss) eingerichtet, der vor der Ernennung eines Richters eine Stellungnahme zur Eignung des Bewerbers abgibt (Art. 255 AEUV). Dieser Ausschuss wird aus sieben Mitgliedern bestehen, die aus dem Kreis ehemaliger Mitglieder des Gerichtshofs und des Gerichts, der Mitglieder der höchsten einzelstaatlichen Gerichte und allgemein von „Juristen von aner-kannt hervorragender Befähigung“ bestimmt werden. Das Parlament hat das Vor-schlagsrecht für eines der Mitglieder des Ausschusses (Art. 255 S. 2 a.E. AEUV). Schon der Verfassungsvertrag sah die Einrichtung dieses Ausschusses vor (Art. III-357 EVV). Offen lässt der Wortlaut des Art. 255 AEUV allerdings, ob die Stellungnahme des Ausschusses verbindlich sein soll. Würde man dies ableh-nen, so würde sich der Ausschuss eigentlich erübrigen. Im Lichte der offenbar angestrebten „Entpolitisierung“ der Ernennung wird man also nicht umhin kom-men, die Stellungnahme als verbindlich einzustufen.93 Letzte Sicherheit in dieser Frage kann der Rat der Europäischen Union schaffen, dem gem. Art. 255 AEUV die Aufgabe zukommt, eine Entscheidung zur Festlegung der Vorschriften für die Arbeitsweise des Eignungsprüfungsausschusses zu erlassen. Angesichts der Que-relen, die in der Vergangenheit bei der Ernennung von Richtern des Gerichtshofs entstanden sind94, ist die Etablierung dieses überstaatlichen und unabhängigen Gremiums uneingeschränkt zu begrüßen.

91 Erklärung Nr. 38 zu Artikel 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zur Zahl der

Generalanwälte des Gerichtshofs, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/262; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 512 f. Zu beachten ist, dass Art. 252 AEUV de lege lata zunächst von acht Generalanwälten aus-geht und es Aufgabe des Gerichtshofs ist, einen Antrag an den Rat zu richten, die Zahl der Generalanwälte zu erhöhen. Dementsprechend würde eine Erhöhung der Zahl der Generalanwälte ohne den Antrag des EuGH nicht in Betracht kommen.

92 Ausführlich zu den gegenwärtigen Regelungen F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, Tübingen 2006, S. 243 ff.

93 So auch E. Pache, in: C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EVV (Fn. 3), Art. III-357 Rn. 4. 94 Siehe dazu A. Thiele, Europäisches Prozessrecht, München 2007, § 2 Rn. 38 m. w. Nachw.

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c) Reform der Verfahren

aa) Der Rat der Europäischen Union: Die qualifizierte Mehrheit als Regel- und Streitfall

In der öffentlichen Wahrnehmung bildete die Änderung der Abstimmungsmodi im Rat den Dreh- und Angelpunkt der Verhandlungen des Vertrags von Lissabon, was eigentlich ob der „Technizität“ des Gegenstandes einigermaßen erstaunlich ist. Im Kern ging es hier um den Regelabstimmungsmodus der „qualifizierten Mehrheit“ (s. Art. 16 Abs. 3 EUV n.F.), der mit Lissabon eingeführt wird.95 Wie diese qualifizierte Mehrheit zu fassen ist, war eines der Hauptprobleme während der Verhandlungen, denn insbesondere Polen befürchtete angesichts der im Raum stehenden Vorschläge eine massive Einbuße seines Einflusses.96 Bislang sind die entsprechenden Modalitäten in Art. 205 Abs. 2 EG geregelt, wonach die qualifizierte Mehrheit anhand einer Gewichtung der Mitgliedstaaten gebildet wird – der Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten spielt also im Bereich des Rates praktisch keine Rolle, auch wenn Art. 205 Abs. 1 EG hiervon ausgeht. Nach diesem System – das vorwiegend Ausdruck politischer Rationalitä-ten ist – verfügen die großen Mitgliedstaaten über 29 Stimmen (Deutschland, Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich), die nächst größeren Staaten über 27 Stimmen (Spanien und Polen) usw. (vgl. Art. 205 Abs. 2 EG).97 Insge-samt sind nach Art. 205 Abs. 2 EG derzeit 255 Stimmen notwendig, um die quali-fizierte Mehrheit zu erreichen. Soweit der Rat nicht aufgrund eines Vorschlags der Kommission beschließt, ist zudem erforderlich, dass die Stimmen von zwei Dritteln seiner Mitglieder stammen. Schließlich ist noch auf den sog. demografi-schen Faktor des Art. 205 Abs. 4 EG hinzuweisen, wonach ein Mitgliedstaat be-antragen kann, dass bei Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob die Mitgliedstaaten, die diese Mehrheit bilden, auch 62% der Gesamtbevölkerung der Union repräsentieren.98

95 Bislang sah Art. 205 Abs. 1 EG die einfache Mehrheit als Regelabstimmungsverfahren vor, wobei es sich

aber faktisch um eine Auffangvorschrift handelt, denn der EG-Vertrag bestimmt in nahezu allen Fällen, dass mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden ist. Der Vertrag von Lissabon macht damit nur zur Regel, was oh-nehin schon gilt, vgl. dazu J. C. Wichard, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 205 EGV Rn. 2; W. Hummer/W. Obwexer, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, München 2003, Art. 205 EGV Rn. 11.

96 S. dazu K. Fischer, Der Vertrag von Lissabon (Fn. 6), S. 71. 97 Die relativ starke Stellung Polens und Spaniens war eines der problematischen Ergebnisse von Nizza, die im

Nachhinein nur unter größten Schwierigkeiten behoben werden konnten; dazu V. Epping, in: C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EVV (Fn. 3), Art. I-25 Rn. 1; zum Ganzen auch ausführlich J.-P. Hix, Das institutionelle System im Konventsentwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa – Der Ministerrat und der Europäische Rat –, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, Ba-den-Baden 2004, S. 75 ff. (81 ff.).

98 Zur Berechnungsgrundlage vgl. J. C. Wichard, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (Fn. 23), Art. 205 EGV Rn. 4a.

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Das System der Stimmengewichtung ist bis heute ein latenter Streitpunkt, der durch den Verfassungsvertrag beseitigt werden sollte99; in Anbetracht der kom-plizierten Verhältnisse de lege lata musste allen Beteiligten schon während des Verfassungskonvents klar sein, dass eine Einigung auf diesem Feld eine entschei-dende Weichenstellung für das Verfassungsprojekt insgesamt darstellen würde. Folgerichtig wären die Verhandlungen über den EVV an diesem kritischen Punkt auch beinahe gescheitert.100 Mit Hilfe von langen Übergangsfristen gelang schließlich der Kompromiss, der im Wesentlichen nun auch im Vertrag von Lis-sabon seinen Niederschlag gefunden hat.101 Danach fällt das System der Stim-mengewichtung weg und an seine Stelle tritt ein – verursacht durch komplizierte Fristbestimmungen – nahezu unüberschaubares System von Mehrheitsanforde-rungen: Nach Art. 16 Abs. 4 EUV n.F. gilt ab dem 1. November 2014 eine quali-fizierte Mehrheit als erreicht, wenn mindestens 55% der Mitglieder des Rates, die zusammen mindestens 15 Mitgliedstaaten bilden, einem Rechtsetzungsvorschlag zustimmen und diese 55% zusätzlich 65% der Bevölkerung der Union repräsen-tieren. Die weiteren Modalitäten der qualifizierten Mehrheit, wie etwa bei Ab-stimmungen über Rechtsetzungsakte, denen kein Vorschlag der Kommission vorhergegangen ist, sind weiterhin in Art. 238 AEUV (ex Art. 205 EG) geregelt. Zumindest hierdurch wurde eine völlige Überfrachtung des Art. 16 EUV n.F. vermieden. Die Kombination der beiden Mehrheiten verkörpert im Vergleich zum System der Stimmengewichtung sicherlich ein „mehr“ an demokratischer Legitimation im Rat, weil erstmals die tatsächlichen Bevölkerungszahlen Bedeutung erlangen und nicht ein abstraktes und nicht die Wirklichkeit widerspiegelndes Stimmensystem, das am Verhandlungstisch geboren wurde.102 Dieser Kompromiss bei der Definition der qualifizierten Mehrheit wird aber durch drei Relativierungen erheblich verkompliziert: einer zeitlichen Relativie-rung (niedergelegt in einem Protokoll), einer Sperrminorität (Art. 16 Abs. 4 S. 2 EUV n.F.) und durch die Wiederbelebung der im Jahre 2004 ausgelaufenen sog. Ioannina-Formel (niedergelegt in einem Protokoll): Zunächst tritt der neue Abstimmungsmodus erst am 1. November 2014 in Kraft.103 Hiermit wurden recht lange Übergangszeiträume gewählt, ein Ansatz, der schon im Verfassungskonvent als denkbare Kompromissformel gehandelt wurde.104 Allerdings ist selbst dieser Zeitpunkt relativ, da ein Mitgliedstaat bis zum 31. März 2017 beantragen kann, dass nach dem alten System der Stimmen-

99 Ausführlich dazu K. Lenaerts/P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union (Fn. 51), Rn. 10-054. 100 J.-P. Hix (Fn. 97), S. 84. 101 Dazu auch F. C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissa-

bon (Fn. 1), S. 1175 ff. 102 So auch G. Nicolaysen, Institutionelle Ausgestaltung der Union, in: W. Hummer/W. Obwexer (Hrsg.), Der

Vertrag über eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 2007, S. 99 ff. (114). 103 Vgl. Art. 16 Abs. 4 EUV n.F. 104 J.-P. Hix (Fn. 97), S. 85.

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gewichtung abgestimmt werden soll, so dass erst am 1. April 2017 das alte Nizza-System als endgültig überwunden angesehen werden kann.105 Neben dieser zeitlichen Relativierung ist in Art. 16 Abs. 4 S. 2 EUV n.F. eine Sperrminorität von mindestens vier Mitgliedstaaten vorgesehen. Dieses Instru-ment soll in erster Linie das Gewicht der großen Mitgliedstaaten vermindern, weil es ihnen schwerer fallen wird, untereinander Koalitionen zu bilden. Schließlich wurde der sog. Kompromiss von Ioannina in einer modifizierten Fas-sung dem Vertrag von Lissabon als Erklärung Nr. 7 beigefügt und damit einer Forderung Polens zumindest teilweise nachgekommen.106 Indes konnte so eine unmittelbare Einfügung in den EUV oder als Protokollbestimmung vermieden werden. Gewissermaßen als „Trick“ ist dem Vertrag von Lissabon ein Protokoll angehängt worden, wonach die Ioannina-Formel nur einstimmig geändert werden kann.107 Die genauen Modalitäten der Formel sind dagegen in der Erklärung Nr. 7 geregelt108, die nicht zum primären Unionsrecht zählt. Insgesamt ergibt sich hieraus folgendes Bild: Bis zum 31. Oktober 2014 gilt Ion-nina in der derzeit aktuellen Fassung. Ab dem 1. November 2014 gilt, dass der Rat sich weiter mit einer Frage zu befassen hat, soweit dies von Mitgliedern des Rates, die drei Viertel der Bevölkerung oder drei Viertel der Anzahl der Mitglied-staaten vertreten, die für die Sperrminorität des Art. 16 Abs. 4 S. 2 EUV n.F. notwendig sind, beantragt wird. Ab dem 1. April 2017 reichen gar 55% der Be-völkerung bzw. 55% der Anzahl der Mitgliedstaaten, die für die Bildung der Sperrminorität erforderlich sind, aus. Mit der Zeit wird es also leichter, Mehr-heitsentscheidungen im Rat zumindest für eine gewisse Zeit zu blockieren. Im Kern wird aber nur eine Neuverhandlungspflicht statuiert – aufhalten lässt sich nach einer erfolgten Neuverhandlung eine Mehrheitsentscheidung im Rat aber gerade nicht.109 Schon angesichts dieses Befundes darf die Frage gestellt werden, ob es eines derart komplizierten Mechanismus wirklich bedurfte. Freilich ist diese Konstruk-

105 Art. 3 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/159-164; auch

abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 482 ff. 106 Erklärung Nr. 7 zu Art. 9c Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union und zu Art. 205 Abs. 2 des

Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union/Entwurf eines Beschlusses des Rates über die An-wendung des Artikels 9c Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union und des Artikels 205 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 einerseits und ab dem 1. April andererseits, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/250-252; auch ab-gedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 498 ff. Die ursprüngliche Fassung des Kompromisses von Ioannina ist ab-gedruckt in ABl. EU 1994 Nr. C 1/1; vgl dazu U. Everling, Mehrheitsabstimmung im Rat der EU nach dem Verfassungsvertrag, in: C. Gaitanides/S. Kadelbach/G. C. Rodriguez Iglesias (Hrsg.), FS Zuleeg, Baden-Baden 2005, S. 158 ff. (171).

107 Protokoll über den Beschluss des Rates über die Anwendung des Artikels 9c Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union und des Artikels 205 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Uni-on zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 einerseits und ab dem 1. April 2017 anderer-seits, ABl. EU v. 17. 12. 2007, Nr. C 306/159; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 481 ff.

108 Erklärung Nr. 7 zu Artikel 9c Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union und zu Artikel 205 Absatz 2 des Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C. 306/250-252; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 498 ff.

109 S. dazu etwa A. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon (Fn. 1), S. 10.

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tion gerade der politischen Ausgangssituation geschuldet, die von vornherein keine stringente Lösung zuließ. Die praktische Relevanz dieses gestuften Systems der Blockade bzw. Verzögerung der qualifizierten Mehrheit steht aber in den Sternen. Tatsächlich kommt es im Rat nur in ca. 8-20% der Fälle zu einer förmli-chen Abstimmung.110 Zudem sind nur wenige Fälle bekannt, in denen ein Ab-stimmungsergebnis wirklich im Streit stand.111 Schließlich wurde der Ioannina-Mechanismus seit seiner Einführung im Jahre 1994 erst in zwei Fällen in An-spruch genommen.112 Es sind insofern Zweifel angebracht, inwiefern es hier po-tentiell zu einer Paralysierung der Rechtsetzung kommen wird.113 Auch ist darauf hinzuweisen, dass das Potential zur Einheitsfindung durch die Neugestaltung der Mehrheitserfordernisse paradoxerweise gestärkt wurde. Die Gefahr, überstimmt zu werden – und sie ist trotz der Komplexität der neuen Regelungen real gestie-gen – steigert letztlich die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, auch unliebsame Kompromisse einzugehen.114 Es besteht also wenig Anlass zu der Annahme, dass die Entscheidungsfreude im Rat abnehmen wird.

bb) Das neue Verfahren der Vertragsänderung

Durch den Vertrag von Lissabon wird das Verfahren der Vertragsänderung (bis-lang Art. 48 EU) grundlegend umgestaltet. Nach Art. 48 EUV n.F. wird es zu-künftig ein ordentliches Änderungsverfahren und ein vereinfachtes Änderungs-verfahren geben (Art. 48 Abs. 1 EUV n.F.), eine Neuerung, die schon der Verfas-sungsvertrag vorsah (Art. IV-443 ff. EVV). Während das vereinfachte Ände-rungsverfahren im Wesentlichen dem derzeit geltenden Vertragsänderungsverfah-ren entspricht, sieht das ordentliche Vertragsänderungsverfahren zukünftig bei Vertragsänderungen, die u.a. eine Ausdehnung oder Verringerung der der Union in den Verträgen zugewiesenen Zuständigkeiten zum Gegenstand haben, die Zwi-schenschaltung eines Konvents von Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission vor (Art. 48 Abs. 3 EUV n.F.). Es gibt damit zukünftig eine Differenzierung zwischen grundlegenden und eher technischen Vertragsänderun-gen. Soweit die Union in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung betroffen ist, soll durch die Konventsmethode offensichtlich ein höherer Legitimationsgrad erreicht werden. Die Einberufung dieses Konvents, für die der Präsident des Europäischen Rates verantwortlich ist, ist e contrario ex Art. 48 Abs. 3 S. 4 EUV n.F. obligato-risch, soweit die Änderungen voraussichtlich einen erheblichen Umfang erreichen

110 W. Wessels, Die institutionelle Architektur nach der Europäischen Verfassung: Höhere Dynamik – neue

Koalitionen?, integration 2004, S. 161 ff. (166 f.); dazu auch G. Nicolaysen (Fn. 102), S. 114. 111 Beispiele bei R. Streinz, Europarecht (Fn. 24), Rn. 306. 112 J. P. Jacqué, in: H. von der Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag Kommentar, Band 4, 6. Aufl.,

Baden-Baden 2004, Art. 205 EGV Rn. 23. 113 Skeptisch allerdings K. Fischer (Fn. 6), S. 133, der durch die Reanimierung von Ioannina den Kompromiss

auf die doppelte Mehrheit als gefährdet ansieht. 114 So auch R. Streinz, Europarecht (Fn. 24), Rn. 306.

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werden. Andernfalls kann der Europäische Rat mit einfacher Mehrheit nach Zu-stimmung des Europäischen Parlaments beschließen, keinen Konvent einzuberu-fen. Dieser Ansatz ist allerdings einigermaßen merkwürdig, denn im Rahmen des ordentlichen Verfahrens geht es eo ipso immer um wichtige Änderungen die Uni-on betreffend.

6. Die zukünftige Rolle der Grundrechte

Die Europäische Gemeinschaft ist spätestens seit einer Reihe Bahn brechender Urteile des Europäischen Gerichtshofs zum Grundrechtsschutz des Einzelnen auch eine „Grundrechtsgemeinschaft“115 geworden, in der die Rechtspositionen des Einzelnen konsequent geschützt werden (sollen). Dieser status quo kann so-wohl aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts als auch aus der Perspektive des nationalen Verfassungsgerichts als gesichert gelten.116 Schlussstein dieses bis vor wenigen Jahren maßgeblich auf der Rechtsprechung des Europäischen Ge-richtshofs ruhenden Grundrechtegebäudes sollte mit dem Verfassungsvertrag die Rechtsverbindlichkeit der sog. Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie ihr Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention sein. Zwar hat der Vertrag von Lissabon dieses Vorhaben umgesetzt, dennoch sind gravierende Än-derungen im Vergleich zum EVV zu verzeichnen.

a) Die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte

Der EVV sah einen eigenen Teil II für die Charta der Grundrechte vor, der euro-päische Grundrechtskatalog sollte damit prominent platzierter Bestandteil des Verfassungsvertrags werden.117 Ein solcher Ansatz war offenbar nach dem Schei-tern des EVV nicht mehrheitsfähig, weil von der Charta eine starke symbolische Wirkung ausgeht. Gleichwohl wollte man an ihr festhalten, ohne sie unmittelbar in den EUV n.F. bzw. AEUV einzufügen. Die gefundene Lösung ist aus der Per-spektive des Unionsbürgers recht unübersichtlich: Gem. Art. 6 Abs. 1 EUV n.F. erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. De-zember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind. Der EUV n.F. arbeitet also letztlich mit einem schlichten Verweis. Hierbei sieht die Bestim-mung aber ausdrücklich die Gleichrangigkeit der Charta mit den Verträgen vor, hebt sie also eindeutig in den Rang des primären Unionsrechts. Dennoch hat das

115 Vgl. kritisch A. von Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157 ff.; C. Gra-

benwarter, Auf dem Weg in die Grundrechtsgemeinschaft, EuGRZ 2004, S. 563 ff.; vgl. auch U. Haltern, Eu-roparecht (Fn. 11), Rn. 1028.

116 Vgl. BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II; 89, 155 – Maastricht; 102, 147 – Bananenmarkt. 117 Dazu etwa J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 2005;

P. J. Tettinger/K. Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, München 2006.

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Scheitern der Verfassung Einfluss auf das Eigenleben der Charta genommen, denn der Vertrag von Lissabon will sie offenbar an der kurzen Leine halten: Zu-nächst wird festgestellt, dass die Charta die in den Verträgen festgelegten Zustän-digkeiten in keiner Weise erweitert (Art. 6 Abs. 1 S. 2 EUV n.F.118). Daneben wird aber auch noch festgehalten, dass die Charta nur im Rahmen ihrer allgemei-nen Bestimmungen und der ihr beigefügten Erläuterungen ausgelegt wird (Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV n.F.). Diese Bestimmung ist recht merkwürdig, scheint sie doch auf eine feste Bindung aller Rechtsanwender und zwar auch des Europäischen Gerichtshofs abzuzielen, dem aber bekanntlich die dynamische Auslegung des Unionsrechts besonders am Herzen liegt.119 Die Bestimmung steht so in einem gewissen Widerspruch zu Art. 19 EUV n.F., der die zentrale Position des Europä-ischen Gerichtshofs als Hüter und Motor des Unionsrechts in derselben Weise unterstreicht wie heute schon Art. 220 EG. Letztlich birgt Art. 6 EUV n.F. so die Gefahr der methodischen Zersplitterung in sich. Eine Lösung des Problems könn-te darin gesehen werden, dass zwar die übrigen Unionsorgane als vollumfänglich gebunden angesehen werden, aber der EuGH nicht.120 Eine Ausstrahlungswirkung auf die europäische Gerichtsbarkeit wird die Norm trotzdem haben, denn Urteile in Bereich der Charta der Grundrechte dürften von nun an besonderen Begrün-dungslasten unterworfen sein. Der schon erwähnte Symbolgehalt der Charta der Grundrechte hat zudem das Vereinigte Königreich und Polen veranlasst, Einschränkungen des Anwendungs-bereichs zu erwirken, die im „Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich“ festgehalten sind.121 Auch haben beide Mitgliedstaaten noch Erklärungen (Nr. 61 und 62) zu der Charta der Grundrechte abgegeben. Dies hat auch Tschechien mit der Erklärung Nr. 53 getan. Durch die Bestimmung des Protokolls, dass die Char-ta nicht zu einer Feststellung ermächtige, dass Rechts- und Verwaltungsvorschrif-ten, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten König-reichs nicht mit der Charta in Einklang stehen, wird der Charta zwar ein Stück praktische Wirksamkeit genommen – zu bedenken ist aber, dass diese Fallkons-tellation ohnehin selten sein dürfte. Anzumerken ist auch, dass sich das Vereinig-te Königreich und Polen zwar von der Charta der Grundrechte in gewissem Um-fange gelöst haben, nicht aber von der bisherigen Rechtsprechung des Europäi-schen Gerichtshofs, der nahezu alle in der Charta niedergelegten Grundrechte schon vor vielen Jahren als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts

118 Redundant dazu Erklärung Nr. 1 zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. EU v. 17. 12.

2007 Nr. C 306/249; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 497. 119 Dazu R. Bieber/G. Ress (Hrsg.), Die Dynamik des Gemeinschaftsrechts/The Dynamics of EC-Law, Baden-

Baden 1987; J. P. Terhechte, Die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale des europäischen Wettbewerbs-rechts, Baden-Baden 2004, S. 32 ff.; P. Dann, Methoden des europäischen Verfassungsrechts, in: J. P. Terhechte et al (Hrsg.), Die europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, Baden-Baden 2005, S. 161 ff. (169 f.).

120 In diese Richtung auch K. Fischer, Der Vertrag von Lissabon (Fn. 6), S. 116. 121 ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/156 f.; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 476 ff.

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etabliert hat.122 Hier kann es allenfalls in Randbereichen zu unterschiedlichen Wertungen kommen, so dass die Reichweite der Einschränkungen als sehr be-grenzt anzusehen ist.

b) Der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK

Gem. Art 6 Abs. 2 S. 1 EUV n.F. tritt die Europäische Union der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bei. Mit dieser Grundentscheidung des EUV n.F. findet eine hitzig geführte Debatte über das Verhältnis der EMRK zum Unionsrecht ihr vorläufiges Ende.123 Freilich wird in dem „Protokoll zu Art. 6 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union zum Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschen-rechte und Grundfreiheiten“124 die Autonomie des Unionsrechts besonders betont, so dass das Verhältnis EU-Recht – EMRK spannend bleiben dürfte.

7. Verdichtung und Ausdifferenzierung des materiellen Unionsrechts

Zwar standen in der öffentlichen Diskussion insbesondere die Kompetenzen der Union und ihre zukünftige Binnenorganisation im Vordergrund, dies heißt aber nicht, dass der Vertrag nicht auch auf materiell-rechtlicher Ebene Neuerungen mit sich gebracht hätte. Diese sind zum einen darin zu erblicken, dass die gesamte ehemalige dritte Säule zukünftig in den AEUV integriert und mit gewissen Über-gangsfristen weitgehend der „supranationalen Methode“ des Unionsrechts unter-stellt wird. Zum anderen werden neue Politikbereiche in den AEUV eingefügt bzw. bestehende Politiken ergänzt. Schließlich steht der Vertrag von Lissabon für eine zunehmende Ausdifferenzierung des europäischen Verwaltungsrechts, indem er teilweise richterrechtliche Grundsätze ausdrücklich in den EUV n.F. und AEUV aufnimmt und neue Bestimmungen zur Verwaltungskooperation schafft.

a) Die Überführung der dritten Säule in den AEUV

Mit der Überführung der polizeilichen und justistiellen Zusammenarbeit in Straf-sachen (PJZS) in den AEUV (zukünftig Art. 82 AEUV ff.) hat die „Supranationa-lisierung“ der ehemaligen dritten Säule ihren Abschluss gefunden. Damit ver-

122 So auch F.C. Mayer, Die Rückkehr der europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon

(Fn. 1), S. 1160. 123 Der EuGH hatte in der Vergangenheit festgestellt, dass nach geltendem EU-Recht für diesen Beitritt keine

Ermächtigung vorliege, siehe EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, S-I-1763 – EMRK. Zum Verhältnis der EMRK zum Unionsrecht vgl. ausführlich G. Ress, Die EMRK und das europäische Gemeinschaftsrecht, ZEuS 1999, S. 471 ff.; R. Bernhardt, Probleme eines Beitritts der Europäischen Gemeinschaft zur Europäi-schen Menschenrechtskonvention, in: O. Due/M. Lutter/J. Schwarze (Hrsg), FS Everling, Baden-Baden 1995, Band. 1, S. 105 ff.; M. Köngeter, Völkerrechtliche und innerstaatliche Probleme eines Beitritts der Europäi-schen Union zur EMRK, in: J. P. Terhechte et al (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Eu-ropa (Fn. 119), S. 230 ff.

124 ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/155; auch abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 473 ff.

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bleibt nur noch der Bereich der GASP als materielles Recht im Bereich der Inter-gouvernementalität. Insgesamt wird damit ein neuer Titel V im AEUV, „der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ geschaffen, der im Wesentli-chen aus allgemeinen Bestimmungen (Art. 67 AEUV ff.), der Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung (Art. 77 AEUV ff.), der justitiellen Zusammenarbeit in Zivil- (Art. 81 AEUV) und Strafsachen (Art. 82 AEUV ff.), sowie der polizeilichen Zusammenarbeit (Art. 87 AUEV ff.) besteht. Insbesonde-re im Bereich der justitiellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen werden gem. Art. 69 AEUV die nationalen Parlamente eine besondere Rolle spielen.125 Hierin ist in gewisser Weise ein Ausgleich für die Überführung der PJZS in die Supranationalität zu erblicken.

b) Neue Politiken und Verdichtung bestehender Politiken

Der Vertrag von Lissabon integriert eine Reihe neuer Politikbereiche in den AEUV. Dies gilt etwa für die Bereiche Sport (Art. 165 AEUV), Raumfahrt (Art. 179 AEUV), Energie (Art. 194 AEUV), Tourismus (Art. 195 AEUV) und Katastrophenschutz (Art. 196 AEUV). Ausgebaut werden zudem bestehende Politiken: So wird die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik um-fangreich durch Beistands- und Solidaritätspflichten der Mitgliedstaaten ergänzt (Art. 42 EUV n.F.). Im Bereich der Umweltpolitik wird zukünftig auch die Be-kämpfung des Klimawandels eine herausragende Stellung einnehmen (Art. 191 Abs. 1 AEUV a.E.). Insgesamt verliert der Umweltschutz aber ein wenig an Be-deutung, weil er zukünftig ein Ziel von vielen darstellt (Art. 3 Abs. 3 EUV n.F.) und seine ihm derzeit im EG-Vertrag eingeräumte exponierte Stellung (vgl. Art. 6 EGV) einbüsst.126 Von größter Bedeutung werden auch die Änderungen im Be-reich der Sozialpolitik (Art. 151 AEUV ff.) sein. Durch eine neue horizontale Sozialklausel (Art. 3 Abs. 3 EUV n.F.) sowie die Anerkennung der Bedeutung der Sozialpartner (Art. 154 AEUV ff.) wird die Aufgabe der Union, soziale Sicherheit und Beschäftigung zu schützen, nachhaltig unterstrichen. Eine besondere Rolle dürfte zukünftig die Energiepolitik der Union spielen, deren Einfügung in die Verträge letztlich auf den Verfassungsvertrag zurückgeht (Art. III-257 EVV). Gegenüber den Regelungen des EVV betont der Vertrag von Lissabon den Solidaritätsgedanken in diesem Bereich noch stärker und nimmt die Förderung der Interkonnektion der Energienetze als neues Ziel auf (Art. 194 AEUV). Insbesondere die letztgenannte Ergänzung gegenüber dem EVV wird für

125 Vgl. dazu A. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon (Fn. 1), S. 13. 126 Dazu bereits J. P. Terhechte, Die Rolle des Wettbewerbsrechts in der europäischen Verfassung, in: A. Hatje/J.

P. Terhechte (Hrsg.), Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR Beiheft 3/2004, S. 107 ff. (113 f.).

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die Schaffung des von der Kommission angestrebten Energiebinnenmarktes von großer Bedeutung sein.127 Letztlich sind trotz aller Betonungen des Prinzips der begrenzten Einzelermächti-gung in den Verträgen somit zahlreiche neue Aufgabenfelder für die Union ent-standen, die eine Tatsache widerspiegeln: Immer mehr Bereiche sind einer einzel-staatlichen Regelung nicht mehr oder nur unzureichend zugänglich. Gerade Be-reiche wie Energie oder das Problem des Klimawandels stehen für die Notwen-digkeit, für gemeinsame Lösungen von Problemen bzw. die Förderung bestehen-der Strukturen einzutreten. Die Idee der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“ (W. von Simson) hat also nichts von ihrem Erklärungswert verloren.128 Im Gegen-teil: die Globalisierung zwingt die Mitgliedstaaten, gemeinsame Lösungen zu finden. Es ist also kein Zufall, dass sich die alltäglichen und global geführten Diskussionen über den Klimawandel, die Sicherheit der Energieversorgung, die globale Bedrohung durch den Terrorismus oder die Sicherung von Beschäftigung mit dem Vertrag von Lissabon stärker in den Verträgen abbilden als jemals im Unionsrecht zuvor.129

c) Ausdifferenzierung des Vollzugs: Zunehmende Kodifizierung des europäischen Verwaltungsrechts

Der Vertrag von Lissabon bringt eine erhebliche Ausdifferenzierung der maßgeb-lichen Vollzugsprinzipien des europäischen Verwaltungsrechts130 mit sich: So etwa die erneute ausdrückliche Nennung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Art. 5 Abs. 4 EUV n.F.131, die primärrechtliche Fixierung des Effektivitätsprin-zips (Art. 176 d AEUV)132 sowie einen neuen Titel über die Verwaltungszusam-menarbeit (Titel XXIII) .133 Zudem werden das Kohärenz-, Effizienz- und Konti-

127 Vgl. zum Konzept des Energiebinnenmarktes die Informationen unter <http://europa.eu/scadplus/leg/de/

s14002.htm>. 128 W. von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 186 ff. 129 Dazu auch A. Hatje, Europarecht und Globalisierung, in: J. Schwarze (Hrsg.), Europarecht im Zeichen der

Globalisierung, Tübingen 2008 (im Erscheinen). 130 Dazu etwa J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2005; J. P. Terhechte (Hrsg.),

Verwaltungsrecht der Europäischen Union – Zur Ausdifferenzierung und Globalisierung der europäischen Verwaltungsrechtsordnung, Baden-Baden 2008 (in Vorbereitung).

131 Dazu grundlegend EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft; J. Schwarze (Fn. 130), S. LXXIV ff. und S. 661 ff.; ders., The Principle of Proportionality and the Principle of Impartiality in European Administrative Law, RTDP 2003, S. 53 ff.; ders., Dimensionen des Rechtsgrundsatzes der Ver-hältnismäßigkeit, in: J. Ipsen/B. Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, Berlin 2008, S. 633 ff.; T. von Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 1990, S. 393 ff.; U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 ff.

132 Siehe nur EuGH verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633 Rn. 22 – Deutsche Milchkontor; dazu auch A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, Baden-Baden 1998, S. 58 f.; ders., in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 10 EGV Rn. 16; M. Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, in: A. Randelzhofer/R. Scholz/D. Wilke (Hrsg.), GS Grabitz, München 1995, S. 447 ff.

133 Ausführlich zur Verwaltungszusammenarbeit in der Europäischen Union A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtli-che Steuerung der Wirtschaftsverwaltung (Fn. 132), S. 128 ff.; G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Eu-ropäischen Union. Zur horizontalen und vertikalen Zusammenarbeit der europäischen Verwaltungen am Bei-spiel des Produktzulassungsrechts, Tübingen 2004.

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nuitätsprinzip im Vertrag verankert (Art. 9 EUV n.F). Damit kodifiziert das Uni-onsrecht unlängst anzuwendendes Richterrecht.134 Zusammen mit den neuen Vor-schriften über die Kompetenzverteilung sind die maßgeblichen Vollzugsstruktu-ren des europäischen Verwaltungsrechts damit besser abgebildet als jemals zuvor. An diesem Beispiel kann ein weiteres Charakteristikum des Vertrags von Lissa-bon festgemacht werden: Das Zusammenspiel der unionalen Ebene mit den Mit-gliedstaaten soll erheblich optimiert und transparenter gestaltet werden und zwar gewaltenübergreifend für die Zusammenarbeit der unionalen Exekutive, Legisla-tive und Judikative mit ihren mitgliedstaatlichen Pendants. Letztlich folgt hieraus auch eine besondere Prononcierung des Verbundcharakters der Europäischen Union.135

IV. Rhetorische Rückstufungen gegenüber dem Verfassungsvertrag

Der Vertrag von Lissabon verkörpert einen bewussten Bruch mit der Verfas-sungssemantik des EVV. Schon das Mandat der Regierungskonferenz sah die bewusste Abkehr von den symbolischen und rhetorischen Gehalten des Verfas-sungsvertrags vor.136 Dies betrifft zunächst die Symbole der Union, die ausführ-lich im EVV Erwähnung gefunden haben, aber nicht im EUV n.F. bzw. AEUV aufgeführt werden. Auch die Begriffe „Verfassung“ bzw. „Europäischer Außen-minister“ sowie die Nomination der Rechtsakte („Gesetz“ und „Rahmengesetz“) werden nicht übernommen. Aus juristischer Perspektive ist jedoch zweifelhaft, welche Schlüsse aus dieser Abkehr zu ziehen sind.

1. Die Symbole der Union

Der Vertrag von Lissabon erwähnt weder die Flagge der Union (Art. I-8 S. 1 EVV), die Hymne der Union (Art. I-8 S. 2 EVV) noch den Leitspruch „in Vielfalt geeint“ (Art. I-8 S. 3 EVV). Auch der Euro wird nicht als Symbol aufgeführt; der Europafeiertag bleibt unerwähnt (Art. I-8 S. 3 und S. 4 EVV).137 Ob hiermit ein Identitätsverlust oder eine sonstige Einbuße verbunden ist, mag dahinstehen, denn die Regelungen im EVV waren eher deklaratorischer Natur. Dass sie trotzdem eine gewisse Bedeutung haben müssen, lässt sich daraus schließen, dass immerhin 16 Mitgliedstaaten erklärt haben, dass diese Symbole auch zukünftig für sie die Zusammengehörigkeit der Menschen in der Europäischen Union und ihre Ver-

134 Zu diesem Phänomen allgemein J. Schwarze (Fn. 130), S. XCV ff. 135 Dazu ausführlich E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, Tübin-

gen 2005. 136 Siehe oben Fn. 2. 137 Ausführlich dazu D. Krausnick, Symbole der Europäischen Verfassung – Die Verfassung als Symbol, in:

J. P. Terhechte et al (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa (Fn. 119), S. 132 ff.

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bundenheit mit dieser zum Ausdruck bringen.138 An der Praxis mit dem Umgang der Unionssymbole dürfte sich daher weder in Brüssel noch in den (meisten) Mitgliedstaaten etwas ändern.

2. Keine Änderungen des Rechtsgehalts trotz Begriffsänderungen?

a) „Verfassung“

Der Vertrag von Lissabon vermeidet aufgrund des Mandats der Regierungskonfe-renz bewusst jede Verwendung des Begriffs „Verfassung“. Kann hieraus ge-schlossen werden, dass damit auch in rechtlicher Hinsicht nicht mehr von einer Verfassung gesprochen werden kann? Um diese Frage zu beantworten, kommt es offensichtlich darauf an, wie der Begriff Verfassung inhaltlich zu füllen ist, wie die europäischen Verträge heute gesehen werden und letztlich auch auf die Ge-samtausrichtung der Verträge von Lissabon (dazu ausführlich nachfolgend V.) Indes liegt die Vermutung nahe, dass eine rein semantische Bezeichnung noch nicht viel darüber aussagt, ob man es mit einer Verfassung zu tun hat oder nicht.139

b) Europäischer Außenminister

Dies gilt auch für die Bezeichnung „europäischer Außenminister“ (Art. I-28 EVV). Zwar hat der Vertrag von Lissabon diese Bezeichnung aufgegeben, der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik wird aber letzt-lich dieselben Aufgaben haben, wie sie dem Außenminister zukommen sollten.

c) Soziale Marktwirtschaft

Art. 3 Abs. 3 EUV n.F. gibt als Leitbild der europäischen Wirtschaftsverfas-sung140 eine im hohen Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft aus und bricht hier bewusst mit der vergleichbaren Bestimmung des Verfassungsvertrags. Der EVV sprach noch von einem Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb (Art. I-3 Abs. 2 EVV).141 Im Vertrag von Lissabon spielt aber der Wettbewerb zumindest scheinbar keine große Rolle mehr. Der Begriff der sozia-len Marktwirtschaft ist insbesondere auf Druck der französischen Regierung auf-

138 Erklärung Nr. 52 zu den Symbolen der Europäischen Union, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/267; auch

abgedruckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 518. 139 Für die ähnlich geführte Diskussion über das deutsche „Grundgesetz“ vgl. C. Starck, in: H. v. Mangoldt/

F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., München 1999, Band 1, Präambel Rn. 1 ff. (insbesondere Rn. 4).

140 Zum Begriff A. Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 683 ff. (684 ff.).

141 Dazu ausführlich J. P. Terhechte, Die Rolle des Wettbewerbsrechts in der europäischen Verfassung, in: A. Hatje/J. P. Terhechte (Hrsg.), Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR Beiheft 3/2004, S. 107 ff. (108 f.).

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genommen worden, um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass es sich bei der europäischen Integration ausschließlich um ein neoliberales (Wirtschafts-) Projekt der Eliten handelt. Hat der Wettbewerb als Organisations- und Entdeckungsver-fahren mit diesem Ansatz seinen Stellenwert eingebüßt? Wird man zukünftig das Leitbild der „sozialen Marktwirtschaft“ stärker zu gewichten und damit potentiel-le staatliche Interventionen in das Marktgeschehen eher zu dulden haben? Hierzu ist zunächst anzumerken, dass allein die Nichtnennung des Wettbewerbs in Art. 3 EUV n.F. nicht viel über den Stellenwert dieses Prinzips aussagt. Auch der EG-Vertrag beinhaltet derzeit in Art. 2 EG kein ausdrückliches Bekenntnis zum Prinzip Wettbewerb. Vielmehr taucht dieses Prinzip erstmals in Art. 4 Abs. 1 EG auf, der aber nahezu unverändert in den AEUV übernommen wurde (Art. 119 AEUV). Zudem haben sich die Mitgliedstaaten auf ein „Protokoll über den Bin-nenmarkt und den Wettbewerb“ verständigen können, das das Prinzip Wettbe-werb auf primärrechtlicher Ebene festschreibt.142 Ob es dieses Protokolls bedurf-te, ist zweifelhaft, denn das in ihm aufgeführte System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt (vgl. dazu derzeit Art. 3 lit. g EG) ist nichts anderes als eine Zusammenschau der heutigen Art. 81 ff. EG, die ohne wesentliche Änderun-gen in den AEUV aufgenommen wurden (Art. 101 AEUV ff.). Es entspricht aber der neuen Regelungstechnik der Verträge, die ehemaligen „Aufgaben“ der Ge-meinschaft nun bei den Kompetenzbestimmungen zu nennen, wie dies auch folg-richtig mit der ausschließlichen Kompetenz der Union für die Wettbewerbsregeln erfolgt ist (Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV). Die Bedeutung der gesamten Frage ist so mehr auf der politischen Ebene zu verorten. Jedenfalls erlaubt die Nennung der sozialen Marktwirtschaft auch zukünftig kein höheres Niveau staatlicher Interven-tionen in den Wettbewerbsprozess.

d) Binnenmarkt und Gemeinsamer Markt

Mit dem Vertrag von Lissabon wird der Begriff des Gemeinsamen Marktes durch eine sog. horizontale Änderung in toto durch den Begriff „Binnenmarkt“ ersetzt. Damit findet die alte Streitfrage, ob es sich hierbei um identische oder unter-schiedliche Begriffe handelt, ihren vorläufigen Schlusspunkt.143 Da sich keine wesentlichen materiell-rechtlichen Neuerungen in Bezug auf den Binnenmarkt ergeben haben, hat der unionale Gesetzgeber ein Zeichen für die inhaltliche Kon-gruenz dieser Begriffe gesetzt.

142 Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, ABl. EU v. 17. 12. 2007 Nr. C 306/156; auch abge-

druckt bei K. Fischer (Fn. 6), S. 475. 143 Dazu etwa A. Hatje, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar (Fn. 23), Art. 14 EGV Rn. 3 ff.

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e) Handlungsformen

Der Verfassungsvertrag hätte durchgehend neue Nominationen der Handlungs-formen des Unionsrechts mit sich gebracht: die heutige Verordnung wäre damit zum „europäischen Gesetz“, die Richtlinie zum „europäischen Rahmengesetz“ und die Entscheidung zum „Beschluss“ geworden. Der Begriff der „Verordnung“ wäre nur noch auf die heutigen Durchführungsverordnungen anzuwenden gewe-sen (vgl. zum Ganzen Art. I-33 EVV). Dieser Ansatz konnte sich mit dem Schei-tern des EVV nicht durchsetzen. Dem Begriff des „Gesetzes“ haftet offenbar zu viel „staatliche Autorität“ an, als dass man ihn auf die Union übertragen könnte. Zumindest diese Lehre muss man wohl aus den neuen Bestimmungen zu den Handlungsformen ziehen. Zukünftig wird es eine engere Typologie der Hand-lungsformen geben, die im Wesentlichen Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse und Stellungnahmen umfassen wird (Art. 288 AEUV). Hieraus folgt, dass die Entscheidung zukünftig als Beschluss bezeichnet wird. Damit wird gleichzeitig der Beschluss als „praxisgenerierte Handlungsform“144 in den Kreis der im primä-ren Unionsrecht niedergelegten Sekundärrechtsakte aufgenommen. Freilich darf bezweifelt werden, dass es sich bei der Aufzählung des Art. 288 Abs. 1 S. 1 AEUV um einen numerus clausus der unionalen Handlungsformen handelt, so dass auch dieses Feld weiter in Bewegung bleiben wird.

V. Die Unionsverträge als Verfassungsdokumente der europäischen Rechtsgemeinschaft

Im Lichte der umfangreichen Änderungen, die der Vertrag von Lissabon vor-nimmt, steht die Europäische Union einmal mehr am Vorabend einer tiefgehen-den Neuorientierung und Gesamtreform, wenngleich es nicht der „Verfassungs-vertrag“ geworden ist und dem Vertrag letztlich auch die „Verfassungssemantik“ genommen wurde. Lässt dies den Schluss zu, dass die Europäischen Verträge zukünftig „weniger“ eine Verfassungsfunktion erfüllen? Beendet Lissabon die europäische Verfassungsdiskussion? Oder steht Lissabon umgekehrt für eine Verdichtung der „europäischen Verfassung“?

1. Hintergrund: Die europäische Verfassungsdiskussion

Die Diskussion um die Frage, wie sich die europäischen Verträge qualifizieren lassen, ist letztlich so alt wie die Verträge selbst. Herrschte früher ein eher prag-matisch orientierter Ansatz vor145, so haben sich insbesondere seit Mitte der 90er

144 J. Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der EU – entwickelt am Beschluss als praxisgenerierter Hand-

lungsform des Unions- und Gemeinschaftsrechts, Berlin u.a. 2006. 145 So etwa die Idee des „Zweckverbandes funktionaler Integration“, die auf H. P. Ipsen zurückgeht; vgl. ders.,

Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, § 8 Rn. 24 ff.

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Jahre des letzten Jahrhunderts recht unterschiedliche Positionen herausgebildet, die sich in erster Linie am „Verfassungsbegriff“ abgearbeitet haben.146 Diese Diskussion ist bis heute nicht endgültig abgeebbt147 – geht es doch letztlich um schwer in Ausgleich zu bringende Positionen. Während der Chor der Skeptiker den Verfassungsbegriff gewissermaßen exklusiv für „Staatsverfassungen“ reser-viert wissen will148, schlägt das Lager der europarechtlichen Pragmatiker eine Adaption des Verfassungsbegriffs auch für die Unionsverträge vor.149 Erheblich verkompliziert wird die Situation zudem dadurch, dass der Verfassungsbegriff längst in weiteren Kontexten benutzt wird, die den ursprünglichen Diskussions-verlauf in ein anderes Licht rücken. So ist etwa von „globalen Zivilverfassun-gen“150 ebenso die Rede wie von „völkerrechtlichen Nebenverfassungen“ .151 Aufgrund der Komplexität der Fragestellung ist gut verständlich, warum hier von einer der letzten großen Diskussionen insbesondere der deutschen Staatsrechtsleh-re gesprochen wird.152

a) Funktionaler oder normativer Ansatz?

Wie bereits angedeutet, kommt es bei der europäischen Verfassungsdiskussion zunächst darauf an, aus welcher Warte man den Begriff der Verfassung inhaltlich füllen möchte. Hier wird häufig ein funktionaler Ansatz gewählt werden, der abstrakt Verfassungsfunktionen identifiziert und dann Normkomplexe anhand dieser Kriterien vermisst. Bei diesem Ansatz werden zumeist 1. die Organisati-onsfunktion der Verfassung, 2. ihre Aufgabe, die Ausübung von Herrschaftsge-

146 Ausführlich zu dieser Frage etwa I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam:

European Constitution-Making Revisted, 36 CMLRev. (1999), S. 703 ff.; ders., Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, Berlin 2006, S. 13 ff.; D. Grimm, Braucht Eu-ropa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff.; C. Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitu-tionalisierung, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 1 ff.

147 S. aus jüngerer Zeit C. Möllers (Fn. 146), U. Haltern, Gestalt und Finalität, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 803 ff.

148 So etwa P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: A. von Bogdan-dy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 893 ff. (insbesondere S. 896 ff. m. w. Nachw.).

149 I. Pernice (Fn. 146); ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001). S. 148 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre (Fn. 11), S. 187 ff.; A. Hatje, Entwicklungen zu einer europäischen Verfassung – zur aktuellen Debatte aus deutscher Perspektive (Fn. 16), S. 73 ff.; J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, Baden-Baden 2000; C. Dorau, Die Verfassungsfrage der EU, Baden-Baden 2001; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (Fn. 40); F. C. Mayer, Macht und Gegenmacht in der Europäischen Verfassung, ZaöRV 63 (2003), S. 59 ff. (61 ff.).

150 So etwa G. Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff.

151 Dazu R. Uerpmann, Völkerrechtliche Nebenverfassungen, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Ver-fassungsrecht (Fn. 24), S. 339 ff.

152 C. Möllers, Der vermisste Leviathan, Frankfurt a. M. 2008 (S. 88 des Manuskripts): „Die Diskussion um den Verfassungscharakter der Europäischen Rechtsordnung scheint eine der wenigen verbleibenden klassischen staatstheoretischen Debatten zu sein, die sich nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsbegriffs für die europäische Integration nicht einfach erledigt haben dürfte. Damit verbindet sich aber der ironische Umstand, dass sich Staatstheorie heute maßgeblich auf derjenigen Ebene abspielt, die den Nationalstaat transzendiert.“

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walt zu legitimieren, 3. zur Integration eines Gemeinwesens beizutragen und 4. die Machtausübung zu begrenzen, unterschieden.153 Freilich kann man mit guten Gründen der Auffassung sein, dass eben dieses Ver-ständnis den Verfassungsbegriff verkürzt, denn aus der Tatsache, dass A und B dieselben Funktionen erfüllen, folgt nicht automatisch, dass A auch gleich B ist. Deshalb wird mitunter vorgeschlagen, den Verfassungsbegriff mit demokrati-schen Elementen anzureichern und ihm so eine normative Dimension zu verlei-hen, wie dies namentlich durch C. Möllers vertreten wird.154 Sicherlich spricht auch einiges dafür, dass die normative Aufgabe einer Verfassung die Ermögli-chung demokratischer Politik ist, wie Möllers darlegt. Ob damit aber gleichzeitig ein global taugliches Konzept verbunden ist, steht auf einem anderen Blatt. Folge dieser Betrachtung wäre vielleicht, dass manche Verfassung weltweit ihres Status beraubt würde, soweit sie nicht diesem normativen Gehalt verpflichtet wäre. Verengt eine normative Betrachtungsweise gewissermaßen den Verfassungsbeg-riff, so gibt es auch Ansätze, die auf eine noch stärkere Öffnung zielen, als dies durch eine funktionale Betrachtung erreicht wird. Insbesondere G. Teubner löst mit seinem Modell der „globalen Zivilverfassungen“ den Verfassungsbegriff aus der Sphäre des Politischen und trägt so letztlich zu einer Pluralisierung des Ver-fassungsbegriffs bei.155 Die „europäische Verfassung“ ist hier nur eine unter vie-len Verfassungen „jenseits des Staates“.156 Betrachtet man aber die so beschrie-benen Entstehungsvoraussetzungen globaler Zivilverfassungen, so mündet dies – wie Kritiker einwenden – in einer „Art anonymer, der demokratischen Legitima-tion entzogenen Weltgesetzgebung“.157 Letztlich hilft dieser Ansatz im Kontext des europäischen Konstitutionalisierungsprozesses auch nicht weiter, geht es doch weniger um die Emanzipation vom Politischen als vielmehr um die rechte Ein-ordnung des Politischen auf europäischer Ebene. Gleichwohl steht das Modell Teubners für eine Öffnung des Verfassungsbegriffs, die die Ausschließlichkeit seiner Verwendung im Kontext von „Staatsverfassungen“ nachhaltig erschüttert. Erwähnt sei am Rande, dass gerade für Teubner die europäische Verfassungsdis-

153 Grundlegend K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Hei-

delberg 1995, Rn. 1 ff.; ders., Verfassung und Verfassungsrecht, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., Berlin/New York 1995, § 1 Rn. 4 ff.; vgl. auch A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (Fn. 40), S. 76 ff.; s.a. A. Hatje, Entwicklungen zu einer eu-ropäischen Verfassung – zur aktuellen Debatte aus deutscher Perspektive (Fn. 16), S. 73 ff.

154 C. Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 1 ff.

155 G. Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie (Fn. 150), S. 1 ff.

156 Ebenda, insbesondere S. 6: „Die These heißt: Emergenz einer Vielzahl von Zivilverfassungen. Die Verfas-sung der Weltgesellschaft verwirklicht sich nicht exklusiv in den Stellvertreter-Institutionen der internationa-len Politik, sie kann auch nicht in einer alle gesellschaftlichen Bereiche übergreifenden Globalverfassung stattfinden, sondern steht hier inkrementell in der Konstitutionalisierung einer Vielheit von autonomen welt-gesellschaftlichen Teilsystemen.“

157 So O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 2002, S. 403.

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kussion den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet, also den Prototyp einer „Verfassung“ jenseits des Staates verkörpern könnte.158 Vor dem Hintergrund der speziellen Charakteristika der unionalen Rechtsordnung (dazu nachfolgend lit. b) liegt der Verdacht nahe, dass weder eine Verengung noch eine zu weit gehende Erweiterung des Verfassungsbegriffs letztlich befrie-digende Antworten auf die Frage „Gibt es eine europäische Verfassung?“ bieten kann. Eine völlige Ablösung des Verfassungsbegriffs vom Politischen droht ins-besondere die Entwicklungen des Unionsrechts der letzten Jahre zu verkennen (etwa im Bereich der Grundrechte und der demokratischen Legitimation, vgl. 2.), während ein normatives Verständnis das Unionsrecht von seinen Wurzeln ent-koppelt – in gewisser Weise zu einer Überdehnung führen muss. Dass demokrati-sche Legitimation zum Zeitpunkt der Gründung der Union (bzw. der Gemein-schaften) kein Hauptmotiv darstellte, ist nicht zu bestreiten. Gleichwohl steht insbesondere der Vertrag von Lissabon für eine Stärkung der demokratischen Legitimation der Union. Vor dem Hintergrund der vorhandenen Theorieangebote scheint ein funktionaler Ansatz deshalb zumindest tauglich, eine Abgrenzung gegenüber anderen Normkomplexen innerhalb des Unionsrechts und im Verhält-nis zum mitgliedstaatlichen Recht zu leisten. Insofern könnte es hilfreich sein, sich die besonderen Charakteristika des Unionsrechts noch einmal vor Augen zu führen.

b) Eigenständigkeit des Unionsrechts als Ausgangsperspektive

Nähert man sich so dem Begriff der europäischen Verfassung, ist zunächst die Eigenständigkeit der europäischen Verträge zu betonen. Der EuGH hat bereits im Jahre 1986 vom EG-Vertrag als „grundlegende Verfassungsurkunde“ gesprochen und ihn damit deutlich aus dem Kreis der „normalen“ völkerrechtlichen Verträge herausgehoben. Die Gemeinschaften verkörperten insbesondere durch das Cha-rakteristikum der Supranationalität und ihre Verfasstheit als „Rechtsgemeinschaf-ten“ einen neuen Typus, der zwischen den Polen „Staat“ und „Internationale Or-ganisation“ nur schwer einzuordnen ist. Die Union ist kein Bundesstaat – und wird es wahrscheinlich mit guten Gründen niemals werden – und verkörpert auf der anderen Seite keine „gewöhnliche Internationale Organisation“. Eben diese schwierig zu bestimmende Stellung der Union hat letztlich die Verfassungsdebat-te und damit die Frage, inwiefern der Verfassungsbegriff an den Staat gekoppelt ist, ausgelöst. Es liegt auf der Hand, dass der EVV auch an dieser Polarisierung gescheitert ist, denn mit einer Verfassung – so die Skeptiker – sei der Vorhof der Staatlichkeit erreicht, wenn nicht schon durchschritten.

158 G. Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie (Fn. 150), S. 3:

„Realistischer schon setzten Versuche an, die eine deutliche Dissoziierung von Staat und Verfassung in Be-tracht ziehen und ausdrücklich eine globale Verfassung ohne Weltstaat denken. Von dieser innovativen Kon-struktion ist jüngst ausgiebig in der Europaverfassungsdebatte Gebrauch gemacht worden, (…).

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Hier ist aber Zurückhaltung geboten: Den Verträgen ist kein Zug zur Staatlichkeit immanent, vielmehr setzten sie sich durch ihre Verbundstruktur bewusst von der Kategorie des Staates ab. Sie bedingen in der heutigen globalen Konstellation die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten, ohne sie zu erodieren.159 Erst wenn man diese Besonderheit beachtet, wird die Verfassungsdiskussion entschärft, geht es doch nicht darum, der Union Staatsqualität zu verleihen. So betrachtet spricht auch einiges dafür, von einer europäischen Verfassung bzw. den Verträgen als Verfas-sungsdokumenten der europäischen Rechtsgemeinschaft zu sprechen, wenn sie die erwähnten Verfassungsfunktionen erfüllen und vielleicht auch in einem zu-nehmenden Maße demokratische Herrschaft durch Recht – eben als „Rechtsge-meinschaft“ (dazu sogleich 3.) ermöglichen.

c) Die Öffnung des Verfassungsbegriffs für die Ebene des Völkerrechts

Anzumerken ist schließlich am Rande – und dies spricht ebenfalls für eine Ver-wendung des Begriffs auf europäischer Ebene –, dass der „Verfassungsbegriff“ nicht nur aus der Warte des Europarechts in Beschlag genommen wird, sondern auch vermehrt im Völkerrecht zumindest von „Nebenverfassungsrecht“ die Rede ist.160 Hiermit wird der Diskussion (wieder) eine weitere Dimension hinzugefügt, deren Auswirkungen auf die ursprünglichen Meinungslinien noch nicht ausgelotet sind. Man kann aber schon erahnen, dass der Verfassungsbegriff hierdurch weiter geöffnet wird.

2. Die Stärkung zentraler Verfassungsfunktionen durch Lissabon

Im Lichte einer funktionalen Annäherung wird deutlich, dass der Vertrag von Lissabon die erwähnten zentralen Verfassungsfunktionen nachhaltig stärkt161: Die Organisation der Europäischen Union wird als Ganzes überschaubarer und damit in ihrem Aktionsradius berechenbarer. Dies gilt für das Verhältnis der Verträge untereinander genau so wie für die Ausgestaltung der Binnenorganisation. Durch ein einheitliches Handlungsformenregime, die zunehmende Rechtsunterworfen-heit der Akteure und die sich abzeichnende Dominanz des Mehrheitsprinzips lassen sich organisationsrechtliche Normalfallszenarien entwickeln. Betrachtet man die Organisationsfunktion einer Verfassung aus der Perspektive des Verhält-nisses der Verfassung zum sonstigen Normbestand eines Gemeinwesen, so hat der Vertrag von Lissabon auf der vertikalen Ebene zu den Mitgliedstaaten durch

159 Dies ist letztlich mit der Metapher der überstaatlichen Bedingtheit des Staates gemeint, dazu W. von Simson,

Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 186 ff.; ders./J. Schwarze, Euro-päische Integration und Grundgesetz, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfas-sungsrechts, 2. Aufl., Berlin/New York 1995, § 4 Rn. 3.

160 R. Uerpmann, Völkerrechtliche Nebenverfassungen, in: A. von Bogdandy (Hrsg), Europäisches Verfassungs-recht (Fn. 24), S. 339 ff. m. w. Nachw.

161 So auch I. Pernice, Der Vertrag von Lissabon – Ende des Verfassungsprozesses der EU?, EuZW 2008, S. 65.

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die Etablierung der „supranationalen Methode“ als Regelfall und der damit ver-bundenen Erstreckung des Vorrangs auf weite Teile des Unionsrechts eine ein-deutige Regelung getroffen. Durch die rechtliche Gleichsetzung der Verträge in der horizontalen Ebene sind zudem viele Zweifelsfragen ausgeräumt worden. Durch die Betonung des Prinzips der repräsentativen Demokratie (Art. 10 Abs. 1 EUV n.F.) und die Konkretisierung dieses Prinzips wird die Legitimation der europäischen Herrschaftsausübung erheblich ausgebaut. Der Vertrag von Lissa-bon macht hierbei wie keiner seiner Vorgänger ernst mit der Idee der doppelten Legitimation162; sie leitet sich zum einen aus der demokratischen Legitimation der Europäischen Union über das direkt gewählte Europäische Parlament ab, dessen Befugnisse mit dem Vertrag deutlich ausgeweitet wurden, zum anderen aus den mitgliedstaatlichen Parlamenten. Der letztere Legitimationsstrang ist durch die breitflächige Integration der nationalen Parlamente in die europäische Herr-schaftsausübung nachhaltig gestärkt worden (vgl. Art. 12 EUV n.F.). Der Vertrag von Lissabon steht zudem für eine neue Dimension der Integration als solche, indem er das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten präziser fasst (Vorrang, Rechtspersönlichkeit der Union usw.). Durch die Verdichtung des materiellen Unionsrechts wird zudem die Gestaltungsmacht der Union ausgebaut, was wiederum zu einer stetigen Verfestigung der Integration beiträgt. Eine we-sentliche Leistung liegt zudem in der stärkeren Einbindung des Einzelnen, die freilich auch als Element der Machtbegrenzung zu sehen ist. Damit wird schließlich die „Zähmung der Macht“ ein herausragendes Thema des Vertrags sein. In den vertikalen Beziehungen haben die nationalen Parlamente mehr Einfluss gewonnen. Überaus bedeutsam ist auch die neue Grundrechtsdi-mension auf unionaler Ebene, die sich insbesondere durch die Rechtsverbindlich-keit der Charta der Grundrechte und den Beitritt der Union zur EMRK ausdrückt. Auf der horizontalen Ebene ist in der Extension der Aufgaben des Europäischen Gerichtshofs und der Einbindung des Europäischen Rates in die Organstruktur der Union ein wesentlicher Faktor der Machtbegrenzung zu erblicken.

3. Die Bedeutung des Vertrags von Lissabon für die unionale Rechtsgemeinschaft

Die Europäischen Gemeinschaften und die Union sind „Rechtsgemeinschaften“. Gemeint ist hiermit – in bewusster Anlehnung an den „Rechtsstaat“ –, dass das Handeln der Gemeinschaften dem Recht unterworfen ist und dass ihr Handeln in

162 Zu diesem Konzept vgl. etwa A. von Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches

Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 149 ff. (174 ff.); ders., Das Leitbild der dualistischen Legitimation für die euro-päische Verfassungsentwicklung, KritV 2000, S. 284 ff.

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der Regel rechtsförmig ist.163 Dieses Bekenntnis ist mit Art. 6 EU auf die gesamte Union ausgedehnt worden, die sich mit der Vorschrift ausdrücklich zur „Rechts-staatlichkeit“ bekennt. Auch der Vertrag von Lissabon definiert die Rechtsstaat-lichkeit bewusst in Art. 2 EUV n.F. als „Wert“ der Union. Das Recht hat so in der Europäischen Union eine konstitutive Funktion: Die EU ist – wie es I. Pernice formuliert – eine Schöpfung des Rechts und gerade deshalb „Rechtsgemein-schaft“ und erfüllt ihre Aufgaben durch das Recht.164 Das Recht ist das einigende Band der Mitgliedstaaten und der Union, dem sich beide nicht entziehen können. Mit der Geltung der sog. rule of law165 beschwören die Verträge eine gemeineu-ropäische Tradition, die für „Objektivität, Neutralität und Deduktivität“ steht.166 Doch – und dies spielt für die Verfassungsdiskussion eine besondere Rolle – er-schöpft sich die Rolle des Rechts für die Union nicht etwa hierin. Das Recht ist auch ein Integrationsfaktor erster Güte – durch das Recht kommt es zu Harmoni-sierungen in den nationalen Rechtsordnungen, Konflikte werden rechtsförmig beigelegt etc.167 Je weiter das Konzept der „Rechtsgemeinschaft“ also ausgebaut wird, desto nachhaltiger wird das europäische Verfassungssystem stabilisiert.168 Fächert man den Begriff der Rechtsgemeinschaft auf, so werden verschiedene Elemente sichtbar. Es geht um die Rechtsunterworfenheit der öffentlichen Gewalt in der Union, gerichtliche Kontrolle ihres Handelns, den Schutz der Grundrechte und um den Grundsatz der Gewaltenteilung. Zudem verbindet das Recht in der Europäischen Union die unionale Rechtsordnung mit den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wie eine Klammer und konstituiert so den europäischen Verfas-sungsverbund.169 Ihre Konstitution als Rechtsgemeinschaft verschafft der Union zudem ein erhebli-ches Maß eigener Legitimation. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wa-rum insbesondere der Europäische Gerichtshof bemüht ist, die unionale Rechts-ordnung deutlich von „gewöhnlichen“ Rechtsordnungen des Völkerrechts abzu-grenzen, denen oft ein Moment der Beliebigkeit politischen Ursprungs anhaftet. Dies ist letztlich der Hintergrund der bekannten Zitate des EuGH zur Rechtsge-meinschaftlichkeit der EG. In seinem Urteil Les Verts170 aus dem Jahre 1986 be-

163 Klassisch W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, Düsseldorf 1969, S. 33 ff.; allgemein dazu F. C.

Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: G. F. Schuppert/I. Pernice/U. Haltern (Hrsg.), Europawissen-schaft, Baden-Baden 2005, S. 429 ff.; M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 ff.

164 I. Pernice, Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas. Begründung und Konsolidierung der Europäi-schen Rechtsgemeinschaft, WHI-Paper 9/01, S. 2.

165 Zum Begriff U. Haltern, Europarecht (Fn. 11), Rn. 294 ff.; vgl. auch ders., Die rule of law zwischen Theorie und Praxis, Der Staat 41 (2001), S. 243 ff.

166 A. von Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Fn. 24), S. 149 ff. (166).

167 Dazu etwa M. Cappelletti/M. Secombe/J. H. H. Weiler, Integration through Law, 1986; U. Everling, Die EU im Spannungsfeld zu nationaler Politik und Rechtsordnung, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Ver-fassungsrecht (Fn. 24), S. 848 ff. (880 ff.)

168 U. Everling (Fn. 167), S. 884. 169 I. Pernice (Fn. 164), S. 3 ff. 170 EuGH Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 Rn. 23 – Les Verts.

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tont er die Rechtsbindung sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Gemein-schaftsorgane und legt damit den Grundstein, um die Gemeinschaft später in sei-nem EWR-Gutachten171 aufgrund dieser Rechtsbindung aus dem Kreis ordinärer „völkerrechtlicher Übereinkünfte“ herauszuheben. Diese Abgrenzung erlaubt schließlich erst die Zuwendung zum Verfassungsbegriff. Der Vertrag von Lissabon wird die Verfasstheit der Union als Rechtsgemein-schaft nachhaltig konsolidieren. Er steht insbesondere für eine weitgehende „Ver-rechtlichung“ des Unionsrechts, indem ehemals intergouvernementale Bereiche der „supranationalen Methode“ unterstellt und die Rechtspositionen des Einzel-nen gestärkt werden. Zudem betont er in besonderer Weise den Verbundgedanken und steht nicht zuletzt für eine Extension gerichtlicher Kontrolle.

a) Verrechtlichung ehemals intergouvernementaler Bereiche

Die intergouvernementalen Bereiche des Unionsrechts sind mit nahezu jeder Ver-tragsrevision einem Erosionsprozess ausgesetzt, der sich insbesondere mit dem Vertrag von Lissabon in der kompletten Überführung der PJZS in den AEUV manifestiert. Hiermit hat ein Prozess seinen Abschluss gefunden, der schon mit dem Vertrag von Nizza begonnen hatte. Durch diese Verrechtlichung ehemals intergouvernementaler Bereiche werden ganze Politikfelder der „supranationalen Methode“ unterstellt, wenngleich es hier oft zu längeren Anpassungsphasen kommt. Mit der supranationalen Methode geht eine Verrechtlichung der betref-fenden Gebiete einher, die sich in einem erhöhten Grundrechtsschutz des Einzel-nen, einer Kontrolle der Unionsmaßnahmen durch den Europäischen Gerichtshof und der Verwiesenheit der Union auf die supranationalen unionalen Handlungs-formen und Verfahren der Rechtsetzung ausdrückt. Insbesondere werden die betreffenden Bereiche so auch dem Schema der „unionalen Gewaltenteilung“ unterworfen, die freilich anders und z.T. schwächer ausgeprägt ist als im nationa-len Recht.172 Letztlich ist nur noch die GASP nicht von dieser Tendenz betroffen, denn selbst in den komplexen Beitritts- und Vertragsänderungsverfahren hat das Recht durch den Vertrag von Lissabon einen höheren Stellenwert erhalten, was insbesondere auf eine ausdifferenzierte Prozeduralisierung dieser Instrumente zurückzuführen ist.173

b) Extension individueller Rechtspositionen

Der Vertrag von Lissabon steht wie keiner seiner Vorgänger für eine starke Pro-noncierung der Rechtspositionen des Einzelnen. Langdiskutierte Streitfragen,

171 EuGH Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079 Rn. 21 – EWR I. 172 Dazu etwa C. Möllers, Gewaltengliederung, Tübingen 2005, S. 253 ff. 173 Siehe oben S. 150 ff.

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etwa bezüglich des Beitritts der Union zur EMRK174, werden mit Inkrafttreten des Vertrags ihren Abschluss finden. Zu nennen ist hier insbesondere die Charta der Grundrechte, die durch den Ver-trag rechtsverbindlich und in den Rang des primären Unionsrechts gehoben wird und damit dem Einzelnen klagefähige Rechtspositionen einräumt.175 Freilich scheint diese Entwicklung nicht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen begrüßt zu werden, sondern die unionalen Grundrechte werden aufgrund der potentiellen Reibungspunkte mit dem nationalen Recht auch kritisch gesehen. Dies drückt sich in den Ausnahmen aus, die Polen und das Vereinigte Königreich für sich erwirkt haben. In diesem Zusammenhang ist auch die besondere Betonung des Transparenzge-dankens zu nennen. Der Vertrag von Lissabon wird hier eine Reihe von Vor-schriften einführen, die etwa die Beteiligung der Öffentlichkeit regeln. So tagen gem. Art. 15 Abs. 2 AEUV das Parlament und der Rat grundsätzlich öffentlich. Auch wird der Zugang zu den Dokumenten hervorgehoben (Art. 15 Abs. 3 AEUV) sowie der Anspruch darauf, dass die Organe der Union der Öffentlichkeit die Möglichkeit geben, sich zum Handeln der Union zu äußern (Art. 11 Abs. 1 EUV n.F.). Neu ist auch die Möglichkeit eines europäischen Bürgerbegehrens nach Art. 11 Abs. 4 EUV n.F. Hiernach können mindestens eine Million Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die aus einer „erheblichen Zahl“ der Mitgliedstaaten stammen müssen, die Initiative ergreifen und die Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse Rechtsakte vorzuschlagen. Das Verfahren zur – notwendigen – Kon-kretisierung dieses europäischen Bürgerbegehrens ist in Art. 24 Abs. 1 AEUV niedergelegt. Die Union macht hier also im gewissen Umfange ernst mit der Idee der partizipativen Demokratie, wenngleich die Aufforderungen an die Kommissi-on keine Rechtsbindung auslösen dürften. Gleichwohl darf die politische Signal-wirkung eines solchen Bürgerbegehrens nicht unterschätzt werden. Schließlich ist noch auf eine bedeutsame Änderung im Bereich des Rechtsschut-zes hinzuweisen. Gem. Art. 263 Unterabs. 4 AEUV kann zukünftig jede natürli-che oder juristische Person gegen an sie ergangene Entscheidungen sowie gegen Verordnungen oder an Dritte gerichtete Entscheidungen Klage erheben, soweit sie unmittelbar und individuell durch die jeweilige Entscheidung betroffen ist. Mit dieser Änderung der Aktivlegitimation bei der Nichtigkeitsklage übernimmt der Vertrag von Lissabon Art. III-365 Abs. 4 EVV, der das Klagerecht des Einzelnen zumindest auf Durchführungsverordnungen erstrecken wollte. Ob sich Art. 263 Unterabs. 4 AEUV allerdings nur auf Durchführungsverordnungen erstreckt oder allgemein auf Verordnungen anzuwenden ist, ist nicht ganz klar. Das Vorbild des Verfassungsvertrags spricht für eine restriktive Auslegung der Vorschrift.176

174 Siehe oben S. 172. 175 Siehe oben S. 170 ff. 176 So auch A. Hatje/A. Kindt, Der Vertrag von Lissabon: Europa endlich in guter Verfassung? (Fn. 1) i.E.

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Trotzdem werden die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen durch diese Mo-difikation erheblich ausgeweitet, hatte doch der Europäische Gerichtshof schon im Jahre 2004 klargestellt, dass es einer solchen ausdrücklichen Regelung durch den unionalen Gesetzgeber bedürfe, damit eine Aktivlegitimation des Einzelnen bei abstrakt-generellen Rechtsakten der Union angenommen werden kann.177

VI. Fazit

1. Der Vertrag von Lissabon und die europäische Verfassung

Der Vertrag von Lissabon konsolidiert und festigt den Kernbestand der europäi-schen Verfassung erheblich. Aus einer funktionalen Perspektive stärkt er zentrale Verfassungsfunktionen und ermöglicht in einem weitaus höheren Maße demokra-tische Abläufe als seine Vorgänger. Überragendes Motiv des Vertrags ist hierbei der Gedanke der Einheit.178 Dies drückt sich in einer semantischen Einheit aus (eine Union, einheitlicher institutioneller Rahmen), aber insbesondere auch in einer organisatorischen Einheit. Durch die Neuordnung der Verträge ist das euro-päische Recht durchaus übersichtlicher geworden, selbst wenn mancher Kom-promiss das Bild trübt. Schließlich schafft der Vertrag Einheit im materiellen Unionsrecht, indem er nahezu alle Bereiche der „supranationalen Methode“ un-terstellt.

2. Einheitspostulat und Rechtsgemeinschaft

Damit trägt der Vertrag von Lissabon entscheidend zur Homogenität innerhalb der europäischen Rechtsgemeinschaft bei und stärkt so das europäische Einheits-modell179 gegenüber in letzter Zeit verstärkt vorgetragenen heterarchischen oder netzwerkartigen Erklärungsmodellen, die eine polyzentrische Ausrichtung der Union befürworten.180 Hier ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Einheitlichkeit der europäischen Rechtsordnungen letztlich auch Indikator ihrer Rechtsstaatlich-keit ist. Die zentralen Anforderungen, die sich aus dem Gebot der Rechtsstaat-lichkeit ableiten lassen (z.B. Rechtsbindung der Ausübung öffentlicher Gewalt, Schutz der Grundrechte etc.), sind in einem polyzentrischen Modell wesentlich

177 EuGH Rs. C-263/02P, Slg. 2004, S. I-3425 Rn. 36 – Jégo-Quére; vgl. dazu U. Haltern, Europarecht und das

Politische, Tübingen 2005, S. 319 ff.; U. Wölker, Rechtsschutz Privater gegenüber dem europäischen Gesetz-geber, DÖV 2003, S. 570 ff.

178 Dazu etwa P. Dann/M. Rynkowki (eds.), The Unity of the European Constitution, Berlin/Heidelberg 2006. 179 Dazu A. von Bogdandy/M. Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit eigener

Rechtsordnung, EuR 1996, S. 3 ff.; A. von Bogdandy, The Legal Case for Unity, CMLRev. 36 (1999), S. 887; J. Bast, Einheit und Differenzierung der Europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Ver-fassung, in: J. P. Terhechte et al (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa (Fn. 119), S. 34 ff. m. w. Nachw.

180 Zu diesen Ansätzen vgl. etwa N. Krisch, Die Vielheit der Europäischen Verfassung, in: J. P. Terhechte et al (Hrsg.), Die europäische Verfassung – Verfassungen in Europa (Fn. 119), S. 61 ff.; K.-H. Ladeur, ‘We the people’ … Relâche?, ELJ 2008, S. 147 ff.

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schwerer zu verwirklichen. Letztlich sind so die Idee der „Rechtsstaatlichkeit“ und die Idee der „Verfassung“ als einheitsstiftende Grundordnung auf europäi-scher Ebene miteinander verknüpft – und diese Verknüpfung wird mit Lissabon eher gefestigt denn gelöst.

3. Ausblick

Lässt sich damit schon heute sagen, welchen Rang der Vertrag von Lissabon im Auf und Ab der Geschichte der EU einnehmen wird? Ist Lissabon ein Neuanfang oder ein Rückschritt? Meilenstein oder Etappe? Die Antworten auf diese Fragen müssen differenziert ausfallen: Zunächst steht Lissabon wie schon andere grundlegende Änderungsverträge zu-vor für die Fähigkeit der Europäischen Union, auch in scheinbar ausweglosen Situationen – freilich nach gewissen Zeitspannen – Einheit herzustellen. Nach den Referenden herrschte eine gewisse Ratlosigkeit, die noch durch die gescheiterten Haushaltsverhandlungen verstärkt wurde.181 Zu diesem Zeitpunkt wurde ernsthaft erwogen, Nizza als vorläufigen Schlussstein im europäischen Gebäude zu be-trachten. Angesichts dieser wenig verlockenden Aussicht, ist das Ergebnis von Lissabon sicher ein Gewinn. Der Vertrag von Lissabon „rettet“ ca. 95% des Bestandes des Verfassungsver-trags. Hierin liegt Leistung und Fluch zugleich, denn soweit man die Voten in Frankreich und den Niederlanden originär (auch) als Plebeszite über den Verfas-sungsvertrag betrachtet, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass das Meinungsbild der Wähler schlicht ignoriert wurde.182 Diese Frage wird man noch lange stellen müssen und sie liegt wie eine Hypothek auf den Verträgen. Hierin liegt aber zugleich auch eine Chance: Der Bestand des europäischen Verfassungs-rechts muss zukünftig beweisen, dass er der europäischen Öffentlichkeit standhält und sie erheblich stärker einbindet als bislang, sei es im Ratifikationsprozess183, sei es danach in der alltäglichen Praxis. Dass der Vertrag von Lissabon von politischer Seite als vorläufiger Schlussstein betrachtet wird, ist schon während der Verhandlungen deutlich artikuliert worden – verbunden mit dem wechselseitigen Schwur, den Vertrag zu ratifizieren. Inso-fern ist schon heute absehbar, dass zukünftig zwar immer wieder Ausbesserungen vorgenommen werden, eine grundlegende Reform aber vorläufig nicht zu erwar-ten ist. Dies lässt sich schon daran festmachen, dass die Bestimmungen von Lis-sabon teilweise erst in neun Jahren (2017) in Kraft treten werden. Diese zeitliche Perspektive verleiht dem Vertrag zugleich ein Antlitz der Dauerhaftigkeit, wie es letztlich nur bei Verfassungen anzutreffen ist. Lissabon steht damit für die Einheit 181 Siehe dazu K. Fischer, Der Vertrag von Lissabon (Fn. 6), S. 21 f. 182 Siehe auch J. P. Terhechte, Verfassung ohne Rhetorik? – Zur neuen Gestalt der Europäischen Union, EuZW

2007, S. 521. 183 Der Ratifikationsprozess könnte insbesondere in Irland spannend werden, weil hier ein Referendum abzuhal-

ten ist. Zu den gegenwärtigen Prognosen vgl. FAZ v. 3. März 2008, S. 8.

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und die Konsolidierung der europäischen Verfassungsordnung, für eine stärkere Legitimation und eine Betonung der Rolle des Einzelnen – die Verträge sind da-mit nicht nur technische Änderungsverträge, sondern neue, grundlegende Verfas-sungsurkunden der europäischen Rechtsgemeinschaft, die sich nun bewähren müssen.