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Der Vormarsch der Türkentaube Eine eigenartige und in gewissen Fällen nicht er» klärbare Erscheinung ist das Zurückgehen und Ver- schwinden einzelner Vogelarten aus groBen Gebieten sowie demgegenüber das Vorrücken anderer Vogel- arten in Räume, die seit Jahrhunderten nicht von ihnen bewohnt waren. Ein klassisches Beispiel für die sukzessive 'Ab- wanderung einer Art ist der Storch. Während er in früheren Jahrhunderten ganz Europa bewohnte, bröckelte seine Siedlungsdichte im Westen, immer mehr ab. So verschwand er vollständig aus Italien und aus dem größten Teil von Frankreich, wo er heute nur noch im ElsaB brütet. Noch augenfälliger war diese Entwicklung in der Schweiz. In der Mitte des 17. Jahrhunderts zählte die Stadt Luzern allein 35 Honte. Um 1900 brüteten in der Schweiz noch ungefähr' 140 Paare, in den zwanziger Jahren waren es noch ungefähr 50, ein Jahrzehnt später noch 16, im Jahre 1948 noch 6, im folgenden Jahre noch ein einziges, und dann starb dieser prächtige Vogel bei uns ganz aus. Wir wissen nicht warum. Teils mögen die Meliorationen, teils die cVerdrahtung» der Land- schaft, teils der Jagddruck auf den Zugwegen eine Rolle gespielt haben, doch tappen wir auf der Suche nach dem eigentlichen Grund noch völlig im dun- keln. Merkwürdig ist nämlich, daß der Storch sich beispielsweise in Holland auch aus Gebieten zu- rückgezogen hat, in denen er ideale Lebensbedin- gungen hätte, anderseits aber in Afrika an Orten brütet, wo es gar keine Sümpfe gibt, oder im frü- heren Ostpreußen Ortschaften bewohnt, die ebenso oder stärker von elektrischen Leitungen durchzogen sind als unsere Dörfer. Dazu kommt, daß er, wäh- rend er sich im Westen Europas zurückzieht, seine Bratgebiete immer mehr nach Osten, nach Rußland hinein, ausdehnt Das Umgekehrte erleben wir seit wenigen Jahr- zehnten mit der Türkentaube, die mit ihrem stür- mischen Vormarsch nach Westen die Ornithologen ganz Europas in Atem hält. Ursprünglich war sie in Vorderindien zu Hause. Im frühen Mittelalter be- gann sie ihre Brutgebiete nach Westen auszudehnen, setzte sich zunächst in Pcrsien fest und drang zwi- schen dem 15. und 16. Jahrhundert bis nach Klein- asien vor. Von dort kam sie über den Bosporus auf den Balkan, erreichte bis zum Jahre 1930 das Gebiet südlich der Donau, das heißt Bulgarien und das süd- liche Jugoslawien bis etwa auf die Höhe von Sarajewo, überschritt in den dreißiger Jahren die Donau und besiedelte Rumänien und Ungarn. 1938 vielleicht auch wieder verschwindet, bis sie irgend- wo «hängenbleibt». Hat sie sich indessen einmal in einem ihr zusagenden Gebiet festgesetzt, dann wächst ihre Zahl an jenem -Brutplatz von Jahr zu Jahr. So kann es geschehen, daß dort, wo heute von überall her, von Dächern, Leitungsdrähten und Bäu- men, ihr charakteristischer Ruf ertönt, noch vor wenigen Jahren ihr erstes Erscheine n elektrisierend auf den Kenner gewirkt hatte. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft jenes Tages, an dem ich zum erstenmal Türkentauben in Zürich-Albisriedcn fest- stellte. Es war am Nachmittag des 7. Mai 1956. Ich saß in meinem Bureau, vertieft in meine Arbeit, als merkwürdig tutende Töne an mein Ohr drangen. Zunächst nahm ich sie gar nicht in mir auf, doch als sie sich immer wiederholten, wurde ich auf sie aufmerksam, schon weil sie völlig verschieden waren von all den Lauten, die täglich die Umgebung er- füllten. Zunächst glaubte ich, ea handle sich um eine von einem Buben geblasene Kindertrompete, doch machte mich der immer gleiche Rhythmus plötzlich stutzig. Wie ein Blitz durchfuhr mich der Gedanke: «Türkentauben auf der Kastanie vor dem Haus!» Ich stürmte eine Treppe höher an das der Baumkrone gegenüberliegende Fenster, und tatsäch- lich, zwischen den breiten Kastanienblättern er- blickte ich zwei Tauben, die sich völlig von unseren verwilderten Haustauben unterschieden, sie waren viel schlanker und zierlicher. Ihre Gestalt entsprach etwa jener der Turteltauben, doch waren sie heller, auf der Oberseite staubgrau, auf der Unterseite röt- lichgrau. Augen und Füße waren rot, und besonders auffallend war ein schwarzer, vorne nicht geschlos- sener Halsring. Es handelte sich bei ihnen somit eindeutig um Türkentauben. Sie ähneln in ihrem ganzen Habitus sehr stark der mit ihr nahe ver- wandten, aus Afrika stammenden Lachtaube, welche ab und zu in Volieren gehalten wird. Was sie von diesen aber deutlich und von weitem erkennbar unterscheidet, ist ihr Ruf, ein weithin hörbares, auf- fälliges «duduu du». Der Ruf ist völlig frei von Konsonanten, obgleich er in gewissen Fällen etwas heiser vorgetragen' wird. Demgegenüber läßt sich der Lachtaübenruf etwa mit «gu grrruu» wieder- geben. Die Rufe unserer ersten Albisrieder Türken- tauben waren so klangrein, daß sie auch den An- wohnern sofort auffielen, welche glaubten, es habe eine Eule im Quartier Einsitz genommen. Das auf dem Kastanienbaum entdeckte Paar be- gann zu meiner großen Freude wenige Tage später mit dem Nestbau. Es trug feine Zweige auf die Die Ausbreitung der Türkentaube über Europa wurde sie bereits In der Slowakei festgestellt, 1943 tauchte sie in Wien auf. Der deutsche Ornithologe Prof. Niethammer, welcher sie dort entdeckte, äußerte damals die Ansicht, ihre Expansion werde nun wohl zu Ende sein. Damit sollte er sich indes- sen gründlich irren; denn was nun folgte, war bei- nahe unglaublich. Die Türkentaube breitete sich in den folgenden Jahren geradezu explosionsartig über ganz Österreich und Deutschland, bis in die Schweiz aus. Folgende Erstbeobachtungsdaten mögen dies belegen: 1946 Venedig, 1947 Graz, Klagenfurt und sogar Augsburg, 1948 Salzburg, Nürnberg,. Lud- wigsburg und Hannover (1), 1949 Ostseeinsel bei Rügen. Die erste Beobachtung der Türkentaube in der Schweiz fällt ebenfalls in das Jahr 1949 (Roth- rist). Ein Jahr später trat sie auch in Basel in Er- scheinung. Wie unerwartet diese Entwicklung war, geht daraus hervor, daß der Genfer Wissenschafter Paul GeroHfln in seinem sechsbändigen Handbuch über die in der Schweiz, in Frankreich und Belgien vorkommenden Vögel, dessen erster, die Tauben enthaltender Band 1940 erschienen ist, die Türken- taube zunächst überhaupt noch nicht erwähnte, son- dern erst unter «Nachträge» im letzten Band (1957) auf- führt. Das Jahr 1955 brachte dann eine kleine Sen- sation, da es dem Zürcher Vogelkenner G.Mächler gelang, in Zürich-Altstetten die erste Türkentauben- brut auf schweizerischem Territorium nachzuweisen. Seither, haben sich in der Schweiz da und dort Tür- kentauben angesiedelt. Basel besitzt eine bedeutende Kolonie und Zürich eine wohl noch größere. So be- wohnt dieser Vogel heute in recht großer Zahl die Quartiere Albisrieden, Altstetten und Höngg. Es wäre interessant, zu wissen, ob er auch schon in andern Stadtteilen Zürichs, beziehungsweise wo er in der Schweiz sonst noch heimisch ist. Bezeichnend für die Türkentaube ist, daß sie vor der eigent- lichen Inbesitznahme eines Gebietes da und dort i=» oft an sehr weit auseinanderlegenden Punkten einzeln oder in kleinen Gruppen auftaucht und Kastanie, wo in kurzer Zeit auf ungefähr 12 m Höhe eine kleine, nach Taubenart etwas liederlich zusam- mengefügte Plattform, ohne jede weiche Ausklei- dung, entstand. Der Tauber sang häufig und voll- führte zuweilen seine Balzflüge, indem er mit hastigen, klatschenden Flügelschlägen steil in die Luft stieg, dann Flügel und Schwanz ausbreitete, um wie ein kleiner Fallschirm auf eine Sitzwarte niederzugleiten. Manchmal ertönte auch der für diesen Vogel typische Flugruf, ein nasales «wäh». Türkentaubenpaar beim Nestbau auf einem Kastanienbaum Kurz nach Fertigstellung des Nestes wurden die bei- den weißen Eier gelegt, Ende Mai schlüpften die Jungen, welche in der Folge gut aufkamen und schließlich ausflogen. Seither brütet 'die Türken- taube an verschiedenen Orten des Quartiers. Sie be- vorzugt dabei hohe, zwischen :-den : Häusern ver». streute Parkbäume, baut zuweilen aber auch auf er- staunlich geringer Höhe. So entdeckten wir voriges Jahr ein Nest auf einer andern alten Kastanie, nicht oben im Wipfel, sondern auf etwa 3 m Höhe über dem Trottoir. Als Kuriosum mag ferner vermerkt sein, daß der Gärtner beim Stutzen der Bäume im Winter ein Türkentaubennest herunterholte, welches fast vollständig aus Draht angefertigt war. Offenbar hatte sich die betreffende Taube auf metallischen Niststoff spezialisiert, denn als Baumaterial dienten ihr neben gewöhnlichem Draht auch Drehspäne, Betoneisenbinder sowie ein Stück rot isolierten Kupferdrahtes. Oft beginnt die Türkentaube schon sehr früh, im Man und im April, mit Nestbau und Brüten, was zur Folge haben kann, daß der Frühlingsschnee eine weiße Decke über dem auf seinen Eiern sitzenden Vogel ausbreitet Das ficht die Türkentaube weiter nicht an, doch kann ein anderer Umstand ihren Frühgelegen zum Verhängnis werden. Zu Beginn des Monats April sind die Bäume noch nicht be- laubt, die Nester somit den Blicken kaum entzogen. Wehe, wenn eine Krähe die weißen Eier der Taube erspäht, sie wird sich diesen Leckerbissen nicht entgehen lassen. Dem hier abgebildeten Taubenpaar ist es so ergangen. Am 30 . März dieses Jahres photo- graphierte ich es. Vier Tage später lagen zwei Eier im Nest, die von der Täubin bebrütet wurden, und eine Woche später war das Nest leer. Zweifellos hatte eine Krähe die Eier geholt und Verspeist Trotz solchen Mißgeschicken, vermehrt sich die Türkentaube rasch, denn sie brütet mindestens zwei- mal, wenn nicht mehr im Jahr. Ihre Zunahme läßt sich jeweils besonders im Winter sehr schön fest- stellen. Im Gegensatz zu allen unseren übrigen wil- den Tauben ist sie nämlich kein Zugvogel, sondern harrt auch in strenger Kälte bei uns ans. Sie schart sich zu größeren Flügen zusammen, sucht Hühner- ' höfc auf oder andere Plätze, wo der Mensch ihr Futter streut So zählte ich im vergangenen Winter an meinem Arbeitsort bis gegen dreißig Exemplare auf einem Flachdach, wo sie täglich von unseren Mitarbeitern gefüttert werden. Genau wie der Storch gehört die Türkentaube zu den sogenannten Kulturfolgern, das heißt zu jenen Vögeln, welche sich an die Siedlungen des Menschen halten. So wenig wir aber eine bündige Erklärung für das Abwandern des Storches nach Osten finden, so wenig läßt sich die rasche Ausbrei- tung der Türkentaube nach Westen sicher erklären. Merkwürdig an ihrem Vordringen ist vor allem der seitliche Ablauf. Nachdem ihr europäisches Brat- gebiet sich über viele Jahrzehnte auf die Balkan - halbinsel beschränkt hatte, was ihr anch den Namen Balkantaube eintrug, geriet ihre dortige Population unvermittelt in Bewegung und dehnte ihr Besied- lungsgebiet mit unerhörter Geschwindigkeit, inner- halb nicht einmal 20 Jahren um weit über 1000 km aus. (Seit 1952 wird sie sogar in England beob- achtet!) Die Türkentaube gibt uns damit eines jener vielen Rätsel auf, die das Studium der Vogelwelt immer wieder von neuem so interessant machen. Diethelm Zimmermann Türkentaube auf einem Bausdach in ZürUh-Albisriedcn Neue Zürcher Zeitung vom 30.04.1960

Der Vormarsch der Türkentaubeder+Türkentaube_1.18054693.pdf · Es trug feine Zweige auf die Die Ausbreitung der Türkentaube über Europa wurde sie bereits In der Slowakei festgestellt,

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Der Vormarsch der TürkentaubeEine eigenartige und in gewissen Fällen nicht er»

klärbare Erscheinung ist das Zurückgehen und Ver-schwinden einzelner Vogelarten aus groBen Gebietensowie demgegenüber das Vorrücken anderer Vogel-

arten in Räume, die seit Jahrhunderten nicht vonihnen bewohnt waren.

Ein klassisches Beispiel für die sukzessive 'Ab-wanderung einer Art ist der Storch. Während er infrüheren Jahrhunderten ganz Europa bewohnte,bröckelte seine Siedlungsdichte im Westen, immermehr ab. So verschwand er vollständig aus Italienund aus dem größten Teil von Frankreich, wo erheute nur noch im ElsaB brütet. Noch augenfälliger

war diese Entwicklung in der Schweiz. In der Mittedes 17. Jahrhunderts zählte die Stadt Luzern allein35 Honte. Um 1900 brüteten in der Schweiz nochungefähr' 140 Paare, in den zwanziger Jahren warenes noch ungefähr 50, ein Jahrzehnt später noch 16,

im Jahre 1948 noch 6, im folgenden Jahre noch eineinziges, und dann starb dieser prächtige Vogel beiuns ganz aus. Wir wissen nicht warum. Teils mögen

die Meliorationen, teils die cVerdrahtung» der Land-schaft, teils der Jagddruck auf den Zugwegen eineRolle gespielt haben, doch tappen wir auf der Suchenach dem eigentlichen Grund noch völlig im dun-keln. Merkwürdig ist nämlich, daß der Storch sichbeispielsweise in Holland auch aus Gebieten zu-rückgezogen hat, in denen er ideale Lebensbedin-gungen hätte, anderseits aber in Afrika an Ortenbrütet, wo es gar keine Sümpfe gibt, oder im frü-heren Ostpreußen Ortschaften bewohnt, die ebenso

oder stärker von elektrischen Leitungen durchzogen

sind als unsere Dörfer. Dazu kommt, daß er, wäh-rend er sich im Westen Europas zurückzieht, seineBratgebiete immer mehr nach Osten, nach Rußlandhinein, ausdehnt

Das Umgekehrte erleben wir seit wenigen Jahr-zehnten mit der Türkentaube, die mit ihrem stür-mischen Vormarsch nach Westen die Ornithologenganz Europas in Atem hält. Ursprünglich war sie inVorderindien zu Hause. Im frühen Mittelalter be-gann sie ihre Brutgebiete nach Westen auszudehnen,

setzte sich zunächst in Pcrsien fest und drang zwi-schen dem 15. und 16. Jahrhundert bis nach Klein-asien vor. Von dort kam sie über den Bosporus aufden Balkan, erreichte bis zum Jahre 1930 das Gebietsüdlich der Donau, das heißt Bulgarien und das süd-liche Jugoslawien bis etwa auf die Höhe vonSarajewo, überschritt in den dreißiger Jahren dieDonau und besiedelte Rumänien und Ungarn. 1938

vielleicht auch wieder verschwindet, bis sie irgend-

wo «hängenbleibt». Hat sie sich indessen einmal ineinem ihr zusagenden Gebiet festgesetzt, dannwächst ihre Zahl an jenem -Brutplatz von Jahr zuJahr. So kann es geschehen, daß dort, wo heute vonüberall her, von Dächern, Leitungsdrähten und Bäu-men, ihr charakteristischer Ruf ertönt, noch vorwenigen Jahren ihr erstes Erscheinen elektrisierendauf den Kenner gewirkt hatte. Ich erinnere michnoch sehr lebhaft jenes Tages, an dem ich zumerstenmal Türkentauben in Zürich-Albisriedcn fest-stellte. Es war am Nachmittag des 7. Mai 1956. Ichsaß in meinem Bureau, vertieft in meine Arbeit, alsmerkwürdig tutende Töne an mein Ohr drangen.

Zunächst nahm ich sie gar nicht in mir auf, dochals sie sich immer wiederholten, wurde ich auf sieaufmerksam, schon weil sie völlig verschieden warenvon all den Lauten, die täglich die Umgebung er-füllten. Zunächst glaubte ich, ea handle sich umeine von einem Buben geblasene Kindertrompete,

doch machte mich der immer gleiche Rhythmusplötzlich stutzig. Wie ein Blitz durchfuhr mich derGedanke: «Türkentauben auf der Kastanie vor demHaus!» Ich stürmte eine Treppe höher an das derBaumkrone gegenüberliegende Fenster, und tatsäch-lich, zwischen den breiten Kastanienblättern er-blickte ich zwei Tauben, die sich völlig von unserenverwilderten Haustauben unterschieden, sie warenviel schlanker und zierlicher. Ihre Gestalt entsprach

etwa jener der Turteltauben, doch waren sie heller,auf der Oberseite staubgrau, auf der Unterseite röt-lichgrau. Augen und Füße waren rot, und besondersauffallend war ein schwarzer, vorne nicht geschlos-

sener Halsring. Es handelte sich bei ihnen somiteindeutig um Türkentauben. Sie ähneln in ihremganzen Habitus sehr stark der mit ihr nahe ver-wandten, aus Afrika stammenden Lachtaube, welcheab und zu in Volieren gehalten wird. Was sie vondiesen aber deutlich und von weitem erkennbarunterscheidet, ist ihr Ruf, ein weithin hörbares, auf-fälliges «duduu du». Der Ruf ist völlig frei vonKonsonanten, obgleich er in gewissen Fällen etwasheiser vorgetragen' wird. Demgegenüber läßt sichder Lachtaübenruf etwa mit «gu grrruu» wieder-geben. Die Rufe unserer ersten Albisrieder Türken-tauben waren so klangrein, daß sie auch den An-wohnern sofort auffielen, welche glaubten, es habeeine Eule im Quartier Einsitz genommen.

Das auf dem Kastanienbaum entdeckte Paar be-gann zu meiner großen Freude wenige Tage später

mit dem Nestbau. Es trug feine Zweige auf die

Die Ausbreitung der Türkentaube über Europa

wurde sie bereits In der Slowakei festgestellt, 1943

tauchte sie in Wien auf. Der deutsche Ornithologe

Prof. Niethammer, welcher sie dort entdeckte,

äußerte damals die Ansicht, ihre Expansion werdenun wohl zu Ende sein. Damit sollte er sich indes-

sen gründlich irren; denn was nun folgte, war bei-nahe unglaublich. Die Türkentaube breitete sich inden folgenden Jahren geradezu explosionsartig überganz Österreich und Deutschland, bis in dieSchweiz aus. Folgende Erstbeobachtungsdaten mögen

dies belegen: 1946 Venedig, 1947 Graz, Klagenfurt

und sogar Augsburg, 1948 Salzburg, Nürnberg,. Lud-wigsburg und Hannover (1), 1949 Ostseeinsel beiRügen. Die erste Beobachtung der Türkentaube inder Schweiz fällt ebenfalls in das Jahr 1949 (Roth-rist). Ein Jahr später trat sie auch in Basel in Er-scheinung. Wie unerwartet diese Entwicklung war,geht daraus hervor, daß der Genfer WissenschafterPaul GeroHfln in seinem sechsbändigen Handbuchüber die in der Schweiz, in Frankreich und Belgien

vorkommenden Vögel, dessen erster, die Taubenenthaltender Band 1940 erschienen ist, die Türken-taube zunächst überhaupt noch nicht erwähnte, son-

dern erst unter «Nachträge» im letzten Band (1957) auf-führt. Das Jahr 1955 brachte dann eine kleine Sen-sation, da es dem Zürcher Vogelkenner G.Mächlergelang, in Zürich-Altstetten die erste Türkentauben-brut auf schweizerischem Territorium nachzuweisen.Seither, haben sich in der Schweiz da und dort Tür-kentauben angesiedelt. Basel besitzt eine bedeutende

Kolonie und Zürich eine wohl noch größere. So be-

wohnt dieser Vogel heute in recht großer Zahl dieQuartiere Albisrieden, Altstetten und Höngg. Es

wäre interessant, zu wissen, ob er auch schon inandern Stadtteilen Zürichs, beziehungsweise wo er

in der Schweiz sonst noch heimisch ist. Bezeichnendfür die Türkentaube ist, daß sie vor der eigent-

lichen Inbesitznahme eines Gebietes da und dorti=» oft an sehr weit auseinanderlegenden Punkten

einzeln oder in kleinen Gruppen auftaucht und

Kastanie, wo in kurzer Zeit auf ungefähr 12 m Höheeine kleine, nach Taubenart etwas liederlich zusam-mengefügte Plattform, ohne jede weiche Ausklei-dung, entstand. Der Tauber sang häufig und voll-führte zuweilen seine Balzflüge, indem er mithastigen, klatschenden Flügelschlägen steil in dieLuft stieg, dann Flügel und Schwanz ausbreitete,

um wie ein kleiner Fallschirm auf eine Sitzwarteniederzugleiten. Manchmal ertönte auch der fürdiesen Vogel typische Flugruf, ein nasales «wäh».

Türkentaubenpaar beim Nestbau auf einem Kastanienbaum

Kurz nach Fertigstellung des Nestes wurden die bei-den weißen Eier gelegt, Ende Mai schlüpften dieJungen, welche in der Folge gut aufkamen undschließlich ausflogen. Seither brütet 'die Türken-taube an verschiedenen Orten des Quartiers. Sie be-vorzugt dabei hohe, zwischen :-den : Häusern ver».streute Parkbäume, baut zuweilen aber auch auf er-staunlich geringer Höhe. So entdeckten wir voriges

Jahr ein Nest auf einer andern alten Kastanie, nichtoben im Wipfel, sondern auf etwa 3 m Höhe überdem Trottoir. Als Kuriosum mag ferner vermerktsein, daß der Gärtner beim Stutzen der Bäume imWinter ein Türkentaubennest herunterholte, welchesfast vollständig aus Draht angefertigt war. Offenbarhatte sich die betreffende Taube auf metallischenNiststoff spezialisiert, denn als Baumaterial dientenihr neben gewöhnlichem Draht auch Drehspäne,

Betoneisenbinder sowie ein Stück rot isoliertenKupferdrahtes.

Oft beginnt die Türkentaube schon sehr früh, imMan und im April, mit Nestbau und Brüten, waszur Folge haben kann, daß der Frühlingsschnee eineweiße Decke über dem auf seinen Eiern sitzendenVogel ausbreitet Das ficht die Türkentaube weiternicht an, doch kann ein anderer Umstand ihrenFrühgelegen zum Verhängnis werden. Zu Beginn

des Monats April sind die Bäume noch nicht be-laubt, die Nester somit den Blicken kaum entzogen.Wehe, wenn eine Krähe die weißen Eier der Taubeerspäht, sie wird sich diesen Leckerbissen nichtentgehen lassen. Dem hier abgebildeten Taubenpaar

ist es so ergangen. Am 3 0. März dieses Jahres photo-graphierte ich es. Vier Tage später lagen zwei Eierim Nest, die von der Täubin bebrütet wurden, und

eine Woche später war das Nest leer. Zweifelloshatte eine Krähe die Eier geholt und Verspeist

Trotz solchen Mißgeschicken, vermehrt sich dieTürkentaube rasch, denn sie brütet mindestens zwei-mal, wenn nicht mehr im Jahr. Ihre Zunahme läßtsich jeweils besonders im Winter sehr schön fest-stellen. Im Gegensatz zu allen unseren übrigen wil-den Tauben ist sie nämlich kein Zugvogel, sondernharrt auch in strenger Kälte bei uns ans. Sie schartsich zu größeren Flügen zusammen, sucht Hühner-

' höfc auf oder andere Plätze, wo der Mensch ihrFutter streut So zählte ich im vergangenen Winteran meinem Arbeitsort bis gegen dreißig Exemplare

auf einem Flachdach, wo sie täglich von unserenMitarbeitern gefüttert werden.

Genau wie der Storch gehört die Türkentaubezu den sogenannten Kulturfolgern, das heißt zujenen Vögeln, welche sich an die Siedlungen des

Menschen halten. So wenig wir aber eine bündigeErklärung für das Abwandern des Storches nachOsten finden, so wenig läßt sich die rasche Ausbrei-tung der Türkentaube nach Westen sicher erklären.Merkwürdig an ihrem Vordringen ist vor allem derseitliche Ablauf. Nachdem ihr europäisches Brat-gebiet sich über viele Jahrzehnte auf die Balkan-halbinsel beschränkt hatte, was ihr anch den NamenBalkantaube eintrug, geriet ihre dortige Population

unvermittelt in Bewegung und dehnte ihr Besied-lungsgebiet mit unerhörter Geschwindigkeit, inner-halb nicht einmal 20 Jahren um weit über 1000 kmaus. (Seit 1952 wird sie sogar in England beob-achtet!) Die Türkentaube gibt uns damit eines jener

vielen Rätsel auf, die das Studium der Vogelwelt

immer wieder von neuem so interessant machen.

Diethelm Zimmermann

Türkentaube auf einem Bausdach in ZürUh-Albisriedcn

Neue Zürcher Zeitung vom 30.04.1960