7
MAGAZIN | 130 | © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136 Nach der Entdeckung der Destilla- tion durch die Araber im 8. Jahrhun- dert konnten alkoholische Kräuter- auszüge hergestellt werden. Dies nutzten die Mönche des Mittelalters, um daraus durch Zuckerzusatz Kräu- terliköre zu bereiten, wobei die von Benediktinern hergestellten Bénédic- tine und Chartreuse noch heute ge- trunken werden. Der Absinth wurde erstmals um 1800 in der französischen Schweiz KURIOS, SPANNEND, ALLTÄGLICH... | Der Zauber der Grünen Fee Absinth ist angesagt! Nach Jahrzehnten eines totalen Verbots darf die- ses hochprozentige Getränk in Deutschland wieder verkauft werden. Das Lieblingsgetränk der Pariser Bohémiens des ausgehenden 19. Jahr- hunderts umweht ein Hauch von Dekadenz, der sich heute aus- gesprochen verkaufsfördernd auswirkt. Ursprünglich wurden kreative Naturen nach ein paar Gläsern von jener Grünen Fee geküsst, die schon Baudelaire, Verlaine, Wilde, Toulouse-Lautrec und van Gogh im Rausch zu Meisterwerken inspirierte. Wir wollen ergründen, mit welchem che- mischen Trick dies der „fée verte“ damals gelang und herausfinden, ob wir auch heute beim Genuss des modernen Absinth noch auf den Kuss der Grünen Fee hoffen dürfen. hergestellt, wobei sowohl Dr. Pierre Ordinaire [6] als auch seine Wirtin, die kräuterkundige Mutter Henriod (Suzanne-Marguirite Motta) als Erfin- der genannt werden. Beide lebten in Couvet, in der Nähe von Neuchâtel in der französischen Schweiz. Eindeu- tig belegt ist der Verkauf eines Ab- sinth-Rezepts im Jahre 1797 von Mut- ter Henriod 1797 an Major Dubied, der im darauffolgenden Jahr mit der kommerziellen Herstellung begann [7]. Der Absatz entwickelte sich prächtig und bereits 1805 gründete sein Schwiegersohn Henri-Louis Pernod (1776-1851) das Zweigwerk Pernod Fils in Pontarlier im nahe ge- legenen Frankreich. Da Wermutkraut ein altes Heilmit- tel gegen Würmer und Malaria [8] war, stand auch Absinth in dem Ruf, gegen diese Krankheiten zu wirken. Dies wurde ab 1830 von der französi- schen Militärführung genutzt: alle 100 000 Soldaten des Nordafrika- korps bekamen eine tägliche Absinth- Ration. Das Geschäft florierte, zumal die aus Algerien zurückkehrenden Soldaten auch in der Heimat nach ihrem täglichen Absinth verlangten. Der wurde dadurch bekannt, aber nicht populär. Dies änderte sich schlagartig: noch 1873 wurden in Frankreich knapp 7000 Hektoliter Absinth getrunken, im Jahre 1900 aber astronomische 240 000 Hekto- liter [9]. Was trieb die Franzosen zum Ab- sinth? Bis zum Sturz Napoleons III. im Jahre 1870 war die Eröffnung von WERMUT | Absinth ist ein hochprozentiges alko- holisches Getränk, dessen Geschmack und Wirkung auf dem in Mittel- und Südeuropa beheimateten Wermut- Strauch [1] Artemisia absinthium (Ab- bildung 1) beruht. Wermut spielte als Heilpflanze schon im Altertum eine große Rolle. Seit Plinius waren Wer- muttinkturen, -tees und -weine univer- selle Heilmittel gegen vielerlei Krank- heiten. Hildegard von Bingen (1098- 1179) gerät ins Schwärmen [2]: Der Wermut ist sehr warm und heilkräf- tig. Er beseitigt Kopfschmerzen und den Schmerz, der durch die Gicht im Kopf verursacht wird, hilft bei Brust- schmerzen, Husten und Melancholie, vertreibt die Gicht und klärt die Au- gen, stärkt Herz und Lunge, wärmt den Magen, reinigt die Eingeweide und schafft gute Verdauung. Tatsächlich regen die Bitterstoffe die Verdauung an und Wermut ist bis heu- te Bestandteil vieler Magen-Darm-Heil- mittel. Wermuttinkturen und -tees wurden bei Appetitlosigkeit und Störungen der Gallenfunktion verab- reicht. In Hausapotheken des 16. Jahr- hundert tauchten Berichte über die therapeutische Anwendung von Wer- mutwein bei Wurminfektionen auf [3]. Tatsächlich bestätigten moderne ex- perimentelle Untersuchungen die Wirk- samkeit von Wermut gegen den Rund- wurm Ascaris lumbricoides [4] und gegen Larven des Maiswurzelbohrers (Diabrotica virgifera) [5]. Abb. 1 Wermut (Artemisia absinthium). Der Wermut gehört innerhalb der Fami- lie der Korbblütler zu einer arten- reichen Gattung, zu der z.B. das Estra- gon, der Beifuß und die Eberraute zählt. Der über einen Me- ter hohe Strauch ist in Südeuropa, Nord- afrika und Asien be- heimatet, hat silber- graue, filzig behaar- te Blätter und kleine kugelförmige gelbe Blüten. Zur Absinth- herstellung werden die meist zur Blüte- zeit geernteten oberirdischen Pflan- zenteile verwendet.

Der Zauber der Grünen Fee

Embed Size (px)

Citation preview

M AG A Z I N |

130 | © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136

Nach der Entdeckung der Destilla-tion durch die Araber im 8. Jahrhun-dert konnten alkoholische Kräuter-auszüge hergestellt werden. Diesnutzten die Mönche des Mittelalters,um daraus durch Zuckerzusatz Kräu-terliköre zu bereiten, wobei die vonBenediktinern hergestellten Bénédic-tine und Chartreuse noch heute ge-trunken werden.

Der Absinth wurde erstmals um1800 in der französischen Schweiz

K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H . . . |Der Zauber der Grünen FeeAbsinth ist angesagt! Nach Jahrzehnten eines totalen Verbots darf die-ses hochprozentige Getränk in Deutschland wieder verkauft werden.Das Lieblingsgetränk der Pariser Bohémiens des ausgehenden 19. Jahr-hunderts umweht ein Hauch von Dekadenz, der sich heute aus-gesprochen verkaufsfördernd auswirkt. Ursprünglich wurden kreativeNaturen nach ein paar Gläsern von jener Grünen Fee geküsst, die schon Baudelaire, Verlaine, Wilde, Toulouse-Lautrec und van Gogh im Rauschzu Meisterwerken inspirierte. Wir wollen ergründen, mit welchem che-mischen Trick dies der „fée verte“ damals gelang und herausfinden, obwir auch heute beim Genuss des modernen Absinth noch auf den Kussder Grünen Fee hoffen dürfen.

hergestellt, wobei sowohl Dr. PierreOrdinaire [6] als auch seine Wirtin,die kräuterkundige Mutter Henriod(Suzanne-Marguirite Motta) als Erfin-der genannt werden. Beide lebten inCouvet, in der Nähe von Neuchâtelin der französischen Schweiz. Eindeu-tig belegt ist der Verkauf eines Ab-sinth-Rezepts im Jahre 1797 von Mut-ter Henriod 1797 an Major Dubied,der im darauffolgenden Jahr mit derkommerziellen Herstellung begann[7]. Der Absatz entwickelte sichprächtig und bereits 1805 gründetesein Schwiegersohn Henri-Louis Pernod (1776-1851) das ZweigwerkPernod Fils in Pontarlier im nahe ge-legenen Frankreich.

Da Wermutkraut ein altes Heilmit-tel gegen Würmer und Malaria [8]war, stand auch Absinth in dem Ruf,gegen diese Krankheiten zu wirken.Dies wurde ab 1830 von der französi-schen Militärführung genutzt: alle100 000 Soldaten des Nordafrika-korps bekamen eine tägliche Absinth-Ration. Das Geschäft florierte, zumaldie aus Algerien zurückkehrendenSoldaten auch in der Heimat nachihrem täglichen Absinth verlangten.Der wurde dadurch bekannt, abernicht populär. Dies änderte sichschlagartig: noch 1873 wurden inFrankreich knapp 7000 HektoliterAbsinth getrunken, im Jahre 1900aber astronomische 240 000 Hekto-liter [9].

Was trieb die Franzosen zum Ab-sinth? Bis zum Sturz Napoleons III.im Jahre 1870 war die Eröffnung von

W E R M U T |

Absinth ist ein hochprozentiges alko-holisches Getränk, dessen Geschmackund Wirkung auf dem in Mittel- undSüdeuropa beheimateten Wermut-Strauch [1] Artemisia absinthium (Ab-bildung 1) beruht. Wermut spielte alsHeilpflanze schon im Altertum einegroße Rolle. Seit Plinius waren Wer-muttinkturen, -tees und -weine univer-selle Heilmittel gegen vielerlei Krank-heiten. Hildegard von Bingen (1098-1179) gerät ins Schwärmen [2]: DerWermut ist sehr warm und heilkräf-tig. Er beseitigt Kopfschmerzen undden Schmerz, der durch die Gicht imKopf verursacht wird, hilft bei Brust-schmerzen, Husten und Melancholie,vertreibt die Gicht und klärt die Au-gen, stärkt Herz und Lunge, wärmtden Magen, reinigt die Eingeweideund schafft gute Verdauung.

Tatsächlich regen die Bitterstoffe dieVerdauung an und Wermut ist bis heu-te Bestandteil vieler Magen-Darm-Heil-mittel. Wermuttinkturen und -teeswurden bei Appetitlosigkeit undStörungen der Gallenfunktion verab-reicht. In Hausapotheken des 16. Jahr-hundert tauchten Berichte über dietherapeutische Anwendung von Wer-mutwein bei Wurminfektionen auf [3].

Tatsächlich bestätigten moderne ex-perimentelle Untersuchungen die Wirk-samkeit von Wermut gegen den Rund-wurm Ascaris lumbricoides [4] und gegen Larven des Maiswurzelbohrers(Diabrotica virgifera) [5].

Abb. 1 Wermut (Artemisia absinthium).

Der Wermut gehörtinnerhalb der Fami-lie der Korbblütlerzu einer arten-reichen Gattung, zuder z.B. das Estra-gon, der Beifuß unddie Eberraute zählt.Der über einen Me-ter hohe Strauch istin Südeuropa, Nord-afrika und Asien be-heimatet, hat silber-graue, filzig behaar-te Blätter und kleinekugelförmige gelbeBlüten. Zur Absinth-herstellung werdendie meist zur Blüte-zeit geerntetenoberirdischen Pflan-zenteile verwendet.

| M AG A Z I N

Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136 www.chiuz.de © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 131

Lokalen mit Ausschank (débits deboissons) stark eingeschränkt. Dieshatte politische Ursachen, denn Ver-sammlungsorte, in denen kräftig ge-trunken und politisiert wurde, warender Staatsmacht suspekt. Nach Napo-leons Sturz entfielen alle bürokrati-schen Hindernisse und in einer allge-meinen Aufbruchstimmung schossenKneipen, Cafés und Cabarets wie Pil-ze aus der Erde. In Paris kam mehrals eine Kneipe auf 100 Einwohner,mehr als in jeder anderen Stadt aufder Welt.

Lokale waren für viele MenschenOrte, in denen sie für einige Stundendem erbärmlichen Leben in ihrenschlecht geheizten und beengtenWohnungen entfliehen konnten [10].In den Lokalen konnte man Zeitun-gen lesen, Schreibutensilien warenvorhanden und Billard-Tische ludenzum Spiel ein. Frauen, für die ein Lo-kalbesuch früher als unschicklichgalt, verkehrten jetzt dort und das öf-fentliche Trinken von Alkohol wurdefür alle gesellschaftsfähig, vom Arbei-ter über die Bohémiens [11] bis zumBürgertum.

Der explodierende Absinth-Ver-brauch hatte noch eine zweite Ursa-che.Absinth basiert auf Branntwein,der aus minderwertigen Weinen de-stilliert wurde.Ab 1850 wurden Her-stellungsmethoden entwickelt,Branntwein aus vergorenen Rübenoder Korn herzustellen. Dieser Rü-benbranntwein konnte zunächst nureinen bescheidenen Marktanteil er-obern, da Wein ausreichend und bil-lig erhältlich war. Dies änderte sichschlagartig um 1860, als die ReblausPhylloxera vitifoliae aus Amerikanach Frankreich eingeschleppt wur-de. Dieser Schädling zerstörte bis1920 praktisch alle französischenWeinstöcke und trieb zwei Winzer-generationen in den Ruin [12].

Durch die schweren Ernteausfällewurde Wein teuer. Dies traf auch dieAbsinth-Produzenten, die jedochschnell auf den nun billigeren Brannt-wein auf Rüben- und Korn-Basis um-stiegen.Auf die gleiche Ethanolmen-ge bezogen, war Absinth plötzlich bil-liger als Wein! Aber erst das Zusam-

menspiel aller Faktoren, von der Auf-bruchstimmung nach dem Sturz Napoleons III., dem freizügigeren Le-bensstil der Franzosen, der damit ver-bundenen teilweisen Emanzipationder Frauen, der Entwicklung rationel-ler Produktionsmethoden von billi-gem Industriealkohol und den durchdie Reblaus verursachten hohenWeinpreis kann den kollektiven Ab-sinth-Rausch der Franzosen in derBelle Epoque erklären.

Der tiefe FallZwischen 1870 und 1914 tranken dieFranzosen 2/3 der Weltproduktionvon Absinth.Absinth war billig, dasLeben tobte in den Lokalen und Ca-barets und das nachmittägliche Ab-sinth-Trinken in der „Grünen Stun-de“, der „heure verte“, war ein Ritualvieler Franzosen. Bohémiens, Poetenvon Baudelaire bis Verlaine, Malervon Toulouse-Lautrec bis van Gogh,viele Schauspieler und Professorenschwärmten von der fantastischenWirkung des Absinths. Oscar Wildeprägte den Begriff der „Grünen Fee“,die nach einigen Gläsern den Trinkerumarmt und ihm zu unglaublichenKreativitätsschüben verhalf. Dass Ab-sinth ein Aphrodisiakum sein sollte,dürfte den Verkauf kräftig angeheizthaben. Kurzum:Absinth war „in“.

Der hohe Absinth- bzw. der insge-samt stark gestiegene Alkoholkonsumder Franzosen hatte Folgen: die Zahlder Insassen von Heimen für Geistes-kranke und Selbstmordgefährdetenahm zu. Bei chronischem Absinth-Missbrauch kam es zu Sucht,Ver-wirrtheit, Nachlassen der geistigenFähigkeiten,Verblödung, schwerenHalluzinationen mit nachfolgendenDepressionen, Krämpfen, Paralyseund schließlich zum Tod. Dieses Syn-drom wurde als Absinthismus be-zeichnet.

Erste Forderungen aus medizini-schen Kreisen nach einem Verbotwurden laut, wobei Absinth nicht nurfür psychische Störungen, sondernplötzlich auch für Tuberkulose, Syphi-lis, Kriminalität und dem Verfall derallgemeinen Moral verantwortlich ge-macht wurde.

Ironischerweise wurde das Mi-litär, das Absinth in Frankreich po-pulär gemacht hatte, nun ein uner-bittlicher Gegner.Wegen der schlech-ten körperlichen Verfassung wehr-pflichtiger Franzosen schlug dasKriegsministerium Alarm und ver-langte ein Verbot. Die französischenWeinbauern schlossen sich dem an,denn sie waren natürlich an wenigerAbsinth- aber mehr (teuren) Weinver-brauch interessiert.Viele Medizinerund schließlich auch die Académiede Médecine unterstützten ein Ver-bot. Dessen ungeachtet tranken dieFranzosen unverdrossen ihren Ab-sinth weiter. Erst ein spektakuläresFamiliendrama führte zu einemschlagartigen Stimmungsumschwungin Europa:

Am 28.August 1905 begann JeanLanfray, ein 31-jähriger Weinberg-arbeiter im Schweizer Kanton Vaud(Waadt), den Tag um 6:00 Uhr frühmit zwei Gläsern Absinth, ging an-schließend ins Café, trank dort einenPfefferminzlikör und einen Cognac.Während der Arbeit im Weinbergtrank er sieben Gläser Wein, um vier

Maignan: „DerAbsinthtrinker“

M AG A Z I N |

132 | © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136

Uhr nachmittags im Café einen Kaffeemit Branntwein und schließlich da-heim einen Liter Rotwein. Dort gerieter mit seiner Frau in einen heftigenStreit über seine von ihr nicht ge-putzten Stiefel. Der Streit eskalierteund er erschoss seine Frau, seine insZimmer kommende vierjährige Toch-ter Rose und seine im Nebenzimmerschlafende zweijährige Tochter Blan-che. Dann versuchte er, sich selbstdas Leben zu nehmen. Jean Lanfraywurde des vierfachen Mordes ange-klagt, da seine Frau schwanger war.Trotz der vergleichsweise geringenMenge des bereits morgens getrunke-nen Absinths führte der Gerichtsgut-achter, der bekannte Psychiater Al-bert Mahaim, die Ursache des Mordeseindeutig und ausschließlich auf Ab-sinthismus zurück. Der Angeklagtebekam eine Gefängnisstrafe von 30 Jahren. Er erhängte sich wenigeTage nach der Verurteilung in seinerGefängniszelle.

Dieser Prozess schlug hohe Wel-len und es folgten Verbote in fast al-len Ländern: Belgien schon 1905, die

Schweiz 1908 per Volksabstimmung,die USA 1912 und Frankreich 1915.Reichspräsident Friedrich Ebert un-terschrieb am 27.April 1923 ein Ge-setz, das die Herstellung und den Import von Absinth in Deutschlandverbot.

Schlagartig verschwand der Ab-sinth vom Markt. Die traditionellenProduzenten in Frankreich und derSchweiz, allen voran Pernod, stelltenihre Produktion auf Anisschnäpse oh-ne Wermut-Zusatz um, die sich heutenoch als Pastis großer Beliebtheit er-freuen.

Das Absinthverbot wurde 1981 inDeutschland aufgehoben, die Verwen-dung von Wermutöl war aber durchdie Aromenordnung zunächst weiter-hin verboten. Seit 1991 ist Absinthnach EU-Recht in Deutschland undden anderen europäischen Ländernzulässig [13]. Auf dem deutschenMarkt sind derzeit über 100 verschie-dene Sorten erhältlich, die über-wiegend in Spanien, Frankreich undTschechien hergestellt werden.

Auf der Suche nach der Grünen Fee Die Grüne Fee, das war die euphori-sierende und stimulierende Wirkungvon Absinth. In diesem rauschähn-lichen Zustand sollen, will man denBerichten der damaligen KünstlerGlauben schenken, viele ihrer Meis-terwerke entstanden sein. Oscar Wil-de beschrieb die Wirkung so:

Nach dem ersten Glas, siehst Dudie Dinge so, wie Du sie Dirwünschst. Nach dem zweiten, siehstDu die Dinge, wie sie nicht sind.Zum Schluss siehst Du die Dinge,wie sie wirklich sind,und das ist das Schrecklichste aufder Welt.

Trank man zu viel, wurde aus derGrünen Fee ein Ungeheuer, das demTrinker einen bösen Kater bescherte.Bei chronischem Missbrauch tratenpsychische Störungen und schwereMuskelkrämpfe auf, im fortgeschritte-nem Stadium schließlich Persönlich-keitszerfall, Suizidgefahr, Gedächtnis-störungen, Paralyse und der Tod. Ob-wohl die beobachteten Symptome

denen des chronischen Alkoholismusentsprechen, war die Mehrheit derscientific community des ausgehen-den 19. Jahrhunderts davon über-zeugt, dass Absinth im Gegensatz zuanderen alkoholischen Getränken ge-sundheitsschädlich war. Man glaubtefest an eine neue Krankheit: den Ab-

H E R S T E L LU N G E I N E S K L E I N E NA B S I N T H -VO R R AT S |Ein Spitzen-Absinth kann nur aus einem hochwertigen Branntwein undKräutern bester Qualität hergestelltwerden [32]. Hier eine Originalvor-schrift von 1855 aus Pontarlier [33]:

1. Stufe: Mazeration und DestillationMan übergießt eine Mischung von 2,5 kg Wermutkraut (Artemisia ab-sinthum), 5 kg Anis, 5 kg Fenchel ins-gesamt 95 l Branntwein (85 Vol% Ethanol) pflanzlichen Ursprungs. Nach12 h bei Raumtemperatur gibt man 45 l Wasser hinzu und destilliert lang-sam bis insgesamt 95 l Destillat über-gegangen sind. In der ersten Fraktionmit einem Alkoholgehalt von 80-60Vol% Alkohol gehen vor allem dieleichtflüchtigen, feinwürzigen Kompo-nenten des Wermutaromas, in dermittleren Fraktion eher die nelken- undzimtartigen Komponenten [34] über.

2. Stufe: ColorationEine Mischung von 1 kg Wermutkraut,1 kg Ysop und 500 g Zitronenmelissewerden mit 40 l des in der ersten Stufegewonnenen Kräuterdestillats über-gossen. Nach einer längeren Wartezeitwird filtriert und die klare, blassgrüneLösung mit den restlichen in der erstenStufe gewonnenen 55 l des Destillatsvereinigt und mit Wasser auf ein Ge-samtvolumen von 100 l aufgefüllt. Der Ethanolgehalt des so gewonnenAbsinths beträgt 74 Vol.%.

Einen Eindruck über die Anzahl flüchti-ger Komponenten des Wermuts gibtdas Gaschromatogramm eines Wer-mutöls. Es enthält Hunderte von Stof-fen. Da die Basis eines guten Absinthsaus mindestens einem halben Dutzendverschiedener Kräuter besteht, die ihreflüchtigen Bestandteile bei der Destil-lation und die nicht-flüchtigen bei derMazeration abgeben, ist Absinth che-misch gesehen ein äußerst komplexesSubstanzgemisch [35].

Van Gogh

| M AG A Z I N

Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136 www.chiuz.de © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 133

sinthismus.Vor diesem Hintergrundwurden wissenschaftliche Studiendurchgeführt, die die Schädlichkeitdes Wermuts gegenüber der Harmlo-sigkeit des Ethanols nachweisen soll-ten, denn man war überzeugt, dassdie Grüne Fee irgendwo im Wermutsteckte. Bei der experimentellen Su-che nach ihr wurde reines etheri-sches Öl (Wermut- oder Absinthöl)eingesetzt, das durch Wasserdampf-destillation aus der Pflanze direkt ge-wonnen wurde [14].

ExperimentellesZwei Experimente sollen hier vor-gestellt werden:

I. Carl Friedrich Bohm, ein verwegener Hal-lenser, trank 1879 in einem Selbstversuchabends um 19:00 Uhr auf leeren Magenfünf Gramm Absinthöl. Er berichtete darü-ber in seiner Doktorarbeit [15]:„Nach einer Stunde roch mein Atem inten-siv ätherisch und ich hatte einen eigentüm-lich-kühlenden Geschmack im Mund. Alleanderen subjektiven Empfindungen bliebenaus. Ich hatte kein Brennen im Magen undmeine psychische Sphäre zeigte sich nichtim geringsten beeinflusst. Am anderenMorgen um acht Uhr nahm ich völlig nüch-tern noch einmal fünf Gramm Öl ein. MeinAtem roch den ganzen Tag über, sonstkonnte ich nichts an mir merken. ... Daswar alles. Vielleicht war die Dosis für michnoch nicht stark genug, aber zu größerenDosen hatte ich keine Neigung.“

Dieser Selbstversuch zeigte, das dieorale Aufnahme von zweimal 5 g Absinthöl (jeweils 70 mg/kg Körper-gewicht) zu keinen subjektivenStörungen führt. Dieser tollkühneSelbstversuch wurde im Jahre 1997mit doppelter Dosis unfreiwillig wiederholt [16].

II. Ein 31jähriger Mann hatte Wermutölüber das Internet bestellt und 10 ml davonauf einmal im Glauben getrunken, es han-dele sich um hochprozentigen Absinth. Wenige Stunden später war er desorientiertund bekam starke Muskelkrämpfe. ImKrankenhaus verschlechterte sich sein Zu-stand und es trat schließlich akutes Nieren-versagen auf. Der Patient wurde mehrereTage intensivmedizinisch betreut und mitnormalen klinischen Werten am 8. Tag entlassen.

Trotz der ungenauen Mengenan-gaben und der unbekannten Zusam-mensetzung der aufgenommenen

Wermutöle, zeigt besonders das letz-te, unfreiwillige Experiment, dassWermutöl bei sehr hoher Dosierung(140 mg/kg oral) schwere Krämpfeund Gewebeschäden hervorrufenkann.

Hat die Grüne Fee die Summenformel C10H16O? Den Wissenschaftlern des ausgehen-den 19. Jahrhunderts war es nochnicht möglich, die gesundheitsschäd-liche Komponente im Wermut zuidentifizieren. Erst um die Jahrhun-dertwende konnte Otto Wallach einals Thujon bezeichnetes Keton ausdem Lebensbaum Thuja occidentalisisolieren, das sich später auch alsHauptinhaltsstoff einiger Artemisia-Arten, vor allem Wermut und Salbeierwies [17].Thujon ist eine farblose,leicht ölige und mit Wasser nichtmischbare Verbindung mit erfrischen-dem, mentholähnlichen Geruch.Die chemische Struktur war sehr un-gewöhnlich und erwies sich als dasbicyclische Keton 4-Methyl-1-(1-methylethyl)bicyclo[3.1.0] hexan-3-on (1).

Thujon (1) ist ein bicyclisches Mono-terpen, d.h. der Grundkörper bestehtaus 10 Kohlenstoffatomen und kannformal durch Aneinanderfügen vonzwei Isoprenbausteinen (2-Methyl-1,3-butadien) zusammengesetzt werden.Thujon enthält zwei stereogene Koh-lenstoffatome (in 1- und 4-Position)mit jeweils vier verschiedenen Sub-stituenten, so dass vier Stereoisomeremöglich sind. Zwei davon, das a-Thu-

jon (2) und das b -Thujon (3), kom-men im Wermut vor, die beiden Diastereomere haben unterschied-liche chemische, physikalische undtoxikologische Eigenschaften (Tabelle 1).

Erst in den ersten Jahrzehntendes 20. Jahrhunderts standen die bei-den natürlich vorkommenden Thuj-on-Isomere für Experimente zur Ver-fügung, doch wegen des Verbots wa-ren Absinth,Wermut und Thujonnicht mehr von toxikologischem In-teresse [18]. Die Suche nach der Grü-nen Fee wurde abgebrochen, dochblieb Thujon weiterhin der Hauptver-dächtige!

Die Wirkung von Thujon Eine Zuschrift in „Nature“ lenkte1975 die Aufmerksamkeit der Wissen-schaft wieder auf Thujon bzw.Ab-sinth. Da in unzähligen Berichten diesubjektive Wirkung von Absinth undMarijuana (Cannabis sativa) ähnlichzu sein schienen, vermuteten Castilloet al., dass beide wirksamen Inhalts-stoffe – Thujon und Tetrahydrocanna-binol – am gleichen, dem Cannabino-id-Rezeptor im Zentralnervensystembinden [19]. Diese Vermutung stelltesich später zwar als falsch heraus[20], aber mit der abzusehenden Le-galisierung von Absinth war Thujonwieder von Interesse.

Nach neuen Untersuchungenwirkt Thujon an einer anderen Stelleim Nervensystem. Grob vereinfachtwerden die Aktivitäten von Nerven-zellen durch zwei chemische Verbin-dungen (Neurotransmitter) kontrol-liert. Eine Anregung erfolgt durchGlutaminsäure und eine Inhibierungdurch GABA (g-Aminobuttersäure)[21]. Die GABA-Rezeptoren kommensowohl im zentralen, als auch peri-pheren Nervensystem vor.Thujonblockiert die GABA-Rezeptoren [22],

spez. Siedepunkt LD50

Drehwert (Maus) [30]a-Thujon (2) (-)-Thujon – 19,9° Kp17 = 84°C 87,5 mg/kg

b-Thujon (3) (+)-Isothujon [31] + 73,4° Kp17 = 86°C 442,5 mg/kg

TA B . 1 E I G E N S C H A F T E N VO N T H U J O N

nach mehrwöchiger Aufnahme vontäglich 10 mg/kg Thujon keine Ände-rungen der Spontanaktivität oder desVerhaltens [24]. Insgesamt kann beimgegenwärtigen Kenntnisstand davonausgegangen werden, dass eine chro-nische Thujonaufnahme von 10 mg/kg Körpergewicht nicht schädlich ist. Sollte die Grüne Fee also die Sum-menformel C10H16O haben, müssteein Absinth-Trinker die 10 mg/kgGrenze überschritten haben, alsomindestens 700 mg Thujon aufge-nommen haben. Erst dann darf er aufihren Besuch hoffen.

Die maximale aufgenommeneThujon-Menge kann an Hand des Ori-ginalrezepts abgeschätzt werden (Kasten S. 132). Danach werden zurHerstellung von 100 l Absinth 3,5 kgWermut eingesetzt. Bei einem Ölge-halt von maximal 1,5 % des getrock-neten Wermutkrauts und einem Thu-jongehalt des Öls von 80% könnenhöchstens 400 mg Thujon pro Literin den Absinth gelangen. Um die 10 mg/kg Grenze zu überschreiten,müsste ein Mensch zwei Liter Ab-sinth in kurzer Zeit hinuntertrinken.Allerdings dürfte bereits ab einemhalben Liter mit 74 Vol% Alkohol(entsprechend einer Flasche Wodka)ein eventueller Feebesuch wegen

völliger Trunkenheit nicht mehrbemerkt werden, und nach einemLiter Absinth wäre der Blut-alkohol jenseits der letalen 5 ‰Grenze [25].

Es sei nochmals betont: diesist eine worst-case-Rechnung zur

Bestimmung der theoretischenObergrenze. Eine professionelleWasserdampfdestillation liefert

höchstens 0,2 – 0,4% etherischesÖl und unter Berücksichtigung

weiterer Faktoren ergibt eine realistische Abschätzung [26] Thu-jon-Werte unterhalb von 100 mg/lAbsinth. Dann würde die GrüneFee frühestens nach dem Genussvon sieben (!) Litern Absinth auf-tauchen.

Fazit: Sollte sich die GrüneFee im Thujon verstecken,

bliebe ein Besuch unbemerkt,soviel Absinth wir auch trinken

mögen.

M AG A Z I N |

d.h. GABA kann die Nervenzellennicht mehr wirkungsvoll inhibieren,sie sind dann extrem leicht erregbar.Die in Tierexperimenten beobachte-ten schnell aufeinander folgendenMuskelkrämpfe spiegeln diese leichteErregbarkeit wider und sind Folgeder Blockade der GABA-Rezeptoren.

Ist Absinth gesundheitsschädlich?Für die lebensmittel-toxikologischeBeurteilung von Absinth sind zweiFragen entscheidend: wie toxisch istThujon und wieviel davon wird beimTrinken aufgenommen? Obwohl eini-ge Studien mit Thujon-Isomerengemi-schen unbekannter Zusammenset-zung durchgeführt wurden, stimmendie publizierten Werte für die letaleDosis für Maus, Ratte, Hund undMeerschweinchen mit 70-400 mg/kgKörpergewicht überein (Tabelle 1).Die krampfauslösende Dosis (Maus,Ratte, Kaninchen, Katze, nicht intra-venös) von Thujon liegt oberhalb von72 mg/kg [23] und Ratten zeigten

D I E F E I N E A R T, A B S I N T H Z U G E N I E S S E N |

Absinth wird nicht einfach getrunken,sondern zelebriert! Der Connaisseur hatdazu die stilechte Gerätschaft zur Hand:ein Absinthglas und einen durchlöcher-ten Absinth-Löffel. Zuerst werden 2 clAbsinth in das Glas gegossen. Auf denauf dem Glas quer liegenden, durch-löcherten Löffel legt man, je nach Geschmack, ein bis zwei StückchenWürfelzucker. Nun hat man die Wahlzwischen zwei Trinkritualen:

Das tschechische Ritual Die Zuckerstückchen werden mit Ab-sinth beträufelt und wie bei einer Feuer-zangenbowle angezündet. Beginnt derZucker, Blasen zu schlagen und zu kara-melisieren, wird die Flamme gelöschtund der Löffel in den im Glas befind-lichen Absinth getaucht und mit kaltemWasser bis zum Verhältnis 1:4 bis 1:5aufgefüllt.

Das französisches Ritual (Abbildung)Man lässt über den Würfelzucker lang-sam und vorsichtig eiskaltes Wassertröpfeln. Mit verträumten Blicken ver-folgt man das Eintropfen des Zucker-wassers in den Absinth. Zuerst bildensich nur Schlieren, dann eine milchig-grünliche Emulsion (louche-Effekt). Auchhier wird die Wasserzugabe bei einerVerdünnung auf 1:4 bis 1:5 beendet.

Schon der erste Schluck verrät die Her-kunft: bei Absinthen aus Frankreich,Spanien oder der Schweiz dominiert eine kräftige Anisnote ähnlich dem(modernen) Pastis, tschechische Ab-sinthe zeichnen sich durch eine stärkerminzige Note aus.

Abb. Ein altes Postkartenmotiv der Absinthzubereitung

134 | © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136

Je suis la Fée Verte,Ma robe est couleur d’espérance

Je suis la ruine et la douleur,Je suis la honte,

Je suis le deshonneur,Je suis la mort,

Je suis l’Absinthe.

Ich bin die Grüne Fee,meine Robe hat die Farbe der Hoffnung ...ich bin das Verderben und der Schmerz,

ich bin die Scham,ich bin die Schande,

ich bin der Tod,ich bin der Absinth.

Anonymus [37]

| M AG A Z I N

Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136 www.chiuz.de © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 135

War der Absinth in der Belle Epoque besser?Eine moderne gaschromatographi-sche Analyse eines Absinths von1900 (Pernod) mit zwei nach altenRezepten hergestellten Absinthen,einmal aus einer Schwarzbrennerei(!) in Val de Travers und aus einermodernen Brennerei in Pontarlier er-gab ein überraschendes Ergebnis: deralte Pernod hatte den niedrigstenThujongehalt und alle Absinthe lagendeutlich unterhalb der von der EUfestgelegten Höchstgrenze von 35 mg/l [27]. Ob alte Absinthe Thu-jonwerte über 100 mg/l jemals er-reichten, muss aus heutiger Sichtstark angezweifelt werden.

Bei der Wirkung alter Absinthemüssen noch andere Substanzenberücksichtigt werden. Im 19. Jahr-hundert wurden viele Absinthe nichtimmer fachgerecht hergestellt, mehrnoch: es wurde verschnitten, ge-panscht und gefälscht. MinderwertigeBranntweine mit viel zu hohen Metha-nol- und Fuselöl-Anteilen wurden ver-wendet, der bittere Geschmack desWermuts verdeckte alles! Die häufigbeobachteten Sehstörungen könnenauf Methanol zurückgeführt werden.Schlechter Absinth wurde mit frag-würdigen Methoden „verbessert“: mittoxischem Kupfersulfat wurde diegrüne Farbe verstärkt, und schlechteAbsinthe bezeichnete man umgangs-sprachlich als sulfat des cuivre (Kup-fersulfat);Absinth mit Zusatz vonZinksulfat wurde als sulfat des zincbezeichnet. Mit Antimontrichlorid,das nach Zugabe von Wasser zu un-löslichen, weißen basischen Antimon-chloriden hydrolysiert, wurde diecharakteristische Eintrübung (louche-Effekt) verstärkt.Wie viele Menschendurch das Verschneiden und die Zu-sätze damals geistigen und körperli-chen Schaden nahmen, ist nichtnachzuvollziehen.

Ein Gläschen à votre santé ? Eine umfangreiche Gesetzgebungund entsprechende Behörden sorgenheute für die Definition und Einhal-tung von Qualitätsstandards unsererLebensmittel. Dies gilt auch für Ab-

sinth, denn mit der von der EU fest-gelegten Höchstgrenze von 35 mg Thujon/l für hochprozentigeBitterspirituosen ist man nach Auffas-sung aller Fachleute auf der sicherenSeite. Das Bundesinstitut für gesund-heitlichen Verbraucherschutz und Ve-terinärmedizin (BgVV) hat festge-stellt, dass es „wenig wahrscheinlichist, durch Absinth-Konsum eine schä-digende Menge Thujon aufzuneh-men“ [28]. Bei ihren Untersuchungenhat das BgVV insgesamt 30 auf demMarkt erhältliche Absinthe unter-sucht und nur bei einem lag der Thu-jongehalt mit 45 mg/l über dem zu-gelassenen Höchstwert.Auf der ande-ren Seite hatten 25 Absinthe Thujon-Gehalte unter 10 mg/l. Bei 12 Absinthsorten muss sogar ange-zweifelt werden, ob bei Herstellungüberhaupt Wermut dabei war, dennder Thujonwert lag unter 1 mg/l [29].

Mit dem amtlichen Segen des BgVV können wir uns also bedenken-los eine Grüne Stunde gönnen.Aberwird uns das auch schmecken? KeineSorge, auch hier haben die Mitarbei-ter des BgVV ganze Arbeit geleistet.In einer wahrhaft heroischen An-strengung haben sie unter Hintanstel-lung ihrer eigenen Gesundheit die 30 Absinthe gekostet und sensorischbewertet. Dabei stellten sie einegroße Bandbreite von Geschmacks-und Geruchsnoten und -verirrungenfest:Absinth #12 roch nach altemGummi und schmeckte rau, Absinth#16 roch und schmeckte nach Gurkenwasser und #24 war leichtmuffig, hatte aber wenigstens einedeutliche Kräuternote. Mit anderenWorten: zum vollendeten Genussgehört ein guter Absinth, und der istleider teuer, von R 30 aufwärts.

Schlussbetrachtungen Die Frage, ob und wo sich die GrüneFee im Absinth versteckt, kann nichtabschließend beantwortet werden.Thujon kann ausgeschlossen werden,da die aufgenommenen Mengen vielzu gering sind.War es vielleicht dochder viele Alkohol? War die Grüne Feevielleicht nur eine Vorstufe zum Deli-rium? Oder war alles nur Einbildung?

Über diese Fragen sollte man in einerGrünen Stunde bei einem, höchstenszwei Gläsern Absinth nachsinnen.Wenn das Zuckerwasser langsam inden Absinth tropft, wenn das Grünsich milchig trübt, lichtet sich derNebel vor unserer Fantasie und dann,ja dann dürfen wir vom Besuch derGrünen Fee träumen.Wahrscheinlich,nein sicherlich, werden wir verge-bens warten, aber was macht dasschon? Träumen von der Umarmungeiner schönen Fee und einem klei-nen bicyclischen Keton, noch dazumit einem Dreiring, – kann Zeit schö-ner dahinrinnen?

DankIch danke den folgenden Kolleginnenund Kollegen für ihre wertvolle Hilfe bei den Recherchen und ihren kritischen Kommentaren:Dr. M.-C. Delahaye,Auvers-sur-Oise;

D I E B I T T E R K E I T VO N A B S I N T H U N D W E R M U T W E I N E N |Absinth und die verschiedenen Wermutweine (Martini, Cinzano& Co.) schmecken angenehm bitter.

Der dafür verantwortliche Inhaltsstoff des Wermuts ist das Absinthin (44), dessen Struktur 1960 aufgeklärt wurde [36]. Ab-sinthin ist nicht flüchtig und geht bei der Absinth-Herstellungwährend der Destillation nicht mit dem Thujon über, sondernerst bei der Coloration. Dabei wird Wermut direkt mit dem Destillat extrahiert und Absinthin wird aufgenommen. Wermut-wein bekommt seine bittere Geschmacksnote auf die gleicheWeise, wobei hier die Pflanze direkt mit Wein extrahiert wird.Wermut ist eine der bittersten Pflanzen und das Absinthin istnoch in einer Verdünnung von 1:70 000 zu schmecken. Schonbeim Genuss geringster Mengen schlägt unsere angeborene Abneigung gegen Bitterkeit Alarm, was in der Volksmedizin zumAbstillen von Säuglingen genutzt wurde. In Shakespeares „Romeo und Julia“ erinnert sich Julias Amme noch lebhaft an dieses Erlebnis:

Ich hatte Wermut auf die Brust gelegtUnd saß am Taubenschlage in der Sonne...Als es den Wermut auf der Warze schmeckteUnd fand ihn bitter – närr’sches, kleines Ding – Wie böse zog der Brust es ein Gesicht!“

M AG A Z I N |

136 | © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 130 – 136

Dr. J. Emmerich, Basel; M. Günther,

Prof. Dr. H. Hartl und H. Kleinhuber,

Berlin, E.Vaupel, Deutsches Museum

München und H.Werner, Hohen-

mölsen.

Literatur und Anmerkungen[1] Der Wermut wird erstmals im Westger-

manischen als wer(i)muota erwähnt, dieHerkunft seiner Bedeutung ist aber un-klar (Deutsches Wörterbuch, J. und W.Grimm, Bd. 29, 11996600). Einmal könnteWermut wegen der wärmenden Wirkungdes Aufgusses an warm oder, da Wermutin der Volksmedizin als Antiwurmmittelverwendet wurde, an Wurm angelehntsein, „weil er die Würmer in des Men-schen Leib tödtet und abtreibet, und da-her manchen Quacksalber ernehrenmuß“ (Curioses Natur-Kunst-Gewerckund Handlungs-Lexicon, Marperser,11771122, Leipzig). Für diese zweite Anleh-nung spricht auch die englische Bezeich-nung wormwood für Wermut.

[2] Hildegard von Bingen, Naturkunde zitiertnach Absinth, H. Werner, 22000022, UllsteinTaschenbuchverlag, München

[3] Confect Büchlin und Hausz Apothek,Walther Ryff, 11554444, 113, Frankfurt/Main

[4] W. N. Arnold, Scientif. Amer. 11998899, 260(June), 86; Spektrum Wiss., 11998899,August, 64.

[5] S. Lee et al., J. Econ.Entomol. 11997777, 90,883.

[6] A.-M. Villon, La Nature 11889944,, 22, 149,,181.

[7] L’Absinthe histoire de la Feé Verte, M.-C.Delahaye 1983, Auvers-sur-Oise; L’Ab-sinthe, Son Histoire, M.-C. Delahaye,22000011, Musée de l’Absinthe, Auvers-sur-Oise.

[8] Die Vermutung, dass Wermut Artemisiaabsinthium gegen Malaria wirkt, beruhtwahrscheinlich auf einer Verwechselungmit Artemisia annua, die tatsächlich ge-gen Malaria wirksam ist.

[9] Die Volumenangaben beziehen sich aufdas reine Ethanol. Social Drinking in theBelle Epoque, M.R. Marrus, J. Soc. Hist.11997744, 8, 116.

[10] Die Wohnbedingungen und die hygieni-schen Verhältnisse waren katastrophal,um 1860 wütete noch die Cholera in Paris.

[11] Ursprünglich bezeichnete man die ausBöhmen in Frankreich eingewandertenZigeuner als Bohémiens, die ihrenLebensunterhalt als Musiker und Gauklerverdienten. Später wurde dieser Begriff inder Umgangssprache auf alle mehr oderweniger verwahrlosten, scheinbar un-bekümmerten und ungebunden vor sichhin lebenden Menschen ausgedehnt. Ein„Vie de Bohème“ war ein Leben mit ver-lotterter Sitte und Moral, ein wunderba-

rer Stoff für Romane und Opern (z.B. La

Bohème von Giacomo Puccini).

[12] Die Reblaus erreichte 1867 Klosterneu-

burg bei Wien, 1874 die Gartenanlage

Annaberg bei Bonn, 1907 die Mosel und

1913 Baden. In vielen wissenschaftlichen

Studien untersuchte man den komplizier-

ten Fortpflanzungszyklus der Reblaus, die

vor allem im Winter die Wurzeln angreift.

Nach vielen Jahren fand man eine Lösung:

auf amerikanische Wurzelstöcke der Gat-

tungen vitis riparia und vitis berlandieri ,

die gegen die Reblaus resistent sind, wur-

de einheimischer Wein vitis vinifera ge-

pfropft.

[13] In der Schweiz, dem Mutterland des Ab-

sinth, wurde das Verbot im Juni 2004 auf-

gehoben, seitdem können die dort jähr-

lich illegal hergestellten 10 000 l über

dem Ladentisch verkauft werden. In den

USA bleibt Absinth verboten.

[14] Dieses Öl entspricht ungefähr den bei der

destillativen Absinth-Herstellung überge-

henden flüchtigen Bestandteilen.

[15] Über die Wirkung des ätherischen Ab-sinthöls, 11887799, Universität Halle loc.cit. in

Absinth, H. Werner, 22000022, Ullstein Ta-

schenbuchverlag, München.

[16] S.D. Weisbord et al. N.Engl.J.Med. 11999977,337, 825.

[17] Die ätherischen Öle, E. Gildemeister und

F. Hoffmann, 11996633, Bd.IIIC, 270, Akade-

mie-Verlag, Berlin.

[18] Thujon spielte allerdings in der experi-

mentellen Medizin zur Erzeugung von

epileptischen Muskelkrämpfen in Labor-

tieren weiterhin eine wichtige Rolle.

[19] J. del Castillo et al., Nature, 11997755, 253,

365. In ihrem „letter“ setzten die Autoren

voraus, dass Thujon in der energetisch

sehr ungünstigen Enolform am Cannabi-

noid-Rezeptor bindet. Dies ist eine zu-

mindest sehr kühne Hypothese.

[20] J.P.Meschler und A.C. Howlett,

Pharm.Biochem.Behaviour 11999999, 62,

473.

[21] P. Krogsgaard-Larsen et al. The ChemicalRecord 22000022, 2, 419.

[22] K. M. Höld et al. Proc. Nat. Acad. SciencesUSA 22000000, 97, 3826 Diese Autoren unter-

suchten nur a-Thujon.

[23] Die Grüne Fee, A. Erb, Seminararbeit AG

P. Schreier, 22000033, Universität Würzburg.

[24] B.H. Gahwiler, Trends. Neurosci. 11998888,11, 48. R. Margaria, 11996633 loc.cit.in I. Hut-

ton, Curr.Drug.Discov. 22000022, 62.

[25] Einen sehr gelungenen und kritischen

Überblick gibt W. Huckenbeck www.uni-

duesseldorf.de/WWW/MedFak/Serolo-

gy/sero/sero-3-01/absinth.htm

[26] B. Max, Trends Pharm. Sci. 11999900, 11, 56.

[27] I. Hutton, Curr. Drug. Discov. 22000022, 9, 62.

[28] Belastungssituation von Absinth mit Thu-jon, M. Lang et al., 22000022, Heft 8, BgVV

Hefte, Berlin.

[29] Leider ist gesetzlich nicht festgelegt, dassAbsinth aus Wermut hergestellt wordensein muss, so dass auch Kräuterspiri-tuosen, die gänzlich ohne Wermut her-gestellt worden sind, als Absinthe ver-kauft werden dürfen.

[30] K.C. Rice und R.S. Wilson, J. Med. Chem.11997766, 19, 1054.

[31] Wie so häufig verwirren Trivialnamen: esgibt noch ein zweites Isothujon, das ausThujon mit konzentrierter Schwefelsäureentsteht. Dieses Konstitutionsisomereentsteht durch Öffnen des Dreirings undist ein Cyclopentenon-Derivat.

[32] Es gibt von dieser Grundrezeptur unzähli-ge Variationen bezüglich der Zutaten undVerfahrensweise. Bei den Kräutermi-schungen werden auch Süßholzwurzel,Muskatnuss, Holunder, Zitronenmelisse,Wacholder, Muskatnuss und Ehrenpreisu.v.a. verwendet. Einige weitere Rezepte:http://www.feeverte. net/recipes.html#1

[33] siehe Lit. [4] Die angegebene Vorschriftist nur in der amerikanischen Ausgabe,nicht aber in der deutschen Übersetzungabgedruckt.

[34] D.W. Lachenmeier et al., Dtsch. Le-bensm.-Rundsch. 22000044, 100, 117.www.cvua-karlsruhe.de/seiten/cvua/aktuelles/absinth04.htm

[35] Nach neuesten Untersuchungen von Em-mert et al. (Dtsch. Lebensm. Rundschau,22000044, 100, 352) wird der hohe Gehalt vona-Thujon durch einen anderen Inhalts-stoff, das Linalool, vorgetäuscht.

[36] L. Novotny, V. Herout und F. Sorm,Collect. Czech. Chem. Commun. 11996600,25, 1492.

[37] Dieses Gedicht wurde von den Absinth-Gegnern im Stile von Rimbaud und Verlaine verfasst.

Der Autor

Autor dieser Rubrik ist Prof. Klaus Roth von der Freien Universität Berlin. E-Mail: [email protected]