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DerSpiegel No 36 1.9.2014

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Der Spiegel

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  • Die Mnner im Machtzirkel von Wla-dimir Putin geben Medien aus demWesten eigentlich keine Interviews. Alsbesonders scheu gilt Igor Setschin, Chefdes Energieriesen Rosneft und der nachPutin wohl mchtigste Mann im Land.Umso berraschender kam das pltz -liche Einverstndnis Setschins, sich denSPIEGEL-Redakteuren Matthias Scheppund Gerald Traufetter zu stellen. Im Interview wettert Setschin gegen denWesten, vor allem gegen die Amerikaner.

    Die schweren Vorwrfe sind ein Symptom, wie verfahren die Lage in derUkraine ist, sagt Schepp. Lngst seien es nicht mehr nur Freiwillige, die Russlandber die Grenzen sende, sondern, nach Schtzungen der Nato, mehr als tausendregulre Soldaten eine gefhrliche Eskalation. Die Entwicklung beobachtenfr den SPIEGEL neben Schepp und Autor Christian Neef noch drei weitere Kol-legen im Land, von Donezk bis Sibirien. Redakteure in Berlin und Brssel be-schreiben, was die Verschrfung der Krise fr die Bundeskanzlerin und die Natobedeutet. Setschin schlug am Ende seines Interviews noch vershnliche Tnean, er zitierte aus dem Buch der Prediger: Und ich richtete mein Herz darauf,dass ich lernte Weisheit und erkennte Tollheit und Torheit. Seiten 20, 62, 80

    Anfangs dachte SPIEGEL-Redakteur Jrg Schindler noch an Monty Python:Der Verein zur Verzgerung der Zeit will den hektischen Alltag verlang -samen indem man etwa einen Sonnenaufgang nahezu in Echtzeit nachstelltoder Liegesthle in Fugngerzonen schleppt. So schrg die Aktionen sind, soernst gemeint ist die Frage: Warum haben wir es immer eiliger? Und trotzdemkeine Zeit? Was Schindler darber zusammentrug, in Gesprchen mit Soziologen,Psychologen, Arbeitsmedizinern, wurde zum zentralen Kapitel seines soeben er-schienenen Buches Stadt, Land, berfluss und zur Titelgeschichte dieser Aus-gabe. Schindlers Recherche blieb brigens fr ihn nicht ohne Folgen: Als er denVereinsvorstand der Zeitverzgerer, Martin Liebmann, dringend sprechenwollte, musste er zur Kenntnis nehmen, dass der im Urlaub unerreichbar war und zwar prinzipiell. Schindler fand das fast schon vorbildlich. Seite 114

    Fnf Wochen lang bereisten SPIEGEL-Redakteur Maximilian Popp und Fotograf Carlos Spottorno die Grenzbe-festigungen Europas. Popp interviewte Politiker und Grenzschtzer in Grie-chenland und Spanien, sprach mitSchleusern und Flchtlingen in der Tr-kei, Marokko und Ungarn. Das Fazit,berraschend einhellig: So kann es nichtweitergehen. An den Grenzen Europashat sich ein System etabliert, das Ab-

    schottung praktiziert und Tragdien hervorbringt. Die EU riegelt den Kontinentab, nicht zuletzt indem sie die Arbeit der Abschreckung delegiert, an Nachbar-staaten und gegen Bezahlung etwa an Marokko. Dabei gbe es durchaus nochMglich keiten, erfuhr Popp, legale Wege zu erffnen, qualifizierte Arbeitskrftezu holen, rztinnen aus Syrien, Ingenieure aus Iran. Damit wrde die illegaleEinwanderung nicht vllig verhindert; aber das Leid an den Grenzen Europasknnte gelindert werden. Seite 48

    5DER SPIEGEL 36 / 2014

    Betr.: Russland, Titel, Flchtlinge

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    Hausmitteilung

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    Traufetter, Schepp, Setschin

    Popp an Grenzzaun in Nordafrika

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  • Klagen gegen HauskrediteFinanzen Der Bankenbranchedroht eine Klagewelle: Viele Immobilienkreditvertrge, die zwischen 2002 und 2010 abge-schlossen wurden, sind vor Gericht anfechtbar deshalb knnen Kunden ihre Darlehenkndigen. Immer mehr Men-schen nutzen die Situation, umteure Altkredite loszuwerdenund von den zurzeit niedrigenZinsen zu profitieren. S. 70

    Heimat fr moderne HippiesStadtplanung Die Betreiberder Bar 25 haben das exzessiveBerliner Nachtleben geprgt,nun aber wollen sie vernnftigwerden. Sie verhandeln mit Behrden, um sich den Bau ei-nes ganzen Stadtviertels an der Spree genehmigen zu lassen.Das Quartier soll dem Lebens-gefhl geschftsbewusster Hip-pies entsprechen. Seite 124

    Der berechnete ZuschauerFernsehen Durch Serien wie House of Cards mit Kevin Spacey als skrupellosem Politiker wurde der Onlinedienst Net-flix weltweit bekannt und erfolgreich. Das Unternehmen liefert Fernsehfilme zu jeder Zeit auf jedes Gert. Eine Softwareberechnet, was den Kunden gefallen knnte, und macht passende Angebote. Nun startet Netflix in Deutschland. Seite 74

    Die heimlicheInvasion

    Ukraine US-Satellitenbilderund zahlreiche Indizien deutendarauf hin, dass russische Sol-daten in der Ostukraine kmp-fen. Prsident Putin leugnetund provoziert den Westen. In der Nato wchst der Druckauf Kanzlerin Merkel, aktiv zu werden. Seiten 20, 62, 80

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    6 Titelbild: Foto: Per Kasch; 3D John Harwood; Foto Balken: dpa

  • In diesem Heft

    7DER SPIEGEL 36 / 2014

    Raed Saleh,

    Fraktionschef der BerlinerSPD, mchte Klaus Wowereitals Regierenden Brgermeis-ter beerben. Saleh, gebrtigerPalstinenser, will die Haupt-stadt zum Integrationsmodellausbauen. Seite 37

    Sebastian Kurz,

    mit 28 Jahren jngster Auen -minister der Welt, fliegt Eco-nomy, lsst sich gern duzenund will sterreichs Positionin Europa strken. Was treibtden Mann an? Seite 94

    David Cronenberg,

    kanadischer Regisseur, hateine Satire ber die US-Film-welt gedreht. Im Interviewsagt er: Selbst Menschen, dieintelligent und belesen sind, werden von Hollywoodvergiftet. Seite 128

    Titel

    114 Alltag Warum dermoderne Mensch immer mehrZeit spart und doch immer weniger davon hat

    Deutschland

    14 Leitartikel Soll der Westenmit Assad gegen den Islamischen Staat vorgehen?16 Ex-Bundeswehrsoldaten im Dschihad / Polizei zahlt keine Miete mehr /Machnig wird Staats-sekretr / Kolumne: Die Klassensprecherin

    20 Regierung Nach demScheitern von Kanzlerin Merkels Telefondiplomatiedrngen die Hardliner in der Nato auf einen schrferen Kurs gegenberWladimir Putin23 Verteidigung Jens Stoltenberg, designierterNato-Generalsekretr, meidet Konflikte24 Europa Warum der Konflikt um die deutscheSparpolitik wieder entbrannt ist28 Interview EU-Parlaments-prsident Martin Schulz erklrt die Franzosen30 Parteien Wie die Maut die Union spaltet34 Kabinett Eine Task-force im Kanzleramt plant das Regieren mit Psychotricks36 Hauptstadt Wowereitsangekndigter Rckzug legt das Elend der BerlinerSozialdemokratie offen37 Kandidaten Berlins SPD-Fraktionschef Raed Salehber den Kampf um die Nach-folge im Brgermeisteramt39 Familie ber Jahre lie die Bundesregierung die Familienpolitik eva -luieren und ignoriert nundas Ergebnis40 Zeitgeschichte Warumgelten Zwangssterilisierte bis heute rechtlich nicht alsNS-Opfer?44 Jagd Frauen und Stdter erklimmen die Hochsitze

    Gesellschaft

    46 Sechserpack: GlobalesFrhstck / Bse Gstekommentare und ihre Folgen

    47 Ein Video und seine

    Geschichte Wie ein erbkrankes Mdchen gemobbt wurde

    48 Asyl Die EU rstet ihreAuengrenzen gegenFlchtlinge auf und bezahltNachbarstaaten fr dieAbschreckung

    58 Homestory Was man alsDeutscher in Amerika so alleserklren muss

    Wirtschaft

    60 Schubles Angst vorteureren Schulden / NeuesAngebot der Bahn im Tarifkonflikt / Der Preis der Ikea-Garantie

    62 Energie Putins Chef-Oligarch Igor Setschin wehrtsich im SPIEGEL-Gesprch gegen die Sanktionen desWestens und verspricht siche-re Gaslieferungen fr Europa

    67 Lufthansa Die wahrenUrsachen des Pilotenstreiks

    70 Immobilien Banken frchten eine Kndigungswellebei Baukrediten

    72 Geldanlage Ein BMW- Manager zockte vermgendeAutokunden ab

    Medien

    73 Streit um Wetten, dass ..?-Pleite / Buntemuss Entschdigung zahlen / Amazons Spielestrategie

    74 Fernsehen Der Deutsch-landstart des US-Erfolgskonzerns Netflix

    Ausland

    78 Der Grieche StavrosTheodorakis ber den Erfolgseiner Partei To Potami /Kampf um Mugabes Nachfolge in Simbabwe

    80 Ukraine Krieg ohne Kriegs-erklrung Putins gezielteProvokationen und Lgen

    85 Grobritannien Die Miss-brauchten von Rotherham

    86 Trkei Snowden-Doku-menten zufolge spionierender US-Geheimdienst NSAund der britische DienstGCHQ seit Jahren die trki-sche Fhrung aus

    88 gypten SPIEGEL-Gesprch mit AuenministerSamih Schukri ber dieisraelisch-palstinensischenFriedensverhandlungenund die Regierung von Prsi-dent Sisi

    94 sterreich Was treibtSebastian Kurz, den jngstenAuenminister der Welt?

    98 Global Village Warum imsdafrikanischen Kleinfontein20 Jahre nach Ende derApartheid nur Weie wohnen

    10 Briefe

    133 Bestseller

    138 Impressum, Leserservice

    139 Nachrufe

    140 Personalien

    142 Hohlspiegel/Rckspiegel

    Wegweiser fr Informanten: www.spiegel.de/briefkasten

    Sport

    99 Bayern-Trainer Pep Guar-diola und seine Schuld amChampions-League-Aus gegenReal Madrid / Jrme Cham-pagne, der einzige Herausfor-derer von Fifa-Chef Blatter

    100 Fuball Video-Schieds-richter sollen dasSpiel gerechter machen103 Automobile Elektrorenn-wagen bringen den Motorsport in die Metropolen

    Wissenschaft

    104 Schlechte Vorbereitungder Airlines auf Vulkan -ausbrche / Industrienationenmssen Ebola stoppen

    106 Geschichte Seeleute,Hndler, Ruber in Berlinstartet die bislang aufwendigs-te Wikinger-Ausstellung109 Internet Strenges Copy-right beschrnkt die digitaleWeltbibliothek110 Schicksale Wie ein Manndas Hospiz berlebte113 Katastrophen Ein Buchwill das Rtsel um den ver-schollenen Flug MH370 lsen

    Kultur

    122 Der verunglckte Holo-caust-Roman des britischenAutors Martin Amis / EinKinofilm zeigt Oralverkehrund lst damit einen Porno-grafieprozess aus / Kolumne:Besser wei ich es nicht

    124 Stadtplanung BerlinerClubbetreiber planen neuesViertel in der Hauptstadt128 Kino Regisseur DavidCronenberg ber den faulenZauber Hollywoods130 bersetzungen Wie einamerikanischer Bestsellerdurch seine bertragungins Deutsche Schaden nahm134 Literatur Dem DichterLutz Seiler ist mit seinem ers-ten Roman ein wrdiges Gegenstck zu Thomas MannsZauberberg gelungen137 Ausstellungskritik Diesdafrikanische KnstlerinMarlene Dumas wird end-lich mit einer groen Retro-spektive geehrt

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    Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite.

  • Briefe

    Fassungslos sprachlosNr. 35/2014 Die Akte Auschwitz Schuld ohne Shne:

    Warum die letzten SS-Mnner davonkommen

    Selten habe ich einen ebenso erschttern-den wie wtend machenden Artikel in ei-ner so komprimierten Form gelesen. Dafrgebhrt dem Verfasser ein groes Lob. Esist geradezu lcherlich, wie man in einerGroaktion greisen ehemaligen SS-Scher-gen nachstellte. Und es ist mehr als be-schmend, dass unsere Justiz nach diesenJahren des Horrors keine Mittel fand, dieVerantwortlichen zgig zur Rechenschaftzu ziehen. Nein, diese menschenverach-tenden Verbrecher fanden auch noch nachihren Grueltaten berufsmige Verwen-dung in deutschen Behrden. Unfassbar.Horst Winkler, Herne (NRW)

    Es ist ja lblich, dass der SPIEGEL die Ver-sumnisse der deutschen Justiz bei derAufarbeitung des Holocaust untersucht. InZeiten, da sich die Krisen in schwindeler-regendem Tempo verselbststndigen, soll-te der Blick aber nach vorn gerichtet sein.Wann befassen Sie sich endlich in einemTitel mit dem Urkonflikt des Nahen Os-tens, der israelischen Politik in Palstina?Ingo Budde, Achim (Nieders.)

    Als ein berlebender des Gettos Litz-mannstadt und des KZ Buchenwald be-danke ich mich fr Ihre Ausgabe zu Ausch-witz. Niemals zuvor hat es einen solchenMassenmord gegeben. Aber was ist mitden Nachkommen der Einsatzgruppen, dieheute ebensolche Antisemiten sind wieihre Grovter?Siegfried Buchwalter, Baltimore (USA)

    Mag sein, dass eine entschlossene Verfol-gung der Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit wenig dagegen htte ausrichtenknnen, dass 70 Jahre nach AuschwitzRufe wie Hamas, Hamas, Juden ins Gas!in deutschen Grostdten zu hren sind,dass hierzulande im Jahr 2014 Israelfreun-de beleidigt und geschlagen werden undvor wenigen Wochen in Wuppertal einBrandanschlag auf eine Synagoge verbtwurde. Es bleibt jedoch wichtig zu sagen:Antisemiten drfen sich in Deutschlandnicht wohlfhlen.Andr Beler, Bremen Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft

    Als langjhriger Leser stelle ich die Frage:Wann endlich schliet der SPIEGEL dieAkte und bringt auf der Titelseite keine

    Themen mehr aus der NS-Zeit? Die Welthat reichlich dringende aktuelle Probleme.Das soll nicht heien, dass Artikel zur Zeit-geschichte, auch solche, die sich mit derAufarbeitung der NS-Zeit befassen, unter-bleiben sollen. Roland Kiesewetter, Hamburg

    Ich gebe zu, als ich den Titel des SPIEGELdieser Woche sah, dachte ich: na, wiedermal dieses Thema. Doch nach der Lektredes hervorragend recherchierten und auf-whlenden Artikels bin ich fassungslos,sprachlos, wtend. Mir war das Ausmader geheuchelten Ignoranz, bewusstenVerdrehungen, Verharmlosungen und invielen Fllen zynischen und die Opfer imNachhinein herabwrdigenden sogenann-ten Urteile gegen Beteiligte des NS-Re-gimes nicht bewusst. 0,48 Prozent dieseZahl zum Anteil der verurteilten SS-An-gehrigen, die im KZ Auschwitz ttig wa-ren, wird mir ewig im Gedchtnis bleiben.Sie beschmt und verstrt.Lutz Jkel, Berlin

    Wenn, wie Sie schreiben, der erste deut-sche Bundeskanzler Israel dazu drngtezu akzeptieren, dass die Bundesrepublikdie NS-Strafverfolgung einstellt, frage ichmich, wie man so einen Mann noch ehrenkann und ob jene Partei mit dem groenC am Anfang nicht ihrer parteinahen Stif-tung einen anderen Namen geben sollte.Der Begriff Massenmord beschnigt dasJahrhundertverbrechen. Es handelte sichum ein systematisches Zu-Tode-Folternvon Millionen Menschen. So war es einmoralisches Verbrechen, die Strafverfol-gung der NS-Tter einstellen zu wollen.Ulf Pape, Berlin

    Seit Bundeskanzler Adenauer zhlt es leider zu den Konstanten dieser Republik,dass die Opfer der NS-Herrschaft um ihreRechte kmpfen mssen, whrend mannicht wenigen belasteten Ttern eine ge-nerse Pension gewhrt. Daher kann mangar nicht genug ber diese in der Tatzweite Schuld sprechen.Rasmus Helt, Hamburg

    Der Bericht ist hervorragend recherchiertund sichtlich um Objektivitt bemht.Zwei Punkte gilt es dennoch anzuspre-chen: Richtig ist, dass die Initiative fr dieVorermittlungen gegen John Demjanjukvon Thomas Walther ausging und er hierrichtungsweisend ttig war. Vllig unver-stndlich ist demgegenber der Vorwurf

    10 DER SPIEGEL 36 / 2014

    Wenn fast 40 Prozent der Deutschen dem antisemitischen Mordwahn verfallen

    waren, ist es wohl zu verstehen, dass eine Verurteilung Schuldiger wegen

    Massenmords nicht stattfand. Umso wunderbarer sind die Taten der wenigen

    heroischen Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens Verfolgte retteten.Richard Marx, Mnchen

    Sprung ins FettnpfchenNr. 34/2014 Wie der BND amerikanische

    Auen minister abhrte

    Nun sind sie endlich entlarvt worden, dieideologisch verbildeten Gutmenschen mitihrer blinden Wut auf die USA. VernnftigeMenschen wussten schon immer, dass un-eingeschrnkte Abhrmanahmen der Ge-heimdienste weltweit zum Alltag gehren.Sie sind zur Verhinderung und Aufklrungvon Verbrechen unerlsslich.Herbert Gaiser, Mnchen

    Nach der ffentlichen Demtigung durchEdward Snowden hat der BND verzweifeltum seine Daseinsberechtigung gekmpft.Jetzt hat er durch einen gewaltigen Sprungins Fettnpfchen wenigstens einen Arbeits-nachweis erbracht.Rolf Lemke, Mlheim an der Ruhr (NRW)

    Hat der BND gerade hier nicht richtig gehandelt? Ist es nicht Aufgabe eines Geheimdienstes, bei klaren Verdachts -momenten Spionage zu betreiben, um der Politik Mittel an die Hand zu geben, zuhandeln? Das ist ja gerade der Unterschiedzum Vorgehen der NSA, die alles und je-den ohne Verdachtsmomente berwacht,whrend der BND in Bezug auf die Trkeigezielt aufgrund von Indizien aktiv wurde. Sven Jsting, Hamburg

    intellektueller Trgheit der Kollegen.Herr Walther war nur deshalb in der Lage,den Fall Demjanjuk grndlich zu recher-chieren, weil ich ihn ber Monate hinwegvon smtlichen brigen Aufgaben freistell-te, die dann von diesen ihm in punctogeistlicher Beweglichkeit ebenbrtigenKollegen klaglos erfllt werden muss-ten. Meine Aussage, Auschwitz sei bei derJustiz gedanklich abgeschlossen gewesen,grndet sich auf dem Urteil des Bundes-gerichtshofs zu Auschwitz 1969. Eine der-art eindeutige Aussage des obersten deut-schen Gerichts ist fr die Ermittlungs -behrden nach einer Rechtsauffassung bindend, nach einer anderen zumindestrichtungsweisend. Bei uns kontrolliert dieRechtsprechung die Exekutive, nicht um-gekehrt. Ich habe in all den Jahren keineKritik seitens der Wissenschaft an diesemUrteil vernommen. Erst jetzt nach demUrteil gegen Demjanjuk melden sich ei-nige Professoren zu Wort. Das erscheintmir etwas billig. Kurt Schrimm, LudwigsburgLeiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen

  • Briefe

    Wer ist jetzt behindert?Nr. 34/2014 SPIEGEL-Gesprch mit dem Inklusions -

    kritiker Bernd Ahrbeck ber die bestmgliche Frderung

    behinderter Kinder

    Vielen Dank an Herrn Ahrbeck fr seinenMut zur Wahrheit. Mglicherweise steckthinter dem unsglichen Inklusions-Gleich-macherei-Gedns auch der ganz profanepolitische Sparwille. Denn wenn alle gleichsind, brauchen wir weder Sonder- oderFrderschulen noch deren Personal.Dirk Zahn, Hennigsdorf (Brandenb.)

    Die Inklusion wird scheitern, weil die Ln-der die ntigen finanziellen Mittel nichtzur Verfgung stellen knnen. Und weilInklusionskinder an der Regelschule meistschlechter gefrdert werden als an der Frderschule. Bernhard Sauerwein, Breuna (Hessen)Diplompdagoge und Frderschulrektor a.D.

    Mir ist noch kein Frderschler begegnet,dem es gefllt, als behindert bezeichnetzu werden, und der es vorzge, unter sei-nesgleichen zu bleiben. Die Lebenswirk-lichkeit setzt fr Kinder mit Behinderun-gen viel eher ein, wenn sie mit Nichtbe-hinderten zusammen sind. Und nicht nursie lernen sehr viel voneinander, sonderninsbesondere auch die Lehrer und Eltern,die sich so gemeinsam auf den Weg zu einer humaneren Gesellschaft machen.Dank den SPIEGEL-Redakteuren fr ihrepointierten und von Sachkenntnis und Un-voreingenommenheit geprgten Fragen.Regina Mannitz, Trier, Frderschulrektorin

    Ich bin behindert, und das ist gut so. Dochzum Glck geschah der Unfall erst nachmeinem Abi. Wenn ich mir vorstelle,welch ein endloser Kampf das wre, vomSchulbetrieb weiterhin in die gngigenSchablonen gepresst zu werden, als obman funktionierte wie normal! Nur weildiese Maschinerie aus Bequemlichkeit?aus Geld- und Zeitnot? nicht einsehenkann, dass man nicht so leistungsfhig ist.Wer ist denn jetzt behindert, h?Bernd Heydecke, Neukalen (Meckl.-Vorp.)

    Wenn zum Beweis, dass schulische Inklu-sion nicht gelingen kann, immer die Sch-ler herhalten mssen, bei denen es beson-ders schwierig erscheint, kann man dieDiskussion ber eine neue Schule gleichbeenden. Die vehemente Verteidigung un-

    Big Brother im AllNr. 34/2014 Wie realistisch ist es, den Wsten -

    planeten Mars zu besiedeln?

    Die Idee, oder besser gesagt das bldsin-nige Vorhaben, Menschen auf dem Marsanzusiedeln, halte ich fr vllig absurd.Allein die kosmische Strahlung, der einMensch im Raumflug dorthin ausgesetztwre, wrde zu einer Belastung fhren,als ob er 250-mal hintereinander mit einemRntgengert untersucht wrde. EineKrebserkrankung knnte die Folge sein.Ein Raumflug zum Mars wre deshalbnicht sehr lebenswert.Dipl.-Ing. Karl-Hermann Reich, Mellrichstadt (Bayern)

    Dieses Projekt erscheint mir finanziell wietechnologisch ein Luftschloss zu sein, dn-ner als die Marsatmosphre. Mglicher-weise knnte aber die mediale Beachtungfr Mars One Ansto fr ein multina-tionales staatliches Groprojekt einerMarsmission sein und damit doch der ersteSchritt zur Besiedlung des Planeten.Dr. Karsten Strey, Hamburg

    Die Summe von sechs Milliarden Dollarknnte man sinnvoller einsetzen, als sieins All zu schieen fr 24 Stunden BigBrother. Immerhin wrde dann die Weltdabei zuschauen, wie Menschen sterben. Johannes Raabe, Falkenthal (Brandenb.)

    Das Projekt ist unmoralisch und wider-spricht smtlichen Regeln der bemanntenRaumfahrt (human spaceflight).Joachim Kehr, Weling (Bayern)

    Die Redaktion behlt sich vor, Leserbriefe ge-

    krzt und auch elektronisch zu verffent lichen:

    [email protected]

    12 DER SPIEGEL 36 / 2014

    Korrektur

    zu Heft 33/2014, Seite 58 Eine Welt voller berfluss:

    Monika Griefahn, seinerzeit Umweltministerin in Niedersachsen, war anders als be-richtet niemals Mitglied der Grnen; auch ist sie nicht im Jahr 2012, sondern 2010 ausder Politik ausgestiegen. Sie hat berdies nie versucht, ihren Mann in einer Enquete-kommission unterzubringen.

    seres differenzierten Schulsystems unddie These, dass im Wesentlichen in der u-eren Selektion individualisiertes Lernenmglich ist, zeugen eher davon, dass Ahr-becks Einblick in die Welt der Regel- undFrderschulen sehr begrenzt ist.Gerd DahmBehindertenbeauftragter der Stadt Trier

    Kindern mit Beeintrchtigungen im kogni-tiven oder emotional-sozialen Bereich tg-lich in einem leistungsvergleichenden Sys-tem zu zeigen, wie sie niemals sein werden,grenzt an emotionale Grausamkeit.Nadja Gschwendtner, Schwanstetten (Bayern)

  • Die USA und mit ihnen die freie westliche Welt stehenvor einem moralischen Dilemma. Um die ebenso gru-seligen wie grausamen Kmpfer des IslamischenStaats (IS) zu besiegen, gengt es nicht, ein paar Bombenber dem Nordirak abzuwerfen. Der Krieg msste auch inSyrien gefhrt werden, wo die Dschihadisten groe Gebietekontrollieren und Sttzpunkte haben. Wie im Nordirak, wodie USA mit den Kurden kooperieren, braucht es auch dorteinen Partner, der ber den rasanten Wechsel der Machtver-hltnisse im Bilde ist und den Kampf auf dem Boden fortset-zen knnte. Dabei bieten sich zwei Partner an: die gemigtenRebellen der Freien Syrischen Armee und, ausgerechnet, Ba-schar al-Assad, der Prsident Syriens.

    Darf man das? Darf der Westen mit einem Mann koope-rieren, der lngst vor dem Kriegsverbrechertribunal stehensollte wegen Massenmords am eigenen Volk, wegen desEinsatzes von Giftgas? Darf er gemeinsame Sache mit einemmenschenverachtenden Regimemachen, um die Ausbreitung ei-nes noch ruchloseren Regimes zustoppen?

    Klar ist, dass der IS ebenfallsin Syrien gestoppt werden muss,auch wenn das nicht ohne Kolla-teralschaden geschehen kann undein Eingreifen der USA uner-wnschte Auswirkungen auf dieBrgerkriegsparteien haben drf-te. Die unfassbare Grausamkeitder Miliz, gepaart mit einemberbordenden Sendungsbewusst-sein, macht den IS zu einereinzig artigen Bedrohung auch frden Westen, einer weit greren,als Assad es jemals war. Das mag zynisch klingen, es ist deshalbnicht falsch.

    Kurzfristig mag es den Dschi-hadisten nur um die Grndungeines eigenen Staats gehen, desKalifats. Gelnge es wie beabsichtigt, wre dies bedrohlichgenug, denn dort bte sich islamistischen Terroristen ein Rck-zugsgebiet. Denn auch ber ihre langfristigen Ziele lassendie Grnder des Kalifatsstaats keinen Zweifel. Die IS-Milizenfhren einen mrderischen Kulturkampf. Sie begngen sichnicht damit, ihr eigenes Reich abzusichern, sie sind auf welt-weite Bekehrung und Vernichtung aus. Wir haben eure Sol-daten im Irak gedemtigt, sagte ein Pressesprecher des IS.Wir werden sie berall demtigen. Das ist der Wille Gottes.Wir werden die Flagge Allahs im Weien Haus hissen.

    Im Kampf gegen dieses Krebsgeschwr des 21. Jahrhundertssind viele Mittel legitim. Es ist auch den Anhngern von Demokratie und Menschenrechten nicht verboten, in Aus-nahmesituationen die eigenen Interessen zu ordnen und Prioritten zu setzen.

    Deshalb klingt es zwar paradox, wenn der Westen nuneine Zusammenarbeit mit Assad erwgt, den viele am liebstenschon lngst aus seinem Palast gebombt htten. Realpolitikernsind solche Gedanken trotzdem nicht fremd. Im Vergleichmit dem religisen Eifer und Wahn der IS-Milizen ist Assadserbrmlicher Kampf um die eigene Macht lokal klar begrenzt.Bei allen Grausamkeiten, die er an seinem Volk begangenhat und fr die er eines spteren Tages noch zur Verantwor-tung gezogen werden sollte, fehlt ihm der imperialistische,kreuzzglerische Antrieb des Islamischen Staats.

    Diesen Unterschied darf der Westen bercksichtigen, wennes um die Frage geht, ob Assad bei der Eindmmung des ISbrauchbar sein knnte. Oder wenn der Westen zuliee, dassAssad indirekt von Luftschlgen profitierte.

    Man wrde diesen Massenmrder dadurch weder rehabili-tieren noch moralisch aufwerten. Der alte Grundsatz, wonachder Feind meines Feindes zugleich mein Freund ist, muss

    nicht immer stimmen. Man wr-de Assad lediglich zum ntzli-chen Despoten erklren, um einhohes Interesse zu verfolgen. DieSicherheit kann in Ausnahme -situationen schwerer wiegen alsdie Durchsetzung von Menschen-rechten. Die Weltgeschichtekennt solche Kompromisse mitden eigenen berzeugungen. Esist furchtbar, sie schlieen zu mssen, fr die eigenen Ziele dieMoral beiseitezuschieben.

    Vielleicht ist eine direkte Ko-operation mit Assad aber garnicht ntig. Wre der Westen be-reit, einen alten Fehler zu korri-gieren, liee sich sogar beidesmiteinander vereinbaren: derKampf gegen die Dschihadistenund der Kampf gegen das syri-sche Regime. Die Freie SyrischeArmee (FSA) kmpft seit Jahres-

    beginn gegen die Soldaten des IS. Die FSA-Anfhrer habenebenfalls ein Interesse an US-Untersttzung aus der Luft.Die FSA knnte Amerika hnlich wertvolle Informationenfr Luftschlge liefern wie Assads Regime und zugleich denKampf auf dem Boden fortfhren. Im Gegenzug msste derWesten die FSA konsequent und nachhaltig untersttzen,auch mit Waffen. Dazu war er bislang nicht bereit. Auch indiesem Fall wrde Assad kurzfristig wohl von Luftschlgengegen den IS profitieren. Aber der Nutzen wre von be-grenzter Dauer.

    Deshalb bietet sich dieser Weg an: Es erst mit der FSA zu versuchen. Ist sie trotz Aufrstung nicht schlagkrftig genug, um den IS zu besiegen, muss man die schwere Fragediskutieren, was wichtiger ist: die Moral oder die eigenenInte ressen.

    14 DER SPIEGEL 36 / 2014

    Das syrische DilemmaDarf der Westen im Kampf gegen den Islamischen Staat mit Assad kooperieren?

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    Syrischer Rebell in Aleppo

    Leitartikel

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

  • Deutschland

    16 DER SPIEGEL 36 / 2014

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    Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskrzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel

    Rund 20 ehemalige Angehrige der Bundeswehr sind in dieKrisenregion in Syrien und im Irak gereist, um sich dort of-fenbar dschihadistischen Einheiten anzuschlieen. NachAngaben aus Sicherheitskreisen handelt es sich um ehema-lige Wehrdienstleistende. Sie sind fr Gruppierungen wiedie Terrormiliz Islamischer Staat (IS) besonders wertvoll,da der Groteil der rund 400 in die Region ausgereistendeutschen Dschihadisten keinerlei militrische Vorkenntnis-

    se hat. Der Militrische Abschirmdienst (MAD) betrachtetden Islamismus bei der Bundeswehr als zunehmendes Pro-blem: Erst krzlich versuchte ein ehemaliger Stabsunter -offizier, ebenfalls in die Krisenregion zu gelangen. Er warzuvor nach Ermittlungen des MAD wegen seiner islamis -tischen Ansichten aus der Bundeswehr ausgeschlossen wor-den. Die Sicherheitsbehrden konnten seine Ausreise bis-lang verhindern. fis, jdl

    Waffenexporte

    Umweg ber Bagdad

    Die Bundesregierung sttauf unvermutete Schwierig-keiten, den Kurden im Nord-irak die zugesagten Waffenund Schutzausrstung zu liefern. Nach dem Auenwirt-schafts- und dem Kriegswaf-fenkontrollgesetz muss derWirtschaftsminister die Liefe-rung genehmigen. Sigmar Gabriel bentigt dafr jedocheine schriftliche Erklrungaus Bagdad. Dort hat dieneue Regierung ihre Arbeitaber noch nicht aufgenom-men. Gabriel hatte in der ver-gangenen Woche bei einemTreffen mit Kanzlerin AngelaMerkel, Verteidigungsminis -terin von der Leyen und Auenminister Frank-WalterSteinmeier diplomatische

    Hilfe bei der Lsung des Pro-blems erbeten. Nun brtetdie Bundesregierung nachAngaben aus dem Auswrti-gen Amt ber einer rechtlicheinwandfreien Lsung. Dieknnte nach Einschtzungvon SPD-Sicherheitsexpertenbeinhalten, dass die deut-schen Transportflugzeuge zu-nchst in Bagdad zwischen-landen mssen und erst dannnach Arbil weiterfliegen, umdas Material zu entladen. red

    zivile Fernmeldeverbindun-gen und Richtfunkstrecken,ohne dafr eine gesetzlicheGrundlage zu haben, heit esin einem vertraulichen Prf-bericht. Es gebe zudem Dop-pelstrukturen, da der Bun-desnachrichtendienst eben-falls in den Einsatzgebietender Bundeswehr lausche.Diesbezgliche Vereinbarun-gen zwischen dem Auslands-geheimdienst und der Bun-deswehr mssten unverzg-

    lich berarbeitet werden.Kritik ben die Prfer aucham Militrischen Abschirm-dienst (MAD). Es sei zweifel-haft, ob nach einer Struktur-reform der Bundeswehr nochzwlf MAD-Standorte inDeutschland ntig seien.Grundstzlich msse die Sicherheitsarchitektur inDeutschland aus Kostengrn-den grundlegend reformiertwerden, fordert der Rech-nungshof. Gemeinsame Zen-tren verschiedener Dienstevon Bund und Lndern, etwagegen die Bedrohung durchislamistischen Terrorismusoder Rechtsextremismus, sollten an einem Ort zusam-mengelegt werden. Auch dasNebeneinander von Ver -fassungsschutzbehrden aufBundes- und Landesebene sehen die Prfer kritisch. gud

    Terrorismus

    Deutsche Ex-Soldatenim Dschihad

    IS-Kmpfer im Irak

    Abhranlage in Bad Aibling

    Bundesrechnungshof

    TeureGeheimdienste Der Bundesrechnungshof kritisiert die Auslandsauf -klrung der Bundeswehr. DasMilitrische Nachrichtenwe-sen berwache im Ausland

  • 17DER SPIEGEL 36 / 2014

    Der Amazon-Streit geht in diedritte Phase. Phase eins dasProblem wird erkannt. Mehre-re Verlage machen ffentlich,dass Amazon ihre Bcher beimOnlinevertrieb benachteiligt,um einen hheren Anteil amVerkaufspreis fr E-Books zuerpressen. Phase zwei Kritikwird laut. In mehreren Lndern

    erscheinen offene Briefe von Autoren, die Medien berichten. Phase drei eine Antwort wird gefunden.Sie lautet: Wenn Amazon so schlimm ist, sollen dieLeute ihre Bcher doch woanders kaufen.

    Das ist ein neuerdings beliebter Reflex auf drngen-de politische Fragen. Wer nicht von Geheimdienstenausgespht werden will, soll eben keine E-Mails schrei-ben. Wer nicht mchte, dass man ihm die Daten klaut,kann sich ja von Facebook und Google fernhalten.Wem die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrienicht gefallen, darf keine billigen Klamotten erwerben.

    Gewiss wre die Welt ein Stck gerechter, wenn dieKunden ihre Bcher bei den Leuten bestellen wrden,die die Arbeit machen. Amazon erhlt bis zu 50 Pro-zent vom Preis jedes verkauften Buchs. Zum Vergleich:Der Anteil der Autoren liegt bei rund 10 Prozent, der Gewinn der Verlage meist noch darunter. Beim E-Book bekommt Amazon derzeit nur knapp einDrittel dessen, was der Kunde zahlt. Das will Amazonndern.

    Die Wahrung seiner Geschftsinteressen drfte demKonzern nicht schwerfallen. Deutsche Publikumsver -lage beziffern den Marktanteil Amazons bei E-Booksauf bis zu 60 Prozent. Bei einem solchen Wert geht dasKartellrecht von einer marktbeherrschenden Stellungaus. Auf der anderen Seite muss es sich ein Verlegerzweimal berlegen, ob er auch nur eine Rundmail anseine Kollegen schreibt. In den USA wurden mehrereVerlage verklagt, die sich gegen Amazon zusammen -geschlossen hatten.

    Ntig wre deshalb eine Reform des Kartellrechts,das aus vordigitalen Tagen stammt. Dazu kme eineAngleichung von E-Books an den reduzierten Mehr-wertsteuersatz gedruckter Bcher (sieben Prozent).Und vor allem die Einfhrung einer gesetzlichen Ober-grenze fr den Anteil, den ein Hndler am Verkauf eines E-Books einfordern darf.

    Zu glauben, alle diese Probleme knne der Verbrau-cher lsen, ist naiv. Der Verbraucher hat noch nie einbel aus der Welt geschafft. Das wre in etwa so, alshtte man auf die Idee der Energiewende erwidert:Wer keinen Atomstrom mag, muss ja das Licht nichtanschalten.

    Es geht darum, ethische Standards unter neuen tech-nologischen Bedingungen zu bewahren. Diese zen -trale Aufgabe darf die Politik nicht auf die Konsumen-ten abschieben. Auch wenn es selbstverstndlich nichtschadet, ein E-Book direkt beim Verlag zu bestellen.

    An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nchste Wocheist Jakob Augstein an der Reihe, danach Jan Fleischhauer.

    Juli Zeh Die Klassensprecherin

    Seltsamer Reflex

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    Gring-Eckardt

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    32 StundenBei den Grnen bahnt sichneuer Streit in der Familien-politik an. Die Forderung von Fraktionschefin KatrinGring-Eckardt nach Einfh-rung der 32-Stunden-Wochefr Eltern von kleinen Kin-dern stt auf Widerspruch:Starre Gerste wie eine 32-Stunden-Woche werden derVielfalt der Bedrfnisse vonFamilien nicht gerecht, sagtdie familienpolitische Spre-cherin Franziska Brantner,selbst Mutter eines Kindes.Politik soll Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern er-mglichen, selbstbestimmtmit ihrer Zeit umzugehen.Brantner fordert arbeitszeit-liche Flexibilitt, aber im Sin-ne der Eltern und individuellausgestaltet. In dieser Wo-che veranstaltet die Grnen-Fraktion eine Tagung zumThema Zeit und Familie. Gring-Eckardt hatte in ei-nem Interview die Plne von BundesfamilienministerinManuela Schwesig (SPD) zurEinfhrung der 32-Stunden-Woche untersttzt. flo

    Internet

    Hacker bei denPiraten?Der Fund einer Spionage -software auf dem Rechner eines Piraten-Mitarbeiterssorgt fr Unmut unter denKollegen im DsseldorferLandtag. Mit dem ProgrammCain knnen Passwrter anderer Benutzer ausspio-niert werden. Tagelang wei-gerten sich die Piraten, denRechner herauszugeben.Schlielich rckten siebenBeamte des Landeskriminal-amts an. Sie fanden eine professionell gesuberte Festplatte, entdeckten aberbeim Wiederherstellen auchdas Spionageprogramm. Hinweise auf Datenmiss-brauch gibt es bislang nicht.Mysteris ist aber, wie dasProgramm berhaupt berdas gut gesicherte Netz desLandtags auf den Rechnergelangen konnte. Zugriff ha-ben nur dessen IT-Experten.Ein Hackerangriff wird jetztvermutet. Die Piratenspitzemuss darum am Mittwochvor dem ltestenrat antre-ten. Die geplante Wahl einerPiratin zur Vizeland tags -prsidentin, der hhere Be-zge und ein Dienstwagenmit Chauffeur zustehen, istjetzt erst einmal verschobenworden wegen des un -

    geheuerlichen Vorgangs,wie sich der SPD-Fraktions-chef Norbert Rmer em -prte. bas

  • Bundespolizei

    Faktisch pleiteDie Bundespolizei will knf-tig keine Miete mehr fr ihreLiegenschaften bezahlen.Weil die Finanzmittel wegeneiner Haushaltssperre ver-braucht sind, wrden schonab diesem Monat die ber-weisungen eingestellt. Das

    habe Vizeprsident FranzPalm bei internen Bespre-chungen unlngst angekn-digt, heit es unter Teilneh-mern. Davon betroffen seinicht nur die Bundesanstaltfr Immobilienangelegenhei-ten, die Huser und Grund-stcke im Bundesvermgenverwaltet und dem Finanz -ministerium untersteht, son-

    dern auch private Flughafen-betreiber wie Fraport inFrankfurt. An geblich mss-ten auerdem smtlicheBehrdenleiter tagungen undBesprechungen storniert wer-den, die mit Reise- und Un-terbringungskosten verbun-den seien. Die Bundespolizeiist laut Insidern seit Augustfaktisch zahlungsunfhig.

    18 DER SPIEGEL 36 / 2014

    Deutschland

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    Hartmut Mehdorn, 72, Chef des noch immer

    nicht erffneten Berliner Flughafens BER,

    ber den Rcktritt von Brgermeister Klaus

    Wowereit (SPD), dem BER-Aufsichtsratschef

    SPIEGEL: Sie haben oft mit Wowereit gestrit-ten. Freut Sie sein Abgang?Mehdorn: Ganz und gar nicht. Ich bedaureKlaus Wowereits Rcktritt sehr. Wir sindnicht immer einer Meinung, aber ich arbei-te ausgesprochen gern mit ihm zusammen.Im persnlichen Umgang ist er verlsslich,fair und ehrlich. Dank ihm kennt die WeltBerlin als weltoffene Metropole, nicht alspiefige Schrebergartenkolonie.SPIEGEL: Leider auch als Metropole ohneGroflughafen.Mehdorn: Ich meine, das stimmt nicht. Wirhaben zwei funktionierende und beliebteFlughfen. Richtig ist, dass viele wichtigeWeichen fr den BER vor Wowereits Amts-antritt falsch gestellt wurden. Er selbst hatsich fr das Projekt stets engagiert. VieleKontroversen verdanken wir auch der kom-plizierten Eigentmerstruktur, mit demBund, Berlin und Brandenburg als Gesell-schaftern, die jeweils eigene Interessen undbegrenzte finanzielle Mittel haben.SPIEGEL: Wowereit sieht die Versptung desFlughafens als seine grte Niederlage. Washat er als Aufsichtsratschef falsch gemacht?Mehdorn: Da wird etwas verwechselt: EinAufsichtsratschef ist kein Oberbauleiter. Er

    kontrolliert und bert die Geschftsfhrung,die allein fr alles Operative zustndig ist.So ist es berall auf der Welt auer beimBER. Der Flughafen ist eine politische Bau-stelle. Da werden Haltungsnoten verteiltwie beim Sport. Jeder wirft von der Auen-linie seinen Kommentar rein.SPIEGEL: Der Flughafen gehrt ja auch denSteuerzahlern.Mehdorn: Der Flughafen wird grtenteilsvon der Flughafengesellschaft selbst finanziert. Vor allem ist er ein industriellesGroprojekt, das nur funktionieren kann,wenn es nach wirtschaftlichen Prinzipienorganisiert wird.SPIEGEL: Was erwarten Sie von WowereitsNachfolger im Aufsichtsrat?Mehdorn: Wer ihm nachfolgt, ist eine Schls-selfrage fr den Flughafen. Jetzt ist die Gelegenheit fr einen personellen Richtungs -wechsel, vor allem mit dem angemessenenRollenverstndnis fr Eigentmer, Auf-sichtsrat und Geschftsfhrung.SPIEGEL: Was meinen Sie damit?Mehdorn: Beim BER werden laufend Politikund Sachthemen vermischt. Im Aufsichts-rat sind Politiker und Ministeriale mit Fragen konfrontiert, fr die sie nicht aus -gebildet sind. Wir sollten die Chance er-greifen, den Flughafen zu entpolitisieren.Es gehren mehr Mitglieder mit unter -nehmerischem Sachverstand in den Auf-sichtsrat. ama

    Gewerkschaften

    Verfassungsexpertegegen TarifeinheitDer frhere Bundesverfas-sungsrichter Udo Di Fabiohlt die Plne der GroenKoalition fr ein Gesetz zursogenannten Tarifeinheit frnicht verfassungsgem. Dieim Grundgesetz garantierteKoalitionsfreiheit wrde inihrem Wesensgehalt verletzt,wenn knftig nur noch dieje-nige Gewerkschaft mit denmeisten Mitgliedern in ei-nem Betrieb Arbeitskmpfefhren drfte. Zu diesemSchluss kommt der Staats-rechtler in einem Gutachtenfr die rzte-GewerkschaftMarburger Bund, das amFreitag vorgestellt werdensoll. Mit dem Papier will dieLobby der Krankenhausme-diziner die Plne von Bun-desarbeitsministerin AndreaNahles (SPD) stoppen, dasStreikrecht kleinerer Arbeit-nehmergruppen wie Fluglot-sen, Lokfhrer oder ebenrzte einzuschrnken. Vorallem die Wirtschaft dringtderzeit auf eine Regelung,um Dauerarbeitskmpfe inden Unternehmen zu verhin-dern. Das Di-Fabio-Gutach-ten ist heikel fr die Bundes-regierung, weil sie eine n-derung des Grundgesetzesdringend vermeiden will.Derzeit diskutiert eine Ar-beitsgruppe ber Details desGesetzentwurfs, der imHerbst vorgelegt werden soll.Annherung gibt es in erstenEinzelheiten: Knnen sichmeh rere Gewerkschaften im Betrieb nicht auf eine Zu-sammenarbeit einigen, sollknftig ein neutraler Drittereingeschaltet werden. Soknnte ein Notar ermitteln,welches die strkste Arbeit-nehmervertretung ist. Nurihm gegenber mssten dieGewerkschaften offenlegen,wie viele Mitarbeiter sie organisieren. Am Dienstagtrifft Bundeskanzlerin Ange-la Merkel beim MesebergerZukunftsgesprch die Spit-zen von Arbeitgebern undGewerkschaften. Dort solldas Thema besprochen wer-den. ama, cos, mad

    BER-Chaos

    Haltungsnotenwie beim Sport

  • 19DER SPIEGEL 36 / 2014

    Der Augenzeuge

    Ein Pfeil htte nicht gereichtHelmar Pohle, 45, arbeitet als Inspektor im

    Dresdner Zoo. Normalerweise bildet er Tierpfleger

    aus, betreut Bauprojekte in den Gehegen und

    kmmert sich um Futternachschub. Als sich ein

    Elchbulle in ein Brogebude verirrte, rckte

    Pohle mit dem Narkosegewehr aus.

    Der Elch stand in einem verglasten Durchgang eines Bro-hauses. Was ihn getrieben hat, in das Gebude zu gehen,wei nur der Wind. uerlich war er ruhig, salopp gesagt:einfach fertig. Theoretisch wei ich, wie junge Elchbullenticken. Aber wenn man vor einem steht, ist das doch im-mer eine individuelle Geschichte und diesen kannte ichnatrlich nicht. Deshalb habe ich getestet, wie er draufist. Zuerst habe ich versucht, ihn mit Laub zu locken.Dann bin ich durch ein Fenster in den Durchgang geklet-tert, um zu sehen, wie er reagiert. Da ist er hochgegan-gen und hat mit den Vorderhufen geschlagen. Weil rund-herum alles verglast war, habe ich mich zurckgezogen.Angst hatte ich nicht, ich war halt vorsichtig. Es dauerteein paar Stunden, bis der Transportcontainer da war. Mitdem Jagdpchter, dem Ordnungsamt und einer Tierrztinhatte ich besprochen, dass wir erst mal im Guten versu-chen, das Tier mit Blttern und Zweigen hineinzulocken.Weil das nicht geklappt hat, habe ich mit dem Gewehrzwei Narkosepfeile verschossen einer htte fr die Medikamentendosis nicht gereicht. Irgendwann lag dasTier so ruhig da, dass wir uns gefahrlos nhern konnten.Sicherheitshalber haben wir die Beine fixiert. Da warenein paar stmmige Feuerwehrleute und Polizisten, diehabe ich verpflichtet, beim Tragen mitanzupacken ins-gesamt acht Mann, glaube ich. So ein junger Elch wiegt ja locker weit ber 300 Kilo. Wir haben ihn gerettet, ohnedass jemand verletzt wurde. Das hat mich sehr gefreut.Aber ich wnsche mir, dass die Leute mehr Verstndnishaben. Schaulustige sind ein Problem. Manche sind sogarin dem Durchgang gewesen, bevor ich ankam. Das ist le-bensgefhrlich, und es stresst den Elch zustzlich. Der Le-bensraum der Tiere wird seit vielen Jahren kleiner, gleich-zeitig siedeln sich manche wieder bei uns an. Wir mssenlernen, mit solchen Gefahren umzugehen. Das war derdritte Elch in Dresden innerhalb von 15 Jahren. Wenn erdas Ganze gut berstanden hat, kann er bermorgenschon wieder hier stehen. Er wurde nach Ostsachsen ge-bracht, ich wrde gern erfahren, was aus ihm gewordenist. Aber es ist mir auch recht, wenn ich nie wieder wasvon ihm hre. Aufgezeichnet von Benjamin Schulz

    SPD

    Machnig wieder da

    Matthias Machnig, SPD-Viel-zweckwaffe, wird am 1. Ok -tober als Staatssekretr insBundeswirtschaftsministe -rium einziehen. Darauf ha-ben sich Minister Sigmar Gabriel und Machnig verstn-digt. Er wird die Nachfolgevon Stefan Kapferer (FDP)antreten, der zur OECD nachParis wechselt. Der 54-Jhri-ge ist damit fr zentrale The-men des Ressorts, darunterAuenwirtschaft, Mittelstand,Technologie, Digitales undRstungsexporte, zustndig.Machnig, einer der engstenpolitischen Vertrauten Ga-briels, hatte zuletzt im Willy-Brandt-Haus den Europa-Wahlkampf der SPD geleitet.Im November 2013 war er als

    Wirtschaftsminister in Th -ringen ausgeschieden. Zuvorwar bekannt geworden, dasser jahrelang Bezge aus seinerZeit als Bundes-Umweltstaats -sekretr bezogen hatte zu-stzlich zu seinem Gehalt alsLandesminister. Ursprngli-che Betrugsvorwrfe erhieltdie Staatsanwaltschaft jedochnicht aufrecht. red

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    Machnig, Gabriel

    Blick auf Deutschland

    Roman Kuniar, Berater des polnischen

    Prsidenten, ber die Zuverlssigkeit

    Deutschlands in der Ukrainekrise in

    der Tageszeitung Rzeczpospolita am

    26. August

    Wir mssen zur Kenntnisnehmen, dass wir in Fragender Regionalsicherheit aufDeutschland wegen seinerspeziellen Einstellung gegenber Russland nichtzhlen knnen.

    Gesundheit

    Finanzressort warntvor AusgabenplusDas Bundesfinanzministeriumwarnt vor knftigen Haus-haltsrisiken durch die gesetz -liche Krankenversicherung.Perspektivisch drften dieAusgaben der Krankenkassenerheblich schneller steigen alsihre Beitragseinnahmen,heit es in einem Sachstands-bericht zur Gesundheits -reform, den die Beamten vonRessortchef Wolfgang Schub-le (CDU) verfasst haben. DasPapier darf auch als Mahnungan dessen Parteifreund Ge-sundheitsminister HermannGrhe verstanden werden. Soerinnern die Haushaltsexper-ten an den Koalitionsvertrag,der eine umsichtige Ausga-benpolitik im Gesundheits-system versprochen hatte. Diese sei zwingend erforder-lich, sollen weitere Erhhun-gen des Bundeszuschussesund/oder steigende Zusatzbei-trge vermieden werden, sodas Finanzministerium. Vomnchsten Jahr an sinkt derfestgeschriebene Beitragssatzzur gesetzlichen Krankenver -sicherung von derzeit 15,5 auf14,6 Prozent. Arbeitnehmerund Arbeitgeber tragen davonjeweils die Hlfte. Kassen, diemit diesem Geld nicht aus-kommen, sollen von den Ver-sicherten aber zustzlich ei-nen Beitrag erheben, der sichan deren Einkommen orien-tiert. Derzeit verfgt die ge-setzliche Krankenversicherungnoch ber Reserven von rund30 Milliarden Euro. cos, rei

  • Deutschland

    Die offizielle Zhlung liegt bei 25.So oft hat die Bundesregierung seitNovember vergangenen Jahres ei-gens eine Erklrung zu einem Telefonatzwischen der Kanzlerin und Russlands Pr-sidenten Wladimir Putin herausgegeben.Schtzungen und Hinweise lassen eher anum die 35 direkte Gesprche glauben. Im-mer kreisten die beiden um die Ukraine,nie gelang der Durchbruch.

    Tausendmal berhrt, tausendmal ist nixpassiert, so ging vor 30 Jahren einmal eindeutscher Schlager. Die kleine Geschichte,die er erzhlt, hat ein Happy End. Die Ge-schichte zwischen Angela Merkel und Wla-dimir Putin hat bislang keines. Und aufdas Wrtchen bislang in diesem Satzwrde derzeit kaum jemand im Regie-rungslager bestehen.

    Die Krise in Osteuropa, zwei Flugstun-den von Berlin entfernt, geht in ihren zehn-ten Monat. Was mit dem Scheitern einesAbkommens zwischen der EuropischenUnion und der Ukraine begann,muss man jetzt einen Krieg nen-nen. Mit schweren Waffen wirdum Stdte und Drfer gekmpft,von strategisch wichtigen Anh-hen ist in Berichten der Militrsdie Rede. Und tglich sterben Sol-daten, sei es mit, sei es ohne regu-lre Uniform.

    Von Beginn dieser Krise an, die eher ins19. als ins 21. Jahrhundert zu passenscheint, war es Angela Merkel, die ihr ein-gespieltes Verhltnis zu Russlands Prsi-denten nutzte: um ihn wenigstens zu ver-stehen, um zu vermitteln, zu warnen. US-Prsident Barack Obama und die brigenEuroper folgten ihrer Linie.

    Aber sie hat nicht ins Ziel gefhrt. Ein Vorwurf wird der Kanzlerin daraus

    weder in der EU noch in der Nato gemacht.Doch beim Bndnisgipfel in dieser Wochewird sich Angela Merkel zwei Fragen stel-len mssen: Warum weiter mit einemMann reden, der sein Wort zu oft nichthlt? Was bedeutet es, wenn stetig ver-schrfte Sanktionen im Kreml keinen Ein-druck hinterlassen?

    Die Krise ist an jenem Punkt angelangt,den die Kanzlerin auf jeden Fall vermeidenwollte: dort, wo erst die eine und womg-lich dann auch die andere Seite aus der di-plomatischen Verhaltenslogik in eine mili-trische wechselt. Wladimir Putin scheint

    diesen Punkt berschritten zu haben, erlsst russische Truppen samt Gert in derOstukraine einsetzen. Und in der Natowchst der Druck auf Merkel, ganz andersals bislang zu reagieren.

    Wie sehr dieser Druck schon in den Ber-liner Kpfen wirkt, lie ein Sprecher Frank-Walter Steinmeiers am Freitag unfreiwilligerkennen, als er sagte: Der Auenminis-ter hat alles andere als ein schlechtes Ge-wissen, weil er versucht habe, eine diplo-matische Lsung zu finden. Neben ihm inder Bundespressekonferenz wand sich Re-gierungssprecher Steffen Seibert minuten-lang um den Begriff Krieg oder Inva -sion herum. Er blieb bei einer holprigenFormulierung, wonach sich die Berichteaus der Ostukraine zu einer militrischenIntervention addieren.

    Das nennt man wohl, in der Defensivezu sein.

    Merkel und Steinmeier stehen einer rus-sischen Fhrung gegenber, die mit ihnen

    zu spielen scheint. Mitte April liesich Wladimir Putin nach langemDrngen auf eine Konferenz inGenf ein, an der neben der EU undden USA auch die Ukraine teil-nahm. In der Abschlusserklrunghie es: Alle illegalen bewaffne-ten Gruppen mssen entwaffnet,alle illegal besetzten Gebude ih-

    ren rechtmigen Eigentmern zurckge-geben werden. Nichts dergleichen geschah.

    Spter forderte Putin am Telefon mitMerkel eine einseitige Waffenruhe, dieKanzlerin verwandte sich in Kiew dafr.Aber als die ukrainische Fhrung schlie-lich zustimmte, lie Putin zu, dass die pro-russischen Rebellen mehrere Grenzber-gnge einnahmen, ber die seitdem ncht-licher Nachschub aus Russland kommt.

    Wochen spter schickte Putin seinen Au-enminister zu einem Treffen nach Berlin,sobald der aber zurck in Moskau war,verirrte sich ein Militrkonvoi auf ukrai-nisches Gebiet. Und seit Wochen bemhtman sich in Berlin um eine OSZE-ber-wachung der ukrainisch-russischen Grenzemithilfe von Drohnen. 20 Beamte warenin Berlin damit beschftigt, die Gerte zubeschaffen sowie sechswchige Bedie-nungslehrgnge zu organisieren. Auch dasdrfte nun hinfllig sein.

    Es sind nur einige von vielen enttusch-ten Hoffnungen, die in Berlin aufgezhlt

    werden. Ob jeder der russischen Zge Teileines Plans ist oder spontane Reaktion auchauf interne Machtkmpfe, vermgen dieRusslandexperten der Regierung nicht zusagen. Inzwischen wird befrchtet, Putinwolle einen Korridor entlang der Schwarz-meerkste von der ukrainischen Ostgrenzebis nach Transnistrien im Westen abtrennen,also jene sdlichen Provinzen der Ukraine,die der Kreml als Neurussland bezeichnet.

    Moskau htte damit eine Landbrckezur Krim sowie eine direkte Verbindungzu den russischen Separatisten im mol-dauischen Transnistrien. Noch vor zweiWochen, als Merkel fr einen Kurzbesuchnach Lettland reiste, ging man in Berlindavon aus, dass es Putin nicht gelingenwrde, diesen Plan zu verwirklichen. Dassieht jetzt anders aus.

    In dieser Ratlosigkeit bleibt die offizielleReaktion der Bundesregierung weiter diealte. Man setze auf eine diplomatischeLsung und werde es weiter versuchen.

    Dazu gehren auch verschrfte Sanktio-nen der sogenannten Stufe 3. Sie wr-den dann ganze Branchen betreffen, nichtlnger nur ausgewhlte Personen, Gteroder Firmen, von denen mehr als hundertinzwischen auf der EU-Strafliste stehen.Wenn das berhaupt wirkt, dann nur miteinigem zeitlichen Abstand, rumt einMerkel-Berater kleinlaut ein.

    Reicht also Stufe 3, oder braucht esso etwas wie eine Stufe 4?

    Die Antwort darauf wird nicht aus denVerhandlungsslen der Europischen Uni-on kommen oder von einem EU-Gipfel-treffen wie dem am vergangenen Samstag.Sie liegt bei der Nato. In dieser Woche ta-gen die Staats- und Regierungschefs desBndnisses im Waliser Hotelkomplex Cel-tic Manor. Die Auen- und Verteidigungs-minister sollen auch dabei sein, ebenso derukrainische Prsident Petro Poroschenko.

    Bislang hatte Merkel fr ihre Strategiebreiten Rckhalt in der Nato. Sie konntedurchsetzen, dass als Nachfolger des kan-tigen Nato-Generalsekretrs Anders FoghRasmussen der geschmeidig-diplomatischeNorweger Jens Stoltenberg berufen wurde(siehe Seite 23). Aber der Wind dreht sich.Mit jeder neuen russischen Provokationwerden die Argumente derjenigen strker,die auf Konfrontation schalten wollen.

    In der vorvergangenen Woche musstedie Bundesregierung in diesem Streit erst-

    20 DER SPIEGEL 36 / 2014

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    Stufe vierRegierung Die monatelange Telefondiplomatie der Kanzlerin hat bei Russlands Prsident Putin nicht verfangen. In der Nato gewinnen die Hardliner Zulauf. Sie wollen vielmehr als nur neue Wirtschaftssanktionen und knnten sich jetzt erstmals durchsetzen.

  • Kontrahenten Putin, Merkel

  • mals zurckstecken. Polen und die balti-schen Staaten hatten darauf gedrngt, dassdie geplanten Beschlsse zu einer hherenNato-Prsenz in ihren Lndern nicht auto -matisch nach einem Jahr auslaufen. DieOsteuroper hatten in den Wochen zuvoralle Nato-Staaten auf ihre Seite gezogen,nur Deutschland nicht.

    Praktisch beschlieen will das Bndnisbeim Wales-Gipfel die weitere Entsendungvon jeweils einer Kompanie nach Polenund in die drei Balten-Staaten. Derzeit stellen die USA die insgesamt ntigen rund 600 Mann, die Bundesregierung hatsich intern bereit erklrt, bei der nchstenRotation nach sechs Monaten eine Kom-panie von 100 bis 120 Mann zu ersetzen.Zudem wird das Nato-Kommando in Stet-tin in einen hheren Bereitschaftsgrad versetzt und erhlt zustzliche Dienst -posten, auch dafr sind Bundeswehrsolda-ten zugesagt.

    Als rote Linie, ber die eine erhhteBndnisprsenz im Osten nicht gehen soll, gilt dabei vorerst noch die Nato-Russ-land-Grundakte von 1997. Darin verzich-tet die Allianz darauf, auf dem Gebiet desehemaligen Ostblocks zustzlich substan-zielle Kampftruppen dauerhaft zu statio-nieren.

    Die Akte zu kndigen knnte Stufe 4sein, aber damit auch das Risiko erhhen,in die militrische Logik eines neuen Kalten Krieges mit Russland zu verfallen.Das frchtet die Kanzlerin, die vorerst zurNato-Russland-Akte steht, und sei es nur,um sich diese letzte Eskalation des Westensso lange wie mglich aufzusparen.

    Polen und die baltischen Staaten werbentrotzdem fr den demonstrativen Bruchmit Moskau, und sie erhalten zunehmendUntersttzung. Kanada hat sich auf ihreSeite geschlagen, dort leben weit ber eineMillion Menschen ukrainischer Abstam-mung. Die Diplomatie stt angesichts

    der immer neuen russischen Aggressionenan ihre Grenzen, sagt sogar der Luxem-burger Auenminister Jean Asselborn. Esstellt sich die Frage, ob man bei Putin ber-haupt noch etwas auf dem Verhandlungs-wege erreichen kann. Mehrere osteuro-pische Regierungen kommen zu hn -lichen Schlssen.

    Die USA scheinen dagegen unentschlos-sen, heit es in Berliner Regierungskreisen.Mal neigten sie den Hardlinern zu, malder deutschen Position. Ihr Votum knnteentscheiden, vor dem Nato-Gipfel reist Pr-sident Obama nach Estland.

    In Berliner Regierungskreisen erwartetman auch deswegen einen Gipfel, dereine gewisse Dynamik entfalten knnte.Jetzt wird alles wieder auf den Tischkommen, sagt ein hochrangiger Diplo-mat. Putins Verhalten verschaffe denenAufwind, die die Nato-Russland-Akte amliebsten aufkndigen wrden trotz allerRisiken. So weit sind wir noch nicht, aberes wird mit jedem weiteren militrischenSchritt der Russen schwieriger, die deut-sche Position durchzusetzen.

    Offiziell hat die Nato erklrt, mehr alstausend russische Soldaten seien den Re-

    bellen in der Ostukraine zu Hilfe geeilt.Sprche eines Separatistenfhrers, wonachdiese Mnner alles Freiwillige seien, dieihre Ferien lieber im Krieg als am Strandverbrchten, werden nicht nur in Berlinals Verhhnung empfunden. Auch dastreibt die Politik in eine gefhrliche Es -kalation.

    Wenn die Entwicklung so weitergeht,dann werden politische Lsungen immerschwieriger, sagte Auenminister Stein-meier am Freitag. Und der stellvertreten-de Unionsfraktionschef Andreas Scho-ckenhoff fordert eine entschiedene Reak-tion der Nato. Es gibt eine neue Bedro-hung in Europa, auf die wir reagierenmssen. Die Nato muss sich wieder str-ker auf ihren ursprnglichen Auftrag, dieVer teidigung, konzentrieren. Auch wenn die Ukraine nicht Nato-Mitglied ist, wredas ein deutliches Signal an Moskau. Schockenhoff spricht sich zudem fr mehr Nato-bungen in Osteuropa aus, um Russland klarzumachen, dass man im Notfall schnell eingreifen knne. DieNato muss zeigen, dass sie nicht zahn-los ist.

    Die ukrainische Regierung wei, wel-chen Beweis solcher Entschlossenheit siefordern will, moderne Ausrstung fr ihreArmee. Waffenlieferungen sind ber-haupt nichts, woran die Bundesregierungdenkt, sagt ein Regierungssprecher dazu.Das allerdings hatte er Anfang August sinn-gem auch mit Blick auf den Nordirakerklrt. Binnen weniger als fnf Tagenrumte die Regierung ihre Position. Andiesem Montag wird der Bundestag Waf-fen fr die Kurden gutheien.

    Nikolaus Blome, Christiane Hoffmann,

    Ralf Neukirch, Christoph Schult

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    US-Soldaten in Polen: Die Diplomatie stt an ihre Grenzen

    Lesen Sie weiter zum Thema

    Interview mit dem Rosneft-Chef Seite 62

    Reportage aus der Ukraine Seite 80

    Tweet der kanadischen Nato-Delegation

    Orientierungshilfe fr russische Soldaten

  • Kurz nachdem der norwegische Mi-nisterprsident Jens Stoltenberg imvergangenen Jahr abgewhlt wor-den war, bekam er einen Anruf aus Berlin.Am Apparat meldete sich die deutscheBundeskanzlerin. Angela Merkel fragteden Sozialdemokraten, so erzhlt es Stol-tenberg, ob ich verfgbar wre fr inter-nationale Aufgaben. Merkel kam raschzur Sache. Sie erwhnte den Posten desNato-Generalsekretrs.

    In einer Zeit, in der das Bndnis berden richtigen Kurs gegenber Russlandstreitet, ist es eine kleine Sensation, dasssich die 28 Mitgliedstaaten innerhalb kr-zester Zeit auf den Nachfolger des DnenAnders Fogh Rasmussen einigten. AnfangApril, mitten in der Ukrainekrise, nomi-nierten die Nato-Botschafter Stoltenbergeinstimmig. Und das, obwohl er als ausge-sprochen russlandfreundlich gilt. BeimNato-Gipfel Ende dieser Woche in Waleswird er sich auf dem neuen Terrain pr-sentieren. Im Oktober soll er den Chefpos-ten des Bndnisses antreten.

    Dabei lag es alles andere als nahe, den55-jhrigen Sozialdemokraten aus Norwe-gen zum Nato-Generalsekretr zu machen.Stoltenberg ist auenpolitisch unerfahren.Andere Anwrter, der polnische Auen-minister Radek Sikorski oder der belgischeVerteidigungsminister Pieter De Crem, wa-ren ihm an Kompetenz und Expertise klarberlegen. Auerdem begann er seinepoli tische Karriere als erklrter Gegnerder Nato. Bei seiner Bewerbung fr denVorsitz der sozialistischen ParteijugendNorwegens forderte der damals 25-Jhrigeden Austritt seines Landes aus dem Bnd-nis. Die Rede war auch eine Kampfansagean seinen Vater Thorvald, den vormaligenVerteidigungsminister.

    Die Forderung geriet schnell in Verges-senheit. Auf seinem Weg zum Regierungs-chef konzentrierte sich der studierte Volks-wirtschaftler auf soziale und konomischeThemen. Deshalb kann Stoltenberg kaumauf ein internationales Netzwerk an Freun-den und Verbndeten zurckgreifen, ana-lysiert der Osloer Politologe Asle Toje.

    Und schlielich lag Stoltenberg langeber Kreuz mit der Nato-Fhrungsmacht,den USA. Als Chef seiner rot-grnen Koa -lition verkndete Stoltenberg nach einerUnterredung mit dem damaligen US-Pr-

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    Der SanfteVerteidigung Der knftigeNato-Generalsekretr Jens Stoltenberg ist das Gegenteil sei-nes Vorgngers Rasmussen: moderat und russlandfreundlich.

    sidenten George W. Bush der ffentlich-keit, er habe dem Amerikaner angekn-digt, die norwegischen Soldaten aus demIrak zurckzuziehen. Doch die beiden Politiker hatten darber so nicht gespro-chen, wie die norwegische Presse spterberichtete. Bush hielt ihn seitdem fr einenLgner, wollte ihn nicht mehr treffen odermit ihm telefonieren.

    Das Verhltnis besserte sich erst unterBushs Nachfolger, Barack Obama. Stolten-berg traf den US-Prsidenten, bevor derim Rathaus von Oslo den Friedensnobel-preis verliehen bekam. Die Chemie zwi-schen beiden stimmte. Als Stoltenberg imFebruar dieses Jahres den entscheidendenAnruf aus dem Weien Haus erhielt, gingalles sehr schnell. Er msse sich innerhalbvon 24 Stunden entscheiden, teilte ihmWashington mit. Befrchtungen, es knnein der zerstrittenen Nato zu viele Gegnergeben, die ihn am Ende verhinderten, zer-streute Obamas Sicherheitsberaterin SusanRice spter: Der Prsident ist Ihr persn-licher Wahlkampfleiter.

    Doch ein Kampf war gar nicht ntig.Ausschlaggebend war die Rolle, die Stol-tenberg in dem tragischsten Moment inNorwegens Nachkriegsgeschichte spielte:nach dem Anschlag von Oslo und demMassaker auf der Insel Utya, bei denen

    * Nach dem Anschlag auf seinen Regierungssitz.

    insgesamt 77 Menschen ums Leben kamen.Beeindruckt nahm die Welt zur Kenntnis,wie besonnen Stoltenberg reagierte, als inseinem Volk Wut und Rachegefhle hoch-schlugen. Unsere Antwort lautet: mehrOffenheit und mehr Demokratie, sagteer am Tag nach den Anschlgen. Seitherverband sich fr die Weltffentlichkeit seinGesicht mit Standhaftigkeit, aber auch mitgroer Menschlichkeit und Empathie.

    Nun muss Stoltenberg die Nato mittenin der sich immer weiter zuspitzenden Kri-se mit Russland bernehmen. Sein Vorgn-ger Rasmussen hatte die ffentlichkeit undmanche Mitgliedstaaten wiederholt mitscharfen uerungen in Richtung Moskauirritiert. Rasmussen galt als Scharfmacher,Kriegstreiberei wurde ihm vorgeworfen.

    Stoltenberg ist dagegen einer, der nichtauf Konfrontation setzt. Er vermeidetKonflikte, sagt PolitikwissenschaftlerToje. Der Charakterzug sei so stark in ihmausgeprgt, dass er in Konfliktsituationenschon mal einfach das Telefon nicht abhe-be. So berichten es jedenfalls Vertraute.

    Diese Masche wird der Norweger, dereinst einen jahrzehntelangen Grenzkon-flikt mit Russland auf dem Verhandlungs-wege lste, nicht beibehalten knnen.Schon beim Nato-Gipfel diese Woche wirddas Bndnis wohl nicht nur die Wortwahlgegenber Moskau verschrfen.

    Christoph Schult, Gerald Traufetter

    Ministerprsident Stoltenberg 2011*: Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie

  • Staatschef Hollande bei Gedenkfeiern in der Bretagne am 25. August

    Er hat von Angela Merkel immer wieder das Gleiche verlangt und ist immer wieder abgeblitzt.

  • Deutschland

    Die Kanzlerin blickt auf den erregtenFrager wie auf ein seltsames Insekt.Das orangefarbene Mikro in derLinken, die Augenbrauen weit hochgezo-gen, sucht sie in ihrem Sessel auf der Bh-ne des Berliner Ensembles so groen Ab-stand wie mglich zum Journalisten desMagazins Cicero. Der hatte, mit ruderndenArmen, gerade von der Verletzung derFranzosen gesprochen, die in Europa ge-genber Deutschland so sehr zurckgefal-len sind. Hlt Deutschland diese Rolleaus?, wollte er von ihr wissen.

    Na ja, antwortet Angela Merkelschlielich. Auch andere leisten sehrviel. Und was genau tun die Franzosen?Als Antwort fallen Merkel, nach einemweiteren Zgern, Mali und Zentralafri-ka ein, die franzsischen Militrinterven-tionen in Afrika. Darber hinaus gibt esvon ihr an diesem vergangenen Mittwoch-abend keine aufbauenden Worte. Sie hltdie Botschaft bereit, die sie seit Jahren ver-kndet: Das Nachbarland msse seineStrukturprobleme lsen, dann knneFrankreich auch wieder vorne sein.

    Dass franzsische Soldaten kmpfen,wo Deutschland hchstens ein paar Flug-zeuge beisteuert, darber freuen sich vieleFranzosen tatschlich. Aber diese kleineGenugtuung lindert nicht das im ganzenLand verbreitete Gefhl, von den Deut-schen abgehngt worden zu sein. Nicht zu-letzt deshalb wankt der deutsch-franzsi-sche Pfeiler, auf dem die EU seit ihrerGrndung ruht. Beide Seiten halten insge-heim nach neuen Verbndeten Ausschau.

    Viele regierende Sozialisten suchen dieSchuld an Frankreichs Misere, anders alsMerkel, nicht bei sich selbst und den aus-bleibenden Strukturreformen. Sondern beider Wirtschaftspolitik der Deutschen. Ge-spalten ist die franzsische Linke dabeivor allem in einer Frage: Wie laut soll mandas sagen? Und so ist die franzsische Re-gierung vergangene Woche gewisserma-en ber Angela Merkel gestrzt.

    Prsident Franois Hollande entlie amMontag alle Minister, denn sein PremierManuel Valls wollte endlich seinen Wider-sacher vom linken Flgel loswerden: Wirt-schaftsminister Arnaud Montebourg hattesich zuvor lauthals ber die Austerittin Europa beklagt und gefordert, die Re-gierung drfe sich nicht mit den Ob -sessionen der deutschen Rechten gemein-machen.

    Das Ergebnis ist: Frankreich hat nuneine neue Regierung, die sich so einhellig

    fr Reformen ausspricht wie keine zuvor.Doch zugleich will Prsident Hollande denDruck auf Deutschland erhhen, seineWirtschaftspolitik grundlegend zu ber-denken. Er mchte Merkel dazu bringen,einer Lockerung der Stabilittskriterienzuzustimmen. Vergangene Woche verlang-te er gar nach einem EU-Sondergipfel, umWachstumsmanahmen zu beschlieen.Das heit etwa: mehr staatliches Geld indie Wirtschaft zu pumpen, so wie die Fran-zosen es traditionell machen.

    Im Kern geht es um die wirtschaftspoli-tische Glaubensfrage, um die seit Beginnder Eurokrise gestritten wird. Das Kanz-leramt verlangt von den europischen Kri-senlndern Strukturreformen, gepaart miteiner strikten Sparpolitik. Dagegen fordertder Elyse-Palast eine flexiblere Auslegungdes europischen Stabilittspaktes, um dieWirtschaft anzukurbeln und Reformensollten vielleicht spter folgen. Bislang hiel-ten sich in der EU die Anhnger beiderLager die Waage. Doch zuletzt gewann Pa-ris unerwartete Verbndete.

    Zu den Befrwortern einer neuen Poli-tik gehren nicht nur Hollande und derenergische italienische MinisterprsidentMatteo Renzi. Der neue Kommissionspr-sident Jean-Claude Juncker mchte die Re-geln des Stabilittspaktes ebenfalls so fle-xibel wie mglich auslegen. Die USA undder internationale Whrungsfonds uernsich hnlich.

    Beim Treffen der Nobelpreistrger inLindau am Bodensee kritisierten die an-wesenden Wirtschaftswissenschaftler ein-hellig Merkels Rezepte. Dem Kontinentdrohe eine dauerhafte Wachstumsschw-

    che, wenn die Defizitregeln so streng ge-handhabt wrden. Angesichts der gegen-wrtigen Teuerungsrate von 0,4 Prozentwarnen einige vor Deflation also dauer-haft sinkenden Preisen. Die grten Pessi-misten befrchten gar, dass die Eurokrisewiederkehren knne.

    Merkel und Finanzminister WolfgangSchuble sind dagegen berzeugt, dass derEuroraum davon weit entfernt ist. Sie wol-len am bisherigen Kurs festhalten und se-hen zugleich besorgt, wie berall bisherigeGewissheiten ins Wanken kommen: DieBundesbank pldiert fr hhere Lhne,die Europische Zentralbank (EZB) fr In-vestitionsprogramme.

    Besonders beunruhigt ist die Bundes -regierung ber die Haltung von EZB-ChefMario Draghi. Der Italiener hatte krzlicheine Rede vor Geldpolitikern aus allerWelt im amerikanischen Jackson Hole gehalten unter den Gsten war auchJanet Yellen, Chefin der amerikanischenNotenbank Fed. Zum Erstaunen seinerZuhrer ermunterte Draghi die Regierun-gen der Eurozone, ihren Volkswirtschaf-ten mit untersttzender FiskalpolitikSchub zu verleihen. Das heit: Schuldenmachen, um wachstumsfrdernde Ma-nahmen zu finanzieren, wie es auch Hol-lande fordert.

    Und so kam es vergangene Woche zueinem in jeder Hinsicht erstaunlichen Te-lefongesprch: Merkel griff zum Hrer, umDraghi zur Rede zu stellen. Gewhnlichachten deutsche Kanzler und Finanzminis-ter penibel darauf, sich nicht in Angele-genheiten der EZB einzumischen. Die Un-abhngigkeit der Notenbank zhlt zurdeutscher Staatsrson.

    Was er damit gemeint habe, wollte Mer-kel am Telefon von Draghi wissen. Bedeu-te die Rede etwa eine Abkehr der EZBvon der vereinbarten Sparpolitik? Dannstnde sie endgltig allein da.

    Der Italiener wand sich. Er verwies darauf, dass er in seiner Rede direkt imAnschluss weitere Strukturreformen in denschlingernden Lndern der Eurozone ge-fordert habe. Von einem Kurswechsel kn-ne deshalb keine Rede sein. Um die auf-gebrachten Deutschen zu besnftigen, riefDraghi anschlieend auch noch Finanzmi-nister Schuble an. Wieder bestand seineBotschaft vor allem aus Abwiegeln.

    Offiziell will die Bundesregierung dieAngelegenheit nicht kommentieren. Hin-ter vorgehaltener Hand geben sich Regie-rungsvertreter hemmungsloser. Wir ver-

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    Eine Frage des GlaubensEuropa Der Streit ber die deutsche Sparpolitik ist neu entbrannt. Frankreichs Prsident Hollandefordert ein Konjunkturprogramm, Kanzlerin Merkel stellt sich gegen EZB-Chef Draghi.

    Finanzminister Schuble

    Am Telefon beschwichtigt

  • stehen Draghi nicht so, wie er derzeit ver-standen wird, sagt einer. Sollte er abertatschlich Investitionsprogramme fordern,so wre es falsch.

    Finanzminister Schuble sprach sich amvergangenen Freitag in Paris ffentlich ge-gen eine Intervention der EZB aus. Auchan anderen Fronten kmpft das Kanzler-amt gegen den Verlust der Deutungshoheitan: ber Wochen versuchte es, den Fran-zosen Pierre Moscovici im Amt des Wh-rungskommissars zu verhindern der hatteals Finanzminister keinen einzigen EU-konformen Haushalt vorgelegt. Aber nachInformationen des SPIEGEL hat Berlin die-sen Kampf aufgegeben, Merkel hat sich in-zwischen damit abgefunden, dass Mosco-vici das Amt wohl bekommen wird.

    Allerdings soll ihm ein Aufpasser zurSeite gestellt werden. Juncker will einenhaushaltspolitischen Hardliner aus demNorden Europas zum Vizeprsidenten derKommission ernennen. Dieser soll demWhrungskommissar vorgesetzt sein. Fa-vorit fr den Vizeposten ist der ehemaligefinnische Premier Jyrki Katainen.

    Angela Merkels Kritiker werden zahl-reicher sie selbst widerspricht deren Ein-schtzung der Lage jedoch fundamental.Wenn sie sich im Kanzleramt zu Gespr-chen ber die Lage in der Eurozone trifft,hat sie nicht selten eine kleine Mappe mitGrafiken und Tabellen dabei. Sie zeigen,dass sich seit geraumer Zeit wichtige Kenn-ziffern von Krisenstaaten wie Portugal,Spanien oder Griechenland positiv entwi-ckelt haben. Dann fhrt die Kanzlerin mitdem Zeigefinger die bunten Linien fr je-des Land entlang, die etwa bei Haushalts-defizit und Lohnstckkosten fast immerin die richtige Richtung gehen.

    Nur bei Frankreich ist das anders.Wachstum null, Wettbewerbsfhigkeitschwindend, Arbeitslosigkeit steigend, De-fizit seit Jahren ber der Grenze von dreiProzent der Wirtschaftsleistung. Aus Sichtder Kanzlerin ist Frankreich heute das, was

    Deutschland vor gut zehn Jahren war: derkranke Mann Europas.

    Prsident Hollande hat bis auf eine be-scheidene Reform des Arbeitsrechts bisherkaum etwas zustande gebracht. Die Um-setzung des bislang grten Vorhabens,die in diesem Jahr gro angekndigte Sen-kung der Lohnnebenkosten durch Spar-manahmen in Hhe von 50 MilliardenEuro, ist weiter ungewiss.

    Als Hollande vergangene Woche seineneue, reformfreundliche Regierung er-nannte, zeigten Regierungsmitglieder undhohe Beamte in Berlin deshalb einhelligRespekt. Hollande riskiert etwas, end-lich, sagt ein Minister im kleinen Kreis.Ein Kabinettsmitglied spricht von derletzten Chance, die Hollande hat.

    Doch selbst notorische Optimisten inBerlin sehen geringe Chancen auf einenraschen Kurswechsel. Denn im franzsi-

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    schen Parlament verfgen die Sozialistennur ber eine Mehrheit von zwei Stim-men damit kann der linke Flgel umstrit-tene Vorhaben jederzeit boykottieren.

    Fr Frankreich ist es nicht fnf vorzwlf, es ist zwlf, sagt der Vorsitzendedes Europaausschusses im Bundestag, Gun-ther Krichbaum. Es gibt nicht wenige imRegierungslager, die Frankreichs Staats-chef politisch regelrecht abgeschrieben ha-ben. Es ist wahrscheinlich zu spt, Hol-lande hat einfach zu viel Zeit verloren,sagt ein hoher Regierungsbeamter.

    Besonders gut kommt in Berlin der neueWirtschaftsminister Emmanuel Macron an:Er ist erst 36, war einst Rothschild-Bankerund versuchte Hollande schon frher aufReformkurs zu drngen. Macron war einerklrter Gegner der berchtigten 75-Pro-zent-Steuer auf Einkommen von ber ei-ner Million Euro, die Hollande im Wahl-kampf versprach. Sein Land wrde einKuba ohne Sonne, lsterte er damals. ImKanzleramt kennt man Macron gut undschtzt ihn er hatte im Elyse als Wirt-schaftsberater des Prsidenten gearbeitet.

    Doch auch er ist ein Kritiker der Berli-ner Fiskalpolitik. Gleichzeitig gilt Macronzwar als eindeutiger Anhnger von Struk-turreformen. In einem Interview kurz vorseiner Ernennung vergangene Woche regteer eine Lockerung der 35-Stunden-Wochean und musste sich von Premier Vallsdeshalb prompt zurckpfeifen lassen.Doch zugleich hat Macron in Hintergrund-gesprchen klargemacht, dass Deutschlandzu viel Wert auf die Einhaltung der Defi-zitregeln lege.

    Das liegt daran, dass in Frankreich eingrundlegend anderes Verstndnis vonstaatlicher Wirtschaftspolitik vorherrscht nicht nur bei der Linken, sondern auch beiKonservativen glaubt man an eine flexib-lere Geldpolitik. Und dennoch verwundertdie franzsische Dauerkritik: Denn andersals in Griechenland oder Spanien, die Hilfs-programme in Anspruch nahmen, herrsch-te in Frankreich zu keinem Zeitpunkt auchnur annhernd so etwas wie Austeritt seit 2008 hat keine Regierung die Defizit-regeln eingehalten, das wird auch in die-sem Jahr nicht der Fall sein. 2015 und 2016wohl ebenfalls nicht.

    Die Bundesregierung wird bald vor ei-nem Dilemma stehen: Soll man ein EU-Verfahren gegen den wichtigsten Partneruntersttzen und Hollande damit eine wei-tere Demtigung zufgen? Oder wre esbesser, die Regeln fr Frankreich weiterhingrozgig zu interpretieren? Das wrdeaber den Vorwurf besttigen, nur die klei-neren Mitgliedslnder mssten sich an dieVorgaben halten.

    Im Auswrtigen Amt wird dafr pldiert,mit den Franzosen milde umzugehen. Diehohe Nervositt im Kanzleramt, die allesbetrifft, was eine angebliche Abkehr vom

    Notenbanker Draghi, Yellen

    Abkehr von der vereinbarten Sparpolitik?

    Partner Merkel, Hollande: Einfach zu viel Zeit verloren

  • Deutschland

    Sparkurs angeht, ist wenig hilfreich, heites dort. Wir mssen den Franzosen Luftzum Atmen geben. Es sei undenkbar, dassdas stolze Frankreich die vorgesehenenGeldstrafen akzeptieren wrde.

    Andererseits wei man auch in der Um-gebung von Auenminister Frank-WalterSteinmeier, dass die EU Paris einen ekla-tanten Versto gegen die Kriterien nichteinfach durchgehen lassen kann. Die fran-zsische Regierung hat unsere volle Un-tersttzung auf ihrem Reformweg ver-dient, sagt der Staatsminister im Auswr-tigen Amt, Michael Roth. Sie steht jetztunter groem Erfolgsdruck. Die europi-schen Regeln gelten fr alle Mitglied -staaten.

    Die Franzosen mchten die Regeln amliebsten fr alle aufweichen um nicht al-lein dazustehen, aber auch aus berzeu-gung. Der italienische MinisterprsidentRenzi hat mit Hollande gemeinsam denVorschlag gemacht, sogenannte staatlicheZukunftsinvestitionen aus dem Defizit herauszurechnen.

    Aber auch die Deutschen suchen nachneuen Verbndeten. Bei den Verhandlun-gen zum EU-Haushalt fr die kommendenJahre machte die Bundesregierung mit Briten und Skandinaviern gemeinsame

    Sache, um die Ausgabenwnsche aus densdeuropischen Staaten und aus Frank-reich abzuwehren. Zugleich umgarnt Merkel die spanische Regierung, lobt de-monstrativ deren Reformen und will denspanischen Wirtschaftsminister Luis deGuindos in das einflussreiche Amt des Eurogruppenchefs hieven.

    Die entscheidende Frage aus deutscherSicht ist, ob es Frankreich und Italien mitden Strukturreformen wirklich ernst mei-nen. Denn nur damit knnten sie Merkelbeeindrucken. Renzi hat zwar ein gewalti-ges Reformprogramm angekndigt, das al-lerdings aus politischen Grnden bereitsins Stocken geraten ist. Die Franzosen ha-ben ihrerseits bisher jedes Jahr Schuldengemacht und smtliche Versprechen gebro-chen dennoch verharren sie in politischerLhmung.

    Der Teufelskreis, den Franois Hollandeund seine Regierungen bisher nicht zudurchbrechen wagten, sieht so aus: Zwarbeteuerten sie stets, eine serise Haus-haltspolitik anzustreben. Weil die Wirt-schaft seit Jahren kaum wchst, wolltensie aber nicht massiv bei den Ausgabensparen um eine Rezession zu vermeiden.Zugleich wollten sie jedoch auch struk -turelle Reformen nur ganz behutsam

    angehen, um die sozialistische Basis nichtzu verschrecken was dann beschlossenwurde, reichte bei Weitem nicht aus, umdie Wirtschaft anzukurbeln.

    Die linken Whler Hollandes warentrotzdem sauer: Es reichte, dass der Prsi-dent sich verbal zu einer als neoliberalempfundenen Reform- und Sparpolitik be-kannte, auch wenn er sie nicht umsetzte.

    So hat Hollande es geschafft, alle glei-chermaen zu enttuschen: die einen mitseinen Ankndigungen, die anderen mitseiner Unttigkeit und alle gemeinsam mitder schlechten Figur, die er dabei machte.

    Nun ist er wieder bei der Forderung ge-landet, mit der er seinen Wahlkampf be-stritt. Er wolle Europa neu ausrichten,sagte er damals und verlangte ein Endeder Austeritt. Damit verstimmte erMerkel so sehr, dass sie ein Treffen vorder Wahl verweigerte.

    Seither hat Hollande von ihr immer wie-der das Gleiche verlangt und ist immerwieder damit abgeblitzt. Vielleicht hat er die ganze Zeit gehofft, dass am Endederjenige recht bekommt, der sich oft genug wiederholt.

    Nikolaus Blome, Ralf Neukirch,

    Christian Reiermann, Mathieu von Rohr, Christoph Schult

  • Deutschland

    SPIEGEL: Frankreichs Staatsprsident Fran-ois Hollande hat die Regierung umgebil-det und auf seinen Sparkurs verpflichtet.Kommt jetzt mit Jahren Versptung diefranzsische Variante einer Agenda 2010?Schulz: Warum versptet? Franois Hol -lande hat schon vor lngerer Zeit mit demsogenannten Verantwortungspakt Refor-men begonnen. Durch die jngste Regie-rungsumbildung und die zentrale Rolle desWirtschaftsministers Michel Sapin werdendiese jetzt verstrkt.SPIEGEL: Warum hat Hollande so zaghaftbegonnen?Schulz: Das hat er nicht. Unmittelbar nachseiner Amtsbernahme hat er zum Bei-spiel eine Steuerreform verkndet, die gro-e Einkommen belastet. Das war keineKleinigkeit, wie man an der Steuerfluchtvon Grard Depardieu ins Ausland sehenkonnte.SPIEGEL: Was Hollande und Sie Reformpro-gramm nennen, hat aber kaum Frchte getragen. Der Widerstand ist betrchtlich,die Kabinettsumbildung ist schon die zwei-te binnen weniger Monate.Schulz: Hollande hat eine Erblast zu bewl-tigen. Die Krise begann schlielich nichtmit seiner Regierungsbernahme. Deshalbwird es dauern, bis die Reformen um -gesetzt sind. Die deutsche Agenda 2010war anfangs auch hoch umstritten, erstheute ernten wir die Frchte. Richtig istallerdings, dass sich Reformen nicht in jedem Land auf die gleiche Art durchset-zen lassen.SPIEGEL: Warum ist es in Frankreich schwie-riger?Schulz: Auf den ersten Blick ist es in Frank-reich sogar leichter, denn das zentralisti-sche System der Fnften Republik verleihtdem Prsidialamt, zumindest auf dem Papier, eine enorme Machtflle. Aber dieWirklichkeit ist komplizierter. Die franz-sische Gesellschaft ist gespalten. Frank-reich ist ein stark klientelistisch organisier-tes Land. Es leidet, wie ich finde, sehr un-ter der Polarisierung in der Politik. Daslsst wenig Kompromisse zu. Wir habenin Deutschland den Vorteil, dass unser fderales System mit Bundestag und Bun-desrat unterschiedliche politische Strmun-gen dazu zwingt, im Gesetzgebungsver-fahren zusammenzuwirken.SPIEGEL: Gibt es neben den strukturellenauch psychologische Barrieren, die Refor-men in Frankreich erschweren?Schulz: Der Blick der Franzosen auf sichselbst hat oft mit der Realitt im Land

    nichts zu tun. Frankreich ist in der vergan-genen Woche an die Mrkte gegangen undhat negative Zinsen bekommen. SPIEGEL: Die Anleger verzichten mithin aufZinsen und zahlen Frankreich stattdesseneine Prmie, weil sie ihr Geld dort fr sehrsicher halten.Schulz: Man sieht also: Das Vertrauen derInvestoren in das Land ist vorhanden, aberdie Brger sind trotzdem verunsichert. Ichnenne das eine Identittskrise.SPIEGEL: Ein Minderwertigkeitskomplex?Schulz: Nein. Es hat sich in Frankreich eineArt Krisenrhetorik entwickelt, die so dra-matisch daherkommt, dass die Leute ihr

    glauben. Das ist nicht gerechtfertigt. Bis-lang hat Frankreich alle seine Krisen amEnde sehr gut gemeistert. In den Sechzi-ger- und Siebzigerjahren hat das Land in der TelekommunikationstechnologieMastbe gesetzt. Auch wenn die Nuklear-technologie umstritten ist, war Frankreichin der Energieversorgung eines der fhren-den Lnder. Oder denken Sie an die Entwicklung der Hochgeschwindigkeits -zge, da war Frankreich Pilotland. Das Potenzial, das dieses Land hat, ist unge-heuer gro.SPIEGEL: Haben Franzosen andere Erwar-tungen an den Staat und an die Politik alsDeutsche?

    Schulz: Der Glaube an einen starken Staatfindet sich in allen politischen LagernFrankreichs. Aufgabe der Republik ist nachMeinung der allermeisten Franzosen derSchutz der Nation. Jedes auch nur schein-bare Abrcken von der Frsorgepflicht desStaates kann sofort als Verrat an den Prin-zipien der Nation denunziert werden.SPIEGEL: Warum fallen Proteste in Frank-reich rabiater aus als in Deutschland? Schulz: In einem Land, das 1793 seinen K-nig hingerichtet hat, herrscht eine gewisseTradition der Unbotmigkeit. ber dieDeutschen soll Lenin ja gesagt haben:Wenn sie einen Bahnhof strmen wollen,kaufen sie sich erst mal eine Bahnsteig -karte. Die Geschichte der franzsischenNation der letzten 200 Jahre ist eine Ge-schichte von Revolten. Die Ablsung derVierten Republik war ein Akt hart am Ran-de des Staatsstreichs. Radikale Strmun-gen, selbst wenn es nur kleine Gruppensind, werden in Frankreich als legitim emp-funden.SPIEGEL: Sind das nicht alles Ausreden?Mangelt es den franzsischen Politikernnicht einfach an Mut?Schulz: Wir mssen Reformen in Europavon Land zu Land unterschiedlich durch-fhren. Man kann sich nicht einfach aufden Standpunkt stellen: Was wir gekonnthaben, muss dort auch gehen. Aus deut-scher Sicht muss man zunchst einmal dastun, was zwischen Freunden das Wichtigs-te ist: Franois Hollande vertrauen. Ihmsagen: Wir glauben dir, dass du diese Re-formen durchfhren willst, und wir sehendie Schwierigkeiten.SPIEGEL: Angesichts einer Rekordarbeits -losigkeit und eines Schuldenstands, dernicht sinken will, fllt es schwer, Hollandezu vertrauen.Schulz: Wenn in Berliner Amtsstuben, imBeraterstab von Regierungsmitgliedern,bei jeder Aktion, die von Paris angekn-digt wird, sofort eine negative Kommen-tierung stattfindet, dann ist das nicht Ko-operation, sondern Konfrontation. Dasfhrt dazu, dass die Gegner von Hollandedie Regierungsplne mit dem Hinweis at-tackieren, Berlin sei ja dagegen. AuchDeutschlands Reformen haben Zeit undGeld gekostet. Die Abwrackprmie unddas Kurzarbeitergeld haben die deutschenHaushalte belastet und die Staatsverschul-dung erhht, aber wir sind dadurch sehrgut durch die Krise gekommen. Wenn jetztFrankreich Instrumente beschliet, dieZeit und Geld kosten und das Land voran-

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    Das ist eine IdentittskriseInterview EU-Parlamentsprsident Martin Schulz, 58, warnt vor deutscher berheblichkeit und fordert mehr Zeit fr die franzsischen Reformen.

    Man kann sich nichteinfach auf den

    Standpunkt stellen: Waswir gekonnt haben,

    muss dort auch gehen.

  • bringen, sollten wir Deutschen das unter-sttzen. Die Frage ist doch: Meint Hol -lande es ernst? Ich bin sicher, er meint esernst.SPIEGEL: Knnen die Franzosen, bei allenUnterschieden, etwas aus den schrder-schen Reformen lernen?Schulz: Von Gerhard Schrder kann manlernen, dass man manchmal den Willenund die Kraft haben muss, unpopulre Re-formen durchzusetzen. Aber man kann da-raus auch lernen, dass ein Land manchmalmehr Zeit braucht. Schrder hat gesagt:Wenn ich mich gegen das Defizitverfahrender EU-Kommission nicht zur Wehr ge-setzt htte, wre die Agenda 2010 geschei-tert. Wrde Frankreich zu dem Reform-programm, das es jetzt durchfhrt, ein Defizitverfahren auferlegt, bei dem es zuweiteren milliardenschweren Krzungenkommt, knnte es sein, dass das Reform-projekt am Widerstand im Volk und imParlament scheitert. Damit ist niemandemgedient. Es geht um die Abwgung zwi-schen dem strikten Einhalten der Kriterienund einer notwendigen pragmatischen Fle-xibilitt. Das ist eine Frage, die in Brsselentschieden werden muss und nicht in na-tionalen Hauptstdten, wie manche esgern htten.SPIEGEL: Unser Eindruck ist, dass AngelaMerkel den franzsischen Prsidentenschon abgeschrieben hat.Schulz: Wir haben zugelassen, dass diedeutsch-franzsische Zusammenarbeitstark ideologisiert worden ist. Die partei-politische Verortung des Regierungschefs

    des anderen Landes ist wichtiger gewordenals der Regierungsauftrag. Man kann inBerlin nicht so tun, als habe die franzsi-sche Geschichte erst 2012 begonnen. Nachdem Motto: Seitdem regiert eine bestimm-te Partei, vorher gab es keine Probleme.Das ist so falsch wie die Aussage in Paris,dass alle Probleme auf Angela Merkel zu-rckzufhren seien.SPIEGEL: Es gilt also noch der Satz von Hel-mut Kohl, dass man die Trikolore stetsdreimal gren sollte?Schulz: Einmal gren reicht. Die deutsch-franzsischen Beziehungen waren immersehr stark davon geprgt, dass Regierungs-chefs aus unterschiedlichen politischen Lagern sehr gut miteinander harmonierten.Sie stellten nicht ihre unterschiedliche politische Verortung in den Vordergrund,sondern die deutsch-franzsische Koopera-tion, das sollte immer das Leitmotiv sein.Wenn das deutsch-franzsische Tandem par-teipolitisch instrumentalisiert wird, hat esLasten zu tragen, die es nicht tragen kann.SPIEGEL: Das Kanzleramt setzt auf andereVerbndete. Selbst der EU-kritische briti-sche Premier David Cameron ist aufSchloss Meseberg, dem Gstehaus der Bun-desregierung, herzlicher empfangen wor-den als Hollande seinerzeit in MerkelsWahlkreis auf Rgen.Schulz: Deutschland hat schon immer ge-schwankt zwischen Anglophilie und Fran-kophilie. Ich halte auch viel vom WeimarerDreieck und der Einbindung Polens. Aberwenn die Europische Union funktionie-ren soll, geht das nur ber Deutschland

    und Frankreich. Zusammen erwirtschaftendie beiden Lndern 50 Prozent des Brut-tosozialprodukts der Eurozone. Und 100 Jahre nach Beginn des Ersten Welt-kriegs darf man das mal sagen: Diedeutsch-franzsische Zusammenarbeit istder Imperativ fr Europa.SPIEGEL: Mit welchen Gefhlen schauen dieFranzosen auf Deutschland?Schulz: Ich habe den Urlaub in der Bretagneverbracht. Viele Franzosen sind beeindrucktvom wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands.Sie finden es toll, wie wir Deutschen in be-stimmten Grundsatzfragen zusammenarbei-ten, dass eine Groe Koalition in Berlinmglich ist. Aber viele Franzosen sagenauch, dass sie Tne hren, die sie ausDeutschland lange nicht mehr gehrt haben.Eine gewisse Selbstgeflligkeit der Deut-schen mit dem Erreichten. Eine Tendenz,die eigenen Reformmodelle als idealtypischfr alle anderen zu erklren.SPIEGEL: Nach dem Motto: Am deutschenWesen soll die Welt genesen?Schulz: Nach dem Fall der Mauer war dieAngst vor einem wiedererstarkten Deutsch-land gro, damals entstand in der Mittedes Kontinents das grte und reichsteLand der EU. 25 Jahre spter ist Deutsch-land unbestritten die Fhrungsmacht inEuropa, konomisch wie politisch. Das lstngste aus, das habe ich als deutscher Europapolitiker im Wahlkampf selbst er-lebt. Deutschland sollte daher alles tun, umgar nicht erst den Verdacht zu erwecken,Hegemonialpolitik zu betreiben.

    Interview: Horand Knaup, Christoph Schult

    29DER SPIEGEL 36 / 2014

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    Gewerkschaftsprotest in Paris: Radikale Strmungen werden als legitim empfunden

  • Als Horst Seehofer frhmorgens indie Kche seines Ferienhauses imidyllischen Altmhltal kommt, ent-deckt er auf seinem BlackBerry eine Nach-richt der Kanzlerin. Lieber Horst, knnenwir um 7.45 Uhr telefonieren? Seeho