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„DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

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Page 1: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

„DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG“

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„DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG“

Die Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“

in der nationalsozialistischen Dichtung:

Heinrich Anacker, Gerhard Schumann

und Herybert Menzel

Proefschrift voorgedragen tot het behalen van de graad

van doctor in de letterkunde te verdedigen door

Anneleen Van Hertbruggen

Promotor: Prof. Dr. Arvi Sepp

Antwerpen, 2019

Faculteit Letteren & Wijsbegeerte

Departement Letterkunde

Page 4: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG
Page 5: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

„DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG“

De sacralisering van „Führer“, „Reich“ en „Volk“

in nationaalsocialistische poëzie:

Heinrich Anacker, Gerhard Schumann

en Herybert Menzel

Proefschrift voorgedragen tot het behalen van de graad

van doctor in de letterkunde te verdedigen door

Anneleen Van Hertbruggen

Promotor: Prof. Dr. Arvi Sepp

Antwerpen, 2019

Faculteit Letteren & Wijsbegeerte

Departement Letterkunde

Page 6: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

© Anneleen Van Hertbruggen, 2019

Druck und Bindung: Universitas

Cover: Collage verschiedener Gedichtzitate über „Führer“, „Reich“ und „Volk“ aus den

Anthologien von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel

(Computerrekonstruktion, © Geert Barzin, 2019)

Fonds Wetenschappelijk Onderzoek (FWO) - Vlaanderen (Projektnummer 6692)

Universiteit Antwerpen

Page 7: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

7

Inhaltsverzeichnis

Danksagung ............................................................................................ 13

I. Zur Erforschung der Sakralisierung des Politischen in

nationalsozialistischer Lyrik - Einführung ...................................... 15

1. Problemstellung ........................................................................................................................ 17

2. Forschungsfragen und Zielsetzung ...................................................................................... 20

3. Korpuswahl ................................................................................................................................ 22

4. Stand der Forschung ................................................................................................................ 25

4.1 Die nationalsozialistische Literatur bzw. Lyrik ......................................................... 25

4.2 Der religiöse Diskurs in NS-Dichtung .......................................................................... 29

5. Zur Gliederung der Arbeit ...................................................................................................... 31

II. Der Nationalsozialismus: Eine fanatische Bewegung oder eine

politische Religion? - Ein Definitionsversuch ................................. 35

1. Totalitarismus, Fanatismus, völkische Ideologie - Begriffliche Überlegungen ........ 37

2. Der Nationalsozialismus – Eine politische Religion? ...................................................... 42

2.1 Forschungsfeld und Definitionsproblematik der „politischen Religion“ .......... 44

2.2 Das Wesen der politischen Religion ................................................................... 48

2.2.1 Die politische Religion als sakralisierter Totalitarismus .............................. 48

2.2.2 Die Erweiterung des Religionsbegriffs .......................................................... 54

3. Der Nationalsozialismus als (politische) Religion – Plädoyer für eine neue

Perspektive ................................................................................................................................. 58

3.1 Der mehrdimensionale Charakter der politischen Religion .............................. 58

3.2 Die politische Dimension – Was ist ‚politisch‘ ................................................... 59

3.3 Der Nationalsozialismus als (politische) Religion – Ein mehrdimensionales

System .................................................................................................................. 62

4. Die textuelle Repräsentation der (politischen) Religion in der NS-

Propagandadichtung - Sakralisierung der „Glaubensartikel“ ....................................... 63

Page 8: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

8

III. Die nationalsozialistische Lyrik: Die Literarizität eines

umstrittenen Korpus - Gattungsfrage und methodologische

Überlegungen .................................................................................65

1. Nationalsozialistische Lyrik - Problemfeld der deutschen Literaturgeschichte....... 67

1.1 Nationalsozialistische Lyrik ........................................................................................... 68

1.2 Die dienende Funktion der Lyrik im „Dritten Reich“ ............................................. 71

1.3 Das Gedicht im Nationalsozialismus ........................................................................... 73

1.4 Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel – Dichter der

Jungen Mannschaft .......................................................................................................... 78

1.4.1 Dichter der Jungen Mannschaft ..................................................................... 78

1.4.2 NS-Dichter und ihr Verhältnis zur Religion ................................................. 81

2. Methodologische Überlegungen – Ideologiekritische Interpretationsansätze ......... 84

2.1 Die werkimmanente Textinterpretation des Close readings ............................. 85

2.2 Peter Zimas ideologiekritische Textsoziologie ...................................................86

2.2.1 Diskurs ............................................................................................................89

2.2.2 Ideologie .......................................................................................................... 91

2.3 Das methodische Instrumentarium für die Analyse des religiösen Diskurses . 92

2.3.1 Die lexikalisch-semantische Ebene: Das Wort und seine Bedeutung ......... 92

2.3.2 Die syntaktisch-narrative Ebene: Der Diskurs .............................................. 93

2.3.3 Die intertextuelle Ebene: Die sozio-linguistische Situation ......................... 95

3. Abschließende Bemerkungen zum Analyseverfahren .................................................... 96

IV. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ - Die religiöse Potenz

politischer Ideologeme ................................................................. 99

1. Einführung – Von Säkularisierung zu (Re-)Sakralisierung .......................................... 101

2. Die sakrale Potenz von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ ................................................... 104

2.1 Der „Führer“ - Ein Messias? ............................................................................... 104

2.1.1 Adolf Hitler - „Führer“ der Bewegung ......................................................... 104

2.1.2 Ein deutscher Messias ...................................................................................107

2.2 Das „Dritte Reich“ als theologisches Konzept ................................................... 114

2.2.1 Die christliche Wurzel des „dritten Reiches“ ............................................... 114

2.2.2 Joachims „drittes Reich“ und das „Dritte Reich“ im Nationalsozialismus

als politischer Religion .................................................................................. 117

Page 9: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

9

2.3 Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“................................................. 123

2.3.1 Die „Volksgemeinschaft“: Vom parteilosen Schlagwort zur

nationalsozialistischen Erfolgsgeschichte ................................................... 124

2.3.2 Auserwähltheit und Märtyrerstilisierung – Die religiöse Aufwertung der

„Volksgemeinschaft“ ..................................................................................... 128

3. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ - eine säkularisierte und (re-)sakralisierte

Trinität ...................................................................................................................................... 131

V. Die messianische Stilisierung des „Führers“ - Am Beispiel von

Heinrich Anackers Die Fanfare. Gedichte der deutschen

Erhebung (1936) ............................................................................. 133

1. Adolf Hitler - Mensch oder (politischer) Messias in Anackers Dichtung ................ 135

1.1 Adolf Hitler - Ein Mensch .................................................................................. 135

1.2 Adolf Hitler als (politischer) Messias in Heinrich Anackers Gedichtband Die

Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936) ................................................... 137

2. Heinrich Anackers messianische Stilisierung des „Führers“ ....................................... 139

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache ................................................................ 139

2.2 Eine Heilsbotschaft in der Krisenzeit – Warten und Hoffen auf den

„Messias“ .............................................................................................................. 141

2.2.1 Die „Wartezeit“ als „Kampfzeit“ .................................................................... 141

2.2.2 Adolf Hitler als der gottgesandte Retter ...................................................... 144

2.3 Eine gläubige und gehorsame Bewegung .......................................................... 145

2.3.1 Die bedingungslose Nachfolge der Bewegung ............................................ 145

2.3.2 Der Glaube an die göttliche Natur des „Führers“ ........................................ 148

2.3.3 Der „Führer“ als Heilsbringer und Erlöser ................................................... 150

2.4 Der „Führer“ nach dem Vorbild Christi ............................................................. 152

2.4.1 Der lehrende und leidende „Messias“ .......................................................... 152

2.4.2 Der Messias als Bauherr ................................................................................ 153

2.4.3 Der Messias und das Symbol des Brots und des Lichts .............................. 153

3. Zwischenfazit – Die messianische Repräsentation des „Führers“ in affirmativer

NS-Dichtung ............................................................................................................................ 156

Page 10: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

10

VI. Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“ - Am Beispiel von

Gerhard Schumanns Die Lieder vom Reich (1935) ....................... 159

1. Das - „Dritte“ oder „heilige“ - Reich in Schumanns Dichtung .................................... 161

1.1 Der Reichsgedanke Gerhard Schumanns ........................................................... 161

1.2 Die Sakralisierung des „Reiches“ in Gerhard Schumanns Gedichtband Die

Lieder vom Reich (1935) ....................................................................................... 163

2. Gerhard Schumanns sakralisierte Reichsidee ................................................................. 165

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache ................................................................ 165

2.2 Adaption christlicher Symbolik ......................................................................... 166

2.2.1 Brot und Wein .............................................................................................. 166

2.2.2 Das Blut und die Wundmale Christi ............................................................167

2.2.3 Licht-Dunkel-Symbolik ................................................................................. 171

2.2.4 Apokalyptische Symbolik .............................................................................. 174

2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs .................... 175

3. Zwischenfazit – Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“ in der affirmativen

NS-Dichtung ............................................................................................................................ 178

VII. Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ - Am Beispiel

von Herybert Menzels Gedichte der Kameradschaft (1936) ........ 181

1. Die Volksgemeinschaft in Menzels Dichtung ................................................................. 183

1.1 Die Gemeinschaftsidee von Herybert Menzel ................................................... 183

1.2 Die Stilisierung der „heiligen Mission“ der Volksgemeinschaft in Herybert

Menzels Gedichte der Kameradschaft (1936) ........................................................... 184

2. Herybert Menzels Gestaltung der „heiligen Mission“ der Volksgemeinschaft ....... 185

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache ................................................................ 185

2.2 Die kollektive Identität – „deutsche“ Exklusivität ............................................ 186

2.2.1 Das Kollektiv – Eine „exklusive“ Identität ................................................... 186

2.2.2 Das Volk als eine „gläubige“ Bewegung ....................................................... 188

2.3 Die unsterbliche Gemeinschaft – Die Märtyrerstilisierung .............................. 191

2.3.1 „Die Jugend von Langemarck“ – Das leuchtende Vorbild der deutschen

Soldaten.......................................................................................................... 191

2.3.2 Die „Gefallenen der Bewegung“ – Die nationalsozialistische

Märtyrerverehrung ....................................................................................... 194

2.3.3 Nach dem Vorbild der Märtyrer durch das Opfer ins ewige Leben ........... 196

Page 11: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

11

2.3.4 Blut und Fahne als Symbole der Märtyrer ................................................... 199

2.4 Männer und Frauen – Eine unterschiedliche „Mission“ .................................. 202

2.4.1 Das Ideal des „streitbaren Mannes“ ............................................................ 203

2.4.2 Die Frau als Mutter ...................................................................................... 205

3. Zwischenfazit - Die religiöse Ebene der Volksgemeinschaft in der affirmativen

NS-Dichtung ............................................................................................................................ 207

VIII. Fazit - Abschließende Bemerkungen über Repräsentativität

und Schuld .................................................................................... 211

Literaturverzeichnis ............................................................................. 219

1. Primärliteratur ........................................................................................................................ 221

1.1 Anackers, Menzels und Schumanns Werke ...................................................... 221

1.2 Andere nationalsozialistische Werke ................................................................ 221

1.3 Anthologien......................................................................................................... 222

2. Sekundärliteratur.................................................................................................................... 222

2.1 „Literatur im Nationalsozialismus“ - Forschung nach dem Zweiten

Weltkrieg ............................................................................................................ 222

2.2 Literaturwissenschaft und Historiografie ......................................................... 226

2.3 Totalitarismusforschung, Religionswissenschaft und Religionspolitologie ... 230

2.4 Sprache, Diskurs und Ideologie ........................................................................ 234

2.5 Lexika und Wörterbücher ................................................................................. 236

Abstract ................................................................................................. 237

1. Deutsche Fassung ................................................................................................................... 239

2. Niederländische Fassung ...................................................................................................... 240

Page 12: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG
Page 13: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

13

Danksagung

Nach gut fünf Jahren Forschung wurde aus einem weißen Blatt ein ganzes Buch. Am

Anfang dieser Dissertation und am Ende meines Promotionsverfahrens ist es mir an dieser

Stelle nicht nur ein Bedürfnis, sondern auch eine große Freude, mich bei denjenigen zu

bedanken, die mich in den vergangenen Jahren begleitet und unterstützt haben und ohne

die es die vorliegende Arbeit nicht geben würde.

Mein größter und herzlichster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Arvi Sepp,

der mich schon während meines Studiums und besonders als Betreuer meiner

Masterarbeit im Jahre 2010 intensiv gefördert hat und der in diesen fünf Jahren des

Forschens und des Schreibens auch dieses Dissertationsprojekt auf hervorragende Weise

betreut hat. Sein kritisches und detailliertes aber vor allem zu jeder Zeit sehr konstruktives

Feedback waren von unschätzbarem Wert, sowohl für die Qualität dieser Arbeit als auch

für meine eigene Entwicklung als Literaturwissenschaftlerin. Ich hoffe, dass wir auch in

Zukunft noch an weiteren Projekten zusammenarbeiten können.

Ich möchte mich auch besonders bei Herrn Prof. Dr. Klaus Vondung bedanken, dessen

Forschung mir nicht nur eine große Inspiration und wichtige Quelle gewesen ist, sondern

der bereits vor zwei Jahren die Zeit für ein anregendes Gespräch über mein Projekt

gefunden hat. Als Mitglied meiner „Doktoratsbetreuungskommission“ hat er besonders in

der Schlussphase dieses Projektes meine Arbeitstexte mit Aufmerksamkeit und kritischem

Blick gelesen und mit hilfreichen Kommentaren versehen.

Frau Prof. Dr. Vivian Liska möchte ich meinen Dank aussprechen, weil sie mir als starke

Frau in der akademischen Welt bereits seit meiner Studienzeit und während der kurzen

Periode als Praktikantin am Institut für jüdische Studien ein Vorbild gewesen ist.

Außerdem hat sie mich vor einem Jahr herzlich in der Forschungsgruppe am Institut für

jüdische Studien willkommen geheißen und hat auch sie sich als Mitglied meiner

„Doktoratsbetreuungkommission“ an dieser Arbeit beteiligt.

Die Arbeit wäre ohne die notwendige finanzielle Unterstützung nicht möglich gewesen.

Dazu bedanke ich mich bei der Universität Antwerpen und bei BOF (Bijzonder

Onderzoeksfonds), FWO (Fonds voor Wetenschappelijk Onderzoek - Vlaanderen) und

OJO (Omkadering van Jonge Onderzoekers).

Auch den Mitarbeitern des Lesesaals und der Bibliothek, die mir während meiner

Recherchen am Bundesarchiv - Berlin Lichterfelde, am Evangelischen Zentralarchiv Berlin

sowie am Deutschen Literaturarchiv in Marbach weitergeholfen haben, seien hier gedankt.

Ein besonderes Dankeschön gilt zudem Frau Susanne Hennings, Mitarbeiterin des

Deutschen Rundfunkarchivs (Frankfurt), die so freundlich gewesen ist, mich ausführlich

per E-Mail über die vorhandene Kollektion zu beraten. Ich möchte mich auch bei den

Page 14: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

14

Bibliothekmitarbeitern der Universität Antwerpen bedanken, da sie meine zahlreichen

IBL-Anträge quasi immer erfolgreich erledigt haben.

Für die verschiedensten Hilfestellungen auf technischem Gebiet bedanke ich mich

besonders bei Jessica Van de Weerd, Thomas Crombez und Hubert Meeus.

Dass ich in den letzten Jahren nicht im sprichwörtlichen akademischen Elfenbeinturm

gelebt habe, verdanke ich in erster Linie meinen lieben Kollegen, die noch an ihren eigenen

Projekten arbeiten oder diese mittlerweile bereits abgeschlossen haben. Sowohl die

monatlich organisierten „Doctorandilunches“ als auch die spontanen Ausflüge zum

„Kaffeemann“ ergaben nicht nur interessante Diskussionen über unsere sehr

unterschiedlichen Projekte, sondern ermöglichten innerhalb dieses akademischen

Kontextes auch lockere Gespräche über Harry Potter, Hobbys und Ausflüge am

Wochenende. Ein besonderes „dank-je-wel“ sage ich an dieser Stelle Johanna Ferket, mit

der ich in den letzten zwei Jahren nicht nur den Büroraum, sondern vor allem auch viele

Erfolgsgeschichten und Frustrationen hinsichtlich des Promotionsverfahrens geteilt habe.

Danke für Deine immer ermutigenden Worte! Auch ein besonderes Dankeschön an

Annelies Augustyns, die seit zwei Jahren meine „Partnerin in Crime“ hinsichtlich

deutscher Literatur, Sprache und Kultur ist. Meine deutsche Insel ist seit ihrer

Anwesenheit nicht mehr so einsam.

Es ist mir auch eine ganz besondere Freude, meinem Freundeskreis und meiner Familie

für die Unterstützung und Ermunterung während meines Gesamtstudiums und

Promotionsverfahrens zu danken, insbesondere meinen Eltern, Großeltern und

Geschwistern. Auch meine Tochter Clara, die überhaupt keine Ahnung hat, in welchem

Maße sie zur Verwirklichung dieser Arbeit beigetragen hat, verdient hier eine besondere

Erwähnung. In Zeiten von Stress war ihr Lächeln eine unerschöpfliche Energiequelle.

Unendlicher Dank gebührt schließlich ohne jeden Zweifel meinem Mann Geert Barzin,

ohne dessen unermüdliche Unterstützung die vorliegende Studie nicht möglich gewesen

wäre. Sein aufrechtes Interesse für mein Projekt, seine kritischen Fragen und

Anmerkungen in den zahlreichen Gesprächen über das Forschungsthema, seine

Anwesenheit bei Forschungsausflügen, seine technische Hilfe beim Entwurf des Titelblatts

und beim Lay-out des Textes, seine endlose Geduld und schließlich seine Bereitschaft, in

den letzten Monaten quasi alleine für die Abend- und Nachtroutine unserer Tochter

zuständig zu sein, damit ich diese Arbeit fertig schreiben konnte, haben mir das ganze

Promotionsverfahren in vielerlei Hinsicht wesentlich erleichtert. Eigentlich kann ich

meine Dankbarkeit für seine Unterstützung kaum in Worte fassen, deswegen widme ich

ihm diese Arbeit.

Antwerpen, im März 2019 Anneleen Van Hertbruggen

Page 15: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

I Zur Erforschung der Sakralisierung des

Politischen in nationalsozialistischer Lyrik

Einführung

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Page 17: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

17

1. Problemstellung

Ich glaube an dich, denn du bist die Nation,

ich glaube an Deutschland, weil du Deutschlands Sohn.

(Baldur von Schirach, „Dem Führer“, V.7-8)

Ich glaube an dich. Die hier zur Einführung zitierten zwei Verszeilen entstammen einem

Gedicht mit dem Titel „Dem Führer“, verfasst in den frühen 1930er Jahren vom

nationalsozialistischen Politiker und Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach.

Der Zeitraum, in dem das Gedicht verfasst worden ist sowie auch die nationalsozialistische

Überzeugung des Dichters verraten gleich, dass mit dem im Titel anonym gelassenen

„Führer“ ganz spezifisch Adolf Hitler als „Führer“ der NSDAP und ab 1933 des

nationalsozialistischen Deutschlands gemeint wird. Gerade in Kombination mit der in

diesen letzten zwei Verszeilen des Gedichtes zweifach wiederholten „glauben an“-Formel

erweist sich dieses Zitat als exemplarisch für das Hauptaugenmerk der vorliegenden

Arbeit, und zwar die Erforschung des religiösen Diskurses in affirmativer NS-Dichtung.

Obwohl mit „glauben an“ nicht unbedingt immer ein religiöses Glaubensbekenntnis

ausgesprochen wird, ruft die Formel in einem christlich-religiösen Kontext aber schon

spontan Verbindungen mit Konzepten wie „Gott“, „Jesus Christus“, dem „Heiligen Geist“

und der „Heiligen Kirche“ hervor. In von Schirachs Gedicht glaubt man aber weder an

„Gott“, „den Vater“, den „Schöpfer des Himmels“ noch an „Jesus Christus“, „seinen

eingeborenen Sohn“, sondern an „dich“, mit dem „der Führer“, der angeblich „die Nation“

verkörpert, gemeint wird. Auch an „Deutschland“ wird geglaubt, weil der „Führer“ nicht

nur als Verkörperung dieser Nation, sondern auch als deren „Sohn“ gilt. Die angebliche

Einheit von „Führer“, „Nation“ und „Söhne der Nation“ steigert die pseudoreligiöse

Darstellung in diesem Gedicht umso mehr, da sie sich der christlichen Trinitätslehre

anzulehnen scheint, in der auch „Vater“, „Sohn“ und „Heiliger Geist“ als drei

unterschiedliche Seinsweisen der göttlichen Wesenseinheit gelten.1

Von Schirachs Gedichtzitat erweist sich für die vorliegende Arbeit als ein geeigneter

Anlass, um zwei Aspekte des Nationalsozialismus, die in der Forschung bereits zu

weitgehenden Diskussionen geführt haben, kritisch hervorzuführen: auf der einen Seite

die zielgerichtete „Ästhetisierung des Politischen“, auf der anderen Seite auch die

„Sakralisierung“ politischer Inhalte. Gerade in dieser „Ästhetisierung der Politik“ hat

Walter Benjamin eine wichtige Charakteristik des Nationalsozialismus als faschistischen

Regimes gesehen: „Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen

1 Vgl. „Trinität“ in Hans Dieter Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Tübingen: Mohr 1998-2007, Bd. 8, 601 und Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Freiburg, Basel, Rom, Wien: Herder 1993-2001, Bd. 10, 240.

Page 18: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Einführung

18

Lebens hinaus“.2 Dabei beschränkte sich diese Ästhetisierung nicht nur auf die

Verarbeitung politischer Inhalte in der in dieser Arbeit zentral gestellten affirmativen

Lyrik, sondern sie setzte sich auf unterschiedlichen Ebenen des NS-Systems durch. So

führt Klaus Schreiner die visuelle Stilisierung des Führerbildes durch die Fotofirma

Heinrich Hoffman zu einem „Markenartikel“ und die theatralische Inszenierung von

erhebenden, nicht alltäglichen Massenerlebnissen als Beispiele für diese Ästhetisierung

der nationalsozialistischen Politik heran. Außerdem bediente sich der

Nationalsozialismus eines Sammelsuriums an Formelementen – wie beispielsweise

Massenaufmärsche und Gedenkumzüge, Chöre und Musik, Apell und Gelöbnis, Fahnen,

Fackeln und Feuerschalen –, solange sie als zweckmäßig erschienen.3 Der US-

amerikanische Historiker deutsch-jüdischer Herkunft George L. Mosse interpretiert diese

Ästhetisierung der Politik als Ausdruck einer „new politics“, die er quasi als das Erbe einer

mit der Französischen Revolution eingesetzten Idee der Volkssouveränität und einem sich

daraus entwickelnden aufkommenden Nationalismus betrachtet. Obwohl die Ideen der

Französischen Revolution ganz Europa beeinflusst haben, sieht Mosse im

Nationalsozialismus den absoluten Höhepunkt dieser „new politics“. Denn die kultisch

inszenierten Volksfeste aus der Zeit der Französischen Revolution hätten den politischen

Kult des Nationalsozialismus zwei Jahrhunderte später sozusagen bereits angekündigt.4

Auch Walter Benjamin betont die Rolle des rituellen Kults innerhalb dieser

„Ästhetisierung der Politik“, denn das Ritual bestimme die Bedeutung des „Kunstwerks“

sowohl in der Vergangenheit - in der „Tradition“ – als auch im modernen politischen

System: „Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden,

zuerst eines magischen, dann eines religiösen“,5 in dem Sinne hat der „einzigartige Wert

des ‚echten‘ Kunstwerks […] seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und

ersten Gebrauchswert hatte“.6 Der Faschismus ästhetisiert die Politik gerade dann, wenn

er die Mittel der Kunst zur Ritualisierung seiner Macht einsetzt, wie etwa im

nationalsozialistischen Führerkult und Blut-und-Boden-Kult. „Der Nationalsozialismus“,

sagt Klaus Vondung, „besaß einen Kult, wie ihn die Religionen aufweisen, nämlich

2 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 42. Dieser Aufsatz erschien zunächst im Jahre 1936 gekürzt auf Französisch und wurde erst 1963 postum vollständig publiziert. 3 Vgl. Klaus Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters. In: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. Hg. v. Klaus Hildebrand. München: Oldenbourg 2003, 47. 4 Vgl. George L. Mosse: The Nationalization of the Masses. Ithaca, London: Cornell University Press 1975, 1-17. 5 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 16. 6 Ebd.

Page 19: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

19

öffentlich sanktionierte Feste und Feiern mit regelrechten Liturgien und festgelegten

Ritualen“.7

Obwohl Mosse das Ritual im Nationalsozialismus als „new politics“ bloß als Ausdruck des

politischen Stils einer „säkularen Religion“ betrachtet,8 lässt sich in der

nationalsozialistischen Ästhetisierung der Politik aber auch eine gewisse „Sakralisierung“

entdecken, weswegen diese Arbeit die „politische Religion“ als Bezeichnung für den

Nationalsozialismus bevorzugt.9 Bereits in von Schirachs oben zitierten Verszeilen aus

seinem Gedicht „Dem Führer“ fallen das religiös konnotierte Vokabular – die „glauben an“-

Formel – und die Anspielung auf die christliche Trinitätslehre gleich auf. Grundlegend hat

sich besonders der italienische Historiker Emilio Gentile mit der „Sakralisierung des

Politischen“ auseinandergesetzt, nicht nur im Zusammenhang mit dem italienischen

Faschismus sondern insgesamt mit den Konzepten der säkularen und politischen

Religion.10 Gentile betrachtet die sogenannte „Sakralisierung der Politik“ – ob diese nun

als Laienreligion, irdische, säkulare oder politische Religion, politische Mystik oder

Idolatrie definiert werde – als eine der distinktivsten, wenn nicht gefährlichsten Merkmale

totalitärer Systeme:11

This process takes place when, more or less elaborately and dogmatically, a political

movement confers a sacred status on an earthly entity (the nation, the country, the state,

humanity, society, race, proletariat, history, liberty, or revolution) and renders it an absolute

principle of collective existence, considers it the main source of values for individual and

mass behaviour, and exalts it as the supreme ethical precept of public life. It thus becomes

an object for veneration and dedication, even to the point of self-sacrifice.12

Auch in dem für die vorliegende Arbeit gewählten Korpus affirmativer NS-Dichtung

werden profanen und ideologischen Kernbegriffen wie „Führer“, „Reich“ und „Volk“

sakrale Eigenschaften zugeschrieben und religiös aufgewertet, weshalb sie laut Vondung

sogar als „Glaubensartikel“ der nationalsozialistischen politischen Religion erscheinen.13

7 Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971, 8. 8 Vgl. Mosse: The Nationalization of the Masses, 16-17. 9 In Kapitel II geht diese Arbeit ausführlich auf die Definitionsproblematik des Nationalsozialismus als einer politischen Religion ein. 10 Vgl. dazu beispielsweise Emilio Gentile: The Sacralisation of Politics: Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism. In: Totalitarian Movements and Political Religions 1.1 (2000), 18-55 und Emilio Gentile: Political Religion: A Concept and its Critics – A Critical Survey. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6.1 (2005), 19-32. 11 Vgl. Gentile: The Sacralisation of Politics: Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism, 18. 12 Ebd., 18-19. 13 Vgl. Klaus Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6.1 (2005), 91.

Page 20: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Einführung

20

Gerade die „Sakralisierung“ dieser drei Ideologeme innerhalb der affirmativen NS-

Dichtung steht in der literarischen Analyse dieser Arbeit zentral.

2. Forschungsfragen und Zielsetzung

Eine solche quasi-religiöse Darstellung des „Führers“ – und im weiteren Sinne auch des

„Reiches“ und des „Volkes“ – war im nationalsozialistischen Deutschland keineswegs eine

Ausnahme. Die Präsenz eines religiösen Diskurses auf allen Ebenen des NS-Systems – etwa

im politischen Kult, in der Propaganda, in der Lyrik und in Reden von Hitler und

verschiedenen anderen hohen NS-Funktionären – hat schon im „Dritten Reich“ Anlass

dazu gegeben, den Nationalsozialismus als eine „politische Religion“ zu beschreiben.14

Diese Bezeichnung hat nach dem Zusammensturz des nationalsozialistischen Regimes

und besonders ab den 1990er Jahren zu scharfen Diskussionen über das Wesen des

Nationalsozialismus und die Besonderheit „politischer Religionen“ geführt. Vor allem

dank der ausführlichen Bearbeitung des Themas durch Hans Maier und der von ihm

zwischen 1992 und 2000 organisierten Konferenzen über Totalitarismus und politische

Religion entstand ein breit angelegtes Forschungsprojekt.15 Das heranwachsende Interesse

an diesem Themenkomplex führte zudem zur Veröffentlichung der Zeitschrift Totalitarian

Movements and Political Religions ab dem Jahre 2000. Seit 2011 erscheint die Zeitschrift

vierjährlich unter dem neuen Titel Politics, Religion & Ideology und profiliert sich als das

führende internationale Forum für die wissenschaftliche Erforschung der Politik

„illiberaler“ Ideologien, sowohl religiöser als auch säkularer Art. Dabei fokussiert sie

sowohl auf das historische als auch das gegenwärtige Verhältnis von Politik und Religion.16

So untersuchte die Zeitschrift im Jahre 2018 sowohl die Zukunft der türkischen Gülen

Bewegung nach dem Putschversuch in der Türkei im Jahre 201617 als auch die

psychologischen Folgen der „Entmenschlichung“ in der nationalsozialistischen Ideologie18,

die Interpretation religiöser Gebete als politischer Texte19 und politische Symbolik in

14 Zeitgenossen wie Paul Schütz, Erich Voegelin und Raymond Aron beschrieben den Nationalsozialismus bereits in den 1930er Jahren als eine „politische Religion“. Auf die Definitionsproblematik des Nationalsozialismus als „politischer Religion“ geht Kapitel II dieser Arbeit ausführlich ein. 15 Zu denken ist hier insbesondere an die von Hans Maier (mit-)herausgegebenen Bände mit dem Titel „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“ (3 Bde., Paderborn: Ferdinand Schöning 1995-2003). 16 Vgl. „Aims and scopes“ der Zeitschrift Politics, Religion & Ideology. ORL: https://www.tandfonline.com/action/journalInformation?show=aimsScope&journalCode=ftmp21 [Letzter Zugriff: 27.02.2019]. 17 Vgl. das Themenheft „Ruin or Resilience? The Future of the Gülen Movement in Transnational Political Exile“, Politics, Religion & Ideology 19.1 (2018). 18 Vgl. besonders Johannes Steizinger: The Significance of Dehumanization: Nazi Ideology and Its Psychological Consequences. In: Politics, Religion & Ideology 19.2 (2018), 139-157. 19 Vgl. besonders Serawit Bekele Debele: Reading Prayers as Political Texts: Reflections on Irreecha Ritual in Ethiopia. In: Politics, Religion & Ideology 19.3 (2018), 354-370.

Page 21: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

21

unterschiedlichen gegenwärtigen politischen Bewegungen.20 Auch die vorliegende Arbeit

untersucht das Verhältnis von Religion und Politik, und zwar in der Zeit des „Dritten

Reiches“. Indem die Arbeit an der Diskussion über den Nationalsozialismus als „politische

Religion“ anknüpft und in der literarischen Analyse besonders auf die Kristallisation des

religiösen Diskurses in affirmativer NS-Dichtung eingeht, untersucht sie das Verhältnis

von Religion und Nationalsozialismus in zweierlei Hinsicht.

Zunächst geht die Arbeit der Frage nach, inwiefern das Konzept „politische Religion“

tatsächlich auf den Nationalsozialismus anwendbar sei. Zu diesem Zweck geht sie nicht

nur auf die Forschungstradition und die damit zusammenhängende

Definitionsproblematik ein, sondern sie schlägt eine erweiterte Auffassung über den

Religionsbegriff selbst vor und plädiert somit für eine neue Perspektive auf die

„(politische) Religion“ als handhabbares Konzept zur Beschreibung des

Nationalsozialismus.

Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit richtet sich jedoch auf die Analyse und Interpretation

des religiösen Diskurses innerhalb affirmativer NS-Dichtung, die somit als textuelle

Repräsentation des Nationalsozialismus als „(politischer) Religion“ betrachtet werden

kann. Sie fokussiert besonders auf die Sakralisierung dreier zentraler Ideologeme des

Nationalsozialismus, und zwar den „Führer“, das „Reich“ und das „Volk“, die bereits in von

Schirachs Gedicht gemeinsam in einem religiös aufgewerteten Kontext dargestellt wurden.

Die literarische Analyse dieser drei Ideologeme, die also als profane Konzepte von den

Dichtern zielgerichtet auf eine sakrale Ebene erhoben werden, fällt in drei

Themenbereiche auseinander. So interpretiert diese Arbeit die Sakralisierung des

„Führers“ vor dem Hintergrund messianischer Erlösungsbedürfnisse in den 1920er und

1930er Jahren im Nachkriegsdeutschland. Die sakrale Gestaltung des „Reiches“ versucht

diese Arbeit über die theologischen Wurzeln des ursprünglich christlichen Symbols des

„dritten Reiches“ zu erläutern. Das „Volk“, das vielleicht das inhärent „profanste“ Konzept

der drei Ideologeme darstellt, empfindet seine sakrale Ausrichtung da, wo einzelne

Individuen zu Märtyrern stilisiert oder wo im Allgemeinen die Rolle der Frau und des

Mannes religiös aufgewertet werden. Mittels einer ideologiekritischen Herangehensweise,

die diese Arbeit Peter Zimas Textsoziologie entlehnt, erforscht diese Arbeit die Wirkung

des religiösen Diskurses in der affirmativen NS-Dichtung auf lexikalisch-semantischer,

syntaktisch-narrativer und intertextueller Ebene.

Obwohl man auch in einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht darüber

hinweg kann, dass der Nationalsozialismus eine grundsätzlich antisemitische Ideologie ist,

ergibt sich der Antisemitismus in dieser Arbeit jedoch nicht explizit als zentrales Thema.

Obwohl das Antisemitische des Nationalsozialismus bereits im vierten Punkt des

20 Vgl. das Themenheft „Symbolism and Politics“, Politics, Religion & Ideology 19.4 (2018).

Page 22: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Einführung

22

ursprünglichen Parteiprogramms der NSDAP festgelegt wurde21 und die Judenverfolgung

sich im Nachhinein als den zentralen Aspekt der nationalsozialistischen Rassenpolitik

erwiesen hat, hat sie den eigentlichen „Faschisierungsprozess“ laut Utz Maas in den ersten

Jahren nach der Machtübernahme eher wenig bestimmt.22 Im für diese Arbeit

herangeführten Korpus relativ früher nationalsozialistischer Dichtung erweist sich die

„Judenfrage“ denn auch nicht als ein explizites Thema. Allerdings kann man davon

ausgehen, dass die nationalsozialistischen Dichter die antisemitische Auffassung des

Nationalsozialismus in ihrer Parteidichtung zwangsläufig – aber dann eher implizit –

befürworten. Obwohl die vorliegende Analyse nationalsozialistischer Dichtung nur

stellenweise auf den Antisemitismus eingehen wird, berücksichtigt sie zur jeden Zeit den

grundsätzlich antisemitischen Charakter der ideologischen Überzeugung der gewählten

Dichter.

3. Korpuswahl

Nicht nur untersucht diese Arbeit jedes der drei Ideologeme – „Führer“, „Reich“ und „Volk“

– vor dem Hintergrund dreier spezifischer Themenkreise – Messianismus, „drittes Reich“

als theologisches Konzept und Märtyrerstilisierung –, sondern sie verbindet jedes

Ideologem und das damit zusammenhängende Thema zudem mit einem spezifischen

Gedichtband. Die dazu ausgewählten drei Gedichtbände wurden von drei

unterschiedlichen Autoren verfasst, und zwar von Heinrich Anacker (1901-1971), Gerhard

Schumann (1911-1995) und Herybert Menzel (1906-1945), und in der Anfangsphase des

„Dritten Reiches“ publiziert.23 Die in diesen Anthologien enthaltenen Gedichte wurden im

Zeitraum von 1930 bis 1936 geschrieben und manchmal bereits anderswo – in anderen

Anthologien oder auch in Zeitungen – publiziert. Diese Arbeit widmet den biographischen

Hintergründen der drei gewählten Autoren nur wenig Aufmerksamkeit, da ihre Dichtung

als repräsentativ für die nationalsozialistische Dichtung im Ganzen gilt.

Die Wahl des Korpus erfolgte auf Basis der folgenden Kriterien: Die gewählten Autoren

gehören zur sogenannten „Jungen Mannschaft“, einer Gruppe junger und genuin

nationalsozialistischer Autoren, die sich am Anfang der 1930er Jahre gebildet hat und die

in erster Linie Parteidichtung verfassten. Die Autoren hatten bereits vor der

21 „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein“. Kurt Rosten: Das ABC des Nationalsozialismus. Berlin: Kommissionsverlag Schmidt & Co. 1933, 53. 22 Vgl. Utz Maas: „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand.“ Sprache im Nationalsozialismus. Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, 15. 23 Gerhard Schumann: Die Lieder vom Reich. München: Albert Langen - Georg Müller 1935; Herybert Menzel: Gedichte der Kameradschaft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1936 und Heinrich Anacker: Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung. München: Eher 1936, Erstausgabe im Jahre 1933.

Page 23: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

23

Machtübernahme literarische Ambitionen, obwohl die zunächst erfolglos blieben. Erst

nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und nachdem sie ihre schriftlichen

Tätigkeiten in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes gestellt hatten und darüber

hinaus auch innerhalb des Systems als Parteifunktionäre selber Karriere machten, hatte

ihre Dichtung Erfolg. Obwohl die Arbeit auch die frühe Dichtung anderer

nationalsozialistischer Dichter wie Baldur von Schirach, Herbert Böhme, Hans Baumann

oder Will Vesper hätte heranziehen – und zu den gleichen Ergebnissen kommen – können,

versucht sie mit der Wahl für Anacker, Schumann und Menzel ein möglichst

differenziertes Bild des „nationalsozialistischen Dichters“ zu vermitteln, indem diese drei

Autoren verschiedenen Ecken des Deutschen Reiches entstammten: Anacker wurde in der

Schweiz geboren und verzichtete auf seine Schweizer Staatsangehörigkeit, nachdem er

freiwillig in das „Dritte Reich“ umgesiedelt war; Schumann erlebte Kindheit und einen

Großteil seiner Karriere in Baden-Württemberg; und Menzel entstammte der östlichen

Region Obornik/Posen, die im Laufe der Geschichte entweder Polen oder Deutschland –

und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wieder Polen – angehörte.

Schließlich wurden absichtlich drei Gedichtbände aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre

gewählt, da sich diese Periode als eine Übergangszeit zwischen der sogenannten

„Kampfzeit“ der frühen NS-Bewegung, und zwar die Aufstiegszeit in der Weimarer

Republik, und der Vorbereitungsphase des neuen Krieges erwiesen hat. So siedelt

beispielsweise Utz Maas die Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1938 an24 und

Michael Grüttner beschreibt besonders die Periode von Ende 1937 bis August 1939 als eine

„Übergangsphase zwischen den Friedensjahren des Dritten Reiches und dem Zweiten

Weltkrieg“, also als eine Zeit der weiteren „Radikalisierung“ des Regimes.25 Die

vorangehende Periode, die mit der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar

1933 einsetzt, wäre im Gegensatz dazu als eine Epoche zu betrachten, in der die

Herrschaftsverhältnisse stabilisiert und die nationalsozialistische Ideologie für die große

Masse weiter konzeptualisiert und konsolidiert wurden. Der nationalsozialistische

Propagandaapparat, der bereits im März 1933 mit der Institutionalisierung des

Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda in zahlreichen Betätigungsfeldern

aktiv wurde, spielte in diesem Zusammenhang eine sehr große Rolle. Nicht nur die Presse,

die sowohl Zeitungen als auch Radio umfasste, sondern auch die ganze Kulturpolitik

wurde in den Dienst der Verbreitung der Ideologie gestellt. Auch die Vereinnahmung der

– affirmativen – Lyrik von der Politik wurde damit Realität. Dies zeigte sich nicht nur im

unverhohlenen politischen Engagement der Dichter als Mitglieder der Partei oder als

Parteifunktionäre, sondern auch im pointiert politisch inspirierten Inhalt ihrer Dichtung,

24 Vgl. Maas: „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand.“ Sprache im Nationalsozialismus, 12. 25 Vgl. Michael Grüttner: Das Dritte Reich. 1933-1939. Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19. Stuttgart: Klett-Cotta 2014, 485.

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Einführung

24

der besonders in zahlreichen Oden an den „Führer“, vaterländische Hymnen und

Trauergedichte über und für die „Gefallenen der Bewegung“ zum Ausdruck kam.

Obwohl Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz „What National Socialism has Done to the

Arts“ behauptet, dass die nationalsozialistische Kunst im Allgemeinen einen eher

begrenzten Einfluss auf die gesamte deutsche Gesellschaft hatte26 und auch Cornelia

Jungrichter die Relevanz der vom Nationalsozialismus vereinnahmten Kunst im Hinblick

auf die Formierung der faschistischen Massenbasis neben anderen Medien, wie Presse,

Rundfunk, Film oder offiziellen Veranstaltungen eher gering einschätzt,27 will die

vorliegende Arbeit diese Auffassung doch nuancieren. So sieht Jungrichter gerade in der

künstlerischen Ausdrucksform der Literatur die Möglichkeit, adäquate Inhalte zu

artikulieren und zu publizieren, „d.h. konkret für die Text-Leser-Relation im Sinne des NS

‚Vorstellungen, Wünsche, Leitbilder zu wecken, Gedanken und Meinungen zu lenken, ja

sogar Handlungsweisen vorzuschreiben‘“.28 Außerdem sei die für diese Arbeit fokussierte

affirmative NS-Dichtung auch nicht von Presse, Rundfunk und offiziellen Veranstaltungen

zu trennen, da diese Lyrik nicht zur „besinnlichen Einzellektüre“ sondern als

„Gemeinschaftslied“ aufgefasst wurde.29 Nationalsozialistische Gedichte wurden im

Rundfunk rezitiert, an Massenveranstaltungen gesungen, in Schulbüchern aufgenommen

und im Unterricht rezipiert. Ohne die Relevanz und die Wirkung der

nationalsozialistischen Lyrik damit überschätzen zu wollen, muss allerdings

hervorgehoben werden, dass ihre Reichweite die schlichte Verbreitung in einzelnen

Gedichtbänden schon übersteigt. So zeugt zum Beispiel Gudrun Wilcke in ihrem Buch Die

Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer

Beeinflussung (2005), das sie erst im Alter von 77 Jahren verfasste, davon, wie die NS-

Diktatur sie als Kind zu einer „begeisterten, also gläubigen und ergebenen“ Anhängerin

ihrer Ideologie „erzogen“ hat.30 In diesem Zusammenhang möchte Wilcke aufzeigen, „wie

das NS-System sich damals der Lust der Kinder und Jugendlichen am Lesen, vor allem aber

am Singen bediente und sie zunutze machte. Wie sie deren Bereitschaft zur Begeisterung,

Gläubigkeit und Hingabe missbrauchte, um die junge Generation im

nationalsozialistischen Sinn zu indoktrinieren“.31 Unter anderem wegen ihres Zeugnisses

stimme ich Ulrich Schmid vorsichtigerweise zu, dass man nationalsozialistische

„Kunstwerke“ – auch die Dichtung – nicht als reine „Veranschaulichungen“ der

26 Vgl. Theodor W. Adorno: Essays on Music. Berkeley, Los Angeles: The University of California Press 2002, 383. 27 Vgl. Cornelia Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1979, 7. 28 Ebd. 29 Vgl. Albrecht Schöne: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur. München: Beck 2005, 263-264. 30 Vgl. Gudrun Wilcke: Die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung. Frankfurt am Main: Peter Lang 2005, 9. 31 Ebd., 7.

Page 25: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

25

faschistischen Ideologie, sondern als „konstitutive Elemente“ ihrer sozialen Kultur

betrachten sollte.32

4. Stand der Forschung

4.1 Die nationalsozialistische Literatur bzw. Lyrik

Mit seiner Dissertation über The Political Poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors

(1968) wollte Walter Knoche eine literaturwissenschaftliche Forschungslücke füllen.

Denn, so merkt er an, trotz der Vielzahl der Bücher, die zu dem Zeitpunkt bereits über das

„Dritte Reich“ geschrieben worden waren, beschäftigte sich nur eine kleine Minderheit mit

seiner Literatur. Während sowohl deutsche als auch ausländische Historiker, Psychologen

und Soziologen den Markt bereits innerhalb von einigen Jahren nach dem Ende des

Zweiten Weltkrieges mit Büchern und Artikeln überschwemmten, blieb es auf

literaturwissenschaftlicher und literaturhistorischer Seite geraume Zeit sehr ruhig.33 Den

wichtigsten Grund für diese literaturwissenschaftliche Vernachlässigung der NS-Literatur

sieht Esther Roßmeißl in der nach dem Zweiten Weltkrieg dominanten These, die

nationalsozialistische Literatur sei keine „echte Literatur“ gewesen: „Sie sei nicht frei

gewesen, sondern habe im Dienst politischer Propaganda gestanden, sie sei inhuman,

intellektuell anspruchslos und formal unzureichend, trivial und somit einer

literaturwissenschaftlichen Untersuchung unwürdig“.34 Besonders diese Propaganda–

funktion und den angeblich „inhumanen“ Inhalt dieser Dichtung erklärt Cornelia

Jungrichter innerhalb eines Kritikverfahrens, „das gewichtige historisch-politische und

funktionale Gesichtspunkte nicht in Betracht zieht und sich stattdessen auf eine

ausschließliche Wertung aus ästhetisch-ethischer Perspektive konzentriert“.35 Anhand

dieser Perspektive wird Literatur wegen der schlichten Gleichsetzung mit „ethisch gut-

ethisch schlecht“ als „Kunst-Nichtkunst“ oder „literarisch gut-schlecht“ bewertet.36 In

dieser Hinsicht sei die nationalsozialistische Dichtung, die mit den vorgeblich „zeitlosen“

ästhetischen Normen der Literaturwissenschaft nicht übereinstimme und darüber hinaus

auch „in ethischer Hinsicht“ nur als „schlecht“, „barbarisch“ und „monströs“ erscheine, als

„Nichtkunstwerke“ zu kategorisieren: „Angesichts eines solchen Pauschalurteils wird die

literarische Produktion des ‚Dritten Reiches‘ von vornherein abqualifiziert als eine, mit der

32 Vgl. Ulrich Schmid: Style versus Ideology: Towards a Conceptualisation of Fascist Aesthetics. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6.1 (2005), 128. 33 Vgl. Walter Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors. The Ohio State University 1969 (Unpublizierte Dissertation), 1. 34 Esther Roßmeißl: Märtyrerstilisierung in der Literatur des Dritten Reiches. Taunusstein: Driesen 2000, 11. 35 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 15. 36 Vgl. ebd.

Page 26: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Einführung

26

zu beschäftigen sich nicht lohnt“.37 Wie aber Hauke Brunkhorst betont, sind Ethik und

Ästhetik zweierlei: „Werden sie vermengt, macht am Ende entweder das Leben zu wenig

oder die Kunst zu viel Sinn“.38 Die Frage nach „Kunst“ oder „Nicht-Kunst“ aus ethisch-

ästhetischen Überlegungen erweist sich für die vorliegende Frage nicht als

ausschlaggebend. Im Rahmen der ideologiekritischen Textinterpretation analysiert sie die

ausgewählten Texte als Produkte des damaligen Zeitgeistes, der die politische Dichtung

tatsächlich als „Dichtkunst“ betrachtete.

Obwohl die These, NS-Literatur sei keine echte Literatur gewesen, die literatur–

wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Literatur nach dem

Zweiten Weltkrieg dominierte und die literaturwissenschaftliche Forschung zu diesem

Thema immer noch große Lücken aufweist, sind bis zum heutigen Tag doch bereits

mehrere Werke erschienen, die sich kritisch mit dieser Literatur auseinandersetzen. Diese

Arbeit versucht im Folgenden eine Übersicht über die Forschungslage zur Literatur im

„Dritten Reich“ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu bieten, ohne dabei den

Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Die Anfänge der Literaturerforschung des „Dritten Reiches“ sind bereits in den 1960er

Jahren zu finden, obwohl die verfassten Arbeiten nicht aus literaturwissenschaftlichem

sondern aus publizistischem Interesse entstanden sind. So wuchsen die Studien von Franz

Schonauer (1961) und Dietrich Strothmann (1961) aus ihren Berufstätigkeiten als Journalist

und bot der ehemalige Bibliothekar und Publizist Ernst Loewy mit seinem Werk Die

Literatur unterm Hakenkreuz (1966) eine erste verdienstvolle Materialversammlung an.39

Vor allem aus historischem Blickwinkel entstanden in den letzten siebzig Jahren

verschiedene Arbeiten, die sich manchmal nur am Rande mit der nationalsozialistischen

Literatur beschäftigen. Der Historiker und Holocaust-Überlebende Joseph Wulf versuchte

als einer der ersten und mit zahlreichen Publikationen, die bundesdeutsche Gesellschaft

umfassend über die Verbrechen der Nationalsozialisten und den Holocaust zu

informieren. Besonders mit seinen Dokumentationen zu verschiedenen Themenbereichen

des „Dritten Reiches“ – wie Literatur und Dichtung, Theater und Film, Musik und die

bildenden Künste – leistete er auch einen beträchtlichen Beitrag zur Erforschung der

37 Vgl. ebd. 38 Hauke Brunkhorst: Ansichten des Intelektuellen: Vom deutschen Mandarin zur Ästhetik der Existenz. In: Raum und Verfahren. Hg. v. Jörg Huber und Alois Martin Müller. Zürich, Frankfurt am Main: Stroemfeld - Roter Stern 1993, 55. 39 Franz Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich. Versuch einer Darstellung in polemisch-didaktischer Absicht. Olten: Walter Verlag 1961; Dietrich Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich. Bonn: Bouvier 1961; Ernst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1966. Auch Anacker, Schumann und Menzel werden in diesen Studien stellenweise erwähnt.

Page 27: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

27

Kultur- und Literaturpolitik im „Dritten Reich“.40 Allerdings wurde das Textmaterial in

beispielsweise der Dokumentation Literatur und Dichtung im Dritten Reich (1960) noch

unkommentiert und ohne Deutung gesammelt, wie es laut Simone Bautz für diese Zeit

noch üblich gewesen ist.41 Seit den 1990er Jahren hat sich auch der amerikanische

Historiker Jay W. Baird wiederholt auf die nationalsozialistische Literatur und besonders

die Dichtung in ihrem historischen Kontext bezogen. So widmete er den NS-Dichtern

Gerhard Schumann und Hans Baumann zwei Kapitel in seinem Werk über

nationalsozialistische Heldenverehrung.42 Vier Jahre später stellt er einen weiteren Autor

der Jungen Mannschaft, Eberhard Wolfgang Möller, als Hitlers Muse vor.43 In seiner 2008

erschienen Studie über das Leben und Werk sechs führender konservativer Dichter aus

der NS-Zeit, die den Traum von Veteranen des Ersten Weltkrieges artikulierten, um eine

sozial gerechte nationale Gemeinschaft zu bilden, greift Baird auch an zahlreichen Stellen

auf die von ihnen verfasste Kriegslyrik zurück.44

Auch die ersten germanistischen Arbeiten – von Albrecht Schöne45 und Walter Knoche46

– zu nationalsozialistischer Literatur entstanden bereits in den 1960er Jahren und

fokussierten sogar besonders auf die – politische – Lyrik. Einen bedeutsamen Beitrag zur

nationalsozialistischen Literaturtheorie bieten Klaus Vondung47 und Uwe-K. Ketelsen.48

Letzterer bietet mit seiner Studie Literatur und Drittes Reich (1994)49 sogar einen

Überblick über die verstreuten Publikationen bis Anfang der 1990er Jahre. Obwohl Horst

Denkler und Karl Prümm mit ihrem Sammelband Die Deutsche Literatur im Dritten Reich

(1976)50 versucht haben, neue Forschungsergebnisse in die Diskussion um die Literatur der

NS-Zeit einzuführen, blieb diese im literaturhistorischen Bewusstsein doch weiterhin so

40 Siehe dazu etwa seine Publikationen beim Verlag Sigbert Mohn in Gütersloh: Musik im Dritten Reich (1963), Die bildenden Künste im Dritten Reich (1963), Theater und Film im Dritten Reich (1963) und besonders interessant für die vorliegende Arbeit auch Literatur und Dichtung im Dritten Reich (1960), in dem Wulf auch Anacker, Schumann und Menzel an mehreren Stellen als Beispiele heranführt. 41 Vgl. Simone Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. Justus-Liebig-Universität-Gießen 2008 (Unveröffentlichte Dissertation), 37 42 Baird präsentiert Gerhard Schumann als „Elitist Poet of the Volk Community“ und Hans Baumann als „Troubadour of the Hitler Youth“. Vgl. Jay W. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1990, Kapitel VI und Kapitel VII. 43 Vgl. Jay W. Baird: Hitler’s muse: The political Aesthetics of the Poet and Playwright Eberhard Wolfgang Möller. In: German Studies Review 17.2 (1994), 269-285. 44 Vgl. Jay W. Baird: Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich. New York: Cambridge University Press 2008. Baird erwähnt vor allem Anacker und Menzel, und in geringerem Maße auch Schumann, an mehreren Stellen. 45 Albrecht Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965. 46 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors. 47 Klaus Vondung: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie. München: List 1973. 48 Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945. Stuttgart: Metzler 1976. 49 Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Vierow bei Greifswald: SH 1994. 50 Horst Denkler und Karl Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Stuttgart: Philipp Reclam 1976.

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Einführung

28

gut wie unbekannt. Sie sei, so Ketelsen, „in ein Knäuel von Unwissenheit, bewußter

Vergeßlichkeit, Reinigungszwängen, Verdrängungen, Berührungsängsten und reaktiven

Aggressionskomplexen verstrickt“.51 Auch Karl Heinz Schoeps52 und Brian Murdoch53

versuchen mit ihren Studien, das literarhistorische Bewusstsein der Deutschen für die

nationalsozialistische Literatur zu wecken. Besonders für den Unterricht eignen sich die

Materialsammlung zur „deutschen Faschismus in seiner Zeit“ von Harro Zimmermann54

und zwei im Reclam-Verlag publizierte Quellensammlungen. Der 15. Band der Reihe zur

deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart gibt eine Übersicht über die

Literatur der Jahre 1925 bis 1945. Besonders die Abschnitte zu nationalsozialistischer

Literaturkritik und nationalsozialistischer Lyrik beziehen sich auf die Literatur im „Dritten

Reich“.55 2001 erschien bei Reclam noch eine Quellensammlung, die ausschließlich die

Literatur und Literaturpolitik im „Dritten Reich“ dokumentiert.56 Mit Cornelia

Jungrichters Studie zur nationalsozialistischen Sonettdichtung,57 Alexander von

Bormanns Aufsatz zum Gemeinschaftslied58 und Alfred Roths Studie zum Massenlied59

sind besonders im Bereich der lyrischen Produktion auch drei wichtige

gattungsspezifische Studien erschienen. Erst 1993 erschien mit Jürgen Hillesheims und

Elisabeth Michaels Lexikon nationalsozialistischer Dichtung60 der erste Versuch, eine

umfangreiche und systematische Sammlung der für den Nationalsozialismus wichtigen

Dichtung zu bieten. Mit seiner mittlerweile vier Bände umfassenden Sammlung bio-

bibliographischer Portraits verschiedener NS-Autoren hat der Germanist und

Literaturhistoriker Rolf Düsterberg im letzten Jahrzehnt einen wichtigen Beitrag zur

literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Lyrik

geliefert.61 Schließlich verfasste Simone Bautz mit ihrer Dissertation über Gerhard

51 Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945, 1. 52 Karl-Heinz Schoeps: Literatur im Dritten Reich. Berlin: Peter Lang 1992. 53 Murdoch widmet der faschistischen Lyrik ein ganzes Kapitel in seinem Buch Brian Murdoch: Fighting Songs and Warring Words: Popular Lyrics of Two World Wars. Routledge 1990 vgl. besonders Kapitel 4. 54 Harro Zimmermann: Der deutsche Faschismus in seiner Lyrik mit Materialien. Stuttgart: Ernst Klett 1982. 55 Henri R. Paucker (Hg.): Neue Sachlichkeit Literatur im ‚Dritten Reich‘ und im Exil. Stuttgart: Reclam 1974, vgl. besonders S.57-58 und S.92-100. 56 Sebastian Graeb-Könneker (Hg.): Literatur im Dritten Reich. Stuttgart: Reclam 2001, vgl. besonders hinsichtlich der Lyrik S. 243-274. 57 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung. 58 Alexander von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen - Traditionen - Wirkungen. Hg. v. Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart: Philip Reclam 1976, 256-280. 59 Alfred Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993. 60 Jürgen Hillesheim und Michael Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, vgl. S.13-21 für Heinrich Anacker, S.327-333 für Herybert Menzel und S.407-412 für Gerhard Schumann. 61 Rolf Düsterberg: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 4 Bde. Bielefeld: Aisthesis 2009, 2011, 2015, 2018. Der erste Band enthält einen Aufsatz von Jan Bartels zu Gerhard Schumann (vgl. S.259-294). Der zweite Band enthält einen Aufsatz von Düsterberg selber zu Herybert Menzel (vgl. S. 143-147) und von Verena Schulz zu Heinrich Anacker (vgl. S.21-40).

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Sakralisierung des Politischen

29

Schumann im Jahre 2008 das erste umfangreiche – und bisher einzige – Werk über einen

spezifischen nationalsozialistischen Propagandadichter.62

4.2 Der religiöse Diskurs in NS-Dichtung

Noch dürftiger ist die Lage in Bezug auf thematische Teilgebiete in der NS-Literatur, wie

beispielsweise die in der vorliegenden Arbeit fokussierte Funktion des religiösen Diskurses

in der NS-Propaganda-Dichtung. Obwohl die sogenannte „nationalsozialistische Sprache“

– auch die „Sprache des Dritten Reiches“ oder die „Sprache im Dritten Reich“ bereits öfter

Gegenstand der Forschung war, beschränken sich diese Werke meistens auf die religiöse

Dimension der NS-Sprache als Propagandamittel oder das christlich-religiöse Vokabular

innerhalb der Propagandasprache. Als wichtigste und erste Arbeit zu diesem Thema muss

hier auf Victor Klemperers LTI – Notizbuch eines Philologen (1947) hingewiesen werden.

Auf Basis seiner Tagebuchanzeichnungen aus der Zeit des „Dritten Reiches“ verfasste

Klemperer noch während der Kriegsjahre die erste ausführliche sprachkritische Arbeit, in

der bereits auf die „religionsähnlichen“ Züge der nationalsozialistischen Sprache

aufmerksam gemacht wurde.63 Viel jüngeren Datums sind die im Jahre 2004 erschienene

sprachwissenschaftliche Dissertation von Christian Dube, der die religiöse Sprache in

Reden Adolf Hitlers analysiert,64 die im Jahre 2006 vorgelegte Inaugural-Dissertation von

Angelika Breil zur nationalsozialistischen Rhetorik65 und verschiedene Publikationen zur

nationalsozialistischen Sprachmanipulation des polnischen Sprachwissenschaftlers Jacek

Makowski.66

Zum religiösen Diskurs in der nationalsozialistischen Dichtung lassen sich nur vereinzelte

Publikationen oder Hinweise in umfassenderen Arbeiten aufweisen. Bereits im Jahre 1960

setzt sich Werner Hamerski in einem Aufsatz spezifisch mit religiösen Motiven in der

nationalsozialistischen Lyrik auseinander.67 Indem er besonders auf „the poetry of the

‚Rufer‘“ fokussiert, erweist sich die bereits erwähnte Dissertation von Walter Knoche auch

als eine wichtige Arbeit zu diesem Thema. Bei seiner Suche nach zentralen Themen und

62 Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. 63 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen 1947. Leipzig: Philipp Reclam 1970, vgl. besonders Kapitel XVIII „Ich glaube an ihn“. 64 Christian Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945. Norderstedt: Books on Demand 2004. 65 Angelika Breil: Studien zur Rhetorik der Nationalsozialisten (Fallstudien zu den Reden von Joseph Goebbels). Ruhr-Universität-Bochum 2006 (Unpublizierte Dissertation), vgl. insbesondere Abschnitt 2.6.7 Religiös konnotierte Begriffe und Wendungen. 66 Vgl. beispielsweise Jacek Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus. Lodz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lodzkiego 2008, Dissertation. 67 Werner Hamerski: „Gott“ und „Vorsehung“ im Lied und Gedicht des Nationalsozialismus. In: Publizistik 5 (1960), 280-300.

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Einführung

30

Motiven in NS-Lyrik sei er quasi automatisch in der religiösen Sphäre gelandet.68 Obwohl

weitere Forscher wie Cornelia Jungrichter, Albrecht Schöne, Karl Heinz Schoeps und

Simone Bautz einen religiösen – oder religiös anmutenden – Sprachgebrauch in der

nationalsozialistischen Literatur mal vereinzelt in den Mittelpunkt rücken, erscheint das

Thema kaum als zentraler Forschungsgegenstand.

Bezüglich der religiösen Metaphorik in der nationalsozialistischen Literatur ist vor allem

das Werk von Klaus Vondung erwähnenswert. In seiner im Jahre 1971 veröffentlichten

Dissertation Magie und Manipulation – Ideologischer Kult und politische Religion des

Nationalsozialismus untersucht er die Entstehung und die Form des

nationalsozialistischen Feierstils. Er unterscheidet verschiedene nationalsozialistische

Feiertype, wie z.B. die chorischen Feierspiele, die Feiern im nationalsozialistischen

Jahreslauf und die Morgenfeiern, deren Gestaltungsform quasi als eine „Liturgie“

erscheint. Außerdem erscheinen die in den Feiern benutzten Texte als eine Art „liturgische

Texte“. Mit sogenannten „Bekenntnisliedern“ wird der Glaube an den „Führer“, das

Vaterland oder die Fahne ausgesprochen, die chorischen Dichtungen wurden zu

konkreten Feieranlässen verfasst.69 Obwohl Vondung die religiöse Metaphorik in

nationalsozialistischer Dichtung in diesem Buch nur im Rahmen der rituellen Gestaltung

des Nationalsozialismus fokussiert, hat er sich in seiner weiteren Forschung mehrmals mit

nationalsozialistischer Dichtung und Literaturpolitik und deren inhärenten religiösen

Dimension befasst. So vertritt er in einem im Jahre 1997 erschienenen Aufsatz die These,

dass ein Literaturwissenschaftler eher die Rolle eines Theologen einnehme, wenn er sich

mit der Interpretation nationalsozialistischer Propagandadichtung beschäftigt und die

Literaturwissenschaft folglich eher als „Literaturtheologie“ erscheine.70 Auch seine jüngste

Buchveröffentlichung Deutsche Wege zur Erlösung (2013) hat die religiöse Dimension des

nationalsozialistischen Systems zum Gegenstand. Wie Vondung in seinem Nachwort

selber verdeutlicht, ist dieses Buch „das Resümee jahrzehntelanger Beschäftigung mit

Erscheinungen der Religiosität im Nationalsozialismus“.71 Die sieben Kapitel behandeln

dann auch die Themen, mit denen er sich schon in früheren Werken auseinandergesetzt

hat: politische Religion, Glaube, Mystik, Mythos und Ritual, Kult, Theologie und

Apokalypse.

68 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 8. 69 Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, vgl. besonders S.117-122. 70 Vgl. Klaus Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich. In: Rhetorik 17 (1997), 37-44. 71 Klaus Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung. München: Fink 2013, 139.

Page 31: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

31

5. Zur Gliederung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Formen und Funktionen des christlich-

religiösen Diskurses in affirmativer NS-Dichtung, für die die Dichtung von Heinrich

Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel als repräsentativ gilt, anhand einer

möglichst ideologiekritischen Textinterpretation zu untersuchen. In diesem

Zusammenhang versteht diese Arbeit die zur Analyse angeführte NS-Dichtung als

textuelle Repräsentation der nationalsozialistischen „(politischen) Religion“. Zu diesem

Zweck gliedert sich die Arbeit, die insgesamt acht Kapitel enthält grob in zwei Hauptteile:

Nach dieser Einführung folgen zunächst zwei Kapitel, die zusammen die theoretische

Grundlage dieser Dissertation konstituieren. Die nächsten vier Kapitel umfassen die

eigentliche literaturwissenschaftliche Analyse, die besonders auf die Sakralisierung von

„Führer“, „Reich“ und „Volk“ in ausgewählter NS-Dichtung fokussiert. Im abschließenden

Fazit geht diese Arbeit noch einmal besonders auf die Repräsentativität der drei gewählten

NS-Dichter ein und bietet zudem einen Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten.

Kapitel II und III, die die theoretische Grundlage dieser Dissertation bilden, führen

besonders das Verhältnis von Nationalsozialismus und Religion bzw. Nationalsozialismus

und Dichtung hervor. Zu diesem Zweck setzt sich Kapitel II zunächst mit „Totalitarismus“,

„Fanatismus“ und „völkischer Ideologie“ als wichtigen Konzepten innerhalb der

Totalitarismusforschung auseinander und versucht darüber hinaus den ambivalenten

Charakter des Nationalsozialismus als einer „modernen“ Erscheinung zu erklären. Dieser

ambivalente Charakter zeigt sich auch in der Bezeichnung des Nationalsozialismus als

einer „politischen Religion“, welche für die vorliegende Arbeit über den religiösen Diskurs

in nationalsozialistischer Dichtung als besonders geeignet erscheint. Deswegen richtet

sich das Hauptaugenmerk dieses Kapitels zunächst auf die Forschungstradition und

Definitionsproblematik der Bezeichnung „politische Religion“. Um die „politische

Religion“ als ein handhabbares Konzept für die Analyse und Interpretation eines religiösen

Diskurses in NS-Dichtung darzustellen, plädiert dieses Kapitel für eine erweiterte und

mehrdimensionale Perspektive, damit auch nicht-religiöse – oder politische – Systeme als

„(politische) Religionen“ beschrieben und interpretiert werden können. Gemäß dieser

Auffassung lässt sich die affirmative NS-Dichtung dann als textuelle Repräsentation dieser

nationalsozialistischen „(politischen) Religion“ erkennen und erscheinen die darin

enthaltenen sakralisierten politischen Inhalte als mögliche „Glaubensartikel“ dieser

„(politischen) Religion“.

Kapitel III versucht daraufhin, zunächst die nationalsozialistische Lyrik zu definieren,

wobei sie die gesellschaftspolitische Funktion dieser Lyrik in den Mittelpunkt rückt. Nach

dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser „Gebrauchswertcharakter“ weitgehend kritisiert und

als einer der Gründe für die literaturwissenschaftliche Vernachlässigung herangeführt. Im

Page 32: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Einführung

32

„Dritten Reich“ wurde die nationalsozialistische Dichtung als pointiert politische

Dichtung jedoch gerade wegen ihrer dienenden und „erzieherischen“ Funktion stark

gefördert und gelobt. Dieses Kapitel erläutert die zwei wichtigsten im vorliegenden Korpus

enthaltenen Gedichttypen – das Marsch- und Soldatenlied und die Feier- und

Weihedichtung – dann auch besonders hinsichtlich ihrer Funktion innerhalb des NS-

Systems. Auch der nationalsozialistische Dichter selber übernimmt in diesem

Zusammenhang eine spezifische – auch „dienende“ – Rolle innerhalb der NS-Gesellschaft.

Dieses Kapitel präsentiert Anacker, Schumann und Menzel als Dichter der sogenannten

„Jungen Mannschaft“ als repräsentativ für die nationalsozialistischen Dichtung. Vor

diesem Hintergrund und weiterbauend auf die theoretischen Überlegungen zum

Nationalsozialismus als „(politischer) Religion“ im vorangehenden Kapitel, führt dieses

Kapitel zudem Argumente für eine ideologiekritische Herangehensweise an diese

Dichtung an. Zu diesem Zweck verbindet sie die „literaturtheologischen“ Überlegungen

von Klaus Vondung mit dem textsoziologischen Ansatz von Peter Zima. In diesem

Zusammenhang bietet dieses Kapitel eine Arbeitsdefinition von Diskurs und Ideologie an.

Kapitel V, VI und VII enthalten die eigentlichen Textanalysen der ausgewählten

Gedichtbände, die also die sakralisierten Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“ als

sogenannte „Glaubensartikel“ der nationalsozialistischen „(politischen) Religion“ in den

Mittelpunkt rücken. Gerade in Verbindung mit einem christlich-religiösen Diskurs

erscheinen diese Ideologeme in der Dichtung als sakrale Höchstwerte. Das diesen drei

Kapiteln vorangehende Kapitel IV untersucht jedoch zunächst die bereits inhärente

religiöse Potenz dieser drei Ideologeme. Wegen der krisenhaften Nachkriegssituation in

Deutschland in den 1920er Jahren wuchs allmählich ein generelles Erlösungsbedürfnis,

dass die Stilisierung von politischen „Führern“ zu pseudoreligiösen „Messias“-Figuren

ermöglichte. Auch die erfolgreiche Stilisierung von Adolf Hitler als dem

nationalsozialistischen „Führer“ zum „deutschen Messias“ lässt sich in diesem historischen

Kontext und außerdem auch im Rahmen eines „politischen Messianismus“, der seinen

Ursprung in der Französischen Revolution findet, erklären. Dieses Kapitel führt die

religiöse Potenz des zweiten Ideologems – „Reich“ – auf die mittelalterliche christliche

Theologie von Joachim von Fiore zurück. Joachims Vorstellung von drei Zeitaltern, die auf

Deutsch als „erstes“, „zweites“ und „drittes Reich“ übersetzt werden, gilt als das

theologische bzw. geschichtsphilosophische Fundament des Symbols des „dritten

Reiches“, das in den nachfolgenden Jahrhunderten als Kollektivsymbol in der

abendländischen Tradition rezipiert wurde. Die religiöse Potenz von „Volk“ als drittem

„Glaubensartikel“ erklärt dieses Kapitel anhand von externen Faktoren, und zwar aus der

Pflicht, die jedes Mitglied der Volksgemeinschaft seinem „Führer“ und „Reich“ gegenüber

zu erfüllen hat. Zentral steht dabei die Bereitschaft, für das Vaterland zu kämpfen und zu

sterben, was in der Märtyrerstilisierung der sogenannten „Gefallen der Bewegung“ – mit

denen sowohl die Verstorbenen im Zweiten Weltkrieg als auch die getöteten Putschisten

Page 33: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Sakralisierung des Politischen

33

im Jahre 1923 gemeint werden – zum Ausdruck kommt. Diese Stilisierung von „Helden“ zu

„Märtyrern“ führt in erster Linie zur sakralen Aufwertung des männlichen Mitglieds der

Volksgemeinschaft. Wie die Analyse zeigt, beschränkt sich die Darstellung der Frau zu der

religiösen Aufwertung ihrer Mutterrolle.

Kapitel V, VI und VII überprüfen die Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ dann

besonders in ihrer textuellen Repräsentation in der nationalsozialistischen Dichtung. Die

Analyse übersteigt die rein lexikalisch-semantische Ebene, indem sie auf syntaktisch-

narrativer Ebene wiederkehrende Motive und Topoi untersucht. Außerdem deckt die

Analyse auch intertextuelle Verweise auf die christliche Bibel72 und in geringerem Maße

auch kirchliche Liedbücher auf. Das Hauptaugenmerk von Kapitel V richtet sich auf die

Stilisierung von Adolf Hitler als einem messianischen „Führer“ in Heinrich Anackers

Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936, Erstausgabe 1933).

Kapitel VI erforscht, inwiefern Gerhard Schumann das „Reich“ in seiner Anthologie Die

Lieder vom Reich (1935) als theologisches Konzept gestaltet. Die Märtyrerstilisierung der

„Gefallenen der Bewegung“ und in geringerem Maße die Sakralisierung der Genderrollen

stehen im Mittelpunkt der Analyse des Glaubensartikels „Volk“ in Herybert Menzels

Gedichtband Gedichte der Kameradschaft (1936).

72 Die in der Arbeit aufgenommenen Bibelzitate werden der Lutherbibel 1912 entnommen.

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Page 35: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

II Der Nationalsozialismus - Eine fanatische

Bewegung oder eine politische Religion?

Ein Definitionsversuch

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Der Nationalsozialismus

37

In der vorliegenden Arbeit, die auf den religiösen Diskurs in affirmativer

nationalsozialistischer Lyrik fokussiert, lassen sich gleich in der Zielsetzung wichtige

klärungsbedürftige Terminologien bemerken. Während das nächste Kapitel und im

Hinblick auf die lyrische Gattung und das methodologische Verfahren Licht auf die

Begriffe „Dichtung“ und „Diskurs“ wirft, führt dieses Kapitels das Verhältnis zwischen

„Nationalsozialismus“ und „Religion“ im „Dritten Reich“ hervor. Im Besonderen wird

untersucht, inwiefern der Religionsbegriff mit einer primär politisch verstandenen

Ideologie im Einklang zu bringen wäre. Zu diesem Zweck schaut diese Arbeit zunächst

kurz auf Hannah Arendts Versuch, den Nationalsozialismus anhand des

Totalitarismuskonzeptes zu deuten. Anschließend wird ausführlich auf das

Deutungsmuster der politischen Religion eingegangen, wessen Grundlage bereits in der

Hitler-Zeit gelegt wurden. Nach einer Skizze der Forschungstradition und der

Definitionsproblematik wird kritisch an die bisher unterbeleuchtete „religiöse“ Eigenheit

dieses Konzeptes herangegangen. Anhand des mehrdimensionalen Religionskonzeptes

von Ninian Smart versucht dieses Kapitel eine neue Perspektive auf den (politischen)

Religionsbegriff zu bieten. Schließlich und bereits im Hinblick auf das lyrische Korpus

dieser Arbeit beschreibt dieses Kapitel die textuelle Repräsentation der sogenannten

„Glaubensartikel“ als säkularisierten und sakralisierten Ausdrücke der

nationalsozialistischen (politischen) Religion.

1. Totalitarismus, Fanatismus, völkische Ideologie -

Begriffliche Überlegungen

In den Aufarbeitungsversuchen nach dem Zweiten Weltkrieg spielte in erster Linie die

Totalitarismustheorie von Hannah Arendt eine große Bedeutung. In ihrem umfangreichen

Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955)73 präsentiert Arendt die „totale

Herrschaft“ als eine neue „Staatsform“ am Beispiel der nationalsozialistischen und

stalinistischen Regime. Zwei historische Gründe für das Aufkommen dieser neuen

Staatsform sieht Arendt einerseits im Niedergang und Zerfall des Nationalstaats und

andererseits im Aufstieg der modernen Massengesellschaft.74 Vor allem das Potenzial der

„Masse“ habe sich als ein wichtiges Element für die fruchtbare soziale Basis eines

totalitären Systems erwiesen: „Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne

Unterstützung durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich“.75 Dabei sei auch

die sozio-politische Situation von Bedeutung, denn die Masse unterstützte das ihr

73 Dieses Werk erschien im Jahre 1951 zunächst in englischer Sprache in den USA mit dem Titel The Origins of Totalitarianism. 1955 brachte Arendt eine deutsche und bereits erweiterte Fassung heraus. 74 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955, XII. 75 Ebd., 488.

Page 38: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Ein Definitionsversuch

38

terrorisierende Regime, gerade weil sie sich zur gleichen Zeit in einer Krisenzeit auch von

ihm unterstützt fühlte: „Totalitäre Bewegungen […] sind überall da möglich, wo Massen

existieren, die aus gleich welchen Gründen nach politischer Organisation verlangen“.76

Gerade darin lag laut Martin Broszat die Stärke der nationalsozialistischen

Massenbewegung. Denn, während sich die Masse von anderen politischen Bewegungen

eher vernachlässigt fühlte, fühlte sie sich durch die Ideologie und Organisationsstärke der

NSDAP legitimiert und wurde sie zu einer politisch durchsetzungsfähigen und

gefährlichen Kraft.77

Innerhalb dieses totalitären Herrschaftsapparats spielt auch die Figur des „Führers“ eine

zentrale Rolle: „Im Zentrum der Bewegung, als der Motor gleichsam, der sie in Bewegung

setzt, sitzt der Führer“.78 Die totalitäre Organisation sei darauf ausgerichtet, den Willen

des „Führers“ durchzuführen. Allerdings weist Arendt erneut auf die bestimmende

Funktion der Masse hin, denn „ohne das Vertrauen der Massen hätte weder er [Hitler]

noch Stalin Führer bleiben können“.79 Außerdem könnte man Hitlers Machtergreifung als

„Führer“ der damals weitaus größten Partei in dieser Hinsicht auch nur als „legal nach

allen Regeln der demokratischen Verfassung“80 interpretieren. Obwohl sowohl im

stalinistischen als auch im nationalsozialistischen System Macht und Autorität direkt von

der Person des „Führers“ abgeleitet waren und also nicht durch Gesetze bestimmt, sieht

Roland Schindler in Hitlers und Stalins Verfahren doch einen Unterschied. Beide „Führer“

besetzten wichtige Funktionen der Bewegung mit Personen ihres Vertrauens und konnten

daher auch jederzeit entscheiden, einen Funktionär zu entmachten. Während Hitler die

betroffenen Funktionäre aber auf bedeutungslose Posten versetzte, ließ Stalin sie

liquidieren.81 Auch wenn Hitlers Verfahren in diesem spezifischen Kontext vielleicht als

etwas gemäßigter erscheinen würde, war Gewalt – oder Terror – auch im

nationalsozialistischen totalitären Herrschaftsapparat ein zentrales Mittel der Macht.

Neben Gewalt bedienen sich totalitäre Bewegungen zur Verbreitung ihrer Macht, so

Arendt, auch der Propaganda. Diese Propaganda sei dabei aber eher als „Indoktrination“82

und „psychologischer Kriegsführung“83 zu verstehen, wobei sich ihr Terror nicht so sehr

gegen Gegner, die man durch Propaganda nicht hat überzeugen können, als vielmehr

76 Ebd., 496. 77 Vgl. Martin Broszat: Zur Struktur der NS-Massenbewegung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), 53. 78 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 592. 79 Ebd., 489. 80 Ebd. 81 Roland W. Schindler: Geglückte Zeit - gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne. Frankfurt, New York: Campus Verlag 1995, 75. 82 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 545. 83 Ebd., 548.

Page 39: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Der Nationalsozialismus

39

gegen jedermann richte.84 Laut Arendt zeigt sich der Terror aber als die eigentliche

Herrschaftsform totalitärer Regime, denn sobald sich aus den totalitären Bewegungen

tatsächlich verfestigte totalitäre Diktaturen entwickelt haben, wird Terror benutzt, um mit

Gewalt die ideologischen Doktrinen und die aus ihnen folgenden praktischen Lügen in die

Wirklichkeit umzusetzen:85 „Terror bleibt grundsätzlich die Herrschaftsform totalitärer

Regierungen, wenn seine psychologischen Ziele längst erreicht sind; das wirkliche Grauen

setzt erst ein, wenn Terror eine vollkommen unterworfene Bevölkerung beherrscht“.86

Gerade in diesem Unterwerfungsdrang und in der Kompromisslosigkeit zeigt sich zudem

der Fanatismus totalitärer Regime. So sei es kein Zufall, wenn in totalitären Staaten

Strafkolonien entstehen, ganz unabhängig davon, ob es sich um Fanatiker der linken oder

der rechten Ideologien handele: „Jeder, der sich nicht dem Totalitätsanspruch der

fanatischen Weltanschauung unterwerfen will, ist gefährlich und muss deshalb vernichtet

oder zumindest der Berührung mit anderen Menschen entzogen werden“.87 Bereits der

jüdische Schriftsteller Victor Klemperer zeichnete in seinem Tagesbuch auf, wie häufig die

Begriffe „fanatisch“ und „Fanatismus“ an offizieller Stelle gebraucht wurden und –

wichtiger noch – welchen Wertwandel das Wort erlebt hat.88 Denn, das ursprünglich

negativ konnotierte Wort „Fanatismus“ wurde im nationalsozialistischen Sprachgebrauch

positiv umgewertet. Auf Basis ihrer Studien zu den Reden von Joseph Goebbels

schlussfolgert Angelika Breil, dass dieses Wortfeld „die höchste Stufe des Glaubens an die

Idee des Nationalsozialismus ein[schließt], aus dem eine uneingeschränkte Bereitschaft

resultiert, sich als Person für die Sache einzubringen“.89 Auch Hitler deutet den

Fanatismus in Mein Kampf als eine positive Charakteristik, indem er die Zukunft der

Bewegung vom „Fanatismus“ seiner Anhänger abhängen lässt. In diesem Zusammenhang

sei „Fanatismus“ als „die Unduldsamkeit, mit der ihre Anhänger sie [die Bewegung] als die

allein richtige Verstehen und anderen Gebilden ähnlicher Art gegenüber durchsetzen“.90

Diese völlige Selbstidentifikation des Individuums mit der Bewegung führt dazu, dass das

„fanatisierte“ Mitglied weder von Erfahrung noch Argumenten zu erreichen ist.91

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man laut Arendt gerade mit psychologischen

Erklärungen „eines halb geistesgestörten Fanatismus“ den Antisemitismus als Kern und

Kristallisationspunkt der nationalsozialistischen Ideologie versucht zu erklären.92

Allerdings kannte der deutsche Rassebegriff bereits eine viel längere Geschichte in

84 Vgl. ebd., 545. 85 Vgl. ebd. 86 Ebd., 548. 87 Walter Biemel: Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart. Den Haag: Martinus Nijhoff 1968, 35. 88 Vgl. Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 72. 89 Breil: Studien zur Rhetorik der Nationalsozialisten (Fallstudien zu den Reden von Joseph Goebbels), 190. 90 Adolf Hitler: Mein Kampf. München: Eher 1943, 384. 91 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 492. 92 Vgl. ebd., 3.

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Ein Definitionsversuch

40

völkischen Ideologien, die ihren Ursprung schon im 18. Jahrhundert finden. Obwohl die

Rassenpolitik der Nazis ihre beste Propaganda dargestellt habe, haben „weder die Nazis

noch die Deutschen [den Rassenbegriff] entdeckt, er ist nur nie vorher mit solch

gründlicher Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt worden“.93 Im 19. Jahrhundert hat

es auch in Frankreich und England bereits Versuche gegeben, die Bevölkerung in

verschiedene Völker aufzuteilen. Am Beispiel Deutschlands demonstriert Arendt, wie mit

rassischen Ideen die kollektive Identität eines Volkes begründet werden könne.94 Uwe

Puschner zufolge ist das rassische Element der einzige Aspekt, den die Nationalsozialisten

in seiner Gesamtheit der völkischen Ideologie übernommen haben.95

Indem Arendt den totalen Herrschaftsapparat schließlich auch mit einer

„Geheimgesellschaft“ vergleicht, macht sie in ihrer Darstellung des Nationalsozialismus

als eines totalitären Regimes auch bereits auf einige pseudoreligiöse Charakteristiken

dieses Systems aufmerksam. Obwohl Zeitgenossen wie Eric Voegelin, Raymond Aron und

Paul Schütz den Nationalsozialismus bereits in den 1920er und 1930er-Jahren als eine

„politische“ oder „säkulare Religion“ beschrieben,96 hat Arendt die Bezeichnung für ihr

Totalitarismuskonzept nicht übernommen. Allerdings weist auch sie auf einige Aspekte

hin, die auch für einen solchen Deutungsversuch brauchbar wären. So sollen totalitäre

Bewegungen verschiedene Charakteristiken von Geheimgesellschaften, „die sich im vollen

Licht der Öffentlichkeit etablieren“,97 übernommen haben. Beispiele dafür sieht sie im

Prinzip, „dass ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich eingeschlossen ist“,98 und in der

Rolle, die dem Ritual in den Bewegungen zukommt.99 Auch die Tendenz zur

Verselbständigung der Funktion des „Führers“ bekam in der totalitären Bewegung einen

pseudoreligiösen Charakter: Der andauernde politische Erfolg des „Führers“ war der ideale

Nährboden für den sogenannten „Führermythos“, in dem sein Erfolg als Beweis für die

besondere Mission, mit der die Vorsehung ihn betraut hat, gedeutet wurde.100 Hans Maier

hat diese Aspekte im Rahmen einer gewissen „Religiosität“ totalitärer Systeme erklärt,101

die bereits im „Dritten Reich“ Anlass dazu gegeben haben, den Nationalsozialismus als ein

religiöses – oder zumindest ein religionsähnliches – System zu bezeichnen.

93 Ebd., 260. 94 Vgl. Schindler: Geglückte Zeit - gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, 35-38. 95 Vgl. Uwe Puschner: ‚One People, One Reich, One God‘ The Völkische Weltanschauung and Movement. In: German Historical Institute London Bulletin 24.1 (2002), 27. 96 Auf die „politische Religion“ und die Forschung der hier genannten Zeitgenossen wird im zweiten Teil dieses Kapitels näher eingegangen. 97 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 597. 98 Ebd., 599. 99 Vgl. ebd., 600. 100 Vgl. Schindler: Geglückte Zeit - gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, 75-76. 101 Vgl. Hans Maier: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. In: Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Hg. v. Jesse Eckhard. Baden-Baden: Nomos 1999, 125.

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Der Nationalsozialismus

41

Gerade im Zusammenhang mit dem „religiösen“ Charakter totalitärer Systeme erhebt sich

auch die Frage, ob der Nationalsozialismus als ein Produkt der Moderne zu betrachten

wäre. Unter anderem auf der Grundlage von Max Horkheimer und Theodor W. Adornos

Dialekt der Aufklärung hat der Soziologe Zygmunt Bauman die „Janusköpfigkeit“ oder auch

die „Ambivalenz“ als das zentrale Wesensmerkmal der Moderne entlarvt.102 Auch der

Nationalsozialismus sei von einem fundamental ambivalenten Grundcharakter geprägt. So

gibt es nicht nur das Nebeneinander von „konservativem“ und „revolutionärem“

Gedankengut, die sozialdarwinistische „Wissenschaftsgläubigkeit“ scheint dann wieder

der irrationalen „Mythenbildung“ gegenüberzustehen. Für diese Arbeit ist vor allem der

ambivalente Charakter des Nationalsozialismus als einer möglichen „politischen Religion“

von Bedeutung. Wie im Folgenden im Rahmen der Debatte über den Nationalsozialismus

als „politische Religion“ noch weiter erläutert wird, verhielt sich der Nationalsozialismus

auf der einen Seite „dezidiert anti-kirchlich“ und „anti-religiös“, auf der anderen Seite

etablierte er sich aber auch als ein „religionsähnliches Phänomen“.103 Vielleicht wäre der

Nationalsozialismus gerade in seiner Gestalt als „politische Religion“ als ein Produkt der

Moderne, und zwar als ein Produkt von Industrialisierung und Säkularisierung und so als

ein Erbe der Französischen Revolution zu betrachten.

Laut Vondung bedeutet „Säkularisierung“ im Grunde genommen, dass etwas, das zur

heiligen Sphäre gehört, in die weltliche – säkulare – Sphäre verwandelt wird. Im 17.

Jahrhundert wurde „Säkularisierung“ als juristisches Konzept in der christlichen Welt im

Zusammenhang mit der Übergabe von kirchlichem oder klösterlichem Eigentum hin zum

Staat benutzt. Im 19. und 20. Jahrhundert transferierte das Säkularisierungskonzept von

der juristischen in die philosophische Sphäre und wurde so auch auf politische Ideen

anwendbar.104 Diese Säkularisierungstendenz führte dazu, dass alte Formen religiöser

Autorität und Identität in Verfall gerieten. In diesem Zusammenhang weist Stanley

Stowers aber auf die Idee des homo religiosus, die Religiosität als einen zentralen

Bestandteil der menschlichen Natur betrachtet: „Religion or the sacred is somehow the

ground of human existence. If true religion is lost, the human need remains and it must

find new objects of worship”.105 In diesem Sinne lässt sich der Nationalsozialismus in

Gestalt einer „politischen Religion“ als Antwort auf das spirituelle Vakuum der Moderne

interpretieren. Gerade diese „Sakralisierung“ des Politischen beschreibt Emilio Gentile als

ein modernes Phänomen, dass erst durch die Trennung von Kirche und Staat als Folge der

102 Vgl. Riccardo Bavaj: Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus: Eine Bilanz der Forschung. München: Oldenbourg 2014, 54. 103 Vgl. Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 120. 104 Vgl. Klaus Vondung: Are Political Religions and Civil Religions Secularizations of Traditional Religions? In: Review of Religions 1 (2016), 5. 105 Stanley Stowers: The Concepts of ‚Religion‘, ‚Political Religion‘ and the Study of Nazism. In: Journal of Contemporary History 42.1 (2007), 19.

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Ein Definitionsversuch

42

Säkularisierung möglich wurde.106 Diese „Sakralisierung“ sei als eine Art Prozess zu

verstehen, in dem eine politische Bewegung einer irdischen – säkularen – Entität wie etwa

Nation, Staat, Rasse, Partei, Mensch einen heiligen Status verleiht und diese so als heilige

Sache zur letzten Sinnstiftung der kollektiven Einheit verabsolutiert.107 Sarah Thieme hat

Gentiles Konzept der Sakralisierung des Politischen als ein „Zuschreibungsprozess des

Heiligen“ konkretisiert.108 Gerade das Konzept der Sakralisierung eignet sich laut Vondung

besonders für die „politische Religion“, weil in solchen Systemen wesentlich säkulare, und

zwar politische und ideologische Angelegenheiten sakralisiert werden.109

Im Folgenden wird besonders die Bezeichnung des Nationalsozialismus als „politischer

Religion“ problematisiert. Dafür fokussiert diese Arbeit zunächst auf die

Forschungstradition, um schließlich selber für eine neue – mehrdimensionale –

Perspektive auf den Nationalsozialismus als eine (politische) Religion zu plädieren,

weswegen im weiteren Verlauf der Arbeit auch der verwendete religiöse Diskurs in

nationalsozialistischer Propagandadichtung erklärt und interpretiert werden kann.

2. Der Nationalsozialismus – Eine politische Religion?

Wegen der ausgesprochenen antisemitischen Überzeugungen des Nationalsozialismus

und der nach dem Zweiten Weltkrieg oft beschriebenen feindseligen Haltung den

christlichen Kirchen gegenüber,110 hat es durchaus den Anschein gegeben, der

Nationalsozialismus sei Religion und Kirche zuwider gewesen. Allerdings waren Adolf

Hitler und seine Gesinnungsgenossen den christlichen Kirchen und ihrer Sache schon

gewogen.111 Bereits das nationalsozialistische Parteiprogramm äußert sich im

vierundzwanzigsten Artikel besonders zur Beziehung zu den christlichen Kirchen:

Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen

Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse

verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne

sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-

106 Vgl. Gentile: The Sacralisation of Politics: Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism, 22. 107 Vgl. ebd., 18-19. 108 Vgl. Sarah Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939). Frankfurt am Main: Campus Verlag 2017, 44. 109 Vgl. Vondung: Are Political Religions and Civil Religions Secularizations of Traditional Religions?, 9. 110 Vgl. z.B. John S. Conway: The Nazi Persecution of the Churches 1933-1945. London: Weidenfeld and Nicolson 1968. 111 Vgl. Thomas D. Schwartz: The National Socialist Stand on Christianity. The Barnes Review (1999) In: Wintersonnenwende (2002). ORL: https://www.wintersonnenwende.com/scriptorium/english/archives/articles/NSChristianity.html [Letzter Zugriff: 08.02.2019].

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Der Nationalsozialismus

43

materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung

unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage Gemeinnutz vor

Eigennutz.112

In diesem Parteipunkt spricht sich die NSDAP nicht für oder gegen eine der beiden

Landeskirchen aus. Eine gewisse religiöse Freiheit wird vorausgesetzt – obwohl dies

natürlich nicht für die jüdischen Mitbürger gilt – und die Partei scheint ein „positives

Christentum“ zu unterstützen, mit dem suggeriert wird, dass Staat und Partei den

christlichen Standpunkten nahe standen, solange diese mit dem „Sittlichkeits- und

Moralgefühl der germanischen Rasse“ in Übereinstimmung waren. Die wichtigste

Grundlage dieses positiven Christentums scheint sich einfach mit der

nationalsozialistischen Idee der kollektiven Identität zu überschneiden, indem

„Gemeinnutz vor Eigennutz“ gefordert wird.113 Auch wenn sich Hitler mehrmals für eine

deutliche Trennung von Kirche und Staat ausgesprochen hat und er und andere führende

Persönlichkeiten wiederholt betonten, dass die NSDAP eine säkulare Bewegung war, kann

– und konnte – man nicht über die religiöse Dimension im Nationalsozialismus

hinwegsehen. Es sei dann auch zu simplifizierend, Nationalsozialismus und Christentum

generell als unvereinbare, monolithische Einheitsblöcke gegenüberzustellen.114

Bereits während der Hitler-Zeit wurde diese religiöse Dimension wahrgenommen, was

unter anderem dazu geführt hat, dass Zeitgenossen wie Erich Voegelin und Raymond Aron

den Nationalsozialismus ausdrücklich als eine „politische Religion“ bezeichneten.115

Obwohl das Deutungskonzept der „politischen Religion“ in der Totalitarismusforschung

unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst keine große Rolle spielte, meint der

Religionspolitologe Claus-Ekkehard Bärsch, dass „jede Forschung über die Geschichte des

Nationalsozialismus sowie jede Verurteilung der Handlungen der Nationalsozialisten […]

die Erkenntnis der religiösen Dimensionen in der nationalsozialistischen Anschauung von

112 Rosten: Das ABC des Nationalsozialismus, 57. 113 Die Tagung „Was glaubten die Deutschen 1933-1945?“, die am 6. und 7. Dezember 2018 an der WWU in Münster stattfand, versuchte eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Religion und Politik im Nationalsozialismus zu bieten. Wie der Historiker Armin Nolzen während einer der vielen Diskussionsrunden bemerkte, bleibt das Konzept „positives Christentum“ bis heute ein weißer Fleck in den Studien zum Nationalsozialismus. Für das Programm dieser Tagung siehe https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/religion_und_moderne/flyer/tagung_was_glaubten_die_deutschen_programm.pdf. [Letzter Zugriff: 01.02.2019]. 114 Vgl. Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 34. 115 Voegelin arbeitete den Begriff ‚politische Religion‘ zum ersten Mal in seinem Buch Die politischen Religionen (1938) heraus. Raymond Aron benutzte dieses Konzept zum ersten Mal 1939 in seinem Essay Élie Halévy et l’ère des tyrannies in deutlicher Verbindung mit der Definition von Voegelin. Vgl. dazu Brigite Gess: The Conceptions of Totalitarianism of Raymond Aron and Hannah Arendt. In: Totalitarianism and Political Religion. Hg. v. Hans Maier. Oxon: Routledge 2004, 235, Fn. 234. Voegelin verfasste seine Arbeit bereits im Jahre 1938 in Wien, kurz vor seiner Emigration in die USA. Diese Arbeit zitiert im Folgenden aus Erich Voegelin: Die politischen Religionen. Stockholm: Bermann-Fischer 1939.

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Ein Definitionsversuch

44

Welt voraus[setzt]“.116 Erst in den 1990er Jahren wurde die „politische Religion“ dann

wieder in den Brennpunkt gerückt, was der Anfang einer langen – bis heute noch nicht

beendeten – Diskussion über die Möglichkeiten, Grenzen und Tauglichkeit dieses Begriffs

bedeutete. Vor allem dank der ausführlichen Bearbeitung des Themas durch den

ehemaligen bayerischen Kultusminister und Inhaber des Münchner Lehrstuhls für

Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie Hans Maier und der von ihm

zwischen 1992 und 2000 organisierten Konferenzen über Totalitarismus und politische

Religion entstand ein breit angelegtes Forschungsprojekt.117 Dieses Kapitel möchte die

überwiegend historische und politikwissenschaftliche Perspektive auf das Konzept der

politischen Religion mit einer religionsphilosophischen, die auf das „Religiöse“ – also den

Religionsbegriff selber – fokussiert, erweitern.

2.1 Forschungsfeld und Definitionsproblematik der „politischen

Religion“118

Ein kurzer Blick auf die Forschungstradition zeigt die andauernde Debatte darüber, ob

und wie man den Nationalsozialismus als „politische Religion“ bezeichnen könnte. Laut

Hans Maier hat Franz Werfel den Anfang zur Herausarbeitung der theoretischen

Grundlage der politischen Religion bereits im Jahre 1932 gemacht. Werfel schilderte das

Bild eines Mannes, der vom Krieg erschüttert worden war und an Wissenschaft und

Vernunft zweifelte. Der Mann hatte zwei Söhne, die nicht mit einem passiven Ich leben

konnten und eine höhere Ordnung suchten, der sie sich anschließen konnten: Der eine

Sohn entschied sich für den Nationalsozialismus, der andere für den Kommunismus.

Werfel bezeichnete die beiden Ideologien damals bereits als primitive Stufen der Ich-

Überwindung: Sie seien Ersatzreligionen oder Religionsersatz.119 Im Allgemeinen werden

der Politologe und Soziologe Erich – später: Eric – Voegelin (1901-1985) und der

französische Soziologe und Philosoph Raymond Aron (1905-1983) als die Grundleger des

Modells der politischen Religion verstanden. Unabhängig voneinander beschrieben sie im

Jahre 1938 bzw. 1939 den Nationalsozialismus explizit als eine „politische Religion“ bzw.

116 Claus-Ekkehard Bärsch: Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ als politische Religion. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 227. 117 Zu denken ist hier insbesondere an die von Hans Maier (mit-)herausgegebenen Bände mit dem Titel „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“ (3 Bde., Paderborn: Ferdinand Schöningh 1996-2003). 118 Die ersten Überlegungen zur Definitionsproblematik des Nationalsozialismus als „politischer Religion“ wurden im Rahmen dieses Dissertationsprojekts bereits 2014 veröffentlicht in Anneleen Van Hertbruggen: Methodische Annäherungen an die politische Theologie als Interpretationsansatz für nationalsozialistische Propagandadichtung. In: Focus on German Studies 21 (2014), 24-37. 119 Vgl. Hans Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 304.

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Der Nationalsozialismus

45

„religion politique“,120 wobei Voegelins Theorie in einer christlichen Anthropologie

wurzele und Aron das Konzept in religionskritischer, aufklärerischer Sicht verwende.121

Rainer Hering merkt jedoch an, dass bereits drei Jahre zuvor auch der Theologe Paul

Schütz (1891-1985) ein Manuskript mit dem Titel „Die politische Religion. Eine

Untersuchung über den Ursprung des Verfalls in der Geschichte“ abgeschlossen, jedoch

nicht publiziert hat.122 Wer den Begriff der politischen Religion als erster geprägt habe, ist

aber nicht so sehr von Bedeutung als vielmehr die Beobachtung, dass es in den 1930er

Jahren bereits in unterschiedlichen Fachgebieten eine Auseinandersetzung mit der

politischen Religion gegeben hat.123 Sowohl aus politologischer, soziologischer als auch

theologischer Perspektive werden die auf den ersten Blick separat zu behandelnden

Begriffe „Politik“ und „Religion“ miteinander verbunden: „Wer von Religion spricht, denkt

an die Institution der Kirche, und wer von Politik spricht, denkt an den Staat“.124 Diese

terminologische Verbindung von Religion und Politik im Sinne einer „politischen

Religion“ wurde in der späteren Forschung indes wiederholt als problematisch empfunden

und hat zu überzeugten Gegnern und Befürwortern des Begriffs geführt.

Auf die begriffliche Problematik der „politischen Religion“ hat auch Voegelin bereits

hingewiesen. Er meinte, dass man – um die politischen Religionen angemessen erfassen

zu können – den Begriff des Religiösen so erweitern müsse, das nicht nur die

Erlösungsreligionen sondern auch jene anderen Erscheinungen darunter fallen, die man

in der Staatsentwicklung als religiöse zu erkennen glaubt.125 Zu einer Erweiterung des

Religionsbegriffs kam es bisher nicht, zu alternativen Begriffsvorschlägen – wie etwa „Anti-

Religion“, „Pseudo-Religion“, „Religionsersatz“, „Ersatzreligion“, „säkulare Religion“,

„politisch-soziale Religion“ und „politische Säkularreligion“ – aber durchaus.126 Auch die

Forscher, die den Gebrauch des Begriffs „politische Religion“ weiterhin verteidigten – zwar

manchmal einfach aus schlichter Ermangelung eines besseren Konzeptes –, haben immer

wieder auf die begrifflichen Schwierigkeiten hingewiesen. So meint Hans Mommsen, dass

die Anwendung des Begriffs „politischer Religion“ auf den Nationalsozialismus eine

120 Vgl. Gess: The Conceptions of Totalitarianism of Raymond Aron and Hannah Arendt, 235, Fn. 234. 121 Vgl. Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, 305. 122 Vgl. Paul Schütz: Die politische Religion. Eine Untersuchung über den Ursprung des Verfalls in der Geschichte (1935). Hg. v. Rainer Hering. Hamburg: Hamburg University Press 2009, 9. 123 Vgl. ebd., 10. 124 Voegelin: Die politischen Religionen, 11. 125 Vgl. ebd., 12. 126Vgl. etwa Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, 306; Matthias Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 250-259; Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. Hg. v. Klaus Hildebrand. München: Oldenbourg 2003, 67.

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Ein Definitionsversuch

46

ideologische Stringenz und Kohärenz voraussetzt, über die die Bewegung nicht verfügte.127

Allerdings erwidert Klaus Vondung, dass die „Divinisierung der Rasse“ mit den daraus

folgenden Glaubensinhalten einen religiösen Kern sui generis bildet, der auch nicht als

bloße „Ersatzreligion“ zu interpretieren ist.128 Auch die Tatsache, dass Hitler und andere

führende Persönlichkeiten der Partei immer wieder den säkularen Charakter der

Bewegung betonten und sich explizit gegen die Idee aussprachen, dass die NSDAP als eine

Religion oder Sekte zu betrachten wäre, spräche gegen die Bezeichnung des

Nationalsozialismus als einer „politischen Religion“.129 Trotzdem hat Hitler das Religiöse

auch ausgenutzt. So hat er seine erste öffentliche Rede als Reichskanzler im Februar 1933

mit „Amen“ beendet130 und er bediente sich in seinen politischen Reden beispielsweise mit

Lexemen aus den Wortfeldern „Glaube“, „Gott“ und „heilig“ wiederholt eines christlich-

religiösen Vokabulars.131 Bereits in Mein Kampf behauptete Hitler, die NS-Weltanschauung

solle auf einen „politischen Glauben“ bauen.132

Man könnte argumentieren, dass „Glaube“ nicht unbedingt etwas Religiöses bedeuten

muss,133 trotzdem hat der israelische Historiker Uriel Tal die Bedeutung dieses „politischen

Glaubens“ innerhalb der Diskussion über den Nationalsozialismus als „politische Religion“

betont. Denn gerade die Kombination von Politischem und Religiösem innerhalb der

eigenen politischen Ideologie habe das Potential für große historische Ereignisse und

Taten inne: „Neither faith without politics, nor politics without faith – the magic that

inflames the masses – would be useful to Nazism. Hitler’s policy, as was laid down already

in Mein Kampf, is based on this very interrelationship“.134 Diesen Glauben zu propagieren

127 Vgl. Hans Mommsen: National Socialism as a political religion. In: Totalitarianism and Political Religions. Volume II Concepts for the comparison of dictatorschip. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. London, New York: Routledge 2007, 161. 128 Vgl. Klaus Vondung: ‚Gläubigkeit‘ im Nationalsozialismus. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 28. 129 Vgl. Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, 306-308; Stowers: The Concepts of ‚Religion‘, ‚Political Religion‘ and the Study of Nazism, 16. 130 Vgl. Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells, 52. 131 Für eine ausführliche und umfangreichere Analyse – sowohl auf lexikalischer als auch auf syntaktischer Ebene – der christlich-religiösen Sprache in den Reden Hitlers verweise ich auf Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 125-194. Angelika Breil weist in ihrer Analyse ausgewählter Reden Goebbels auf dessen Gebrauch religiös konnotierter Begriffe und Wendungen. Vgl. Breil: Studien zur Rhetorik der Nationalsozialisten (Fallstudien zu den Reden von Joseph Goebbels), 285-289. 132 Vgl. Hitler: Mein Kampf, 418. 133 Der Duden definiert das Lexem „Glaube“ in erster Linie als eine „gefühlsmäßige nicht von Beweisen, Fakten o. Ä. bestimmte unbedingte Gewissheit, Überzeugung“ und erst in zweiter Linie als eine „religiöse Überzeugung“. Vgl. „Glaube“ in: Duden.de. ORL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Glaube [Letzter Zugriff: 10.02.2019]. 134 Uriel Tal: ‚Political Faith‘ of Nazism Prior to the Holocaust. In: Religion, Politics and Ideology in the Third Reich: Selected Essays. Hg. v. Uriel Tal. New York: Taylor & Francis 2004, 19.

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Der Nationalsozialismus

47

und Glaubensbekenntnisse einzufordern war ein wichtiges Ziel der nationalsozialistischen

Propaganda. Denn, „den Glauben zu bekennen ist eine viel stärkere ‚sakrale‘ Verpflichtung

als etwa die Bereitschaft zu erklären, einem Parteiprogramm zu folgen“.135 Auch Goebbels

hatte dies 1928 bereits verstanden: „Sie werden niemals Millionen von Menschen finden,

die für ein Wirtschaftsprogramm ihr Leben lassen. Aber Millionen von Menschen werden

einmal bereit sein, für ein Evangelium zu fallen“.136 Klemperer beschreibt an mehreren

Stellen, wie sich die nationalsozialistische Propaganda bewusst einer evangelischen

Sprache bediente. So beschreibt er beispielsweise eine Szene aus dem ersten Jahre unter

nationalsozialistischem Regime, in der ein Besuch von Hitler in einer Pressemitteilung

angekündigt wird:

„Feierstunde von 13.00 bis 14.00 Uhr. In der dreizehnten Stunde kommt Adolf Hitler zu den

Arbeitern.“ Das ist, jedem verständlich, die Sprache des Evangeliums. Der Herr, der Erlöser

kommt zu den Armen und Verlorenen. Raffiniert bis in die Zeitangabe hinein. Dreizehn Uhr

– nein, „dreizehnte Stunde“ – das klingt nach Zuspät, aber ER wird ein Wunder vollbringen,

für ihn gibt es kein Zuspät.137

Schlichtweg mit der Formel „dreizehnte Stunde“ lässt die Mitteilung Hitler als einen

christusähnlichen Retter erscheinen. Außerdem hat sich Hitler laut Klemperer mindestens

einmal „mit unzweideutigen neutestamentlichen Worten“ als den deutschen Heiland

bezeichnet, indem er die im Jahre 1923 bei der Feldherrnhalle Gefallenen „Meine Apostel“

nannte.138 Laut Klemperer wurde der Nationalsozialismus dann auch von Millionen als

Evangelium hingenommen, weil er sich der Sprache des Evangeliums bediente.139 Sich

stützend auf Klemperers Aufzeichnungen schließt auch Marie-Claude Fusco, dass die

nationalsozialistische Sprache deutliche evangelische Züge trägt, weswegen Mein Kampf

als die nationalsozialistische „Bibel“ erschien und sich beispielsweise das Wort „Reich“ in

diesem Zusammenhang weit über seine politische und irdische Bedeutung hinaus zu

Höhen des christlichen Jenseits und Himmelreichs erhob.140

Auch wenn die Begriffsproblematik bis heute nicht eindeutig gelöst ist, schließt sich diese

Arbeit einer Reihe namhafter Faschismus-Forscher – wie Michael Burleigh, Roger Griffin,

Claus-Ekkehard Bärsch, Emilio Gentile, Uriel Tal – an, die den Nationalsozialismus

weiterhin als eine „politische Religion“ betrachten. Obwohl sich die Bezeichnung

„politische Religion“ besonders für eine Arbeit über den christlich-religiösen Diskurs in

135 Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, 39. 136 Goebbels zit. in Gerhard Kurz: Braune Apokalypse. In: Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts. Hg. v. Jürgen Brokoff und Joachim Jacob. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 134. 137 Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 52. 138 Vgl. ebd., 137. 139 Vgl. ebd., 146. 140 Vgl. Marie-Claude Fusco: Langue totalitaire. Langue du religieux. In: Topique 96.3 (2006), 130.

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Ein Definitionsversuch

48

nationalsozialistischer Propagandalyrik zu eignen scheint, soll aber schon berücksichtigt

werden, dass dieses Konzept nicht alle Aspekte des Nationalsozialismus fassen oder

erklären kann. Außerdem bleibt weiterhin diskutabel, was genau das Wesen einer

„politischen Religion“ ausmacht.

2.2 Das Wesen der politischen Religion

Um den Begriff „politische Religion“ als handhabbares Konzept in der Diskussion über und

der Analyse des religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Propagandalyrik

einzusetzen, wird im Folgenden zunächst eine beobachtungsleitende Definition dieses

Konzeptes formuliert. Besonders anhand zweier Definitionsvorschläge – von Emilio

Gentile (2005) und Mathias Behrens (1997) – wird versucht, die wesentlichen

Charakteristiken einer politischen Religion zu erfassen. Wegen der fortdauernden

Definitionsproblematik wird danach in Nachfolge Voegelins und anhand des

mehrdimensionalen Religionskonzeptes von Ninian Smart eine Erweiterung des

Religionsbegriffs vorgeschlagen.

2.2.1 Die politische Religion als sakralisierter Totalitarismus

Auch der italienische Historiker Emilio Gentile hat sich mit der Begriffsproblematik der

politischen Religion auseinandergesetzt, denn „the term ‚political religion‘ is often used as

a synonym for civil religion, secular religion, public religion, politicised religion, religious

politics and so on“.141 Obwohl Gentile betont, dass der Unterschied zwischen politischer

und ziviler Religion nicht immer klar zu sehen ist, versucht er die beiden Konzepte schon

zu definieren. So versucht er die konzeptuellen Unterschiede zwischen den beiden

‚Religionstypen‘ – politisch und zivil – bezüglich ihres Verhältnisses traditionellen

Religionen und anderen politischen Strömungen gegenüber zu verdeutlichen. In diesem

Zusammenhang formuliert er folgende Definition der politischen Religion:

Political religion is a form of sacralisation of politics of an exclusive and integralist character.

It rejects coexistence with other political ideologies and movements, denies the autonomy

of the individual with respect to the collective, prescribes the obligatory observance of its

commandments and participation in its political cult, and sanctifies violence as a legitimate

arm of the struggle against enemies, and as an instrument of regeneration. It adopts a hostile

attitude toward traditional institutionalised religions, seeking to eliminate them, or seeking

to establish with them a relationship of symbiotic coexistence, in the sense that the political

religion seeks to incorporate traditional religion within its own system of beliefs and myths,

assigning it a subordinate and auxiliary role.142

141 Gentile: Political Religion: A Concept and its Critics – A Critical Survey, 19. 142 Ebd., 30.

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Der Nationalsozialismus

49

Gentile führt mit etwa politischem Kult, Gewalt und Gegnerschaft zur traditionellen

Religion tatsächlich verschiedene Aspekte an, die auch im NS-System zu finden sind, und

die bei Hannah Arendt als Elemente eines totalitären Systems erscheinen. Auch die

Bedeutung des Kollektivs zuungunsten des Individuums und die Idee der Exklusivität

scheinen das totalitäre System und die politische Religion miteinander zu teilen.

Außerdem alludierte Arendt mit der Beschreibung der Rolle des Rituals bereits auf eine

gewisse Sakralisierung der totalitären Politik, die in Gentiles Definition in einem „eigenen

Mythen- und Glaubenssystem“ Ausdruck findet. Obwohl es also gerechtfertigt zu sein

scheint, den Nationalsozialismus auf Basis dieser Definition als eine politische Religion zu

beschreiben, kann man sich fragen, ob diese Definition mit dem Begriff ‚politische

Religion‘ wohl deckungsgleich ist. Obwohl der Begriff vermuten lässt, dass es in erster

Linie um eine Art Religion geht, die vom Politischen weiter bestimmt wird, scheint – rein

begrifflich – eher das Umgekehrte der Fall zu sein: Gentiles Definition beschreibt eine

gewisse (sakralisierte) Politik, die einen totalitären Charakter hat und sich anderen

Religionen gegenüber feindlich benimmt, die dann aber schon mit einigen religiösen

Eigenschaften – z.B. einem (politischen) Kult und einem eigenen Glaubens- und

Mythensystem – ausgestattet wird. Dass das Glaubenssystem als eine weitere

Ausgestaltung eines politischen Systems dargestellt wird, mutet innerhalb einer

Diskussion über ‚Religion‘ eher merkwürdig an, da man spontan erwartet, dass gerade der

‚Glaube‘ an etwas innerhalb einer Religion zentral stehen würde. Mit dieser Problematik –

nämlich ob die politische Religion wohl als eine Religion zu betrachten sei – hat sich

Mathias Behrens bereits 1997 auseinandergesetzt.

Behrens geht der Frage nach, was Religion ist und was sie im Kontext der politischen

Religion bedeuten kann. Ebendarum versucht er einen „wissenschaftlich operationellen

Begriff, der sich für die Theoriebildung eignet und sich der Antwort auf die Frage nach

dem eigentlichen Wesen von Religion enthält“,143 zu bestimmen. Zu diesem Zweck

formuliert Behrens einen „reduzierte[n] Religionsbegriff“, in dem ein „Absolutum“ oder

einen „letzten Sinngrund“ zentral stehen.144 Auf diese Weise vermeidet Behrens es, über

eine transzendente Realität bzw. einen Gott als zentrale Eigenschaft einer Religion zu

sprechen, denn dies wäre im Kontext totalitärer Regime ungeeignet. Laut Behrens kann

man dann von Religion sprechen, „wenn etwas als letzter Sinngrund gilt und sich der

Mensch auf dieses Ziel hin engagiert“.145 Allerdings reicht der individuelle Glaube nicht,

um eindeutig von einer Religion sprechen zu können: „Die Dimensionen von

Gemeinschaft und Institution führen zur Ausbildung von Kult, religiösem Symbol und

sakraler Sprache. ‚Religion‘ muß untersucht werden hinsichtlich ihres gedanklichen

Anspruches und ihrer konkreten empirischen Gegebenheit. Hierin unterscheidet sich

143 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 251. 144 Ebd., 254-255. 145 Ebd., 255.

Page 50: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Ein Definitionsversuch

50

Religion von Philosophie und Ideologie“.146 Sich stützend auf diesen reduzierten

Religionsbegriff versucht Behrens das Wesen einer politischen Religion dann

folgendermaßen zu explizieren:

Das Spezifische einer politischen Religion muß darin gesehen werden, daß sich die

Absolutsetzung einer endlichen Wirklichkeit als eines letzten Sinngrundes, den man zu

erkennen glaubt (Theorie) und für den man eine Ganzhingabe fordert (Praxis mit

Aktionsprogramm), mit einer politischen Gemeinschaft derart verbindet, daß die Religion

ohne diesen politischen Grund, der selbst zumindest teilweise mit dem Absolutum

identifiziert wird, nicht existieren kann.147

Obwohl einige Elemente des reduzierten Religionsbegriffs in dieser Definition erkennbar

sind, kommt Behrens nicht weiter als ein immer noch sehr abstraktes Konzept, das nichts

Konkretes über das Wesen einer politischen Religion aussagt. Über eine „politische

Gemeinschaft“ kann man sich vielleicht noch Gedanken machen, was aber „der letzte

Sinngrund“ einer politischen Religion darstellt und was die erwähnte „Ganzhingabe“ der

Menschen beinhaltet, wird in dieser Kurzdefinition überhaupt nicht konkret expliziert. Im

weiteren Verlauf des Artikels versucht Behrens die politische Religion weiter zu

spezifizieren, wobei er das Konzept im Zusammenhang mit dem Totalitarismus-Begriff

interpretiert148 und auch Gentiles Definition149 sehr nahe kommt. So kennzeichnet sich die

politische Religion laut Gentile durch ihre ablehnende und sogar feindliche Haltung

anderen Religionen und anderen politischen Ideologien und Bewegungen gegenüber.

Behrens beschreibt die politische Religion eindeutig als „Gegner der bestehenden

Religionen“, der sich außerdem durch ein allgemeines „Freund-Feind-Denken“

kennzeichnet.150 Laut Behrens will die politische Religion „universale Welterklärung und

universaler Staat“ sein und so dem Menschen in „sein ganzes Dasein prägen“,151 was Gentile

dann wieder als den universalen und exklusiven Charakter der politischen Religion

zusammenfasst. Dieser „Wahrheitsanspruch“ betont dabei noch einmal den „exklusiven

Sinn“ der politischen Religion.152 Während Gentile die „Sakralisierung der Politik“ eher

schlicht als einen „politischen Kult“ mit einem „eigenen Glaubens- und Mythensystem“

beschreibt, geht Behrens doch etwas ausführlichen auf die „Sakralisierung der politischen

und profanen Lebenswelt“153 ein. So meint Behrens, dass bei der politischen Religion – im

Vergleich mit der christlichen Religion – der Führer oder die Partei nicht einfach an die

146 Ebd. 147 Ebd., 257. 148 Vgl. ebd., 258. 149 Bei den folgenden Referenzen auf Gentile wird auf seine Definition, die hier auf S.48 zitiert wird, verwiesen. 150 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 259. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Ebd., 260.

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Der Nationalsozialismus

51

Stelle der Kirche, sondern eindeutig an die Stelle Gottes selbst tritt.154 Hieraus entwickelt

sich dann ein Mythos und ein kultisches Leben, in dem vor allem Personen, Orte und

Symbole von einer sakralen Dimension her gedeutet werden.155 Die sakrale Ebene der

politischen Religion zeigt sich schließlich auch in einer „Heilslehre“, bei der das „Heil“ sich

aber nicht im Jenseits sondern im Diesseits vollzieht und sich der Mensch also durch die

eigene Tat erlöst.156

Im Grunde entwerfen die Beschreibungen – oder ‚Definitionen‘ – von Behrens und Gentile

ein sehr ähnliches Bild der politischen Religion. Obwohl die Autoren sie manchmal etwas

anders – oder auch ausführlicher bzw. knapper – beschreiben, kann man, wie folgende

Tabelle zeigt, im Großen und Ganzen dieselben Aspekte identifizieren. Anhand dieser

Übereinstimmungen werden in der dritten Tabelle neun Charakteristiken aufgelistet, die

die politische Religion im Rahmen der vorliegenden Arbeit gemäß den Definitionen von

Gentile und Behrens kennzeichnen:

Gentile (2005) Behrens (1997) Charakteristiken der

politischen Religion

1. Sacralisation of politics 1. Sakralisierung der

politischen und

profanen Lebenswelt

I. Sakralisierung der

Politik

2. Exclusive and

integralist charakter

2. Letzter Sinngrund;

Universale

Welterklärung und

universaler Staat;

Wahrheitsmonopol;

Geltung in allen

Dimensionen des

menschlichen Lebens

II. Exklusiver Charakter

und Geltung in allen

Lebensdimensionen

3. Rejection of coexistence

with other political

ideologies and

movements

3. Freund-Feind-Denken III. Totalitäres System

4. Denial of the autonomy

of the individual with

respect to the collective

4. Politische

Gemeinschaft

IV. Kollektivismus statt

Individualismus

5. Obligatory observance

to its commandments

5. Ganzhingabe (Praxis

mit Aktionsprogramm)

V. Obligatorische Hingabe

154 Ebd., 259. 155 Vgl. ebd., 260. 156 Vgl. ebd., 260-261.

Page 52: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Ein Definitionsversuch

52

6. Political cult 6. Kultisches Leben

(Ritus, Liturgie,

Sakralsprache, Musik);

Deutung von Personen,

Orten und Symbolen

von einer sakralen

Dimension her

VI. Symbolik und

politischer Kult

7. Hostile attitude toward

traditional

institutionalised

religions

7. Gegner der

bestehenden Religionen

VII. Gegner der Religionen

8. Own system of beliefs

and myths

8. Absolutsetzung einer

endlichen Wirklichkeit

als eines letzten

Sinngrundes, den man

zu erkennen glaubt

(Theorie; Mythos;

Heilslehre)

VIII. Glaube und Mythos

9. 9. Führer und Partei

anstelle Gottes

IX. Verehrung von „Führer“

und Partei

Wenn man diese Auflistung auf den Nationalsozialismus hin überprüft, so könnte man

schließen, dass der Nationalsozialismus in Gestalt einer politischen Religion zu

beschreiben wäre. Die ersten drei Charakteristiken schließen sich aneinander an: Denn

auch der Nationalsozialismus zielt auf eine Sakralisierung der Politik (I), die einen

exklusiven Charakter (II) hat und ihre Geltung in allen Dimensionen des Lebens geltend

macht. Ein totalitäres System (III) wie der Nationalsozialismus versucht seinen Einfluss

nicht nur politisch, sondern auch in der Privatsphäre des Menschen geltend zu machen.

Maier weist in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit mit Religionen hin, die auch

dazu neigen, den Menschen detaillierte Vorschriften zu machen. Zum Beispiel an den

Wendepunkten des Lebens – Geburt, Hochzeit, Tod – sei die Religion mit besonderen

Riten gegenwärtig.157 Auch Hannah Arendt betont die Bedeutung von Ritualen in

totalitären Regimen, wie beispielsweise die Umzüge der mumifizierten Leiche Lenins auf

dem Roten Platz in Moskau oder das nationalsozialistische Ritual der „Blutfahne“ bei den

Feierlichkeiten der Nürnberger Parteitage. Die Wirksamkeit des Rituals liegt vor allem in

der Erschaffung eines „Erlebnis einer mysteriösen Handlung, das offenbar als solches

Menschen besser und sicherer aneinander kettet als das nüchterne Bewusstsein, ein

157 Vgl. Maier: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, 124.

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Der Nationalsozialismus

53

Geheimnis miteinander zu teilen“. 158 Das Ritual fördert in dieser Hinsicht die kollektive

Einheit der Teilnehmer.

Auch das bereits erwähnte Prinzip, „das ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich

eingeschlossen ist“,159 scheint der Nationalsozialismus als totalitäre Bewegung nicht nur

mit Geheimgesellschaften zu teilen, sondern passt auch in die obige Auflistung der

Charakteristiken der politischen Religion. Dieses Prinzip äußert sich sowohl in der dritten

Charakteristik, indem die Nationalsozialisten andere politische Ideologien und

Bewegungen einfach verboten haben, und spielt bereits auf die vierte Charakteristik an:

Kollektivismus (IV) war ein großes Thema im NS-System, was sich unter anderem in einer

kollektiven deutschen Identität und der Organisation zahlreicher Massenveranstaltungen

zeigte. Auch die obligatorische Hingabe (V) könnte man mit den vorigen Charakteristiken

verbinden, denn es blieb den Deutschen nichts anderes übrig, als sich der NS-Herrschaft

zu beugen, da alternative Bewegungen oder Überzeugungen einfach verboten waren. Der

Führerkult, der Blut-und-Boden-Kult und die dazugehörende Symbolik sind einige

Beispiele für die Symbolik und den politischen Kult (VI), die einer politischen Religion nach

der obigen Tabelle eigen sind. Sowohl in der formalen als auch in der inhaltlichen

Gestaltung dieses Feierkultes weisen sich laut Vondung deutliche Parallele mit der

christlichen Liturgie auf.160 Auch die siebte Charakteristik trifft auf den

Nationalsozialismus zu: Die Nationalsozialisten haben sich nach einiger Zeit als Gegner

der bestehenden Religionen (VII) erklärt. Obwohl die NSDAP in den ersten Jahren des

„Dritten Reiches“ noch versucht hat, aus der evangelischen Kirche eine regimetreue

‚Reichskirche‘ zu entwickeln, hat das Regime später aber wegen des Totalitätsanspruches

des Nationalsozialismus auf die ganze Gesellschaft und den ganzen Menschen jede andere

politische, weltanschauliche und selbst religiöse Organisation neben der NSDAP

verboten,161 was gleich wieder die dritte Charakteristik bestätigt. Vondung beschreibt

zudem, wie sich die nationalsozialistischen Feiern um einen sakral aufgewerteten

Symbolapparat, der als „heiliges Zentrum“ erscheint, organisieren. Diese sechs zentralen

Symbole identifiziert er als „Glaubensartikel“ des nationalsozialistischen Glaubens und

seien als „Credo“ als Beispiel für Glauben und Mythos (VIII) des Nationalsozialismus als

politischer Religion zu verstehen.

Thus at the centre of Nazi symbolism and creed stood the ‚Blood‘; then came the ‚People‘ as

the substantive bearer of the blood; the ‚Soil‘, the land, which nourishes the people; the

158 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 600. 159 Ebd., 599. 160 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 8. 161 Vgl. ebd., 46-47.

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Ein Definitionsversuch

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‚Reich‘, in which it finds its political realisation; the ‚Führer‘ as the representative of people

and Reich; the ‚Flag‘ as the most holy material symbol.162

Es sei dabei nicht wichtig, dass diese sechs ‚Artikel‘ weder originell noch intellektuell

anspruchsvoll waren; auf jeden Fall sehr wichtig war indes die Glaubwürdigkeit dieser

Glaubensartikel. Einerseits waren sie wegen ihrer symbolischen Konsistenz glaubwürdig,

andererseits auch überzeugend wegen ihres rituellen Ausdrucks während der NS-Feiern.163

Der Glaubensartikel „Führer“ weist außerdem darauf hin, dass auch die letzte

Charakteristik – Verehrung von Führer und Partei (IX) – auf den Nationalsozialismus zu

übertragen wäre.

Gemäß dieser aus den Umschreibungen von Gentile und Behrens destillierten Liste der

Charakteristiken der politischen Religion scheint es schon gerechtfertigt zu sein, den

Nationalsozialismus als eine politische Religion zu beschreiben. Allerdings kann man

weiterhin einwenden, dass es eine ‚Über-Bestimmung‘ der politischen und eine ‚Unter-

Bestimmung‘ der religiösen Charakterisierung der politischen Religion gibt. Denn nur die

sechste und achte Charakteristik bzw. Symbolik und [politischer] Kult und Glaube und

Mythos könnte man eventuell als typische Eigenschaften einer Religion betrachten,

während sich die sieben anderen Charakteristiken eher mit einem politischen – totalitären

– System assoziieren lassen. Außerdem muss man die sechste und achte Charakteristik

nicht unbedingt als religiös verstehen, sondern man kann sie auch aus einer politischen

Perspektive her auslegen. Behrens hat zudem selber angemerkt, dass geprüft werden

müsse, „inwieweit diese Sakralisierung nicht eher (rein funktional) einer Strategie der

Machtdurchsetzung und Manipulation dient als dem Wesen der politischen Religion

entspringt“.164 So scheint die religiöse Ebene in der Liste der Charakteristiken der

politischen Religion also wieder in den Hintergrund gedrängt zu werden und scheint es

immer noch eher um Aspekte einer gewissen – totalitären – Politik zu gehen, die weiter

mit religiösen Eigenschaften ausgestattet wird.

2.2.2 Die Erweiterung des Religionsbegriffs

Die größte Schwierigkeit in der Definitionsproblematik der politischen Religion scheint

also die Bestimmung ihrer religiösen Ebene zu sein, was es daraufhin erschwert, eine

totalitäre Ideologie wie der Nationalsozialismus als eine politische Religion zu

beschreiben: „Much of the difficulty with the idea of nazism as a political religion results

from a lack of clarity about the concept of religion and its role in academic scholarschip“.165

Eine weitere Schwierigkeit, so bemerkt Vondung mit Recht, ist die Tatsache, dass der

162 Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 91. 163 Vgl. ebd. 164 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 260. 165 Stowers: The Concepts of ‚Religion‘, ‚Political Religion‘ and the Study of Nazism, 11-12.

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Der Nationalsozialismus

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Begriff „Religion“ außerdem zur Gefahr führt, dass die nationalsozialistische Religion als

eine Variante der christlichen Religion erscheint, während es grundlegende Unterschiede

zwischen den beiden ‚Religionen‘ gibt.166 Auch Behrens merkt an, dass nur wenige

Religionswissenschaftler einen solchen Religionsbegriff verwenden, der sich auf die

totalitären Regime bzw. Ideologien beziehen lassen kann.167 Michael Burleigh bringt

diesen heiklen Punkt mit einer Metapher auf den Punkt: „At first sight, even mentioning

Nazism in connection with the great transcendental monotheisms seems excessive, like

comparing a little brown puddle to a tremulous ocean on the grounds that they both

contain water“.168 Allerdings hat Voegelin bereits Ende der 1930er Jahre einen ersten

Vorschlag gemacht, um diese Problematik zu umgehen: „Um die politischen Religionen

angemessen zu erfassen, müssen wir daher den Begriff des Religiösen so erweitern, daß

nicht nur die Erlösungsreligionen, sondern auch jene anderen Erscheinungen darunter

fallen, die wir in der Staatsentwicklung als religiöse zu erkennen glauben“.169 Vielleicht

geht es also nicht darum, den Religionsbegriff komplett ‚neu‘, aber schon ‚besser‘ – oder

lieber: ‚breiter‘ – zu definieren. Oder mit den Worten Voegelins: Man müsse den

Religionsbegriff ‚erweitern‘. Eine solche Erweiterung des Religionsbegriffs scheint in der

Auflistung der neun Charakteristiken einer politischen Religion noch nicht vorhanden zu

sein.

Eine Erweiterung des Begriffs ‚Religion‘ ist freilich nicht einfach, denn bisher fehlt eine

eindeutige und universale Religionsdefinition. So gibt es eine Unmenge an

Definitionsversuchen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, die je

nachdem die Präsenz eines göttlichen Wesens, einen emotionalen Wert oder gerade den

sogenannten illusorischen Aspekt der Religion zentral stellen.170 Die Definitionsversuche

lassen sich gemäß ihrer etymologischen, substantialistischen, funktionalistischen oder

multidimensionalen Herangehensweisen klassifizieren.171 Diese Arbeit macht es sich nicht

zur Aufgabe, einen universalen Religionsbegriff anzubieten, sondern versucht ihn so zu

„erweitern“, damit er als handhabbares Konzept innerhalb der Definitionsproblematik der

politischen Religion erscheint. Indem Mathias Behrens die Religion in seiner Suche nach

166 Vgl. Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 94. 167 Vgl. Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 256. 168 Michael Burleigh: National Socialism as a Political Religion. In: Totalitarian Movements and Political Religions 1.2 (2000), 10. 169 Voegelin: Die politischen Religionen, 12. 170 Für einen Einblick in die unterschiedlichen Perspektiven auf den Religionsbegriff verweise ich auf das einführende Kapitel „Can Religion be defined?“ in Robert Crawford: What is Religion? London: Routledge 2002, 1-8. 171 Näheres zu etymologischen, substantialistischen, funktionalistischen und multidimensionalen Religionsdefinitionen erklärt zum Beispiel Johann Figl: Religionswissenschaft. Inssbruck, Wien: Tyrolia 2003, 65-71.

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Ein Definitionsversuch

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einem „zur Theoriebildung geeignete[n] Begriff“172 als eine „im Denken, Fühlen, Wollen,

Handeln (und Sein) vollzogene Hinwendung des Menschen als Individuum und als

Gemeinschaftswesen zu Gott“173 definiert und so bereits auf den mehrschichtigen Aufbau

der Religion hinweist, entscheidet sich auch diese Arbeit für eine mehrdimensionale

Perspektive,174 und zwar für das mehrdimensionale Religionskonzept des britischen

Religionswissenschaflters und -historikers Ninian Smart. Smarts mehrdimensionales

Religionskonzept erweist sich in zweierlei Hinsicht für diese Arbeit gewinnbringend.

Erstens versucht Smart mit seiner Perspektive über die auf der Hand liegenden

Gemeinsamkeiten zwischen den abrahamitischen Religionen (Christentum – Islam –

Judentum) hinauszugehen, damit auch komplett anders organisierte Glaubenssysteme wie

der Hinduismus oder dem Buddhismus anhand dieses Konzeptes beschrieben werden

können. Andererseits schlägt Smart bereits eine Brücke zwischen Religion und Politik,

indem dem Religionskonzept ihm zufolge eine politische Dimension inhärent ist.

Bereits im Jahre 1969 beschrieb Smart ‚Religion‘ als einen mehrdimensionalen

Organismus, in dem die Praxis und der Glaube an zentraler Stelle stehen. Seiner Meinung

nach gibt es eine Reihe von Aspekten, über die jede Religion in größerem oder geringerem

Maße verfügt.175 1996 beschreibt er schließlich sieben Dimensionen, die er alle mit einer

doppelten Bezeichnung versieht, die sie näher erläutern und ihre Bedeutung zugleich

erweitern sollen. Die Dimensionen werden folgendermaßen aufgeteilt:

(1) Eine rituelle oder praktische Dimension;

(2) eine doktrinäre oder philosophische Dimension;

(3) eine mythische oder narrative Dimension;

(4) eine empirische oder emotionale Dimension;

(5) eine ethische oder rechtliche Dimension;

(6) eine institutionelle oder soziale Dimension;

(7) eine materielle oder künstlerische Dimension.176

172 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 262. 173 Ebd. Kursivierung im Original. 174 Verschiedene wichtige religionswissenschaftliche Werke beschreiben eine Dreiteilung des Religionsbegriffs: Glaubensüberzeugungen oder Mythen, religiöse Praktiken oder Ritus und die Gemeinschaft, auf die die beiden Ersteren bezogen sind. Aus dieser Dreiteilung haben sich weitere multidimensionale Modelle entwickelt. Mit diesen Dimensionsmodellen versuchen die Wissenschaftler eine Reihe von Aspekten zu identifizieren, die in (fast) allen Religionen anzutreffen sind. Meistens wird unter den verschiedenen Dimensionen aber schon ein hervorragendes Kriterium – wie Glaubenssätze oder die Bezogenheit auf eine ultimative Wirklichkeit – angegeben, wodurch Religion als Religion gekennzeichnet wird. Vgl. Figl: Religionswissenschaft, 69-71. 175 Vgl. Ninian Smart: The Religious Experience of Mankind. New York: Charles Scribner's Sons 1969, 6-10. 176 Ninian Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs. London: HarperCollins 1996, 10. Die Reihenfolge der aufgelisteten Dimensionen sei unwichtig.

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Das Ziel der Smart’schen mehrdimensionalen Aufgliederung ist zweifach: „One is to

provide a realistic checklist of aspects of a religion so that a description of that religion or

a theory about it is not lopsided. […] So one purpose is to achieve balance. The other is to

give a kind of functional delineation of religions in lieu of a strict definition”.177 Diese

mehrdimensionale Liste scheint kulturelle und ideologische Grenzen zu übersteigen und

so auf eine möglichst objektive und nicht von einer Ideologie oder religiöser Praxis

geprägten Weise an den Religionsbegriff heranzugehen. Außerdem fügt Smart dieser

‚Basisliste‘ schließlich noch zwei zusätzliche Dimensionen hinzu: (8) eine politische und

(9) eine wirtschaftliche Dimension.178 Auf diese Weise schlägt Smart eine Brücke zwischen

Religion und Politik, denn die politische Bedeutung von Religionen sei oft verharmlost

worden.179 Besonders seit der iranischen Revolution 1979 wird der gegenseitige Einfluss

von Religion aber anders eingeschätzt:

If the dimensional factors have a potent effect on the political process, then religion is a vital

factor in that bit of history; but if the political process strongly affects the dimensions, then

politics is a dominant factor in that bit of history. More dialectically, both effects may be

working together.180

Darüber hinaus führt Smart eine Reihe von Faktoren unterschiedlicher

Weltanschauungen an, die innerhalb eines politischen Systems wichtig sind – wie etwa

„loyalty to one’s nationalism as incorporating a certain worldview; divine kingship; […] the

concept of the caliph in Islam“181 und so weiter. Eine Verwobenheit von Politik und

Religion lässt sich dementsprechend auch in seiner Interpretation des Religionsbegriffs

finden und mittels der mit den zwei zusätzlichen Dimensionen – politisch und

wirtschaftlich – erweiterten Liste zur Auslegung des Religionsbegriffs können auch andere

Systeme, auf die die Bezeichnung ‚Religion‘ auf den ersten Blick nicht zutrifft, doch als

‚Religion‘ eingestuft werden. Schon Smart selbst gab den ersten Anstoß zu einer solchen

Operation, indem er darlegte, dass sich auch der US-amerikanische Nationalismus anhand

seines mehrdimensionalen Religionskonzeptes beschreiben ließ.182 In dieser Hinsicht

scheint Smart bereits einen wichtigen Versuch zu leisten, den Religionsbegriff so zu

erweitern, damit auch andere – auch politische – Systeme als religiös anerkannt werden

können.

177 Ebd., 8-9. 178 Vgl. ebd., 10. 179 Die Trennung von Religion und Politik sei ein ziemlich modernes Faktum. Denn ursprünglich war Autorität eindeutig an Religion (im römischen Sinne) und Tradition gebunden. Diese „Trinität von Religion-Tradition-Autorität“ wurde später von der katholischen Kirche übernommen und bis in die Neuzeit behalten. Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 642. 180 Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs, 21. 181 Ebd. 182 Für Smarts Anwendung seines mehrdimensionalen Religionskonzeptes auf den US-amerikanischen Nationalismus siehe ebd., 13-14.

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Ein Definitionsversuch

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3. Der Nationalsozialismus als (politische) Religion –

Plädoyer für eine neue Perspektive

Mit dem Ziel, die Deutung des „Politischen“ und des „Religiösen“ im Begriff der politischen

Religion auszugleichen, verbindet dieses Plädoyer die Einsichten aus der

Forschungstradition über die politische Religion mit Smarts mehrdimensionalen

Religionsbegriff. Während vergangene Definitionsversuche den politischen Charakter der

politischen Religion immer hervorhoben und so – im Gegensatz zu dem, was der Begriff

vermuten lässt – eher eine Art sakralisierte Politik beschrieben, versucht dieses Plädoyer

den Begriff aus einer religiös-orientierten Perspektive her zu deuten, in der auch das

Politische eine wichtige Rolle spielt.183

3.1 Der mehrdimensionale Charakter der politischen Religion

Die Einbeziehung von Smarts mehrdimensionalem Konzept zur genaueren Auslegung des

Religionsbegriffs scheint schon deshalb gewinnbringend, weil Smart selbst bereits eine

Brücke zwischen Religion und Politik geschlagen hat, indem er seiner Basisliste mit sieben

Religionsdimensionen eine dezidiert politische Dimension hinzugefügt hat.184 Im Rahmen

einer möglichen Definition des Konzeptes „politische Religion“ scheint eine Kombination

von Smarts mehrdimensionaler Darstellung mit der Liste der neun wesentlichen

Charakteristiken der politischen Religion, die aus den Umschreibungen von Emilio Gentile

und Mathias Behrens abstrahiert wurden, zu einer tauglicheren Festlegung des Konzeptes

zu führen. Allerdings wird hier nicht behauptet, dass diese Herangehensweise an

politische Religionen, die einzig wahre und richtige ist. Genauso wie Smart bezüglich

seines Religionskonzeptes bemerkt, gilt auch hier: „It is obvious that other ways of looking

at worldviews are possible. The question is not whether my approach is the only one, it is

whether it is fruitful. Clearly there can be more than one fruitful way of analysing religions

and, more generally, worldviews”.185 In der hier vorgestellten Theorie wird von einer

Definition ausgegangen, in der das Religiöse zentral steht, das dann mit zusätzlichen

politischen Charakteristiken – sowohl in einer achten, dezidiert politischen, Dimension

als auch weiter verwoben in den anderen Dimensionen – weiter ausgestattet wird. Wenn

man Smarts mehrdimensionales Konzept mit den neun Charakteristiken der politischen

Religion verbindet, kommt man zur folgenden Übersicht:

183 Ein Plädoyer für eine mehrdimensionale Perspektive auf den Nationalsozialismus als „(politische) Religion“ wurde veröffentlicht in Anneleen Van Hertbruggen: Glaube und Propagandadichtung: Religionsdimensionen im Nationalsozialismus. In: Kritische Ausgabe: Zeitschrift für Germanistik & Literatur 19.28/29 (2015), 51-55. 184 Die wirtschaftliche Dimension wird in dieser Arbeit außer Acht gelassen. 185 Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs, 15.

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Smarts „dimensions of religion“

(1996)

Charakteristiken der politischen Religion

(1) rituell – praktisch Symbolik und (politischer) Kult (VI)

(obligatorische) Hingabe (V)

[Exklusiver Charakter und Geltung in allen

Lebensdimensionen (II)]

(2) doktrinär – philosophisch

(3) mythisch – narrativ Glaube und Mythos (VIII)

(4) empirisch – emotional Verehrung (von „Führer“ und Partei) (IX)

(5) ethisch – rechtlich

(6) institutionell – sozial Kollektivismus statt Individualismus (IV)

(7) materiell – künstlerisch

(8) politisch Sakralisierung der Politik (I)

[Totalitäres System (III) + Gegner der Religionen (VII)]

[Exklusiver Charakter und Geltung in allen

Lebensdimensionen (II)]

Nach der Abstrahierung der Charakteristiken der politischen Religion aus den

Definitionen von Gentile und Behrens wurde bereits bemerkt, dass nur zwei

Charakteristiken – Symbolik und (politischer) Kult (VI) und Glaube und Mythos (IX) – mit

dem Wesen einer Religion in Verbindung gebracht werden können. Diese beiden

Charakteristiken sind dann auch einfach und logischerweise in die rituell-praktische (1)

bzw. mythisch-narrative (3) Dimension einzuordnen. Obwohl bei den übrigen

Charakteristiken der politische Aspekt auf den ersten Blick überwiegt, merkt man, dass

einige doch in gewisser Hinsicht mit einer Basisdimension des Smart’schen

Religionskonzeptes assoziiert werden können. So gehört die persönliche Hingabe (V) eines

Gläubigen auch zur rituell-praktischen (1) Dimension und kann die Verehrung (X) – in

diesem Fall von „Führer“ und Partei – zur empirisch-emotionalen (4) Dimension gerechnet

werden. Der für die politische Religion wichtige Kollektivismus (IV) kann man der

Glaubensgemeinschaft gegenüberstellen und so zur institutionell-sozialen (6) Dimension

rechnen. Die Liste der Charakteristiken verfügt nicht über Aspekte, die zu den doktrinär-

philosophischen (2), ethisch-rechtlichen (5) und materiell-künstlerischen (7) Dimensionen

gerechnet werden können.

3.2 Die politische Dimension – Was ist ‚politisch‘

Bevor zu einer genaueren Auslegung der Charakteristiken der politischen (8) Dimension

gekommen werden kann, soll hier kurz erläutert werden, was unter ‚Politik‘ verstanden

wird. ‚Politisch‘ wird vom Duden als „die Politik betreffend“ definiert.186 Allerdings sagt

186 Vgl. „politisch“ in: Duden.de. ORL: https://www.duden.de/rechtschreibung/politisch [Letzter Zugriff: 08.02.2019].

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diese Definition nicht viel über das Wesen der Politik aus. Lorenz Engi behauptet, dass

immer ein großer Klärungsbedarf bestehe, wo gründlich und genau über Politik

gesprochen werde. Leider kann der Begriff oftmals nicht komplett gedeckt werden. In

seinem Artikel Was heißt Politik? (2006) geht er ausführlich auf die

Definitionsproblematik des Begriffs ‚Politik‘ bzw. ‚politisch‘ ein. Er nimmt diese beiden

Begriffe zusammen, weil es seiner Meinung nach wenig sinnvoll sei, ‚Politik‘ vom

‚politischen‘ abzugrenzen. Er beschreibt mehrere Definitionsversuche, wobei er bei der

ursprünglichen Bedeutung des Stammwortes der ganzen Wortfamilie, nämlich des

altgriechischen pólis anfängt. Dieses pólis könnte man am ehesten mit ‚Stadt‘ oder

‚Bürgerschaft‘ übersetzen. Da die Bedeutung der pólis doch nicht komplett mit dem

abstrakten Charakter von ‚Stadt‘ oder ‚Staat‘ übereinstimme, erscheine die Übersetzung

als ‚Bürgerschaft‘ tauglicher. Allerdings sei diese Übersetzung wenig anschaulich und es

erscheint Engi besser, den altgriechischen Begriff pólis einfach einzudeutschen. Manche

Wissenschaftler wie Johann Caspar Bluntschli, Georg Jellinek und Herbert Krüger haben

den Begriff ‚Politik‘ einfach dem Begriff ‚Staat‘ oder ‚Staatliches‘ gleichgesetzt, während

Autoren wie Hermann Heller, Carl Schmitt und Dolf Sternberger sich gegen die

Identifizierung des Politischen mit dem Staatlichen wandten.187 Schon im Griechischen

wurde das Politische (pólis) dem Privaten (oíkos; Haus) gegenübergestellt. Diese

Gegenüberstellung zum Bereich des Häuslichen und Privaten trifft auch heute noch auf

den Kerngehalt der Begriffe ‚Politik‘ und ‚politisch‘ zu:

Politik bezieht sich auf das Gemeinsame, das alle Bürger Betreffende. Sie handelt vom

Allgemeinen, vom alle Verbindenden und für alle Geltenden. Nicht der einzelne Bürger in

seinen je besonderen Umständen und Eigenschaften ist das politisch Interessierende,

sondern die Gemeinschaft der Menschen. Wer im Modus des Politischen denkt und spricht,

der sucht Regelungen und Lösungen für prinzipiell: alle.188

In der politischen (8) Dimension des obigen Schemas sollten also Eigenschaften

aufgenommen werden, die sich auf das ‚Politische‘, das ‚Gemeinsame‘, das ‚alle Bürger

Betreffende‘ beziehen. Die Liste der Charakteristiken einer politischen Religion umfasst

schon einige Aspekte, die mit Politik assoziiert werden können: Sakralisierung der Politik

(I), totalitäres System (III) und Gegner der Religionen (VII). Der erste Punkt ‚Sakralisierung

der Politik‘ bezieht sich nicht auf eine bestimmte Art der Politik und kann eindeutig der

achten Dimension zugerechnet werden. Die zwei anderen Charakteristiken erscheinen ein

wenig problematischer. Man sollte berücksichtigen, dass die Definitionen von Emilie

Gentile und Mathias Behrens, aus denen die Liste abstrahiert wurde, im Rahmen der

Debatte über totalitäre Systeme wie den Nationalsozialismus und Kommunismus

entstanden sind. Das ‚politische‘ in diesen Definitionen der ‚politischen‘ Religion ist also

187 Vgl. Lorenz Engi: Was heißt Politik. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 92.2 (2006), 237-239. 188 Ebd., 238.

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Der Nationalsozialismus

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nicht als allgemein und objektiv politisch zu verstehen, sondern die Definitionen wurden

vom Anfang an aus einer totalitären Perspektive her erschlossen. Die zwei aufgelisteten

Charakteristiken gehören also in gewisser Hinsicht schon in die politische (8) Dimension,

aber sie sind Charakteristiken einer sehr spezifischen – nämlich: totalitären – Politik.

Deswegen wurden diese Charakteristiken in Klammern hinzugefügt, damit nicht der

Eindruck erweckt wird, dass sie als wesentliche Eigenschaften der „Politik“ interpretiert

werden.

Die Charakteristik exklusiver Charakter und Geltung in allen Lebensdimensionen (II) wurde

zwischen Klammern sowohl der rituell-praktischen (1) als auch der politischen (8)

Dimension zugeordnet. Diese Charakteristik scheint in dem Sinne problematischer zu

sein, da sie sowohl eine essentielle Eigenschaft einer Religion als auch eines totalitären

Systems darstellt. Diese Charakteristik scheint bei der Bestimmung irgendeines Systems

als (politischer) Religion oder als totalitären Systems also überflüssig zu sein, weil man

anhand dieser Charakteristik nicht zwischen beiden unterscheiden kann.

Anhand dieser Aufteilung scheinen nur vier Charakteristiken (I, III, VII und VII) eindeutig

zur politischen Dimension zu gehören, zwei Charakteristiken (VI und VIII) wurden gleich

als wesentliche Merkmale einer Religion erkannt und deswegen eindeutig in die rituell-

praktische (1) und mythisch-narrative (3) Basisdimension eingeordnet. Eine Charakteristik

(II) scheint für die Unterscheidung zwischen einem totalitären – politischen – und einem

religiösen System unbrauchbar und wird in Klammern sowohl zur rituell-praktischen (1)

als auch zur politischen (8) Dimension gerechnet. Drei Charakteristiken (IV, V und IX)

kann man, obwohl sie politisch beladen sind, doch einer der sieben Basisdimensionen

zuordnen. Obwohl also eine dezidiert politische (8) Dimension unterschieden wird,

scheint das Politische auch in anderen Dimensionen unterschwellig anwesend zu sein.

Laut Smart ist dies aber nicht problematisch. Denn, obwohl er sieben klar abgegrenzte

Basisdimensionen unterscheidet, bemerkt er, dass alle Dimensionen schon irgendwie

miteinander verflochten sind: „[O]ne cannot make worldviews tidier than they are. But

they are sometimes better patterned than at first sight appears”.189 Mit seinen separat

aufgelisteten Religionsdimensionen hat Smart bloß versucht, die Komplexität der

religiösen Systeme aufzuzeigen. Allerdings wird auch aus dem nationalsozialistischen

Beispiel deutlich, dass es quasi unmöglich ist, die Dimensionen strikt voneinander zu

unterscheiden.

189 Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs, 24.

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Ein Definitionsversuch

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3.3 Der Nationalsozialismus als (politische) Religion – Ein

mehrdimensionales System

Klaus Schreiner stimmt Peter Walkenhorst zu, wenn er anmerkt, dass es angemessener

und sinnvoller erscheint, „von einer religiösen Dimension nationalistischer Ideologien zu

sprechen“, als „den Nationalismus als ‚politische Religion‘ zu bezeichnen“.190 Allerdings

scheint Smarts mehrdimensionale Auffassung gerade das Umgekehrte zu suggerieren.

Wenn man den Nationalsozialismus als eine politische Religion beschreiben will, kann

man neben den sieben religiösen Basisdimensionen auch eine starke politische Dimension

entdecken. Denn aus der Verbindung von Smarts mehrdimensionaler Religionsprinzip

und den aus Behrens und Gentiles Definitionen der politischen Religion abstrahierten

Liste der Charakteristiken kann man schließen, dass sich Religion und Politik nicht

gegenseitig ausschließen. In dieser Hinsicht scheint die kombinierte Tabelle zu einer

tauglicheren Umschreibung des Konzeptes „politische Religion“ zu führen. Wenn man

nun, Smarts Beispiel von der Einordnung des amerikanischen Nationalismus folgend, den

Versuch unternimmt, die sieben Basisdimensionen und die achte – erweiterte – politische

Dimension auch im deutschen Nationalsozialismus zu identifizieren, ergibt sich folgendes

Schema:

Smarts „dimensions of religion“ Deutscher Nationalsozialismus

(1) rituell – praktisch Politischer Kult mit Hitlergruß und Blutfahne

(2) doktrinär – philosophisch ‚Glaubensartikel‘: Blut, Volk, Boden, Reich, Führer und

Fahne

(3) mythisch – narrativ Führermythos, Mythos des Nationalstaats, Blut und

Boden

(4) empirisch – emotional Patriotische Feiern, Singen von Bekenntnisliedern

(5) ethisch – rechtlich Rassische und nationalsozialistische Werte

(6) institutionell – sozial Propagandaministerium; zur ‚Geistlichkeit‘ könnte

man die Schulmeister oder die Führer der HJ usw.

rechnen

(7) materiell – künstlerisch Hakenkreuz, Wallfahrtsorte der Gefallenen,

Propagandapoesie

(8) politisch NSDAP als politische Partei: Diktatur + Gewalt/Krieg

+ Gegner des Judentums und der katholischen und

evangelischen Kirche als Charakteristiken der

totalitären Politik

Aus diesem Schema kann man schließen, dass der Nationalsozialismus gemäß Smarts

mehrdimensionalen Konzeptes sehr wohl als eine (politische) Religion betrachtet werden

190 Walkenhorst zit. in Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 43.

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Der Nationalsozialismus

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kann. Kritiker des Konzeptes werden aber wahrscheinlich immer wieder aufführen, dass

die in der Tabelle aufgelisteten Aspekte bloß formellen Charakters sind und nur der

Propaganda dienten. Auch Klaus Vondung stimmt zu, dass die Massenveranstaltungen,

Zeremonien, Riten, Uniformen und Flaggen vor allem propagandistischen Zwecks waren.

Trotzdem sei dies nicht im Widerspruch zur symbolischen Funktion der Zeremonien und

Riten und man soll die ‚Form‘ als symbolischen Ausdruck einer sogenannten „politischen

Religion“ Ernst nehmen: Denn „behind the forms there was faith“.191

4. Die textuelle Repräsentation der (politischen) Religion

in der NS-Propagandadichtung - Sakralisierung der

„Glaubensartikel“

In Übereinstimmung mit dem mehrdimensionalen Konzept der (politischen) Religion

weist auch der Nationalsozialismus eine materiell-künstlerische Dimension (7) auf, die oft

mit der rituell-praktischen (1) verbunden wird. So wurde in nationalsozialistischen Feiern

eine religionsähnliche Liturgie nachgeahmt,192 in der auch bestimmte Artefakte wie etwa

die Fahne als „heilige Symbole“ mitgetragen und Bekenntnischarakter tragende Texte

rezitiert wurden.193 In dem Sinne seien diese Texte als Ausdrücke der

nationalsozialistischen (politischen) Religion zu verstehen und der materiell-

künstlerischen Dimension (7) zuzuordnen.

Auch die für diese Arbeit fokussierte nationalsozialistische Propagandadichtung, für die

die Dichtung von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel als

beispielhaft gilt, lässt sich in dieser Hinsicht als künstlerischer Ausdruck der

nationalsozialistischen (politischen) Religion erkennen. Die literarische Analyse dieser

Dichtung untersucht im Besonderen die Funktion des religiösen Diskurses in der lyrischen

Repräsentation der nationalsozialistischen Glaubensartikel „Führer“, „Reich“ und „Volk“.

Indem diese nationalsozialistischen „Glaubensartikel“ durch Sakralisierungsprozesse

tatsächlich als religiös aufgewertete und sogar „heilige“ und verabsolutierte Konzepte der

nationalsozialistischen (politischen) Religion erscheinen, wären sie der doktrinär-

philosophischen Dimension (2) zuzuordnen. Wie diese drei Glaubensartikel in der NS-

191 Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 2-3. 192 Vondung hat die Verwandtschaft zwischen der nationalsozialistischen Feierfolge und der dreiteiligen Liturgie des protestantischen Predigtgottesdienstes aufgezeigt. Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 117-118. 193 Wie im nächsten Kapitel im Rahmen der Gattungsfrage expliziert wird, entstanden in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ sogenannte „Bekenntnislieder“, die als Lobpreisungen auf „Führer“, Volk und Vaterland zu verstehen sind.

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Ein Definitionsversuch

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Propagandadichtung ihren geheiligten Status bekommen, wird mittels einer literarischen

Analyse im weiteren Verlauf dieser Arbeit untersucht.

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III Die nationalsozialistische Lyrik - Die

Literarizität eines umstrittenen Korpus

Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

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Die nationalsozialistische Lyrik

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1. Nationalsozialistische Lyrik - Problemfeld der deutschen

Literaturgeschichte

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Germanistik die nationalsozialistische Literatur und

Dichtung lange Zeit vernachlässigt. Die dafür verantwortliche dominante These war, diese

Literatur sei keine „echte Literatur“ gewesen: „Sie sei nicht frei gewesen, sondern habe im

Dienst politischer Propaganda gestanden, sie sei inhuman, intellektuell anspruchslos,

formal unzureichend, trivial und somit einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung

unwürdig“.194 Allerdings sollte eine propagandistische Funktion der Literatur ihre kritische

literaturwissenschaftliche Untersuchung nicht unbedingt verhindern.

Zu vielen Zeiten, und man ist fast versucht, zu sagen: in ihren großen Zeiten, hat die Kunst

gedient – dem Kultus, dem Gottesdienst, dem höfischen oder dem bürgerlichen Fest, der

Erziehung und Belehrung, auch der Politik. Da war Poesie Mittel zu einem

außerkünstlerischen Zweck, übernahm sie Aufgaben. Doch die Geschichte lehrt, daß die

Kunst sich an großen Aufgaben zu bilden, daß sie an ihnen zu wachsen vermag. Selbst dort,

wo das Lied politisch wird.195

Damit möchte diese Arbeit die nationalsozialistischen Autoren auf keinen Fall über einen

Leisten mit politisch engagierten Autoren wie Heinrich Heine oder Walther von der

Vögelweide schlagen, sondern nur darauf hinweisen, dass man auch ihre Texte als

Produkte der damaligen gesellschaftlichen Situation betrachten kann, die daraufhin gegen

diesen gesellschaftlichen Hintergrund untersucht werden sollten. Walter Hinderer

definiert den Begriff „politische Lyrik“ in dem Sinne nicht als einen Gegenbegriff zur

„reinen Lyrik“, sondern als Bezeichnung einer bestimmten Gruppe „poetischer Texte,

deren specifica differentia in der politischen Thematik liegt wie die religiöser Lyrik in der

religiösen oder erotischer in der erotischen Thematik“.196 Dabei handele es sich bei

politischer Lyrik um ein spezifisches Phänomen, „das nur unter den Aspekten der

Textproduktion, der historischen Situation, der Kommunikation, der Rezeption und der

Wirkung sinnvoll analysiert und charakterisiert werden kann“.197 In dieser Hinsicht

reichen rein ästhetische und poetologische Kriterien für die Analyse dieser Lyrik nicht aus,

sondern sollte auch der politisch-historische Kontext, in dem die Lyrik entstanden ist,

berücksichtigt werden.198 Zu diesem Zweck schlägt diese Arbeit für die Analyse des

194 Roßmeißl: Märtyrerstilisierung in der Literatur des Dritten Reiches, 11. 195 Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 5. 196 Walter Hinderer: Versuch über den Begriff und die Theorie politischer Lyrik. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: Philipp Reclam 1978, 10. 197 Ebd. 11. 198 Dieses Argument gilt nicht nur für die Interpretation nationalsozialistischer Dichtung. Die Berücksichtigung des politisch-historischen Kontextes kann sich auch bei der Analyse und Interpretation nicht-politischer oder anders-politischer Lyrik als fruchtbar erweisen. Allerdings scheint eine nuancierte Interpretation der NS-Dichtung ohne die Berücksichtigung des politisch-historischen Kontextes und

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

68

gewählten Korpus ein ideologiekritisches Verfahren, das die religiöse Dimension

innerhalb der NS-Dichtung besonders beachtet, vor, indem die werkimmanente

Textinterpretation des Close readings mit dem von Peter Zima entwickelten

textsoziologischen Ansatz ergänzt wird. Bevor diese methodologischen Überlegungen

weiter ausgeführt werden, soll hier im Folgenden zunächst auf die nationalsozialistische

Lyrik als Gattung eingegangen werden.

1.1 Nationalsozialistische Lyrik

Quasi in allen Arbeiten, die sich mit nationalsozialistischer Lyrik auseinandersetzen, wird

deren „Gebrauchswertcharakter“199 hervorgehoben. Denn, die sogenannte „volkhafte

Dichtung“ wurde nach der Machtübernahme im Januar 1933 nach drei Kriterien beurteilt:

„Zum Ersten musste sie der Rassenideologie verpflichtet sein, zum Zweiten sollte sie den

(sozial-darwinistischen) Kampfwillen beschreiben und zum Dritten die ideologischen

Inhalte als quasi-religiös verherrlichen“.200 Eine eigenständige Poetik oder Ästhetik habe

der Nationalsozialismus jedoch nicht hervorgebracht.201 Obwohl die nationalsozialistische

Programmatik tatsächlich ein wichtiges Charakteristikum der nationalsozialistischen

Dichtung darstellt, hat sich der Literaturwissenschaftler Helmuth Langenbucher scharf

gegen eine Einstufung der Lyrik als „Parteidichtung“ ausgesprochen. In seiner

Argumentation bezieht er sich nicht auf die lyrische Eigenheit der Dichtung, sondern auf

die damalige politische Organisation des Reiches. „Parteilyrik“ existiere nur dort, wo

„Politik“ als „Parteipolitik“ – und deswegen als das „Gegeneinanderrasen von

Parteimeinungen, Interessen usw.“ – zu betrachten wäre.202 Im nationalsozialistischen

Deutschland war „die einzige Partei, die es heute bei uns noch gibt, [...] Deutschland“.203

Wegen des Fehlens unterschiedlicher Parteien wäre eine „Parteidichtung“ laut

Langenbucher also unmöglich und auch unnötig. Indem die nationalsozialistische

Dichtung keine „Tendenzdichtung“ sei und deswegen nur auf Teile des Volkes abzielen

besonders hinsichtlich der Debatte über den Nationalsozialismus als eine politische Religion schwierig zu sein und stellt diese Arbeit eine solche Herangehensweise also explizit voraus. 199 Walter Hinderer sieht diesen Gebrauchswertcharakter der „politischen Dichtung“ in der „Zweckdienlichkeit ästhetischer Mittel für spezifische Intentionen“, welche im Rahmen der politischen Dichtung in ihrer politischen Thematik liegen. Vgl. Hinderer: Versuch über den Begriff und die Theorie politischer Lyrik, 10. Alfred Roth beschreibt die nationalsozialistischen Massenlieder als „Gebrauchstexte“, die als Mittel faschistischer Propaganda der Massenmobilisierung dienten und dementsprechend in ihrer Wirkung konzipiert waren. Vgl. Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion, 15. 200 Antje Karger: NS-Literaturpolitik. Die literarische Produktion von 1933 bis 1945 und Exilliteratur. Norderstedt: GRIN 2012, 15. 201 Ebd. 202 Helmuth Langenbucher: Dichtung der Jungen Mannschaft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1935, 19. 203 Ebd. 24.

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Die nationalsozialistische Lyrik

69

würde, gehe es ihr „um das Ganze“.204 Auch der NS-Dichter Gerhard Schumann zog in

einem 1937 erschienenen Aufsatz stark gegen eine Beschränkung der damaligen Dichtung

auf die bloße Vermittlung des Parteiprogramms vom Leder. Dabei betonte er nicht die

inhaltlichen Lenkung der Politik, sondern die inhärente politische „Haltung“ des Dichters

selber:

Es ist ein Unding, den nationalsozialistischen Künstler auf ein ödes Abwandeln des

nationalsozialistischen Parteiprogramms beschränken zu wollen, ihn zum gefälligen

Hausdichter, -maler oder –musiker der Partei und ihrer sich gegenseitig

übertreffenwollenden Gliederungen zu machen. Nicht die Tatsache wehender

Hakenkreuzfahnen oder polternder Marschstiefel auf der Bühne, nicht die mystisch

zusammengewürfelten Begriffe Blut, Ehre, Freiheit, Volk, Scholle, Führer usw., nicht die

ölfarbene, blutige Darstellung sterbender Kämpfer der Bewegung, mit einem Wort, nicht der

Stoff, sondern die Haltung entscheidet für uns.205

Die Tatsache, dass Schumann sich dazu berufen fühlte, einen Aufsatz zum Wesen und zur

Stellung der Lyrik im „Dritten Reich“ zu schreiben, scheint darauf hinzuweisen, dass der

politisch orientierte Inhalt der NS-Dichtung bereits im „Dritten Reich“ kritische Stimmen

über deren Wert reizten. Schumann sieht die bedeutende Rolle des nationalsozialistischen

Dichters nicht im „Stoff“, den er in seiner Dichtung behandelt, sondern in seiner

persönlichen „Haltung“, aus der sich seine Dichtung ergibt. Gerade in der Erforschung

dieser „Haltung“ sah der Germanist Ralf Schnell eine Möglichkeit, Aufschluss zu geben

über das, was nationalsozialistische Dichtung als „Dichtung“ ausmacht, und zwar jenseits

der Parteiprogrammatik und ideologischen Begrifflichkeit.206 Die dualistisch strukturierte

nationalsozialistische Dichtung sei eine Dichtung des Aufbruchs und des Heimkehrs.

Indem die Idee des „Dritten Reiches“ dieser Aufbruchsbewegung Richtung gibt und dem

Führerprinzip mittels Sakralisierungsversuchen eine gewisse Religiosität verliehen wird,

erscheint sie zudem als sakrale Dichtung. Für diese so um den Führer hergestellte

„spirituelle Gemeinschaft“ will diese Dichtung zudem Massen- oder

Gemeinschaftsdichtung sein, in der die Volksgemeinschaft mittels der Organisierung von

„Massensymbolen“ – wie Fahne, Sterne, Blut und Boden – und unsichtbaren Massen

literarisch konstituiert wird. Sonst charakterisiert sich die nationalsozialistische

Sprechweise durch eine monumentale, auktoriale und suggestive Sprechweise und

entwickeln sich ihre Strukturmerkmale nicht genrespezifisch, sondern genreübergreifend.

204 Ebd. 205 Gerhard Schumann: Politische Kunst? - ja! aber ... In: Der SA-Mann. Ausgabe Berlin-Brandenburg 21.6 (1937), 1. 206 Schnell fasst seine Überlegungen zur Beantwortung der Frage „Was ist nationalsozialistische Dichtung?“ in zehn bzw. dreizehn Thesen zusammen. Der nächste Abschnitt gibt ein kurzes Resümee seiner Befunde in Was ist nationalsozialistische Dichtung. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 5.39 (1985), 397-405 und Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘? In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. v. Jörg Thunecke. Bonn: Bouvier 1987, 28-45.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

70

Wegen der ungebrochenen Übernahme und nationalsozialistischen „Aufladung“ von

Elementen des tradierten Formenkanons – etwa der Formenstrenge des Sonetts –

beschreibt Schnell die nationalsozialistische Dichtung zudem als epigonale Dichtung.

Außerdem bildet sie „den erfolglosen Versuch, der ästhetisierten Sphäre des politischen

Lebens mit den Ausdrucksmitteln der Poesie nachempfindend auf den Fersen zu

bleiben“.207 Obwohl Schoeps anmerkt, dass nicht alle diese Elemente in gleichem Maße in

sogenannten nationalsozialistischen Werken vorkommen, hat er Schnells literarisch-

ästhetische Überlegungen zur NS-Dichtung doch als die „bisher brauchbarste Definition

der Literatur des Dritten Reichs“ beurteilt.208

Obwohl die politische Instrumentalisierung der Lyrik zur Zeit des nationalsozialistischen

Regimes aus heutiger Sicht also meistens als negativ interpretiert wird, sei ihre politische

Aufgabe aber kein Grund für eine literaturwissenschaftliche Vernachlässigung.209 Auch die

nationalsozialistische Dichtung ist als Teil der deutschen Literaturgeschichte zu

betrachten. So war die – politisch – engagierte Lyrik keine Erfindung des 20. Jahrhunderts.

In allen Perioden der deutschen Literaturgeschichte seit der Frühen Neuzeit hat Literatur

gesellschaftliche Zu- oder Missstände thematisiert, angeprangert oder auch bestätigt.210 In

dieser Hinsicht ist die politische Lyrik des Nationalsozialismus „eine Literatur aus der

Haltung einer sozialen Reaktion der unteren und mittleren Schichten des Bürgertums auf

die liberal-kapitalistischen Tendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts und die marxistisch-

sozialistischen Antworten darauf“.211 Gerade in ihren epigonalen Zügen beschreibt Schnell

sie zudem auch als Teil der literaturgeschichtlichen Entwicklung seit der zweiten Hälfte

des 19. Jahrhunderts.212 Nicht nur inhaltlich stellt sich die nationalsozialistische Dichtung

207 Schnell: Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘?, 39; Ebd.: Was ist nationalsozialistische Dichtung 402. 208 Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 8. 209 Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 5. 210 Benedikt Jeßing und Ralph Köhnen stellen die engagierte Lyrik des 20. Jahrhunderts in die literaturgeschichtliche Tradition der politisch engagierten Lyrik der antinapoleonischen Befreiungskriege als auch der Gedichte zwischen französischer Julirevolution (1830) und der gescheiterten bürgerlichen Revolution in Deutschland (1848). Auch die Werke von etwa Bertolt Brecht und Julius Becher ab den 1920er Jahren und des DDR-Schriftstellers Wolf Biermann gehören in die literarische Tradition der engagierten Lyrik. Vgl. Benedikt Jeßing und Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Weimar: J.B. Metzler 2003, 96. 211 Uwe-K. Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: Philipp Reclam 1978, 293. 212 Ohne detailliert darauf einzugehen beschreibt Schnell die Aufbruchsbewegung, die dualistische Weltanschauung, die regressive Utopie und das ästhetische Epigonentum nicht nur als Kennzeichen einer ‚völkisch-nationalen‘ Vorläufer-Literatur des Nationalsozialismus, sondern auch der konservativen Weltanschauungsessayistik, der Spätromantik des 19. Jahrhunderts und der Heimatkunst nach 1890 und der Neuromantik. Diese literarischen Strömungen weisen bereits aggressive Antisemitismen und Nationalchauvinismen auf, die der nationalsozialistischen Kampfliteratur nahestehen. Auch die Balladenliteratur um die Jahrhundertwende, die Literatur der Jugendbewegung, der literarische Expressionismus, die um 1920 entstehende Kriegsliteratur und die Zivilisationskritik weisen laut Schnell Affinitäten mit der nationalsozialistischen Literatur auf. Vgl. Schnell: Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘?, 39-40.

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Die nationalsozialistische Lyrik

71

in die deutsche Literaturgeschichte, auch formal greifen die nationalsozialistischen

Dichter auf den literarischen Kanon zurück. Bevor aber genauer auf die verschiedenen

Gedichttypen im hier vorhandenen Korpus eingegangen wird, wird im Folgenden

zunächst auf die Funktion der Lyrik im „Dritten Reich“ eingegangen.

1.2 Die dienende Funktion der Lyrik im „Dritten Reich“

Bereits in Mein Kampf postulierte Hitler, dass die deutsche Kultur „von den Erscheinungen

einer verfaulenden Welt“ gesäubert werden sollte und dass sich die Künste in den Dienst

einer „sittlichen Staats- und Kulturidee“ zu stellen hatten.213 Diese dienende oder sogar

„erziehende“ Funktion der Künste wiederholte er nicht lange nach seiner

Machtübernahme in seiner Regierungserklärung vom 23. März 1933:

Unser gesamtes Erziehungswesen – das Theater, der Film, Literatur, Presse, Rundfunk – sie

werden als Mittel zu diesem Zwecke angesehen und demgemäß gewürdigt. Sie haben alle

der Erhaltung der im Wesen unseres Volkstums liegenden Ewigkeitswerte zu dienen; die

Kunst wird stets Ausdruck und Spiegel der Sehnsucht oder der Wirklichkeit einer Zeit sein.214

Obwohl der Nationalsozialismus keine eigenständige Poetik oder Ästhetik hervorgebracht

hat, hat Hitler in seiner „Kulturrede“ im September 1933 aber schon versucht, diese

Widerspiegelung „der Sehnsucht oder der Wirklichkeit“ durch die Künste zu lenken. So

stellte er der Kunst zur Aufgabe, durch „heldische Verehrung gemeiner Züge“

nationalsozialistische Grundwerte zu propagieren, was sich in „Idole[n] für die Masse und

[…] Leitbilder[n] für die zu züchtende Elite“ zeigen wurde.215 Auch Joseph Goebbels

betonte die Bedeutung „der politischen Erziehung der Nation“ als die „echte Aufgabe“ der

Kunst.216 Gemäß dieser Auffassung verlor die Kunst nach der nationalsozialistischen

Machtergreifung dann auch jedes Eigenrecht und jede Eigenbestimmung und wurde sie

zu einem heteronomen herrschaftstechnischen Instrument der nationalsozialistischen

Kulturpolitik. Mit der Gründung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und

Propaganda im Frühjahr 1933 wurden „Kultur“ und „Propaganda“ dann auch quasi

austauschbar.

Spätestens mit der Errichtung der „Reichsschrifttumskammer“ (RSK), die am 15.

November 1933 als eine der sieben Einzelkammern der „Reichskulturkammer“ etabliert

wurde, ermöglichte Joseph Goebbels die Kontrolle und Leitung des gesamten

213 Hitler: Mein Kampf, 279. 214 Hitler zit. in Günter Hartung: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001, 237. 215 Vgl. ebd., 241. 216 Goebbels zit. in Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 33.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

72

Literaturlebens.217 Die RSK betreute alle Phasen des Buchvertriebs vom Autor über den

Verlag an Buchhandlungen und Bibliotheken bis hin zu Buchbesprechungen. Die

Mitgliedschaft in der RSK war obligatorisch für jeden, der an diesem Prozess teilhaben

wollte, sonst wurde ihm die Ausübung seines Berufs schlichtweg verboten.218 Obwohl die

RSK auch die Veröffentlichung von „Tendenzromanen“ wie Artur Dinters Sünde wider das

Blut oder den Horst Wessel des Hanns Heinz Ewers unterstützte, war sie sich bewusst,

„daß gedruckte Literatur immer nur einen begrenzten Kreis von Lesern erreicht und daß

ihre Wirkung sich direkter Kontrolle entzieht“, denn jeder „Lesende ist mit seinem Buch

allein“.219 Das nationalsozialistische Gedicht, das sich in all seinen Formen in erster Linie

als „Massenlied“ oder „Gemeinschaftslied“ verstand,220 hatte in dieser Hinsicht ein viel

größeres propagandistisches Potenzial, denn ihr Wirkungspotenzial lag nicht in der

besinnlichen Lektüre des Einzellesers: „Um ihre Wirkungskraft zu entfalten, bedurfte sie

der Gemeinschaft, vor der man sie sprach und in der man sie sang“.221 Gerade im

gemeinsamen Singen oder Rezitieren – zum Beispiel an Massenveranstaltungen oder

Gelegenheitsfeiern – verband das Gedicht oder Lied die Teilnehmer zu einer

„Gemeinschaft“, was die nationalsozialistische Idee der kollektiven Einheit förderte.

Schöne betont dann auch, dass die Verbreitung und Bedeutung einzelner Gedichtbände

weniger am Verkauf in den Buchhandlungen als an ihrer ständig wiederholten Darbietung

bei den Morgenfeiern, Heimabenden und Dorfgemeinschaftsabenden, den Schul- und

Betriebsfeiern, den nationalen Feiertagen des NS-Jahres, den Aufmärschen, Appellen und

Versammlungen der Partei und den kultischen Großveranstaltungen der Nürnberger

Parteitage zu messen ist. Denn, „das ist der Ort und die Stunde dieser Lyrik. Da übt das

Gemeinschaftslied seine überwältige Wirkung“.222

Die „dienende“ Funktion der nationalsozialistischen Lyrik zeigt sich gemäß dieser

Auffassung auf zwei Ebenen. Einerseits soll sie einen bereits von Hitler in seiner Kulturrede

geforderten Heroismus propagieren, andererseits dient sie sowohl in ihrer Thematik als

auch in ihrer Form der nationalsozialistischen Idee der Kollektivität. Denn, nicht nur

braucht das Gemeinschaftslied die Gemeinschaft zur Verbreitung seines ideologischen

Inhalts, sondern das Gemeinschaftslied gestaltet die Gemeinschaft auch mit, indem es ein

Wir-Gefühl, das nicht nach Ziel und Gründen frage, herstellt.223 Die Marsch- und

Soldatenlieder und die Feier- und Weihedichtung, die im Folgenden als zwei Typen

217 Vgl. Karger: NS-Literaturpolitik. Die literarische Produktion von 1933 bis 1945 und Exilliteratur, 8. 218 Vgl. Karl-Heinz Schoeps: Literature and Film in the Third Reich. New York: Camden House 2004, 37-38. 219 Hartung: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik, 306. 220 Das Kampflied, Feier- und Bekenntnislied und Soldatenlied betrachtet Roth als verschiedene Ausformungen des nationalsozialistischen Massenliedes. Vgl. Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion, 11. 221 Schöne: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur, 263. 222 Ebd., 264. 223 von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, 261.

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Die nationalsozialistische Lyrik

73

innerhalb der nationalsozialistischen Dichtung dargestellt werden, werden diesen beiden

Voraussetzungen der nationalsozialistischen Kulturpolitik ohne weiteres gerecht.

1.3 Das Gedicht im Nationalsozialismus

Neben ihrem Leistungsvermögen als Gemeinschaftslied zeigt sich das propagandistische

Potenzial der nationalsozialistischen Lyrik auch besonders in ihrem Agitationscharakter.

Indem die Texte durch einen starken Antiindividualismus und eine stilisierte

Kampfbereitschaft gekennzeichnet sind, zielen sie auf das Sammeln von

Gesinnungsgenossen.224 Weil diese Lyrik zur aktiven Teilnahme am Kampf oder zum

expliziten Bekenntnis zum Nationalsozialismus aufruft, bezeichnet Helmuth

Langenbucher sie als eine „politische Tat“,225 weshalb sie auch als „Aktionslyrik“ zu

verstehen ist. Gerade in dieser Bezeichnung lässt sich die performative Funktion der

nationalsozialistischen Lyrik erkennen. Nach John L. Austins Sprechakttheorie lassen sich

sprachliche Äußerungen in konstatierende, mit denen etwas behauptet, beschrieben oder

festgestellt wird, und performative Äußerungen aufteilen. Mit der Äußerung eines

performativen Satzes wird nichts behauptet, beschrieben oder festgestellt, sondern

vielmehr eine Handlung vollzogen.226 Der performative Charakter der NS-Dichtung zeigt

sich besonders in den zahlreichen „Bekenntnisliedern“, die vor allem ab 1935 allmählich

immer mehr verfasst wurden und besonders für den Gebrauch in nationalsozialistischen

Feiern gedacht waren.227 Die in diesen Texten enthaltenen „Glaubensbekenntnisse“ an

beispielsweise „Führer“, „Volk“ und „Vaterland“ lassen sich in diesem Zusammenhang

auch als sprachliche Handlungen verstehen: Im Rezitieren oder Singen dieser Verse nimmt

der Sprecher ganz eindeutig ideologische Stellung.

Außerdem lässt sich der performative Charakter des nationalsozialistischen Gedichtes

auch mit seiner propagandistischen oder „Appellfunktion“ verbinden. Die NS-Lyrik ruft

zum expliziten Bekenntnis oder zur aktiven Teilnahme am Kampf auf, weil diese Lyrik als

Produkt der vom französischen Philosophen Louis Althusser so genannten „ideologischen

Staatsapparate“ zu verstehen ist: „Ein ideologischer Staatsapparat ist jedes der Systeme,

die die materielle – zugleich theoretische wie praktische – Realität der herrschenden

Ideologien bilden“.228 Genauso wie beispielsweise die religiösen, schulischen oder

politischen ideologischen Staatsapparate reproduziere auch ein kultureller ideologischer

224 Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich, 295-298. 225 Helmuth Langenbucher: Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit. Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1939, 191. 226 Vgl. John Langshaw Austin: Zur Theorie der Sprechakte: how to do things with words. Stuttgart: Reclam 1972, 7-20. 227 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 117-118. 228 Saül Karsz: Theorie und Politik: Louis Althusser. Frankfurt am Main: Ullstein 1975, 235.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

74

Staatsapparat, der im nationalsozialistischen Regime von der Reichskulturkammer gelenkt

wird, die materielle Realität der herrschenden – also in diesem Kontext

nationalsozialistischen – Ideologie. Durch einen Mechanismus der Konditionierung, den

Athusser als „Anrufung“ bezeichnet, konstituieren sich die individuellen Subjekte, die

außerdem als „gesellschaftlich Handelnde“ zu verstehen sind, in den und durch die

ideologischen Staatsapparate.229 Die verschiedenen ideologischen Staatsapparate

gewährleisten die Einheit der herrschenden – nationalsozialistischen – Ideologie, indem

ihre „Verschiedenartigkeit […] aus der Spezialisierung ein und derselben herrschenden

Ideologie in relativ autonomen Bereichen“230 resultiert: „Die Apelle, die von Familie,

Schule, Gewerkschaft, Presse und Sport an das Individuum-Subjekt ergehen, sind in

Wirklichkeit ein ununterbrochener Apell“.231 Das heroisierte Ideal und die

nationalsozialistische Idee des Kollektivs sind daher nicht nur wichtige Themen des

nationalsozialistischen Gemeinschaftsliedes, sondern lassen sich auch in anderen

literarischen Gattungen sowie in politischen Massenveranstaltungen oder in der

schulischen Erziehung finden.

In den verschiedenen Etappen der nationalsozialistischen Bewegung nahm das

nationalsozialistische Gemeinschaftslied zudem unterschiedliche Formen an. So wären

laut Alexander von Bormanns vorgetragener Skizze einer historischen Typologie drei

Liedarten zu unterscheiden. In der der nationalsozialistischen Machtübernahme

vorangehenden „Kampfzeit“232 überwog das sogenannte „Sturm- und Kampflied“, während

sich nach der Machteinsetzung Hitlers 1933 das „Feier- und Bekenntnislied“ durchsetzte.

Im Vorfeld und während des Krieges habe dann wieder das „Marschlied“ geherrscht.233 Die

Gedichte im vorliegenden Korpus sind alle zwischen 1930 und 1936, also gerade am Ende

der sogenannten „Kampfzeit“ und in den Anfangsjahren des nationalsozialistischen

Regimes in Deutschland, entstanden und lassen sich im Großen und Ganzen den zwei

letzten Kategorien zuordnen: das Marsch- oder Soldatenlied und die Feier- und

Weihedichtung. Bereits die Bezeichnung der beiden Kategorien lässt ihren

symptomatischen Charakter innerhalb der totalitären Struktur des „Dritten Reiches“, die

auf Gemeinschaftsbildung gerichtet ist, erkennen. Während das gemeinschaftsbildende

Element der Marsch- und Soldatenlieder sich in erster Linie auf formaler Ebene befindet,

versucht der der Feier- und Weihedichtung inhärente Bekenntnischarakter die

Gemeinschaft inhaltlich und sprachlich zu etablieren.

229 Vgl. ebd., 240-241. 230 Vgl. ebd., 246. 231 Vgl. ebd. 232 So bezeichneten die Nationalsozialisten die Zeit des Aufstiegs der NSDAP von 1918 bis 1933. Vgl. „Kampfzeit“ in Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin: Walter de Gruyter 2000, 347. 233 Vgl. von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, 269.

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Die nationalsozialistische Lyrik

75

Die Marsch- und Soldatenlieder kennzeichnen sich durch eine starke Rhythmisierung,

durch die sich die Texte leicht skandieren lassen. Viele dieser Texte wurden außerdem

vertont. Die Melodie lädt nicht nur zum gemeinsamen Singen, sondern auch zum

Marschieren ein. Dabei hat dieses Marschieren laut Ketelsen keinerlei verkehrspraktische

Bedeutung, sondern betont einfach die antiindividualistische Form des Liedes.234 Das

gemeinsame Singen und die starke Rhythmisierung tragen besonders zur

Gemeinschaftsbildung bei. Inhaltlich referieren die Texte stichwortartig auf die

nationalsozialistische Ideologie, als Hauptthema des Marschliedes nennt von Bormann die

ideologische Verallgemeinerung, die das Soldatsein als vorbildliche Haltung schlechthin

gefunden hat.235 Obwohl laut von Bormanns historischer Typologie die Marsch- und

Soldatenlieder erst im direkten Vorfeld des Krieges, also Ende der 1930er Jahre, blühten,

behauptet Alfred Roth und beweist auch das vorliegende Korpus, dass die dritte

Entwicklungsphase des nationalsozialistischen Massenliedes in der Form des

nationalsozialistischen Soldatenliedes schon viel früher einsetzt.236 Allerdings soll hier

angemerkt werden, dass es bei Anackers, Schumanns und Menzels Marsch- und

Soldatenliedern in den drei gewählten Gedichtbänden vielleicht eher um eine Mischform

zwischen dem älteren Kampflied und dem neuen auf den Krieg orientierten Marsch- und

Soldatenlied geht. Einerseits gedenken die Marsch- und Soldatenlieder in diesem Korpus

sowohl der „Kampfzeit“ der Bewegung, indem die Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg und

diejenigen, die in den 1920er Jahren für die Bewegung gestorben sind, als wahre „Märtyrer“

dargestellt werden. Andererseits wird der Soldatentod als Helden- oder auch Märtyrertod

bereits als Vorbild für die Kampfbereitschaft in einem zukünftigen Krieg aufgewertet.

Obwohl sich diese Texte mit Wörtern wie ‚ziehen‘, ‚Soldat‘, ‚Kampf‘ und Fahnen- und

Trommelmetaphern durch einen militärischen Diskurs kennzeichnen, lässt sich in der

Märtyrerstilisierung der bereits verstorbenen „Gefallenen der Bewegung“ und im Aufruf

zur zukünftigen Opferbereitschaft für „Führer“ und Vaterland auch einen auffälligen

religiösen Diskurs entdecken.

Neben der aggressiven und militärischen Marschlyrik lässt sich auch eine ‚sanftere‘

erkennen, die vor allem nach 1933 und als Feier- und Weihedichtung blühte. Diese Texte

dienen der Stabilisierung des weltanschaulichen Horizontes der Gesinnungsgenossen und

beabsichtigen die Formulierung eines Bekenntnisses,237 weshalb sie auch als

‚Bekenntnislieder‘ bezeichnet werden. Genauso wie im Falle der Marschlieder zielt die

Feierdichtung auf die Etablierung einer Gemeinschaft. Diese offenbart sich aber nicht als

marschierende Kolonne, sondern als „feiernde Gemeinde“,238 die das „Bekenntnis“

234 Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich, 295. 235 Vgl. von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, 272. 236 Vgl. Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion, 45. 237 Vgl. Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich, 300. 238 Vgl. ebd.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

76

gemeinsam rezitiert oder singt. Bereits in seiner Dissertation hat Klaus Vondung auf die

auffälligen Ähnlichkeiten zwischen der nationalsozialistischen Feierfolge und dem Aufbau

eines evangelischen Predigtgottesdiensts hingewiesen.239 Nicht nur habe die

nationalsozialistische Feier die dreiteilige Liturgie übernommen, die „Weihedichtung“

übernimmt zudem die Funktion liturgischer Texte.240 Da wo im evangelischen

Gottesdienst Gott gelobt wird, wird in der nationalsozialistischen Feier ein Bekenntnis

zum „Führer“, zum Vaterland oder auch zur Fahne ausgesprochen. Die Feier- oder

Weihedichtung etabliert sich zudem als Gelegenheitsdichtung, verfasst für bestimmte

Feiern oder Gedenktage. So gibt es zahlreiche Gedichte, die zum Gedenken der

nationalsozialistischen Machtübernahme oder als Erinnerung an die Gefallenen beim

misslungenen Putschversuch im Jahre 1923, zur säkularisierten Umdeutung ursprünglich

christlicher Feiern wie Weihnachten oder Ostern oder zum Geburtstag des „Führers“

verfasst worden sind. Besonders letztere Gelegenheitsgedichte gestalteten eine wahre

„Führerhymnik“, die Günter Scholdt als eine „Ansammlung von Hitler verherrlichenden

lyrischen Produkten, deren Verfasser Legion und deren Wirkungen vermutlich verheerend

waren“, definiert.241

Trotz des Auftragscharakters ihrer Dichtung haben sich die nationalsozialistischen

Dichter, von denen viele auch einen germanistischen Hintergrund hatten,242 mit ihren

Gedichten in der lyrischen Tradition positioniert. Obwohl Hitler, die RKK und RSK bis auf

einige inhaltliche Präferenzen keine näheren Ausführungsbestimmungen festlegten,

wurde der Rückgriff auf die klassische Tradition schon empfohlen. Beispielsweise

hinsichtlich der Bereiche der Plastik und Architektur wurde das „Schönheitsideal der

antiken Völker und Staaten“ mit Nachdruck hervorgehoben.243 Noch in seiner

„Kulturrede“ im Jahre 1933 führte Hitler aus:

Und es ist daher kein Wunder, daß jedes politisch heroische Zeitalter in seiner Kunst sofort

die Brücke sucht zu einer nicht minder heroischen Vergangenheit. Griechen und Römer

werden dann plötzlich den Germanen so nahe, weil alle ihre Wurzeln in einer Urrasse zu

239 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 117-118. 240 Vgl. Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 44. 241 Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919-1945 und ihr Bild vom „Führer“. Bonn: Bouvier 1993, 49. 242 Heinrich Anacker besuchte im Wintersemester 1921 an der Universität Zürich einige Vorlesungen in Literatur und Philosophie, unterbrach sein Studium aber bereits im Sommersemester 1922. Auch Schumann stellte sein im Jahre 1930 begonnenes Studium der Fächer Germanistik, Philosophie, Geschichte und Anglistik an der Universität Tübingen ohne Abschluss ein. Vgl. Verena Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. Bd. 2. Hg. v. Rolf Düsterberg. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2011, 25; Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 77. 243 Hartung: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik, 241.

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Die nationalsozialistische Lyrik

77

suchen haben. […] Da es besser ist, Gutes nachzuahmen, als neues Schlechtes zu

produzieren, können die vorliegenden intuitiven Schöpfungen dieser Völker heute als Stil

ohne Zweifel ihre erziehende und führende Mission erfüllen.244

Gerade in der Nachahmung der Ode und des Sonetts zeigt sich auch für die Lyrik einen

bewussten Rückkehr zu Gedichtformen aus dem antiken Formenkanon. Laut Hartung hat

Hitler vor allem deswegen einen bewussten Klassizismus empfohlen, weil er seinen

Künstlern Traditionswerte vorlegen wollte, die die Positivität seiner Kulturpolitik

betonten und diese auch explizit in Gegensatz zur vorausgegangen Epoche stellen

wollte.245 Die Oden auf den „Führer“ oder die vaterländischen Hymnen, die im Rahmen

der Feier- und Weihedichtung verfasst wurden, stellen in gewisser Hinsicht eine

Fortsetzung der antiken Tradition panegyrischer Lyrik, zu der das „Loblied“ oder die

„Lobrede“ gerechnet wird, dar. In der Antike bedeutete das vom griechisch abgeleiteten

Substantiv „panegyrikos“ ein „Werk der Redekunst oder Dichtkunst, das seinen

Gegenstand mit lobender Intention vorstellt“.246 Heutzutage wird das eher gebrauchte

Adjektiv „panegyrisch“ für jede Form preisender Dichtung – oft auch pejorativ gemeint –

verwendet. Vor allem seit der Etablierung des Absolutismus in den deutschen

Territorialstaaten im 17. Jahrhundert sei die den Herrscher unterstützende Panegyrik in

eine Legitimationskrise geraten, denn der Dichter wurde zu einem „ökomisch potenten“

Bürger, der seinen Herrscher auf Bestellung huldigte. Gerade dieses staatlich geförderte

Herrscherlob lässt sich auch im Personenkult diktatorischer Regime im 20 Jahrhundert,

wie dem Nationalsozialismus verfolgen.247

Sowohl Mosse als auch Vondung merken an, dass die Nationalsozialisten in ihrer

Textproduktion nicht nur auf das klassische Ideal zurückgreifen, sondern auch formale

und inhaltliche Elemente aus der christlichen Liturgie adaptieren.248 So ahmen die

Nationalsozialisten mit den sogenannten „Bekenntnisliedern“ laut Vondung mehr als nur

den liturgischen Gesang, sondern eine ganze musikalische Gattung nach, und zwar das

Gemeindelied, das sich seit der Reformation zu einem festen Bestandteil der Liturgie

entwickelt hat. Vondung betrachtet das nationalsozialistische „Bekenntnislied“ sowohl

wegen seines formalen Charakters als auch seiner Funktion innerhalb der

244 Hitler zit. in ebd. 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. „Panegyrikos“ in Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2003, 5. 247 Vgl. „Panegyrikos“ in ebd., 6-7. 248 Vgl. Mosse: The Nationalization of the Masses, 33; Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 114.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

78

nationalsozialistischen „Liturgie“ als die genaue Parallele zum gottesdienstlichen

Gemeindelied.249

1.4 Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel –

Dichter der Jungen Mannschaft

Der Fokus der literarischen Analyse richtet sich auf die Funktion des religiösen Diskurses

in der affirmativen NS-Dichtung. Zu diesem Zweck wird der religiöse Diskurs in drei

frühen Gedichtbänden der Autoren Heinrich Anacker (1901-1971), Gerhard Schumann

(1911-1995) und Herybert Menzel (1906-1945) untersucht.250 Warum diese drei Dichter und

ihre Lyrik als repräsentativ für die nationalsozialistische Dichtung im Allgemeinen gelten,

wird im Folgenden erklärt. Darüber hinaus wird auch ihr Verhältnis als NS-Dichter zur –

christlichen – Religion kurz erläutert.

1.4.1 Dichter der Jungen Mannschaft

Die Lyrik von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel gilt als

repräsentativ für die Lyrik zahlreicher Autoren, die ihre „schriftstellerischen Talente“ in

den 1930er Jahren in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes stellten und deren

Namen nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten sind. Genauso wie Dichter

wie etwa Hans Baumann, Herbert Böhme, Eberhard Wolfgang Möller und der

Reichsjugendführer Baldur von Schirach waren auch Heinrich Anacker, Gerhard

Schumann und Herybert Menzel damals bekannte Persönlichkeiten.251 Diese Autoren

gehörten zu der sogenannten „Jungen Mannschaft“, einer Gruppe genuin

nationalsozialistischer Autoren, die sich seit dem Ende der 1920er Jahre bildete.252 Zu

dieser „Jungen Mannschaft“ gehörten zahlreiche junge Dichter, die zwischen 1900 und 1912

geboren wurden253 und meistens schon vor der Machtübernahme der NSDAP und deren

249 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 118. 250 Die drei erforschten Gedichtbände entstammen der Anfangszeit des NS-Regimes: Schumann: Die Lieder vom Reich, 1935, Anacker: Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung, Erstausgabe 1933 und Menzel: Gedichte der Kameradschaft, 1936. All die in diesen drei Gedichtbänden aufgenommenen Gedichte wurden zwischen 1930 und 1936 verfasst und manchmal bereits vorher anderswo publiziert. Den in der Analyse zitierten Gedichte folgt in Klammern die Referenz auf die hier erwähnten Gedichtbände, und zwar die Initialen des jeweiligen Autors (HA, GS oder HM) und die Seitenangabe. Wenn nicht das Gesamtgedicht zitiert wird, folgt nach der Seitenangabe noch die Referenz auf die jeweiligen Verszeilen. 251 Ein Forschungsaufenthalt am Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach am Neckar ergab zahlreiche Artikel über diese und andere NS-Autoren. Zeitungen wie der Völkische Beobachter, die Berliner Illustrierte, das Hamburger Tageblatt und viele mehr veröffentlichten nicht nur eine Vielzahl ihrer Gedichte, sondern berichteten auch über die Literaturpreise, über Dichterlesungen bei öffentlichen Veranstaltungen oder im Radio oder warben für neue Anthologien. 252 Vgl. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945, 65. 253 Vgl. Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich. Versuch einer Darstellung in polemisch-didaktischer Absicht, 109.

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Die nationalsozialistische Lyrik

79

Organisationen wie der Sturmabteilung (SA) angehörten.254 Obwohl die meisten von

ihnen bereits in den 1920er Jahren ihre ersten Gedichte verfassten, erlebten sie erst Erfolg,

als sie ihre literarische Produktion zur Verarbeitung und Verbreitung der

nationalsozialistischen Ideologie einsetzten. Diese Dichter verfassten parteikonforme

Lyrik wie politische Kampflyrik und Marschlieder sowie Gelegenheitslyrik anlässlich

nationalsozialistischer Feiertage.

Ihre Texte waren, wie bereits oben im Rahmen der „dienenden“ Funktion der Lyrik

erwähnt, nicht zur „besinnlichen Einzellektüre des Einzellesers“ da.255 Damit ihre Lyrik ein

möglichst breites Publikum – also die „Masse“ – erreichen konnte, wurden ihre Gedichte

in Zeitungen abgedruckt, an Dichterabenden rezitiert oder nach Vertonung auch als

Marschlieder oder bei offiziellen Veranstaltungen gesungen.256 Darüber hinaus strahlte

der Rundfunk diese politische Dichtung ab 1933 im gesamten Deutschen Reich aus.257

Während der politische Inhalt dieser Dichtung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer

literaturwissenschaftlichen Vernachlässigung geführt hat, haben zeitgenössische

Germanisten diese Dichter gerade wegen ihres politischen Engagements gepriesen. So

kommentierte Langenbucher den „Auftrag“ des Dichters wiederholt im Rahmen des aus

nationalsozialistischer Perspektive geänderten Werts der Lyrik. Genauso wie die Lyrik der

Auffassung Hitlers nach der „sittlichen Staats- und Kulturidee“ zu dienen hat,258 empfängt

auch der Dichter seinen dichterischen „Auftrag“ aus seiner Dienstbarkeit seinem Volke

gegenüber: „Erfüllt er diese Forderung nicht, geht von dem Gehalt seiner Dichtung keine

aufbauende Wirkung auf das Leben der Volksgemeinschaft aus, so verliert diese für uns an

Bedeutung, auch wenn sie formal noch so vollendet ist“.259 Auch Heinz Kindermann weist

auf die Bedeutung des Volkes und der Nation als wichtige Voraussetzungen der

„wahrhaften Dichtung“ seiner Zeit: „Schrifttum, das sich national indifferent oder bewußt

international erweist, ist für den Blutkreislauf der Nation bedeutungslos und schädlich“.260

Der Dichter werde so „zum Gewissen seines Volkes“ und erfülle damit einen

„priesterlichen Beruf“, indem er als „Mittler zwischen der Volkheit und dem Einzelnen“

fungiere und so die „große Gemeinschafts- und Erzieher-Aufgabe des Dichters“

254 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 96. 255 Vgl. Schöne: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur, 263. 256 So wurde beispielsweise Menzels Gedicht „In unsern Fahnen lodert Gott“ als einleitende Kantate für die Totenfeier zum 9. November 1938 des NSDAP-Kreises Lünen benutzt. Vgl. Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 456. 257 Das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) in Frankfurt am Main enthält noch eine beträchtliche Anzahl von Tonbändern aus der Zeit des nationalsozialistischen Rundfunks. 258 Vgl. Hitler: Mein Kampf, 279. 259 Langenbucher: Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit, 9-10. 260 Heinz Kindermann: Dichtung und Volkheit. Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1937, 1.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

80

übernehme.261 Laut Langenbucher erheben sich die Dichter so zu „Sehern und geistigen

Führern der Volksgemeinschaft“262 und empfangen ihre hohen Würden als berufene

„Bewahrer der höchsten Lebenswerte, der ewigen Lebensgesetze und der großen

‚göttlichen Gestaltungsgedanken‘ seines Volkes“.263 Indem der Dichter mit seinem Werk

der „nationalen Erfahrung“ diene, werde er Kindermann zufolge „zum Seher und Künder

seines Volkes“.264

Auch Anacker, Schumann und Menzel, die aus verschiedenen Ecken des Deutschen

Reiches kamen, passten in dieser Reihe politisch engagierter Schriftsteller. So wurde

Anacker 1901 als Sohn einer deutsch-schweizerischen Mutter und eines Thüringer Vaters

in Aarau in der Schweiz geboren. Während seines Studiums in Zürich und Wien Anfang

der 1920er Jahre lernte er die Ideen der lokalen NS-Abteilungen kennen und bereits 1924

trat er der NSDAP und der SA bei. Nachdem er 1928 nach Deutschland gezogen war,

verzichtete er letztendlich im Jahre 1939 freiwillig auf die Schweizer Staatsangehörigkeit.265

Gerhard Schumann wurde 1911 im Baden-Württembergischen Esslingen am Neckar als

Sohn eines Lehrers – und Ausbilder von Lehrern – und einer musisch begabten Mutter

geboren. In diesem von Musik und Literatur erfüllten Haushalt entwickelte sich

Schumann zu einer Kunst liebenden und an Politik interessierten Person.266 Während

seiner Studienzeit in Tübingen lernte er die nationalsozialistische Bewegung kennen,

wonach er im Jahre 1930 der NSDAP und im Jahre 1931 der SA beitrat.267 Im Jahre 1906

wurde Herbert Menzel, der sich erst später Herybert nannte, in Obornik/Posen geboren,

einer Region, die im Laufe der Geschichte schon mehrmals Gegenstand der

Gebietsumverteilung gewesen war. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags im

Jahre 1919 wurde das ehemalige deutsche Gebiet dem restaurierten Polen zugeschrieben.

Dieser Verlust der Heimat hat den jungen Menzel stark geprägt und wurde zu einem

zentralen Thema in seinem literarischen Werk.268 1932 trat er der lokalen Ortsgruppe der

NSDAP in Tirschtiegel bei.269

261 Vgl. ebd., 12-13. 262 Langenbucher: Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit, 9. 263 Ebd., 13. 264 Heinz Kindermann: Des deutschen Dichter Sendung in der Gegenwart. Leipzig: Philipp Reclam 1933, 9. 265 Vgl. Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 25-26. 266 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 42-43. 267 Jan Bartels: Gerhard Schumann – der „nationale Sozialist“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 10 Autorenporträts. Bd. 1. Hg. v. Rolf Düsterberg. Bielefeld: Aisthesis 2009, 266. 268 Vgl. Rolf Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. Bd. 2. Hg. v. Rolf Düsterberg. Bielefeld: Aisthesis 2011, 144. 269 Vgl. ebd., 155.

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Die nationalsozialistische Lyrik

81

Wie die meisten Autoren der Jungen Mannschaft verfassten diese drei Dichter bereits in

den 1920er Jahren ihre ersten literarischen Werke. So hat Anacker bis zum Jahre 1931

bereits sieben Gedichtbände veröffentlicht, die hauptsächlich wenig innovative Natur-

und Liebesgedichte befassten.270 Am Ende der 1920er Jahre hat auch Schumann seine

ersten Gedichte veröffentlicht, zu dem Zeitpunkt noch in Zeitschriften und Anthologien.

Auch hatte er schon einige Volkszenen und zwei Dramen, die damals unveröffentlicht

blieben, geschrieben.271 Bereits 1926 erschien Menzels erster Gedichtband, dem im Jahre

1930 noch ein zweiter folgte. Im selben Jahr erschien auch sein erster und im Jahre 1929

geschriebener Roman mit dem Titel Umstrittene Erde, der bis 1943 mehrere Auflagen mit

insgesamt mindestens 56 000 Exemplaren erlebte.272 Ihren großen literarischen Erfolg

erlebten die Autoren erst nach der Machtübernahme im Jahre 1933, indem sie ihre Lyrik

auch freiwillig in den Dienst des Nationalsozialismus stellten und in der

nationalsozialistischen Kulturbürokratie Karriere machten. Außerdem empfingen sowohl

Anacker, Schumann als auch Menzel verschiedene literarische Preise für ihre Dichtung.273

1.4.2 NS-Dichter und ihr Verhältnis zur Religion

Im Rahmen der in dieser Arbeit beabsichtigten Analyse des religiösen Diskurses in der

Dichtung von Anacker, Schumann und Menzel soll kurz auf das persönliche Verhältnis

dieser Dichter zur – christlichen – Religion eingegangen werden. Für Heinrich Anacker

lässt sich diese Frage aber schwierig klären, da einfach kaum Informationen zu seiner

Religionszugehörigkeit oder zu der seiner Eltern vorhanden sind. Paul Gerhardt Dippel,

der 1937 eine Biographie Anackers in seiner Reihe Künder und Kämpfer vorlegte, spricht

mit keinem Wort über Anackers religiösen Hintergrund und auch Verena Schulz, die erst

vor zehn Jahren ein Autorenportrait des Dichters verfasste, hat keine Informationen zu

Anackers religiösen Überzeugungen hinzuzufügen.274 Der einzige Beweis dafür, dass

Anacker dem Religiösen nicht unbedingt abgeneigt war, bietet der Fragebogen für alle

270 Vgl. Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 23. 271 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 75. 272 Vgl. Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 148. 273 Da die Dichtung von Anacker, Schumann und Menzel als exemplarisch für die nationalsozialistische Dichtung im Allgemeinen gilt und ihre individuellen Biographien für die literarische Analyse nicht ausschlaggebend sind, wird hier auf weitere Angaben zu ihren persönlichen Leben verzichtet. Für weitere Informationen über das Leben und Wirken Heinrich Anackers verweise ich auf Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 21-40 und Paul Gerhardt Dippel: Heinrich Anacker. München: Deutscher Volksverlag 1937, aus der Reihe Künder und Kämpfer herausgegeben von Paul Gerhardt Dippel. Genaueres zur Biographie Gerhard Schumanns bietet Simone Bautz mit ihrer umfangreichen Dissertation Gerhard Schumann – Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. Weitere Informationen über das Leben und Werk Herybert Menzels findet man in Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 143-173 und Gerhard Schilde: Herybert Menzel. München: Deutscher Volksverlag 1938, ebenfalls aus der Reihe Künder und Kämpfer. 274 Vgl. Dippel: Heinrich Anacker Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 21-40.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

82

Mitglieder der NSDAP, indem Anacker als seine religiöse Überzeugung „gottgläubig“275

andeutete.276 Auch bezüglich Herybert Menzels religiöser Überzeugung sind nur geringe

Informationen vorhanden. Man weiß, dass er evangelisch getauft wurde und bis zum

neunten Lebensjahr die evangelische Volksschule in Tirschtiegel besuchte.277 Außerdem

zeugt Menzel selber davon, wie er über seine Großeltern mütterlicherseits mit der

gelebten Praxis der evangelischen Religion in Kontakt kam. Er beschrieb seinen Großvater

als einen ernsten und frommen Mann, der zur ersten Garbe betete und täglich die Bibel

las. Seine Großmutter schrieb ihm und den anderen Enkeln in Briefen ihrer Meinung nach

passende Gesangbuchverse und Bibelsprüche.278 Wie Menzel in seinem erwachsenen

Leben der evangelischen Religion gegenüberstand, ist weiter nicht belegt. Es steht aber

fest, dass er mit der biblischen Bildlichkeit vertraut gewesen sein soll.

Über Gerhard Schumanns Verhältnis zur Religion als überzeugter Nationalsozialist ist

unter anderem wegen seiner in den 1970er Jahren erschienenen Autobiographie

Besinnung. Von Kunst und Leben (1974) mehr Informationen vorhanden. In Schumanns

Elternhaus war die Religion von großer Bedeutung. Seine Mutter war die Enkeltochter

eines evangelischen Pfarrers und Gerhard besuchte vom 15. bis zum 19. Lebensjahr die

Internaten der evangelisch-theologischen Seminare in Schöntal und Urach.279 Seine

religiösen Ansichten verhinderten einen Eintritt in die nationalsozialistische Partei aber

nicht. Laut Baird war Schumann sogar davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus und

das Christentum denselben Kampf führten und deswegen zusammenschmelzen konnten.

Er teilte diese Überzeugung sowohl mit seinen Freunden als auch mit Theologen und

anderen Akademikern in Tübingen:

Christentum und Nationaler Sozialismus, wie wir ihn verstanden, wurden von mir und

meinen jungen Freunden in jenen Jahren keinesfalls als unüberbrückbare Gegensätze,

sondern als Pole fruchtbarer lebensspendender Spannung empfunden.280

Alle sehnten sich nach einer spirituellen und politischen Erneuerung, die sich in der

Verwirklichung des kommenden Reiches zeigen wurde.281 Schumann hatte aber laut Baird

275 Seit dem 26. November 1936 wurde die Bezeichnung „gottgläubig“ anstelle der Ausdrücke „Dissident“ oder „konfessionslos“ offiziell zur Angabe der Religionszugehörigkeit derjenigen, die aus den christlichen Kirchen ausgetreten waren, vorgeschrieben. Vgl. „gottgläubig“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 281-282. 276 Anackers Fragebogen der NSDAP wird im Bundesarchiv in Berlin aufbewahrt: Bestandssignatur R/9361/I. 277 Vgl. Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 144-146. 278 Vgl. Schilde: Herybert Menzel, 4. 279 Vgl. Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, 44; Bartels: Gerhard Schumann – der „nationale Sozialist“, 262; Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 44; 61. 280 Gerhard Schumann: Besinnung von Kunst und Leben. Bodman, Bodensee: Hohenstaufen Verlag 1974, 130. 281 Vgl. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 136.

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Die nationalsozialistische Lyrik

83

nicht unbedingt das auf Rassenelitismus basierte „Dritte Reich“ von Adolf Hitler vor

Augen:

Instead, he wanted the mystical conception of the Reich that stretched over thirteen

centuries, from the days of Charlemagne and the Hohenstaufen emperors. Schumann

conceived of the Continent united not under German dictatorship but under German

political, cultural and moral suasion.282

Mit dieser Reichsvorstellung gingen Schumann und sein Bekanntenkreis weit über die

Ideen der nationalsozialistischen Partei hinaus. Es ist jedoch aus heutiger Sicht kaum

nachzuvollziehen, inwiefern Autoren wie Schumann die nationalsozialistische Ideologie

tatsächlich in all ihren Facetten wohl oder nicht verinnerlicht haben. Allerdings soll

Schumann in Hitler schon einen Führer, der diese Reichsidee zu Stande bringen konnte,

gesehen haben.283 Schumann erklärte später in seiner Autobiographie, dass Adolf Hitler

für ihn zur Zeit „der gottgesandte Führer und Retter des Reichs“284 war. Die Anwesenheit

von sowohl christlichen als auch nationalsozialistischen Symbolen an seiner Hochzeit mit

Margarethe Hausser bedeuteten zu dem Zeitpunkt auch keine Inkongruenz.285 Sein

religiöses Engagement,286 das er mit seinem Wiedereintritt in die evangelische Kirche im

Jahre 1946 betonte, hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sogar dazu geführt, dass

er als „Minderbelasteter“ eingestuft wurde. Der Theologie-Professor Helmuth Thielicke

kam in seiner Beurteilung zum Schluss, dass die „politische Dichtung innerhalb seines

Gesamtwerkes nur einen relativ kleinen Platz einnahm. Aufs Ganze gesehen ist es eine

metaphysische und sehr stark religiöse Dichtung“.287 Obwohl Schumanns Dichtung

tatsächlich metaphysische und religiöse Züge aufweist, sei es aber ein vorschnelles Urteil

zu behaupten, dass sie deswegen nicht als politisch zu betrachten sei. Denn, wie auch die

mehrdimensionale Auffassung des Nationalsozialismus als politischer Religion und die

Anekdote über nationalsozialistische und christliche Symbolik an Schumanns Hochzeit

zeigen, schließen sich Religion und Politik nicht unbedingt gegenseitig aus. Es ist sogar

genau die tatsächliche Verflechtung von (christlicher) Religion und

(nationalsozialistischer) Ideologie in seiner Dichtung, und dann besonders die

Konzeptualisierung dieses neuen – dritten – Reiches als spiritueller und politischer Idee,

die in dieser Arbeit untersucht wird.

282 Ebd., 134. 283 Vgl. ebd. 284 Schumann: Besinnung von Kunst und Leben, 144. 285 Vgl. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 136. 286 Bartels: Gerhard Schumann – der „nationale Sozialist“, 284. 287 Zit. in ebd., 284-286.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

84

2. Methodologische Überlegungen – Ideologiekritische

Interpretationsansätze

Diese auffällige Verflechtung von religiösem und politischem Diskurs in der

nationalsozialistischen Dichtung veranlasste Klaus Vondung bereits im Jahre 1997 zur

Behauptung, dass die Literaturwissenschaft, wenn sie sich mit der Interpretation

nationalsozialistischer Propagandadichtung beschäftigt, eher als „Literaturtheologie“

erscheine.288 Außerdem bedienten sich nicht nur die NS-Dichter eines religiösen Diskurses

in ihrer Dichtung, sondern auch Germanisten und Literaturwissenschaftler im „Dritten

Reich“ übernahmen den religiösen Diskurs in der Beschreibung und Bewertung der

zeitgenössischen Dichtung. Zur Illustration zieht diese Arbeit hier die zusammenfassende

Übersicht von Vondung selbst heran:

Walther Linden, zum Beispiel, sieht in Dietrich Eckarts Werk „eine neue religiöse Haltung“,

in Heinrich Anackers Gedichten „ein gläubiges religiöses Gefühl“; in einem Gedicht Baldur

von Schirachs werde „das Politische mit einer fast überstarken Kraft ins Religiöse

umgedeutet.“ Herbert Böhme, Gerhard Schumann und andere junge nationalsozialistische

Schriftsteller seien durch „religiösen Drang“, „religiöses Weltgefühl“ und „religiöse

Gesinnung“ gekennzeichnet, vor allem aber durch die „innige Verschmelzung des Religiösen

und Völkischen“. Erich Trunz behauptet, die Arbeiterdichter, die sich zum

Nationalsozialismus bekehrt haben, hatten eine „neue religiöse Beseelung“ in die Dichtung

gebracht. Heinz Kindermann postuliert, die Grundlage wahrer deutscher Dichtung müsse

eine „volkhafte Religiosität“ sein. Und Hans Naumann forderte in seiner Ansprache zur

Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Bonn: „Wir wollen ein Schrifttum, dem Familie und

Heimat, Volk und Blut, das ganze Dasein der frommen Bindungen wieder heilig ist.“289

Vondung weist darauf hin, dass man an solche Sprache in der Literaturwissenschaft nicht

gewöhnt sei. Diese Germanisten verwenden für ihre Interpretationen keine eigentlich

literaturwissenschaftlichen Kategorien sondern „einen Diskurs von offenkundig

religiösem Charakter“ mit dem Zweck, dieser „artgemäßen deutschen Dichtung“ eine

religiöse Qualität zuzuschreiben.290 Auf diese Weise erhebt dieser religiöse Diskurs die

Literatur von der profanen Ebene in einen geheiligten Bereich, wodurch ihre Inhalte als

heilig erklärt werden und die Texte selber als „heilige Texte“ erscheinen. Gerade weil diese

Texte als „heilige Texte“ gelten und in dem Sinne „Offenbarung“ oder religiöse Erlebnisse

288 Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 39. 289 Die nationalsozialistischen Germanisten Walther Linden, Erich Trunz, Heinz Kindermann und Hans Naumann zit. in ebd., 38. 290 Ebd.

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Die nationalsozialistische Lyrik

85

verschriftlichen, solle der Literaturwissenschaftler laut Vondung die Rolle der Theologen

einnehmen.291

Obwohl die Inhalte der Erlebnisse, die in dieser Dichtung wiedergegeben werden und an

die die Dichter glauben und die Leser glauben sollen, für die nationalsozialistische

„Literaturtheologie“ als eine „religiöse Doktrin“ zu betrachten seien, werden sie

üblicherweise als Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie charakterisiert.292 Da

Vondungs Perspektive aber keine herausgearbeitete Methode zur Interpretation des

religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Dichtung darstellt, bevorzugt diese Arbeit

eine ideologiekritische Herangehensweise, die Vondungs theoretische

„literaturtheologische“ Überlegungen und die jahrzehntelange Diskussion über den

Nationalsozialismus als eine politische Religion berücksichtigt. Um die Struktur und die

Wirkung des religiösen Diskurses auf grammatisch-syntaktische, lexikalisch-semantische

und thematisch-narrative Ebene zu entziffern, schlägt diese Arbeit eine Verbindung

zwischen dem werkimmanenten Ansatz des Close readings mit dem

literatursoziologischen Ansatz der Textsoziologie von Peter Zima vor.

2.1 Die werkimmanente Textinterpretation des Close readings

Das Grundprinzip einer literarischen Analyse umfasst in erster Linie das (wiederholte)

Lesen eines Textes. Diese Grundthese steht auch im traditionellen Analyseverfahren des

Close readings zentral. Close reading wird im Englischen auch „explication“ genannt, ein

Wort, das auf das lateinische Verb für „entfalten“ oder „auffalten“ („to unfold“) zurückgeht

und sei als eine gründliche Analyse von Gedichten oder kurzen Prosapassagen zu

definieren:293

Explication unfolds the text’s meaning in relation to its formal and structural elements; it

allows you the student – and indeed any reader – to examine the language and structure of

a work as a function of its content, i.e., of the ideas, images or emotions it expresses.294

Die Analyse der vorliegenden Arbeit setzt sich zum Ziel, die religiöse Dimension in der

Propagandalyrik von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel zu

„entfalten“. Sie untersucht dabei sowohl die Säkularisierung oder Profanierung des

religiösen Diskurses als auch die Sakralisierung wichtiger ideologischer Kernkonzepte des

Nationalsozialismus, denen so ein geheiligter Stellenwert zukommt. Obwohl das Close

reading im Grunde Gründlichkeit anstrebt, wird das Hauptinteresse der „Entfaltung“ der

religiösen Dimension gelten, was in diesem Zusammenhang die Analyse des religiösen

291 Vgl. ebd., 39. 292 Ebd., 40. 293 Vgl. Elisabeth A. Howe: Close Reading. An Introduction to Literature. Boston: Longman 2010, 3. 294 Ebd.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

86

Diskurses im vorliegenden Korpus bedeutet. In dieser Hinsicht ist das Ziel des Close

readings schon von vornherein „strategisch“ bestimmt. Ich verweise hier auf Gillis J.

Dorleijn (2015), der das Gedicht als eine „Strategie“ beschreibt. Dorleijn beschreibt die

„strategische Lektüre“ in zweierlei Hinsicht. Einerseits versucht die strategische Lektüre

die Strategie des Schriftstellers – seine Positionierung, Profilierung oder Self-Fashioning295

– aufzudecken. Im Besonderen das Eröffnungsgedicht eines Gedichtbandes ist dabei von

Interesse, weil dieses Gedicht als eine Handlung oder auch ein Statement des

Schriftstellers betrachtet werden kann. Andererseits kann die strategische Lektüre auch

den strategischen Charakter der Lektüre an sich bedeuten.296 Wenn der Leser ein

bestimmtes Ziel vor Augen hat, wie in der vorliegenden Arbeit die Erforschung des

religiösen Diskurses in politisch inspirierter Lyrik, dann hat er schon für sich eine

bestimmte Lektürestrategie ausgewählt.

Die für die vorliegende Arbeit gewählte nationalsozialistische Lyrik war im „Dritten Reich“

weitverbreitet und sie – und ihre Schriftsteller – wurde wegen ihres politischen

Engagements vielfach gelobt. Gerade wegen des politischen Inhalts der Dichtung und des

politischen Engagements der Schriftsteller wird sich diese Arbeit bei der literarischen

Analyse dieser spezifischen Lyrik nicht auf eine werkimmanente Interpretation, die

normalerweise ausschließlich auf immanente, also ästhetische, formale oder strukturelle

Merkmale des Textes fokussiert, beschränken, sondern diese Texte auch im Lichte des

historisch-politischen Kontextes und als dessen Produkt betrachten. Im Folgenden wird

dann auch die sozioliterarische Herangehensweise der Textsoziologie herangeführt, um

diese Lyrik durch eine ideologiekritische Brille zu betrachten.

2.2 Peter Zimas ideologiekritische Textsoziologie

Elisabeth Howes oben zitierte Definition weist auf die spezifische Untersuchung der

Funktion der Sprache und Struktur eines Werkes im Zusammenhang mit dessen Inhalt als

ein wichtiges Ziel des Close readings hin. Aber besonders die „nationalsozialistische

Sprache“ in der politisch orientierten Lyrik der NS-Dichter bedarf an dieser Stelle weiterer

Erklärung. Der nationalsozialistische Sprachgebrauch hat im Laufe der Jahrzehnte zu

verschiedenen sprachkritischen Arbeiten Anlass gegeben, wobei sich quasi alle Forscher

295 Obwohl Dorleijn nicht explizit auf ihn verweist, übernimmt er mit „Self-Fashioning“ ein Begriff von Stephen Greenblatt, der damit ein Prozess der Identitätskonstruktion innerhalb einer gegebenen sozialen Situation bezeichnet. Auch die Literatur funktioniere innerhalb eines solchen Systems: Sie sei die Manifestation des konkreten Verhaltens ihres Autors, der Ausdruck der sozialen „Codes“, die dieses Verhalten gestalten, und sie reflektiere zugleich über gerade diese „Codes“. Vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago, London: The University of Chicago Press 2005, 4. 296 Vgl. Gillis J. Dorleijn: Het gedicht als strategie. Een demonstratie. In: Spiegel der Letteren 57.2 (2015), 129-131.

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Die nationalsozialistische Lyrik

87

darüber einig sind, dass die Sprache bei der Durchsetzung des nationalsozialistischen

Regimes eine zentrale Rolle gespielt hat.

Die ersten Arbeiten, die kritisch auf die nationalsozialistische Sprache reflektierten,

entstanden bereits zur Zeit des „Dritten Reiches“. Der österreichisch-jüdische

Schriftsteller Karl Kraus (1874-1936) hatte mit seiner literarisch-satirischen Zeitschrift Die

Fackel bereits seit 1899 die Manipulationspraktiken der Presse bekämpft.297 Besonders in

den Fackel-Bänden Nr. 876-922 aber vor allem im bereits im Jahre 1933 verfassten aber erst

posthum veröffentlichen Pamphlet „Die dritte Walpurgisnacht“ (1955) hat sich Kraus

kulturkritisch mit dem Hitler-Regime auseinandergesetzt.298 Rudolf Bähr ist aber der

Meinung, dass Kraus eine umfassende historische Perspektive fehlte, weswegen seine

Kritik an der Sprache im nationalsozialistischen Deutschland auf einzelne stilkritische

Eindrücke beschränkt blieb.299 Der deutsch-jüdische Schriftsteller Victor Klemperer (1811-

1966), der dank des Privilegs einer Mischehe im nationalsozialistischen Deutschland lebte

bzw. zu leben gezwungen war, verfasste während der Kriegsjahre und auf Basis seiner

Tagebuchaufzeichnungen das Buch LTI – Notizbuch eines Philologen (1947). Im

Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung sei darauf hinzuweisen, dass

Klemperer bereits auf eine „religionsähnliche“ Sprache im „Dritten Reich“ aufmerksam

machte. Nicht nur hätten die Nationalsozialisten eine solche Sprache absichtlich in ihren

Organisationen und Feiern benutzt, sie sei auch spontan im alltäglichen Sprachgebrauch

übernommen worden.300 Außerdem sei die nationalsozialistische Ideologie von Millionen

als Evangelium hingenommen worden, weil sie sich der Sprache des Evangeliums bedient

habe.301

Noch in den letzten zwanzig Jahren haben sich in erster Linie Sprachwissenschaftler an

einer sprachanalytischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen

Sprachgebrauch im Allgemeinen und dem religiösen Sprachgebrauch im Besonderen

gewagt.302 So hat Christian Dube, der evangelische Theologie und Germanistik studierte,

die religiöse Sprache in ausgewählten Reden Adolf Hitlers aus den Jahren 1933-1945

analysiert303 und der polnische Soziolinguist Jacek Makowksi untersuchte den religiösen,

297 Vgl. Rudolf Bähr: Grundlagen für Karl Kraus' Kritik an der Sprache im nationalsozialistischen Deutschland. Köln, Wien: Böhlau 1977, 1. 298 Vgl. ebd., 73. 299 Vgl. ebd., 79. 300 Klemperer berichtet darüber, wie ihm dreimal von drei unterschiedlichen Menschen ein „Glaubensbekenntnis“ zu Hitler vermittelt wurde. Vgl. Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 131-135. 301 Vgl. ebd., 146. 302 Für einen ausführlichen Stand der Forschung über sprachkritische Arbeiten über die nationalsozialistische Sprache verweise ich auf Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 17-41 und Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus, 15-18. 303 Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

88

kultischen und mystischen Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus.304 Beide

betrachten die Sprache als „ein zentrales Instrument nationalsozialistischer

Machtentfaltung“,305 als „Instrument der Manipulation“306 und sogar als „Sprachrohr der

nationalsozialistischen Ideologie“.307 Gerade diese Wechselbeziehung zwischen Ideologie

und Sprache verlangt im Umgang mit nationalsozialistischen Texten einen

ideologiekritischen Ansatz, der darüber hinaus die Wort- und Satzebene der Texte

übersteigt. Für diese Perspektive bietet sich die textsoziologische Herangehensweise von

Peter Zima an.

Wie er selber erklärt, hat sich die Textsoziologie in den siebziger Jahren aus der Kritik der

Literatursoziologie entwickelt und sie wurde in den 1980er Jahren von Peter Zima weiter

präzisiert.308 Zima weist auf den Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft hin und

betont dabei die Tatsache, dass die Sprache an sich kein neutrales System ist: „In

Wirklichkeit drücken wir jedoch […] unsere Gedanken nicht in isolierten Wörtern oder

Sätzen aus, sondern in mehr oder weniger lange Diskursen, die in einer bestimmten

soziohistorischen Situation auf andere Diskurse reagieren“.309 Diese soziohistorische

Situation konstituiert sich aus etwa Kultur, Religion, Ideologie und Theorie, wobei sich

diese oft inhaltlich überschneiden.

Ein zentrales Merkmal der von Zima entwickelten Textsoziologie sieht Barbara

Fontanellaz darin, dass die Analysen nicht auf der Ebene des Satzes stehen bleiben,

sondern den diskursiven Ausdruck kollektiver Interessen zu ermitteln versuchen.310 Mit

Gruppeninteressen verknüpft werde beispielsweise auch die Ideologie zu einer kollektiven

Sprachform, einem sogenannten „Soziolekt“,311 das als ein Ensemble verschiedener

Diskurse zu beschreiben wäre.312 Diese kollektiven Interessen zeigen sich in erster Linie

auf der semantischen Ebene, da „auf dieser Ebene die kollektiven Positionen und

Interessen in die Sprache eindringen, die, wie sich zeigen wird, kein statisches System ist,

sondern ein Ensemble von historischen Strukturen, deren Entwicklung eng mit den

Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen zusammenhängt“.313 So wird

304 Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus. 305 Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 15. 306 Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus, 11. 307 Ebd. 308 Vgl. Peter V. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik. Tübingen: Francke Verlag 1989, 231. 309 Ebd., 242. 310 Vgl. Barbara Fontanellaz: Auf der Suche nach Befreiung – Politik und Lebensgefühl innerhalb der kommunistischen Linken. Bern: Peter Lang 2009, 84. 311 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 235. 312 Vgl. Ebd., 250. 313 Ebd., 238.

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Die nationalsozialistische Lyrik

89

diese semantische Ebene zu einem „Kode“,314 der allen Mitgliedern einer Gruppe bekannt

ist, und in dessen Rahmen sie Texte interpretieren, die aus den Gruppeninteressen

entstanden sind. Gerade die Idee eines solchen Kodes sollte bei jeder Textanalyse

berücksichtigt werden. Denn Zima sieht gerade in der Eigenart eines solchen

semantischen Kodes den Grund, weshalb sich Ideologen selten über einen Text

verständigen können, denn jeder von ihnen privilegiert einen solchen Kode, der „indirekt

den Interessen und Standpunkten seiner Gruppe entsprechen“.315 Bei der

textsoziologischen Analyse eines Textes sollte auch der Literaturwissenschaftler sich der

soziohistorischen Situation und des damit zusammenhangenden semantischen Kodes

bewusst sein.

Indem Zima die Ideologie an sich als ein diskursives Verfahren und in dem Sinne als eine

„transphrastische Struktur“ bezeichnet,316 beschränkt sich die literarische Analyse des

vorliegenden Korpus im textsoziologischen Sinne nicht nur auf eine reine Textanalyse,

sondern sie wird zu einer diskurskritischen und ideologiekritischen Analyse. In diesem

Zusammenhang soll hier zunächst kurz auf die Konzepte ‚Diskurs‘ und ‚Ideologie‘

eingegangen werden.

2.2.1 Diskurs

Die etymologische Bedeutung des Diskursbegriffs scheint nicht nur das Begriff an sich

definieren zu wollen, sondern auch die Suche nach einer adäquaten Definition zu

beschreiben: „‚discorso‘ bedeutet zunächst die richtungslose Hin- und Herbewegung, das

orientierungslose Herumrennen“.317 Man rennt orientierungslos herum zwischen vagen

Diskursdefinierungen wie Jürgen Links „konkrete Darstellungsweise eines Textes“318 und

noch vageren Umschreibungen wie Siegfried Jägers „Fluß von ‚Wissen‘ durch die Zeit“.319

Jäger fügt dieser rätselhaften Formel aber schon hinzu, dass Diskurs immer schon mehr

oder minder stark strukturiert sei und in diesem Sinne als konventionalisiert und sozial

verfestigt erscheine.320 In dieser Hinsicht sei Diskurs auch als eine Form sozialer Praxis zu

umschreiben. Dies schließt der Auffassung von Ruth Wodak und Michael Meyer an, die

314 Ebd., 241. 315 Ebd. 316 Vgl. ebd., 215; 256. 317 Martina Wagner-Egelhaaf: Text, Kultur, Medien. In: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Hg. v. Jürgen H. Petersen und Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin: Erich Schmidt 2006, 226. 318 Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. München: Wilhelm Fink 1974, 282. 319 Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Münster: UNRAST-Verlag 2004, 129. 320 Vgl. ebd.

Page 90: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

90

Diskurs als eine Form sozialer Praxis321 oder ein multidimensionales soziales Phänomen322

umschreiben:

It is at the same time a linguistic (verbal, grammatical) object (meaningful sequences or

words or sentences), an action (such as an assertion or a threat), a form of social interaction

(like a conversation), a social practice (such as a lecture), a mental representation (a

meaning, a mental model, an opinion, knowledge), an interactional or communicative event

or activity (like a parliamentary debate), a cultural product (like a telenovela) or even an

economic commodity that is being sold and bought (like a novel).323

Zimas Auffassung von Diskurs als einer transphrastischen Struktur324 übersteigt das rein

Sprachliche ebenfalls und ist in diesem Zusammenhang eher als eine Praxis zu

interpretieren: „Erst jenseits des Satzgefüges treten die semantischen Unterschiede und

Gegensätze in Erscheinung. […] Erst in einem transphrastischen, diskursiven

Zusammenhang nimmt er [ein Satz] konkrete Bedeutung an“.325

Auch für diese Arbeit wird die Idee des – religiösen – Diskurses als ein kommunikatives

und übersprachliches Konzept, das auf die Praxis ausgerichtet sei, definiert. Denn, der

Sinngehalt, den er vermittelt, soll – wie Vondung bereits betonte – soziales Verhalten und

Handeln organisieren.326 Da das vorliegende Korpus drei Gedichtbände enthält, fokussiert

diese Arbeit in erster Linie auf die textuelle Repräsentation des religiösen Diskurses in

diesem Korpus. In Anlehnung an Siegfried Jäger betrachtet diese Arbeit Texte nicht als

etwas rein Individuelles, sondern als sozial und historisch rückgebundene Produkte und

in dem Sinne als wichtige Bausteine des gesellschaftlichen Diskurses.327 Deswegen richtet

sich das Hauptaugenmerk der Analyse in erster Linie auf die Erforschung lexikalischer,

semantischer und narrativer Elemente. Die transphrastische Struktur des religiösen

Diskurses wird in geringerem Maße auch im Hinblick auf die rituelle Ebene des

Nationalsozialismus erläutert.

321 Vgl. Ruth Wodak und Michael Meyer: Critical Discourse Analysis: History, Agenda, Theory and Methodology. In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage 2010, 5. 322 Vgl. Teun A. van Dijk: Critical Discourse Studies: A Sociocognitive Approach. In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage 2010, 67. 323 Ebd. 324 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 215; 256. 325 Ebd., 243. 326 Vgl. Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 43. 327 Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 117.

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Die nationalsozialistische Lyrik

91

2.2.2 Ideologie

Zima definiert Ideologie als „ein diskursives Partialsystem“,328 das in relativ kurzer Zeit

entstehen kann und häufig ad hoc konstruiert wird. Wichtig zu beachten sei, dass eine

Ideologie nicht im Vakuum entstehe, sondern immer in einem ganz bestimmten

historischen und kulturellen Kontext und so als Bestandteil einer gelebten Kultur zu

betrachten sei.329 Auch andere diskurstheoretische Ansätze wie die Kritische

Diskursanalyse verstehen Ideologie als ein zentrales Konzept. Vor allem die Frage, wie

Sprache Ideologie vermittelt, sei dabei von Bedeutung:

Ideologies serve as an important means of establishing and maintaining unequal power

relations through discourse [...]. In addition, ideologies also function as a means of

transforming power relations more or less radically. Thus, we take a particular interest in the

ways in which linguistic and other semiotic practices mediate and reproduce ideology in a

variety of social institutions.330

Genauso wie Reisigl und Wodak betrachtet Zima die Ideologie als ein

Herrschaftsinstrument331 für das die Sprache als Sprachrohr und Instrument der

Manipulation fungiere.332 Eine sprachkritische Arbeit ist im diskursiven Kontext also auch

als eine ideologiekritische Arbeit aufzufassen: „Critique regularly aims at revealing

structures of power and unmasking ideologies“.333 Laut Zima ist außerdem das Verhältnis

des erzählenden Subjekts zu seinem eigenen Diskurs als Erzählung für die Textsoziologie

als Ideologiekritik ausschlaggebend. Dabei soll man sich unter anderem die Frage stellen,

ob sich das sprechende Subjekt der semantisch-syntaktischen Verfahren – des Diskurses –

, die es anwendet, bewusst ist oder nicht.334 Da sich Heinrich Anacker, Gerhard Schumann

und Herybert Menzel – die ausgewählten Autoren im vorliegenden Korpus – sich als NS-

Dichter den Erwartungen und Forderungen der Reichskulturkammer fügten, könnte man

wohl davon ausgehen, dass sie sich dessen bewusst waren. In diesem Sinne scheint es

angebracht, die textsoziologische Herangehensweise zudem als eine ideologiekritische

Analyse zu betrachten.

328 Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 56. 329 Vgl. ebd., 27. 330 Martin Reisigl und Ruth Wodak: The Discourse-Historical Approach (DHA). In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage 2010, 88. 331 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 25. 332 Vgl. Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus, 11. 333 Wodak und Meyer: Critical Discourse Analysis: History, Agenda, Theory and Methodology, 8. 334 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 247.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

92

2.3 Das methodische Instrumentarium für die Analyse des religiösen

Diskurses

Die ideologiekritische Analyse des religiösen Diskurses im vorliegenden Korpus

nationalsozialistischer Lyrik fokussiert sowohl auf die Säkularisierung oder Profanierung

des religiösen Diskurses als auch auf die Sakralisierung wichtiger ideologischer

Kernkonzepte des Nationalsozialismus. In diesem methodischen Instrumentarium wird

schließlich kurz erläutert, auf welchen unterschiedlichen Ebenen der religiöse Diskurs im

Korpus untersucht wird.

2.3.1 Die lexikalisch-semantische Ebene: Das Wort und seine Bedeutung

Obwohl Zima die lexikalische und die semantische Ebene voneinander abgrenzt, weist er

doch bereits auf ihre notwendige Verknüpfung hin, weswegen sie für dieses methodische

Instrumentarium zusammengeführt werden. So schlagen sich auf der lexikalischen Ebene

laut Zima gesellschaftliche Probleme unmittelbar in der Sprache nieder.335 Wegen des

„symptomatischen“ Charakters der Lexeme springen Besonderheiten oder Differenzen

manchmal ins Auge und können oft intuitiv erfasst werden.336 Für die vorliegende Arbeit

erweist sich das christlich-biblische Vokabular für den religiösen Diskurs im

Nationalsozialismus als symptomatisch. Allerdings soll eine textsoziologische

Untersuchung nicht auf den lexikalischen Bereich beschränkt bleiben, denn erst auf der

semantischen – und auch auf der makrosyntaktischen Ebene – kann eine gründliche und

umfassende Analyse hervortreten.

Die semantische Ebene bildet laut Zima die Grundlage der diskursiven Analyse, weil auf

dieser Ebene die kollektiven Positionen und Interessen in die Sprache eindringen. Dabei

versteht er die „Sprache“ nicht als ein statisches System“, sondern als ein „Ensemble von

historischen Strukturen, deren Entwicklung eng mit den Auseinandersetzungen zwischen

gesellschaftlichen Gruppen zusammenhängt“.337 Auf dieser Ebene ist die

„symbolspendende“ Funktion des religiösen Diskurses von Bedeutung, die der Literatur

die einschlägigen Attribute verleiht, die den neuen Sinngehalt produzieren.338 Dies zeigt

sich zum Beispiel in der Analyse der Trope, die Petersen als Form „uneigentlichen

Sprechens“ definiert, denn „das eigentlich Gemeinte kommt nicht direkt, also etwa durch

den Gebrauch des treffenden Begriffs sondern nur mittelbar, z.B. durch ein Bild zum

335 Vgl. ebd., 236. 336 Vgl. ebd., 238. 337 Ebd. 338 Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 39.

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Die nationalsozialistische Lyrik

93

Ausdruck“.339 Das Bildungsprinzip der Trope sei die Substitution, die in verschiedenen

Graden auftreten kann. Bei einer geringen Distanz zwischen dem eigentlichen und dem

übertragenen Ausdruck ist von „Grenzverschiebungstropen“ (z.B. Periphrase, Metonymie)

die Rede, während „Sprungtropen“ (z.B. Metapher, Allegorie) eine größere Distanz

aufweisen.340 Bei einer Metonymie wird ein Wort von einem anderen, das in einer ‚realen‘

Beziehung zum anderen steht, ersetzt. Insgesamt kann man acht metonymische

Beziehungen unterscheiden: (1) Personen – Ort, (2) Ort – Institution, (3) Gefäß – Inhalt,

(4) Erzeugnis – Erzeuger, (5) Erfindung – Erfinder, (6) Werk – Autor, (7) Abstraktes –

Sinnbild und (8) Ursache – Wirkung.341 Auch die Metapher ersetzt einen eigentlichen

Ausdruck durch einen anderen. Sie steht jedoch nicht in einer qualitativen, realen

Beziehung zu dem eigentlichen Ausdruck wie die Metonymie. Bei der Metapher sei eine

Abbild- oder Ähnlichkeitsrelation vorhanden, weswegen die Antike Rhetorik die Metapher

als verkürzten Vergleich aufgefasst hat.342

Die Metaphern und Metonymien wären als Bausteine des von Jürgen Link herangeführten

Konzeptes der „Kollektivsymbolik“, die er als „die Gesamtheit der sogenannten

‚Bildlichkeit‘ einer Kultur“343 bezeichnet, zu betrachten. Diese Kollektivsymbole sind also,

laut Jäger, Symbole, die alle Mitglieder einer Gesellschaft kennen. Mit diesem

Bilderrepertoire könne man sich dann ein Gesamtbild von der gesellschaftlichen

Wirklichkeit bzw. der politischen Landschaft der Gesellschaft machen.344 Hier soll

allerdings noch hinzugefügt werden, dass die Metapher dem Symbol-Begriff nicht

gleichzusetzen ist. Günter Butzer und Joachim Jacob verdeutlichen in ihrem Vorwort des

von ihnen zusammengestellten Lexikon literarischer Symbole, dass eine Metapher als

„Störung der semantischen Kohärenz“ zu verstehen ist, während das Symbol auf der

pragmatischen Ebene operiert und daher ignoriert werden kann, „ohne dass dies einen

Einfluss auf die Kohärenz des Textes haben würde“.345

2.3.2 Die syntaktisch-narrative Ebene: Der Diskurs

Diese Ebene betrachtet Zima schlicht als die Ebene des Diskurses, wobei die Analyse nicht

auf den Bereich der phrastischen Syntax eingeschränkt werden soll, da diese als „isoliertes

Faktum“ immer wieder den Eindruck der Neutralität erwecke.346 Allerdings wird die

339 Jürgen H. Petersen: Textinterpretation. In: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Hg. v. Jürgen H. Petersen und Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin: Erich Schmidt 2006, 113. 340 Vgl. Ansgar Nünning: Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2004, 281-282. 341 Vgl. Jeßing und Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, 158. 342 Vgl. Nünning: Grundbegriffe der Literaturtheorie, 176-179. 343 Jürgen Link zit. in Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 133-134. 344 Vgl. ebd., 133. 345 Günter Butzer und Joachim Jacobs „Vorwort“ in Günter Butzer und Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, V. 346 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 242-243.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

94

Analyse des religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Dichtung zeigen, dass

politische Ideologeme auch wegen einer spezifischen grammatisch-syntaktischen

Situation religiös aufgewertet werden, beispielsweise durch die Voranstellung religiös

konnotierter Adjektive oder in Verbindung zu bestimmten Verben. Die Arbeit beschreibt

zudem auch, wie die grammatisch-syntaktische Struktur selber zu einer religiösen

Aufwertung des profanen Inhaltes führen kann, z.B. in der Nachahmung biblischer

Sprache. Dies zeigt sich etwa im mannigfachen Gebrauch des vorangestellten Genitivs

oder in altertümlichen Wortformen. In diesem Kontext wird auch die Verwendung

bestimmter rhetorischer Stilmittel, die die grammatische Struktur des Textes beeinflussen,

berücksichtigt. Dabei sei unter anderem an Stilfiguren, die die übliche syntaktische

Wortfolge vertauschen, zu denken, wie der Chiasmus und das Hyperbaton oder an

Wiederholungsfiguren, wie Geminatio, Anapher oder auch Alliteration.

Allerdings soll man beachten, so hebt Zima hervor, dass man in Wirklichkeit seine

Gedanken nicht in isolierten Wörtern oder Sätzen ausdruckt, sondern in mehr oder

weniger langen Diskursen, die in einer bestimmten soziohistorischen Situation auf andere

Diskurse reagieren und die auch erst in einem transphrastischen, diskursiven

Zusammenhang konkrete Bedeutung annehmen.347 In diesem narrativen Zusammenhang

erweisen sich Topoi und Motive als wichtige Komponente. Das Metzler Lexikon Literatur

definiert das „Motiv“ als die „kleinste bedeutungsvolle Einheit“ eines literarischen Textes

oder als „selbständig intertextuelles Element“. Nach der Bedeutung innerhalb eines Textes

könne zwischen Haupt- bzw. Kernmotiven, Neben- und Füllmotiven unterschieden

werden.348 Laut Elisabeth Frenzel umfasst das Motiv bereits ein inhaltliches,

situationsmäßiges Element, mit dem es einen Handlungsansatz darstellt. Besonders bei

Dichtungen, deren Inhalt nicht sehr komplex ist, könne dieser Handlungsansatz durch das

Kernmotiv in kondensierter Form wiedergegeben werden.349

Obwohl der Topos-Begriff ursprünglich der antiken Rhetorik entstammt, wo es die Lehre

vom Finden der Argumente war und so ein Bindeglied zwischen der Rhetorik und der

Dialektik oder Logik bildete,350 wird Topos in der modernen Literaturwissenschaft auch

als ein „‚Fundort‘ für Beweise oder Argumente“, der als ein „Reservoir von Mitteln zur

Findung von Argumenten“ zur Verfügung stehe, definiert.351 Die moderne Bedeutung von

Topos als locus communis (‚Gemeinplatz‘) verdankt der Begriff vor allem dem Werk

Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) des deutschen Philologen E.R.

Curtius, das zu einer Neudefinierung der Topoi als „feste[r] Clichés oder Denk- und

347 Vgl. ebd. 348 Vgl. „Motiv“ in D. Burdorf et al. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur: Begriffe und Definitionen. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2017, 514. 349 Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoff-, Motiv- und Symbolforschung. Stuttgart: Metzler 1978, 29. 350 Vgl. Nünning: Grundbegriffe der Literaturtheorie, 278-279. 351 Ebd. 279.

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Die nationalsozialistische Lyrik

95

Ausdrucksschemata“ geführt hat.352 Auch Dieter Liewerscheidt hat die Topoi schon im

Jahre 1987 als „Formkonstanten“ oder abgenutzte „Klischee[s]“ beschrieben.353 Weil es in

(Propaganda-)Poesie nicht darum geht, ein argumentatives Statement zu machen, wobei

ein Topos als ‚Schlussstein‘ zwischen einem konkreten Argument und einer daraus

folgenden Schlussfolgerung dient, sondern um eine poetische Verarbeitung ideologischer

Kernkonzepte, scheint ein argumentativer Topos-Begriff für die vorliegende Arbeit nicht

brauchbar. Jäger beschreibt Topoi im Zusammenhang mit seiner Vorstellung der

Kollektivsymbolik als „culturale stereotypes“,354 welche der Neudefinierung des Topos-

Begriffs durch Curtius annähert. Da sich diese Vorstellung des Topos-Begriffs auch im

Rahmen der Gedichtanalyse eignet, geht auch diese Arbeit von Topoi als ‚Klischees‘ oder

auch als ‚Leitmotiven‘ aus.

2.3.3 Die intertextuelle Ebene: Die sozio-linguistische Situation

Indem Zima davon ausgeht, dass Individuen und Gruppen „nicht im luftleeren Raum,

sondern im Rahmen von Diskursen und Soziolekten“ miteinander kommunizieren,355

stellt er Habermas‘ Begriff der „idealen Sprechsituation“ grundsätzlich in Frage. Während

Habermas vom Konzept einer „neutralen Sprache“ ausgeht, kommunizieren Subjekte laut

Zimas Auffassung „in einem historischen Sprachsystem, dessen Bedeutungen sich ändern

und dabei stets von neuem besondere, partikulare Positionen und Interessen

ausdrücken“.356 In diesem Zusammenhang stellt Zima Habermas‘ Begriff der „idealen

Sprechsituation“ eine „sozio-linguistische Situation“, in der „Soziolekte und Diskurse

aufeinander reagieren, einander bestätigen, miteinander verschmelzen oder in Konflikt

geraten“, gegenüber.357 Texte, die innerhalb einer solchen bestimmten und historisch

begrenzbaren sozio-linguistischen Situation entstehen, können daher laut Zima nur

dialogisch oder „intertextuell“ verstanden werden. Zima fasst „Intertextualität“ als einen

strukturellen Prozess auf, „weil die sprechenden Subjekte nicht auf einzelne Wörter, Sätze

oder Textpassagen reagieren, sondern auf die in ihrer sozio-linguistischen Situation und

für ihre Position relevanten semantischen und narrativen Strukturen“.358

Bei der Analyse des religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Dichtung wird sich

zeigen, dass die Bibel und andere religiöse Texte (Liedtexte, Gebete, …) vielerorts als

352 Ebd. 353 Dieter Liewerscheidt: Schlüssel zur Literatur. Düsseldorf, Wien, New York: ECON Verlag 1987, 70. 354 Siegfried Jäger: Discourse and knowledge: theoretical and methodological aspects of a critical discourse and dispositive analysis. In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage 2001, 35. 355 Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 250. 356 Ebd., 251. 357 Ebd., 252. 358 Ebd., 253.

Page 96: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

96

Referenzquelle erscheinen. In diesem Zusammenhang ist Aleida Assmanns Beschreibung

der Bibel als eines ‚kulturellen Textes‘ von Bedeutung:

Als kultureller Text besitzt die Bibel das Privileg einer Form von Exegese, die den Text durch

anreichernde Leseverfahren auffüllt und auratisiert. Dabei wird die endliche und konstante

Zeichenmenge des kanonisierten Textes nicht nur erweitert, sie wird auch mit jeder neuen

Gegenwart vermittelt. Dante, Milton oder Bunyan sind Autoren, die die Voraussetzungen

des kulturellen Textes für die eigene literarische Produktion übernahmen. Ihre Texte zeigen

sich als bibel-ähnlich, und sie melden damit einen Anspruch auf die Rezeptionsformen

kultureller Texte an.359

Die Bibel hat sich also im Laufe der Geschichte weitermanifestiert. In „jeder neuen

Gegenwart“ werden ihre Geschichten neu verarbeitet und die biblischen Bilder in neuen –

auch nichtreligiösen – Texten aufgenommen. Auch in der nationalsozialistischen

Propagandapoesie werden biblische Bilder und Symbole verarbeitet und neu gedeutet,

weil die Bibel als ‚kultureller Text‘ zum kollektiven Gedächtnis der Nation gehört. Ihre

Bilder sind von allen Mitgliedern der – hier: deutschen – Gemeinschaft gekannt und

werden also auch ohne weitere Erklärung verstanden. Auch die Bilder eines kulturellen

Textes – wie der Bibel – gehören also zu der von Siegfried Jäger genannten gesamten

Bildlichkeit der Kultur und sind in dem Sinne als Kollektivsymbole zu betrachten. Die

nationalsozialistischen Propagandadichter haben sich zur poetischen Darstellung der

nationalsozialistischen Ideologie verschiedener Sprachsymbolik bedient, so auch der

biblischen Bildlichkeit, allerdings in einer abgewandelten, umgedeuteten und so

ideologiekonformen Fassung.

3. Abschließende Bemerkungen zum Analyseverfahren

Während das vorige Kapitel das Verhältnis von „Religion“ und „Nationalsozialismus“ im

Rahmen der Debatte über den Nationalsozialismus als eine „politische Religion“

hervorgeführt hat, hat sich das Hauptaugenmerk dieses Kapitels auf die Funktion des

„religiösen Diskurses“ in der nationalsozialistischen Dichtung gerichtet. Dabei hat sich

herausgewiesen, dass nicht nur die Dichter sondern auch die nationalsozialistische

Germanistik sich eines religiösen Diskurses bedienten, und zwar mit dem Zweck, sowohl

ideologische Inhalte in der Dichtung als auch die Dichtung an sich religiös aufzuwerten.

Gerade deswegen meint Klaus Vondung, dass die Literaturwissenschaft in diesem

Zusammenhang eher als eine Art „Literaturtheologie“ erscheint. Da diese

„Literaturtheologie“ aber kein konkretes methodologisches Verfahren beschreibt, hat

359 Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Literaturkanon - Medienereignis - Kultureller Text. Hg. v. Andreas Poltermann. Berlin: Erich Schmidt 1995, 237.

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Die nationalsozialistische Lyrik

97

dieses Kapitel eine Kombination der werkimmanenten Interpretation des Close readings

mit dem ideologiekritischen Ansatz der Textsoziologie vorgeschlagen. Bei der literarischen

Analyse wird diese methodologische Herangehensweise auch jederzeit die theoretischen

Überlegungen zur politischen Religion berücksichtigen. Obwohl die Analyse in erster

Linie die literarische Analyse der im Korpus für diese Arbeit aufgenommenen

nationalsozialistischen Dichtung von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert

Menzel vor Augen hat, stellt sie sich zur Aufgabe, auch auf die transphrastische Struktur

des religiösen Diskurses hinzuweisen. Denn, da wo die Gedichte gemeinsam rezitiert oder

gesungen werden, zeigt sich der religiöse Diskurs des Nationalsozialismus auch auf einer

pragmatisch-rituellen Ebene.

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IV „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

101

1. Einführung – Von Säkularisierung zu (Re-)Sakralisierung

Im Zentrum der literarischen Analyse stehen die drei politischen Ideologeme „Führer“,

„Reich“ und „Volk“, die zur Zeit der NS-Herrschaft in der Losung „Ein Volk, ein Reich, ein

Führer!“ auf Propagandaplakaten und in politischen Reden allgegenwärtig waren. Klaus

Vondung betrachtet diese drei Kernkonzepte der nationalsozialistischen Ideologie

zusammen mit „Fahne“, „Blut“ und „Boden“ als die sogenannten „Glaubensartikel“ des NS-

Glaubens.360 Aber nicht nur Vondung, sondern auch weitere Forscher entdeckten eine

quasi-sakrale Ebene im Zusammenhang mit diesen Ideologemen. So meint Uwe Puschner,

dass das völkische Erbe der nationalsozialistischen Ideologie gerade in dieser Parole zum

Ausdruck kommt: Nur einen Aspekt haben die Nationalsozialisten der völkischen

Weltanschauung in seiner Gesamtheit übernommen, und zwar das rassische Element, das

in der völkischen Parole „ein Volk, ein Reich, ein Gott“ zusammengefasst wird. Die Idee

‚eines Gottes‘ habe sich für die nationalsozialistische Bewegung als sehr konstruktiv

erwiesen, obwohl die Gottheit unter Einfluss der völkischen heldischen und germanischen

Heilsgestalt in einen charismatischen „Führer“ verwandelt wurde. Daraufhin habe sich

auch die Losung „ein Volk, ein Reich, ein Gott“ in „ein Volk, ein Reich, ein Führer“

verwandelt.361 Sowohl Jay W. Baird als auch Gerhard Hay sehen gerade in dieser Triade

eine neue nationalsozialistische und säkularisierte „Trinität“,362 die nebst dem völkischen

Erbe auch auf die christliche Dreieinigkeitstradition zurückgreift. Diese „Trinität“ von

„Führer“, „Reich“ und „Volk“ konstituiert den Hauptfokus der vorliegenden literarischen

Analyse. Diese wird aufzeigen, dass diesen politischen Ideologemen gerade wegen ihrer

Einbettung in einem christlich-religiösen Diskurs quasi-heilige Eigenschaften

zugeschrieben werden, wodurch sie als religionsähnliche Höchstwerte – sogar

„Glaubensartikel“ – der nationalsozialistischen Ideologie erscheinen. Diese Idee einer

„Sakralisierung des Politischen“, die Sarah Thieme als „Zuschreibungsprozess des

Heiligen“ konkretisiert hat,363 führte bereits in den methodischen Überlegungen zu der

Überzeugung, dass eine rein politische Auslegung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ in der

nationalsozialistischen Dichtung nicht ausreicht, sondern dass die literarische Analyse um

einen ideologiekritischen – sogar „literaturtheologischen“ – Interpretationsansatz

erweitert werden müsse.

360 Vgl. Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 91. 361 Puschner: ‚One People, One Reich, One God’ The Völkische Weltanschauung and Movement, 27. 362 Baird: Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich 3; Gerhard Hay: Religiöser Pseudokult in der NS-Lyrik am Beispiel Baldur v. Schirach. In: Liturgie und Dichtung: ein interdisziplinäres Kompendium. Bd. 1. Hg. v. Hansjakob Becker und Reiner Kaczynski. Erzabtei Sankt-Ottilien: EOS Verlag 1983, 858. 363 Vgl. Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 44.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

102

Bereits im Jahre 1931 beschrieb der evangelische Theologe Richard Karwehl die

nationalsozialistische Heilslehre als „eine säkularisierte Eschatologie“. Dabei habe die NS-

Bewegung der Kirche ihre entscheidenden Begriffe entlehnt und diese daraufhin für eigene

Zwecke verwandelt:

Die Erbsünde ist die Sünde wider das Blut. Die Gottebenbildlichkeit ist das Urbild des Ariers.

Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Senkung des rassischen Niveaus durch

‚Blutschande‘. Das Parteiprogramm ist unveränderlich und unfehlbar wie das Dogma der

Kirche. Das Reich Gottes wird durch das Dritte Reich ersetzt.364

Obwohl Baird, Hay und Karwehl den Säkularisierungsprozess der nationalsozialistischen

„Trinität“ betonen, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass der „Führer“, das „Reich“

und das „Volk“ an vielen Gelegenheiten ausgesprochen religiös aufgewertet und in dem

Sinne quasi „(re-)sakralisiert“ werden. Wie die literarische Analyse aufweisen wird,

bedienten sich auch Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel in ihrer

poetischen Darstellung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ wiederholt eines christlich-

religiösen Diskurses. Sie führen dabei eine nationalsozialistische Tradition fort, die bereits

Mitte der 1920er Jahre und als Folge des Krisenzustands im Nachkriegsdeutschland

entstanden ist und die im weiteren Verlauf dieses Kapitels im Zusammenhang mit der

Sehnsucht nach einem starken „Führer“, einer wiedervereinten und mächtigen deutschen

Nation und einer vereinten „Volksgemeinschaft“ erläutert wird.

Bereits verschiedene Jahre vor der eigentlichen Machtergreifung erschienen religiös

anmutende Gedichte, in denen Hitlers Anhänger – wie das NSDAP-Mitglied Otto Bangert

– nicht nur ihre Devotion an den „Führer“ zum Ausdruck brachten, sondern auch die

Gründung des „Dritten Reiches“ als die quasi-heilige „Mission“ des „Führers“ und die NS-

Bewegung und seine Mitglieder als eine „gläubige“ Bewegung betrachteten.

5

Adolf Hitler

Er stieg empor aus Urwelttiefen

und wurde ragend wie ein Berg.

Und während wir ins Elend liefen

und bebend nach dem Retter riefen,

begann er groß sein heilig Werk.

Er trat mit starken, kühnen Schritten

in eine Welt von Haß und Trug.

Und siehe! Plötzlich stand er mitten

364 Richard Karwehl zit in Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 32-33.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

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10

15

20

25

im Volk, mit dem sein Herz gelitten,

sein Herz, das so voll Liebe schlug.

Er riß empor die Volksgenossen

mit seines Wesens letztem Schwung.

Sie lauschten ihm, tief aufgeschlossen,

bis ihre Herzen überflossen

von glühender Begeisterung.

Und plötzlich sieht man Fahnen wehen

von einer nie erschauten Art.

Kolonnen ziehn, die Trommeln gehen,

und hunderttausend Männer stehen

um einen Willen fest geschart.

Ins ferne Morgenglühn weist er,

und alle Herzen sind entbrannt.

Die Fäuste beben und die Geister –

Nun baue Deinem Volk, o Meister,

ein neues, hohes Vaterland!365

Dieses Lobgedicht auf den „Führer“ wurde am 3. Juli 1926 im Völkischen Beobachter

abgedruckt. Bangert nahm es darüber hinaus auch in seinem Buch Gold oder Blut. Der Weg

aus dem Chaos (1927) auf, dem er einen fünf Gedichte umfassenden Anhang mit dem Titel

„Aufbruch. Gedichte der deutschen Revolution“ hinzufügte. Obwohl der Titel dieses

Gedichtes vermuten lässt, dass der Fokus in erster Linie auf dem „Führer“ liegt, weist

bereits dieses frühe nationalsozialistische Gedicht auf den Zusammenhang von „Führer“,

„Reich“ und „Volk“ hin. Bangert beschreibt Hitler als einen „Retter“ (V.4) und „Meister“

(V.24), dessen „heilig Werk“ (V.5) darin bestehe, seinem Volk „ein neues, hohes Vaterland“

(V.25) zu bauen. Die Darstellung eines Volkes, das „bebend nach dem Retter“ rief (V.4), in

der von „Elend“ (V.3), „Haß“ und „Trug“ (V.7) gekennzeichneten Weimarer Republik

scheint die damalige Sehnsucht nach einem starken „Führer“, der das Deutsche Reich in

all seiner Größe wiederherstellen sollte, schon gut zu fassen. Darüber hinaus lässt sich

bereits in diesem Gedicht einen christlich-religiösen Diskurs erkennen, um diese

Erwartung und Sehnsucht zum Ausdruck zu bringen. So stellt Bangert die Gründung eines

neuen Reiches oder eines neuen „Vaterlandes“ (V.25) pointiert als ein „heilig Werk“ (V.5)

dar. Außerdem steht der „Führer“ nicht allein, sondern „mitten / im Volk“ (V.8-9) und

stehen „hunderttausend Männer“ um seinen „Willen fest geschart“ (V.19-20). Der „Führer“

erscheint dabei quasi als ein gottgesandter und lang ersehnter Retter mit einer heiligen

365 Bangert, O.: Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos. München: Eher 1930. 156-157.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

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Mission, und zwar die Gründung eines neuen Reiches, die vom Volke als eine gläubige

Anhängerschaft mitunterstützt wird.

2. Die sakrale Potenz von „Führer“, „Reich“ und „Volk“

Die auffällige Sakralisierung der politischen Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“

waren nicht so sehr das Produkt des lyrischen Talents von Autoren wie Bangert, aber auch

Anacker, Schumann und Menzel als vielmehr die bereits unterschwellig anwesende

sakrale Potenz der drei Ideologeme selber. Im Folgenden wird erklärt, auf welchem Grund

Propagandaautoren „Führer“, „Reich“ und „Volk“ religiös aufwerteten. Dabei wird sich

zeigen, dass diese nationalsozialistische Triade mit Max Webers Charisma-Theorie und

dem politischen Messianismus, mit der Drei-Zeiten-Lehre von Joachim von Fiore und der

katholischen Tradition der Märtyrerstilisierung im Einklang zu bringen wäre.

2.1 Der „Führer“ - Ein Messias?

Robert Musil diagnostizierte zu Recht, dass gerade Zeiten der Krise „Geburtsstunden von

messianischen Heilsbringern und Erlösern“366 sind. Gerade in der sogenannten Weimarer

Krisenzeit kam die Chance für die NSDAP367 und Adolf Hitler kam dabei eine besondere

Rolle zu.

2.1.1 Adolf Hitler - „Führer“ der Bewegung

In seiner umfangreichen Hitler-Biographie betont Volker Ullrich die Bedeutung der

Ereignisse im Jahre 1921, gerade inmitten der Weimarer Krisenzeit. Im Frühjahr 1921 kam

es zu verschärften Spannungen zwischen führenden Mitgliedern der NSDAP und Adolf

Hitler, der zu diesem Zeitpunkt mit seiner Geschäftigkeit als Werbeobmann bereits eine

Starrolle in der Partei spielte.368 Laut Ian Kershaw war es vor allem gerade Hitlers

öffentlichem Auftreten zu verdanken, dass die Mitgliederzahl der NSDAP bis August 1921

so stark angewachsen war – von 190 Mitgliedern im Januar 1920 bis 3300 im August 1921.

Bis Ende 1920 hatte er bereits bei über 30 Massenveranstaltungen mit 800 bis 2500

Teilnehmern und verschiedenen kleineren internen Parteiversammlungen gesprochen. Im

Februar 1921 trat er sogar als Redner auf dem bis dahin größten Treffen auf – über 6000

Zuhörer im Zirkus Krone in München.369 Hitler widersetzte sich den Bestrebungen, die

NSDAP mit anderen völkischen Parteien und Gruppierungen zu verschmelzen und die

366 Musil zit. in ebd., 1. 367 Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte. München: DTV 1996, 159-160. 368 Für weitere Einzelheiten über die parteiinternen Spannungen verweise ich auf Volker Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939. Frankfurt am Mai: Fischer 2013, 128-131. 369 Vgl. Ian Kershaw: Hitler. A Biography. New York, London: W. W. Norton & Company 2008, 89.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

105

Leitung deswegen von München nach Berlin zu verlegen. Außerdem fürchtete er wohl

auch, so sind sich Kershaw und Ullrich einig, dass er seine eroberte Position in einer

vereinigten Partei der Völkischen verlieren würde. Nachdem er schon mehrmals damit

gedroht hatte, erklärte er am 11. Juli 1921 seinen endgültigen Austritt aus der NSDAP. Viele

Parteimitglieder glaubten aber nicht auf Hitler verzichten zu können. Nachdem er gefragt

wurde, unter welchen Umständen er sich eine Rückkehr in die Partei vorstellen konnte,

formulierte Hitler sechs Bedingungen, die von der Parteileitung einstimmig akzeptiert

wurden. So trat er bereits am 26. Juli wieder in die NSDAP ein.370

Obwohl seine Gegner ihn in den darauffolgenden Tagen noch mit Flugblättern

anzuschwärzen versuchten, wurde er am Abend des 29. Juli zum Parteivorsitzenden der

NSDAP gewählt. Dieses Ereignis sei als der erste Schritt in der Transformation der NSDAP

zu einer „Führer-Partei“371 zu betrachten, was gleich auch der Anfang der Stilisierung des

Demagogen Hitlers zum „Führer der Bewegung“ bedeutete.372 Zu diesem Zeitpunkt gab es

noch keinen sogenannten „Führerkult“ und auch der Begriff „Führer“ tauchte erstmals –

und immer noch ausnahmsweise – im Dezember 1921 im Völkischen Beobachter auf.373

Angesteckt vom italienischen „Duce-Kult“ bekam Hitlers Aura einen neuen Impuls. Eine

Woche nach Mussolinis „Marsch auf Rom“ im Oktober 1922 proklamierte Hermann Esser,

einer der frühesten Gefolgsleute Hitlers und der spätere Reichspropagandaleiter der

NSDAP, im vollen Festsaal des Münchner Hofbräuhaus, Adolf Hitler sei Deutschlands

Mussolini, was den symbolischen Moment markiere, an dem Hitlers Anhänger den

Führerkult erfanden.374 Ab diesem Zeitpunkt wurde Hitler zu einem charismatischen

„Führer“ und sogar „zum künftigen Retter der Nation“ hochstilisiert.375 Erst in den Jahren

1926 bis 1928, also nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahre 1923, der darauf

folgenden Haftperiode in Landsberg und der Neugründung der Partei im Jahre 1925 habe

sich, so Ullrich, der Kult um den „Führer“ institutionalisiert, unter anderem mit der

Verpflichtung des Grußes „Heil Hitler!“ für die Parteimitglieder.376 Außerdem hat sich

auch Hitlers Selbstbild während seiner Haftperiode, in der er auch mit dem Schreiben von

Mein Kampf angefangen hat, geändert. Während Hitler sich am Anfang der 1920er Jahre

noch als „Trommler“ der Bewegung sah, dämmerte ihm allmählich die Erkenntnis, er sei

370 Hitler verlangte unter anderem die Festlegung Münchens als „Sitz der Bewegung“ und seine Ernennung zum „Ersten Vorsitzenden mit diktatorischer Machtbefugnis“. Diese Bedingungen waren in erster Linie darauf gezielt, seine eigene Position in der Partei für die Zukunft sicher zu stellen und unangreifbar zu machen. Für weitere Einzelheiten zu den parteiinternen Spannungen und Hitlers Rückkehrsbedingungen verweise ich auf Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 128-131 und Kershaw: Hitler. A Biography, 100-103. 371 Vgl. Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 133; Kershaw: Hitler. A Biography, 104. 372 Vgl. Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 133. 373 Vgl. ebd., 147; Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 242; Kershaw: Hitler. A Biography, 111. 374 Vgl. Kershaw: Hitler. A Biography, 110. 375 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 147. 376 Vgl. ebd., 235.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

106

der prädestinierte „Führer“.377 Auch in der Führeridee seiner Anhängerschaft überstieg

Hitlers Aufgabe das rein Politische. Dies wird bereits deutlich, indem Bangert Hitler

gerade als ein „Retter“ – und nicht schlicht als „Führer“ – und sein Ziel als ein pointiert

„heiliges Werk“ darstellt. Auf diese Weise erhebt er die Vorstellung des „Führers“ quasi auf

eine übernatürliche Ebene, was auch in der späteren Propagandalyrik wiederholt und in

viel größerer Zahl so thematisiert wurde. Obwohl es durchaus übertrieben scheint, Hitler

tatsächlich übermenschliche Qualitäten zuzuschreiben, merkt Ullrich wahrscheinlich zu

Recht auf:

Freilich hätte der Versuch, den NSDAP-Vorsitzenden zur sehnsüchtig erwarteten nationalen

Heilsfigur aufzubauen, kaum Erfolg haben können, wenn nicht Hitler tatsächlich auch einige

außergewöhnliche politische Fähigkeiten besessen hätte, darunter vor allem sein

rhetorisches und sein schauspielerisches Talent.378

Hitlers „außergewöhnliche“ Talente wurden in der Forschung bereits wiederholt anhand

von Max Webers Theorie über charismatische Herrschaft beschrieben. Weber definiert

Charisma als eine „außeralltägliche“ Qualität einer Person, durch die er als „Führer“

wahrgenommen wird. Dabei stützt sich Charisma also auf eine soziale Beziehung zwischen

einer Person, die über eine solche Qualität verfügt, und denen, die daran glauben, dass er

diese Qualität tatsächlich besitzt.379 Außerdem sei „Charisma“ in Webers Auffassung, so

Rainer M. Lepsius, nicht einfach ein anderes Wort für Prestige, Popularität oder

persönliche Exzellenz, sondern eine „revolutionäre Kraft“: Eine charismatische Beziehung

strukturiere eine gegebene soziale Situation neu.380 Während Musil Krisenzeiten als die

„Geburtsstunden von messianischen Heilsbringern und Erlösern“381 betrachtete, ist die

Krisenzeit auch als die soziale Vorbedingung für das Aufkommen einer charismatischen

Persönlichkeit, und zwar eines starken Mannes, der die Krise überwinden könnte, zu

betrachten.382 In dieser Hinsicht betrachtet Max Weber Charisma zudem als eine unstabile

Qualität, denn sie hängt vom Erfolg der charismatischen Persönlichkeit in der

Krisensituation ab: „bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat

seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden“.383 Ein weiteres wichtiges

Element in Max Webers Charisma-Idee sei laut Joseph Nyomarkay der Glaube an eine

höhere Kraft oder Idee, und zwar an den Mythos einer höheren „Mission“, die im

377 Vgl. Kershaw: Hitler. A Biography, 138. 378 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 148. 379 Max Weber erläutert seine ideale Vorstellung der charismatischen Herrschaft in Wirtschaft und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008, 179-182. 380 Vgl. Rainer M. Lepsius: The Model of Charismatic Leadership and its Applicability to the Rule of Adolf Hitler. In: Totalitarian Movements and Political Religions 7.2 (2006), 176. 381 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 1. 382 Vgl. Lepsius: The Model of Charismatic Leadership and its Applicability to the Rule of Adolf Hitler, 178 383 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 179.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

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Nationalsozialismus bereits bald religiös anmutete.384 Diese „Mission“, die Bangert als ein

„heiliges Werk“ beschreibt, war für die nationalsozialistische Bewegung die Gründung –

sogar die „Auferstehung“ – eines neuen, „dritten“ Reiches. Diese auffällige Sakralisierung

nicht nur der „Mission“ sondern auch der zu prädestinierten Retter stilisierten Rolle des

„Führers“ selbst führte dazu, dass Hitler über seine politischen Qualitäten und Tätigkeiten

hinaus auch als messianischer „Führer“ stilisiert wurde. Gerade in dieser messianischen

Stilisierung liegt die sakrale Potenz des Führerbegriffs.

2.1.2 Ein deutscher Messias

Hitler hat sich selbst nie als „Messias“, „Heiland“ oder „Erlöser“ bezeichnet. Es waren

vielmehr seine Verehrer und Gefolgsleute, die ihm diese Rolle zuschrieben.385 Bereits in

der Kampfzeit der 1920er Jahre schrieb Julius Streicher, der spätere Herausgeber des

Stürmer: „Ein Mann ist erstanden, dem die Rettung unseres Volkes gelingen wird: Adolf

Hitler. Er ist gesegnet von Gott, er wird das Schlimmste von unserem Volk abwenden“.386

Otto Bangert, der Hitler bereits in seiner 1926 publizierten Ode als „Retter“ darstellte, sah

in Hitler des „Volkes Retter und Held“, der „getrieben [wird] von jenem unerbittlichen

Muß, das wir Schicksal nennen“ und sich seiner „weltgeschichtlichen Sendung“ bewusst

ist.387 Eine solche „messianische“ Darstellung einer starken Führerpersönlichkeit war in

Nachkriegsdeutschland nicht ungewöhnlich.

Obwohl nach der Niederlage Deutschlands zum ersten Mal eine demokratisch gewählte

Reichsregierung an die Macht kam, verflog die Hoffnung auf einen erträglichen Frieden

bereits im Jahre 1919 mit der Unterfertigung des Versailler Vertrags – aus deutscher

Perspektive auch oft das „Diktat von Versailles“ genannt.388 Das Gefühl, „einem

ungerechten Gewaltakt wehrlos ausgeliefert zu sein“, überherrschte alles, denn

Deutschland wurde unter Sonderrecht gestellt, militärisch entmachtet, wirtschaftlich

ruiniert und politisch gedemütigt.389 Politische Instabilität, eine enttäuschende

Außenpolitik und weiterbestehende wirtschaftliche Probleme kennzeichneten die

Anfangsjahre der Republik. Aber auch die zwanziger Jahre waren von wachsender

Arbeitslosigkeit und einem permanenten Krisenbewusstsein gekennzeichnet.390 In dieser

Krisenzeit und mit dem Bismarckreich als Symbol der nationalen Einheit noch in

Erinnerung wuchs, so beschreibt Zeitzeuge Robert Musil, das „Erlösungsbedürfnis“ der

384 Vgl. Joseph Nyomarkay: Charisma and Factionalism in the Nazi Party. Minnesota: University of Minnesota Press 1967, 16-17. 385 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 38. 386 Streicher zit. in ebd., 29. 387 Bangert: Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos, 144. 388 Vgl. Schulze: Kleine deutsche Geschichte, 139. 389 Ebd., 138-139. 390 Vgl. ebd., 159-160.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

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verunsicherten Nation. Besonders in seinem zwischen 1930 und 1932 verfassten Roman Der

Mann ohne Eigenschaften beschreibt Musil, wie die „Wortgruppe Erlösung“ im

Sprachgebrauch seiner Zeitgenossen immer beliebter wurde.391 Laut Beate Althammer

kristallisierte sich gerade am Bismarckmythos die Sehnsucht nach einem starken „Führer“,

der die nationale Ehre wiederherstellen und ein neues mächtiges Reich – das „Dritte Reich“

– errichten würde.392

Außerdem gab es im deutschen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, so beschreibt Ulrich

Linse, eine „Kontinuität der apokalyptischen Revolution“, die besonders in Zeiten der Krise

Widerhall fand.393 Dieses apokalyptische Denken ist ursprünglich auf die Offenbarung des

Johannes zurückzuführen, weswegen die Apokalypse als Weltuntergang in der

christlichen Tradition als eine wichtige Durchgangsphase zu einer „neuen Erde“

verstanden wird. Obwohl sich das apokalyptische Denken Vondung zufolge im 20.

Jahrhundert von ihrem christlich-religiösen Ursprung entfernt hat, meint die Apokalypse

aber immer noch die totale Zerstörung der Welt, damit eine neue und vollkommene

aufgerichtet werden kann. In dem Sinne interpretiert Vondung die Apokalypse also als

„Erlösungsvision“.394 Vor diesem Hintergrund von politischer und geistiger, ökonomischer

und sozialer Krise und darüber hinaus genährt von einer Tradition apokalyptischen

Denkens traten in den 1920er Jahren unterschiedliche Persönlichkeiten hervor, die Linse

unter der Bezeichnung „Inflationsheilige“ zusammenbringt.395 Auch in diesen

„Inflationsheiligen“ kamen Politik und Religion zusammen, denn ihr Auftreten lässt sich

laut Linse nur „aus einem tiefempfundenen Verfall der alten Welt, der Sinnentleerung

bisheriger Existenz und der Hoffnung auf die moralische Erneuerung von Mensch und

Gesellschaft, eben aus dem Glauben an eine politisch-religiöse Transformation“ verstehen,

weswegen rein wirtschaftliche Antworten auf die Krise nicht ausreichten.396

Das Auftreten solcher „Inflationsheiligen“ illustriert zudem, dass die Suche nach einem

„Führer“ – die Führersehnsucht – in den 1920er Jahren keineswegs ein Reservat der

Rechten war. Auch ein liberaler Politiker wie Walther Rathenau oder der Demokrat Alfred

391 In diesem Roman zitiert Musil Zeitgenossen, die sich „theologisch imprägnierter Begriffe“ bedienen, „um ihren Krisenerfahrungen und ihrem Hoffen auf eine Gesundung von Staat und Gesellschaft eine Sprache zu geben“. Musil zit. in Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 1. 392 Beate Althammer: Das Bismarckreich 1871-1890. Paderborn: Schöningh 2017, 254. 393 Vgl. Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin: Siedler 1983, 28. 394 Vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München: dtv 1988, 11. 395 Vgl. Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. 22. In seinem Buch führt Linse verschiedene sogenannte „Inflationsheilige“ heran, wie etwa Gusto Gräser, Johannes Baader, Friedrich Muck-Lamberty und Ludwig Christian Haeusser. Diese Arbeit möchte nur darauf hinweisen, dass sich die Hoffnung auf eine messianische Erlöserfigur nicht nur in der Person Adolf Hitlers kristallisierte, sondern ein allgemeines – die Politik und Religion übersteigendes – Phänomen darstellte. 396 Ebd., 35.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

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Weber machten sich Sorgen um die „führerlose“ Republik.397 Auch im

Vereinskatholizismus setzte sich der „Führer“-Begriff durch und sogar Christus wurde als

„Führer“ benannt.398 Obwohl die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der

Weimarer Republik im Jahre 1924 zunächst das Ende der öffentlichen Wirksamkeit der

„Inflationsheiligen“ bedeutete, bekamen sie mit der Weltwirtschaftskrise fünf Jahre später

erneute Lebenskraft.399 Allerdings waren sie dem „Führer“ der nationalsozialistischen

Bewegung, die bereits zu einer Massenbewegung geworden war, nicht mehr gewachsen.

Obwohl Linse auch in Hitler „eine Mutante des Typus Inflationsheiliger“ sieht,400 war es

am Ende er, der tatsächlich die politischen Machtmittel errang, um als „deutscher Messias“

seine apokalyptische Vision zu verwirklichen. Nach der Machtergreifung bedienten sich

hohe NS-Funktionäre also weiterhin eines religiösen Diskurses, um Hitlers Führerschaft

zu legitimieren. So schrieb Joseph Goebbels beispielsweise, Adolf Hitler „erfüllte wie ein

Diener Gottes das Gesetz, das ihm aufgegeben war“.401 Hermann Göring sah Hitler als „den

Retter“, den „der Herrgott dem deutschen Volke“402 geschenkt hat. Das Volk liebe Adolf

Hitler, „weil wir glauben, tief und unerschütterlich glauben, daß er uns von Gott gesandt

ist, Deutschland zu retten“.403 Auch Gerhard Schumann gestand in seiner erst nach dem

Zweiten Weltkrieg erschienenen Autobiographie ein, dass Adolf Hitler für ihn und seinen

Bekanntenkreis zur Zeit „der gottgesandte Führer und Retter des Reichs“404 war. Inwiefern

sind aber die Begriffe „Messias“ und „Messianismus“, die doch durch und durch religiös

grundierte Begriffe sind, auf eine politische Ideologie wie die nationalsozialistische

anwendbar?

Vondung interpretiert „Messianismus“ als ein Systembegriff der Moderne, dessen

terminologische Problematik bereits einige Jahrhunderte vorher angefangen hat.405 Die

Begriffe „Messias“ und „Messianismus“ gehen auf das hebräische Wort „Maschiach“ (משיח)

zurück, das genauso wie sein griechisches Äquivalent „Christos“ (Χριστός) einen Messias

als „Gesalbten“ charakterisiert.406 Gerade die Idee der „Salbung“ stellt laut Klaus Schreiner

die herrschaftslegitimierende Kraft in der messianischen Vorstellung des Messias als eines

397 Vgl. Thomas Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936. In: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft Hg. v. Wolfgang Hardtwig. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 106. 398 Vgl. ebd. 399 Vgl. Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, 36. 400 Vgl. ebd., 40. 401 Joseph Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. München: Eher 1934, 14. 402 Hermann Göring: Aufbau einer Nation. Berlin: E. S. Mittler & Sohn 1934, 31. 403 Ebd. 52. 404 Schumann, Gerhard. Besinnung. Von Kunst und Leben. 2. Auflage Bodman/Bodensee: Hohenstaufen. 1974, 144. 405 Für Vondungs Interpretation des Begriffs „Messianismus“ im Rahmen der Idee der „Apokalypse“ und „Utopie“ verweist die Arbeit besonders auf Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, 40-42. 406 Vgl. „Messias“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7, 168.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

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„von Gott erwählte[n] und gesalbte[n] König[s]“ dar.407 Obwohl der Messianismus in erster

Linie aus der jüdischen und christlichen Tradition bekannt ist, könnte man aber auch

politische Erlöserfiguren als „Messias“ und in dem Sinne auch politische Religionen oder

kultische Formen der Personenverehrung als „messianische Bewegungen“ betrachten.408

Obwohl es also anders hätte ausgehen können, bedeutete die mit der europäischen

Aufklärung einsetzende Säkularisierung Europas nicht das Ende des Messianismus. Auch

die europäische Neuzeit war von Gestalten und Bewegungen gekennzeichnet, „die

durchaus die Bezeichnung messianische Bewegung verdienen, obwohl sie auf den ersten

Blick nicht, oder nur wenig, mit dem herkömmlichen Messias-Bild verbunden werden

können.409 Als politischer Begriff wurde „Messianismus“ im beginnenden 19. Jahrhundert

geprägt und in dem Zusammenhang auf das Feld der Politik und politischen Theorie

übertragen. Schreiner führt den Begriff „Messianismus“ auf den in Paris lebenden

polnischen Mathematiker und Philosophen Joseph Marie Höené Wronski (1776-1853)

zurück, der seit 1831 mehrere Schriften verfasst hatte, in denen der Begriff Messianismus

vorkam.410 Wronskis Messianismus trägt utopische Züge und er bezeichnet mit dem

Begriff ein „System zukunftsgerichteter Ideen und Erwartungen, aus denen, wenn sie denn

verwirklicht würden und in Erfüllung gingen, eine ideale gesellschaftliche und politische

Ordnung hervorgehen solle“.411 Gerade das Wissen um die Bedeutung der Messiasidee in

der Geschichte des Judentums führte laut Schreiner im 19. Jahrhundert zur Aufnahme des

Begriffs „Messias“ ins politische Vokabular, „um das Harren und Hoffen auf einen

politischen Retter und Heilsbringer zum Ausdruck zu bringen“, denn dem „Messiasbegriff

eignete von seinem Ursprung her eine ‚politische Urbedeutung‘, die ihn auf andere

Verhältnisse übertrag- und anwendbar machte“.412

Das Konzept des „politischen Messianismus“ steht auch Zentral in der

Totalitarismusforschung des israelischen Historikers Jacob Leib Talmon (1916-1980).413

407 Vgl. Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 3. 408 Vgl. „Messias/Messianismus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 5, 1143. 409 Hans J. Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 68.1 (2016), 5. 410 Wie etwa „Podrome du Messianisme“, „Prospectus du Messianisme“ und „Métapolitique messianique“. Vgl. Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 7. 411 Ebd. 412 Ebd. 413 Otto Seitschek erläutert die dreigliedrigen Struktur von Talmons historisch-philosophischem Hauptwerk History of Totalitarian Democracy: Der erste Band, The Origins of Totalitarian Democracy (1952), unterscheide liberale und totalitäre Demokratie und deren gemeinsamen Ursprünge im 18. Jahrhundert. In Political Messianism: The Romantic Phase (1960) stelle Talmon die geistesgeschichtliche Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts näher dar und erweitert sie in diesem Zusammenhang um die Rolle des Sozialismus und des Nationalsozialismus. Im dritten Band, The Myth of the Nation and the Vision of Revolution

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

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Talmon führt die Wurzeln der totalitären Regime im 20. Jahrhundert auf die Philosophie

des 18. Jahrhunderts zurück, wobei er unter anderem die Philosophie von Jean-Jacques

Rousseau große Bedeutung zuschreibt. Vorangetrieben von dem durch die Säkularisierung

bedingten schwindenden Einfluss von Religion und Kirche auf Mensch und Gesellschaft,

rückte der Staat nach und nach an die Stelle der für die Sittlichkeit allein

ausschlaggebenden Instanz.414 Im Entwicklungsprozess der Demokratie unterscheidet

Talmon strikt zwischen liberaler und totalitärer Seite. Gerade in der „totalitären

Demokratie“, mit deren Begriff Talmon laut Seitschek ein Novum in der

Totalitarismusforschung schafft,415 spielen messianische und religiöse Elemente eine

zentrale Rolle.416 Seitschek zufolge braucht die liberale Demokratie einen politischen

Messianismus nicht, weil sie das Zwangsprinzip aufgebe und sich nach dem ‚trial and

error‘-Prinzip entwickle. Die totalitäre Demokratie aber folge der zwanghaften Maxime

des ‚so-und-nicht-Anders‘ und stütze sich auf eine einzige politische Wahrheit,417 was sich

im Rahmen dieser Arbeit auch bereits als ein gemeinsames Merkmal der politischen

Religion – in der Interpretation von Emilio Gentile und Mathias Behrens – und des

totalitären Regimes erwiesen hat. Die ideologische Gefolgschaft einer Führerfigur oder

einer politischen Bewegung sei laut Seitschek in der totalitären Demokratie also

notwendig und dieser politische Messianismus fungiere dann gewissermaßen als ‚Motor‘,

um Energien für die eigene Ideologie und vor allem deren Durchsetzung zu gewinnen.418

Obwohl Hannah Arendt der Führerfigur nicht unbedingt messianische Züge zuschreibt,

beschreibt auch sie den „Führer“ als „Motor“ der totalitären Bewegung.419 Weil die

totalitäre Diktatur sowohl in ihrer linken, sozialistischen als auch in ihrer rechten,

nationalistischen Ausprägung stark messianischen Charakter aufweist, hält Talmon den

Begriff „politischer Messianismus“ im Endeffekt für passender als „totalitäre

Demokratie“.420

Sowohl in seiner religiösen als auch politischen Ausrichtung ist der Messianismus immer

mit einer sozialen Bewegung und einer spezifischen historischen Situation verbunden.421

(1980/1981), geht Talmon auf die Rolle des Mythos der Nation und dessen revolutionäre Triebkraft bis hin zu den totalitären Entwicklungen im 20. Jahrhundert ein. Vgl. Hans Otto Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon. Paderborn: Schöningh 2005, 25-26. 414 Vgl. ebd., 55. 415 Vgl. ebd., 74. 416 Vgl. ebd., 54. 417 Vgl. ebd., 74. 418 Vgl. ebd. 419 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 592. 420 Vgl. Jacob Talmon: Political Messianism. The Romantic Phase. London: Secker & Warburg 1960, VIII. 421 Vgl. „Messias/Messianismus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 5, 1143.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

112

Das Lexikon für Theologie und Kirche beschreibt drei Faktoren, die sich für das Entstehen

– auch politisch – messianischer Bewegungen konstitutiv erwiesen haben:

1. Eine Krisensituation als Ausgangspunkt, die von den Gliedern einer bestimmten Gesellschaft

als Bedrohung für ihr soziales, politisches, ethisches und religiöses Überleben empfunden

wird;

2. Das Auftreten einer charismatischen Führungspersönlichkeit, welche das Krisenbewusstsein

in sich verdichtet und sich mit dem Geschick der Gemeinschaft solidarisiert;

3. Das Erlebnis einer visionären oder auditiven Berufung und Beauftragung zum sammelnden

und rettenden Handeln – oft in Analogie zu biblischen Propheten oder Rettergestalten wie

Mose und besonders zur messianischen Sendung Jesu, dessen Wirken, Leiden und

Auferstehung auf den „Messias praesens“ übertragen wird.422

Genauso wie in Max Webers Theorie über charismatische Herrschaft scheint eine –

politische, soziale, ethische und/oder religiöse – Krisensituation eine Grundbedingung für

das Aufkommen einer messianischen Herrschaftsfigur zu sein. Die Krisensituation im

Nachkriegsdeutschland der 1920er Jahre scheint diese soziale Bedingung, wie bereits

erklärt, zu erfüllen. Die wichtigsten Gründe für „das ungeduldige Harren auf einen

charismatischen Hoffnungsträger“ waren laut Schreiner „der verlorene Krieg, der

Zusammenbruch des Kaiserreichs und nicht zuletzt Zweifel an der Handlungsfähigkeit der

parlamentarischen Demokratie“.423 Dem dritten konstitutiven Faktor zufolge, sollte die

charismatische Herrschaftsfigur jedoch eine weitere Bedingung erfüllen. Um als Messias-

Figur wahrgenommen werden zu können, sollte sich dieser lang ersehnte „Führer“ zu

seiner „messianischen Sendung“ berufen oder beauftragt fühlen. Laut Hillerbrand schließt

Messianismus also immer zugleich eine Botschaft ein, die „Erlösung vom gegenwärtigen

Übel“ verspricht.424 Dabei sei „Erlösung“ nicht unbedingt als Befreiung von Sünde, sondern

auch als die Befreiung „von den Nöten des täglichen Lebens“, und zwar „vom irdischen

Leiden, von Krankheit und Hungersnot, von Neid, Krieg und Gewalt“ zu interpretieren.425

Ob seine Aussagen ernst zu nehmen sind, bleibt dahingestellt, Hitler hat sich aber schon

mehrmals als der Nachfolger Christi präsentiert. Einen Grund dafür sieht Völker Ullrich

beispielsweise in Hitlers Weigerung, das 25-Punkte-Programm der NSDAP einer Revision

zu unterziehen, denn: „Auch das Neue Testament ist voller Widersprüche, was jedoch der

Ausbreitung des Christentums keineswegs hinderlich gewesen ist“.426 Alfred Läpple weist

außerdem darauf hin, dass Hitler das Wort „Vorsehung“ mehr und mehr für sich allein

pachtete: „Hitler hat immer dann auf die ‚Vorsehung‘ oder auf den ‚Allmächtigen‘ sich

422 „Messianische Bewegungen“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7, 164. 423 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 26. 424 Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 9. 425 Ebd., 8. 426 Hitler zit. in Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 232.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

113

berufen, wenn ein Attentat auf ihn mißglückte oder ein blutiger Sieg ihm zufiel“.427

Außerdem scheint er sich auch in Mein Kampf als ein „Werkzeug und Vollstrecker der

göttlichen Vorsehung“428 zu verstehen: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen

Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des

Herrn“.429

Ullrich greift auf Webers charismatische Herrschaftstheorie zurück, um die soziale

Beziehung zwischen charismatischer Führerfigur und der Bewegung zu betonen. Denn,

um wirken zu können, „braucht der charismatische Politiker, Max Weber zufolge, eine

Gemeinde von Anhängern, die von seinen ‚außeralltäglichen‘ Fähigkeiten überzeugt ist

und deshalb fest an seine Berufung glaubt“.430 Es geht also nicht nur darum, dass sich eine

Figur wie Adolf Hitler als „Führer“ – oder auch Retter und Messias – versteht, wesentlich

ist auch die „Anerkennung“ als solchen durch die Bewegung.431 Die oben angeführten

Zitate von Streicher, Goebbels und Göring zeigen, wie Hitler durch NS-Funktionäre als

„Retter der Nation“ wahrgenommen oder zumindest so dargestellt wurde. Schumann

beschreibt in seiner Autobiographie, dass viele NS-Propagandaautoren im Führer

tatsächlich einen gottgesandten Retter sahen. Aber auch der kleine Mann scheint an

Hitlers Mission geglaubt zu haben. So berichtet Victor Klemperer davon, wie ihm dreimal

von drei unterschiedlichen Leuten ein Glaubensbekenntnis zu Hitler vermittelt wurde:

„Ich glaube an ihn“432, „An Hitler glaube ich“433 und „Ich glaube an den Führer“434. Gerade

dieser „Glaube“ an den „Führer“ brachte auch unzählige Lobgedichte auf den „Führer“

hervor, für die die Dichtung von Heinrich Anacker, die später der literarischen Analyse

unterzogen wird, als exemplarisch gilt. Hans Jörg Schmidt beschreibt die „Auserwähltheit“

des „Führers“ als einen topischen Bezugspunkt der Gelegenheitslyriker, der insbesondere

in der NS-Gelegenheitslyrik als Form der Adoratio weit verbreitet ist.435

Gerade die messianische Stilisierung des „Führers“ bestimmt die sakrale Potenz des

Führerbegriffs. Allerdings ist die Triade „Führer“ – „Reich“ – „Volk“ notwendig, um dem

messianisch ausgelegten Führerbegriff tatsächlich Inhalt und Relevanz zu verleihen. So

betont Hillerbrand, dass bei messianischen Individuen und Bewegungen immer drei

427 Alfred Läpple: Kirche und Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich: Fakten, Dokumente, Analysen. Asschaffenburg: Paul Pattloch 1980, 28. 428 Ebd. 429 Hitler: Mein Kampf, 70. 430 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 148. 431 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 179. 432 Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 131. 433 Ebd., 134. 434 Ebd., 135. 435 Hans Jörg Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“. In: Totalitarismus und Literatur. Hg. v. Hans Jörg Schmidt und Petra Tallafluss. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 102-103.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

114

Gesichtspunkte wesentlich sind, und zwar Botschafter, Botschaft und Bewegung: „Ein

Botschafter verkündigt eine als ‚neu‘ bezeichnete Botschaft, um die sich eine Bewegung

formiert“.436 Die Botschaft ist die im nächsten Teil beschriebene Prophezeiung der

Errichtung eines neuen – dritten – Reiches. Die Bewegung erweist sich in Bezug auf die

Darstellung Hitlers als des „Berufenen, Auserwählten und Gottgesandten“ als eine

gläubige Gemeinschaft in bedingungsloser Hingabe und blindem Gehorsam.437

2.2 Das „Dritte Reich“ als theologisches Konzept

Heutzutage scheint die Idee eines „Dritten Reiches“ quasi unlösbar mit der

nationalsozialistischen Herrschaftsepoche verbunden zu sein. Allgemein wird

angenommen, dass Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) mit seinem 1923

herausgebrachten Buch Das Dritte Reich den Nationalsozialismus mit seinem wirksamsten

politischen „Slogan“ versorgt hat,438 auch wenn er der frühen NS-Bewegung nicht

angehörte. In der NS-Historiografie folgte dieses „Dritte“ Reich auf das – „erste“ – Heilige

Römische Reich deutscher Nation (952-1806) und das – „zweite“ – Bismarcksche

Hohenzollernreich (1871-1918). In dem Sinne erscheint diese Reichsidee auf den ersten

Blick als ein rein politisches und mit Macht verbundenes Konzept. Das Symbol des

„Dritten Reiches“ ist jedoch im Grunde ein theologisches bzw. geschichtsphilosophisches

Konzept, das das Zeitalter des Heiligen Geistes markiert, das auf das Zeitalter des Vaters

und des Sohnes folgen sollte.439 Diese Idee kommt im Endzeitlichen Denken des

Zisterzienserabts Joachim von Fiore (um 1130-1202) wie in der Erlösungsidee des Thomas

Müntzer (1488/89-1525) zum Ausdruck.440 Gerade dieser religiöse Ursprung des Symbols

des „Dritten Reiches“ wurde in Deutschland bereits um die Jahrhundertwende rezipiert

und ausführlich diskutiert.

2.2.1 Die christliche Wurzel des „dritten Reiches“

Die Idee eines „dritten Reiches“ findet seinen – christlichen – Ursprung in der Drei-Zeiten-

Lehre des mittelalterlichen Abtes Joachim von Fiore (um 1130-1202) aus Kalabrien. Dass

dieser italienische Mönch in der Literatur in erster Linie mit seinem verdeutschten Namen

zu finden ist, zeuge David Redles zufolge für die Stärke seiner Sonderperspektive auf

Apokalypse in der deutschen Geschichte und Wissenschaft über die Jahrhunderte, auch

436 Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 2. 437 Vgl. Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 35-36. 438 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 9; Vgl. Matthias Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism. In: A Companion to Joachim of Fiore. Hg. v. Matthias Riedl. Leiden: Brill 2017, 305. 439 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 9. 440 Vgl. Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, 170.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

115

während der NS-Periode.441 Joachim von Fiore interpretierte die Geschichte als eine

aufsteigende Abfolge von drei Zeitaltern oder Reichen, in der lateinischen Originalfassung

drei „status“ genannt. Auffällig ist, dass dieses „status“ im Englischen unterschiedlich mit

„stage“, „age“, „state“ und „time“ und im Deutschen bedeutsamerweise mit „Reich“442

übersetzt wird.

Dem Ersten Reich Gottvaters und des alttestamentlichen Gesetzes und dem Zweiten Reich

des Sohnes und des Evangeliums wird – nach einem Zwischenreich des Antichrist mit

schrecklichen Verfolgungen – um 1260 das Dritte Reich des Heiligen Geistes folgen, ein

Zeitalter ohne geschriebenes Testament, ohne Herrschaft, in dem die Bewohner in völliger

Gleichheit und Harmonie in ewigem Frieden leben.443

Nach Alfons Rosenberg, der Joachims 1955 publizierte Herausgabe von Das Reich des

Heiligen Geistes bearbeitet und mit einem Vorwort versehen hat, besteht die revolutionäre

Einsicht Joachims gerade darin, dass es nicht nur zwei sondern drei Heilszeiten geben

müsse. In Anlehnung an die christliche Dreifaltigkeitstradition weise jede Heilszeit den

Stempel und Charakter einer der drei Personen der Gottheit – Vater, Sohn und Heiligen

Geist – auf. Dabei wäre jede neue Zeit als Frucht der vergangenen Zeit zu verstehen.444

Außerdem, so erklärt Erich Voegelin, wäre jedes der Reiche symbolisch durch ihre

„Führer“ bestimmt: „Am Anfang des zweiten Reiches steht, nach den Vorläufern Zacharias

und Johannes, Christus; am Anfang des dritten Reiches, das nahe bevorsteht, eine

Erscheinung die schlechthin DUX, der Führer, genannt wird“.445 Rosenberg erklärt, dass

die Kirche in diesem dritten status keine Priester- und Sakramentskirche mehr darstellt,

sondern ein von Mönchen geleiteter Liebesverband von Christen, der zwar immer noch

von einer päpstlichen Figur geführt wird.446 Voegelin fasst Joachims „Reichsapokalypse“

folgenderweise zusammen:

Das dritte Reich Joachims ist nicht eine neue Institution, die revolutionär an die Stelle der

Kirche zu treten hätte, sondern ein Prozeß der Vergeistigung der Ekklesia und der

Umbildung der Weltkirche zu einem neuen Orden kontemplativen vergeistigten

Mönchstums; im Gegensatz zu der Reichsapokalypse des Paulus enthält die Offenbarung des

Joachim daher auch keine Hinweise auf die Sozialordnung des dritten Reiches; im Reich der

spiritualis intellegentia leben die Menschen kontemplativ, nicht mehr aktiv-kontemplativ

441 Vgl. David Redles: Nazi End Times: The Third Reich as Millenial Reich. In: End of Days. Essays on the Apocalypse from Antiquity to Modernity. Hg. v. Karolyn Kinane und Michael A. Ryan. Jefferson, North Carolina, London: McFarland & Company 2009, 173. 442 Ebd. 443 Zit. in „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. 444 Vgl. Alfons Rosenbergs Einleitung in Joachim Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes. Hg. v. Alfons Rosenberg München: Otto-Wilhelm-Barth 1955, 19-20. 445 Voegelin: Die politischen Religionen, 40-41. 446 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 23.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

116

wie der Klerus der Weltkirche, sie leben geistig und arm, brüderlich, alle vom gleichen Rang,

ohne Zwangsordnung.447

Zu dieser Auffassung des endzeitlichen Denkens kam Joachim, indem er anhand einer

analytischen Technik – von ihm concordia genannt –, Korrespondenzen zwischen dem

Alten und dem Neuen Testament aufdeckte.448 Die Entsprechung vom Alten und Neuen

Testament deutet auf eine weitere Entsprechung mit einer noch künftigen Offenbarung,

die bereits in der Apokalypse des Johannes angekündigt wurde, hin.449 Obwohl es im

prophezeiten Jahr 1260 keine große spürbare und apokalyptische Veränderung gegeben

hat, sehen manche die Verwirklichung der joachitischen Prophezeiung in der Entstehung

des Franziskaner Ordens. Laut Rosenberg sahen die Franziskaner in dem Heiligen

Franziskus von Assisi dem „eigentlichen Testamentsvollstrecker des Seher-Abts“ und dem

„Verwirklicher der joachitischen Lehre vom Geist-Zeitalter“.450 Außerdem glaubten sie die

Franziskanische Stiftung als „den von Joachim prophezeiten Reformationsorden, als das

Vorbild und die Keimzelle der Geistkirche erkennen zu können“.451 Riedl meint, dass

Joachim vor allem in radikaleren Abspaltungen als Prophet verehrt wurde. Unter anderem

wegen der Bearbeitungen seiner Lehre durch die Franziskaner überlebten Joachims Ideen

und Symbolik bis in die Neuzeit.452

Obwohl Joachims Werk im 13. Jahrhundert schon theologische Kritik auslöste – unter

anderem von Thomas von Aquin – wurde es keineswegs verurteilt oder zensiert.453 Seine

Geschichtsinterpretation wurde bis in die Neuzeit weitgehend rezipiert und zu einem

„wirksamen Topos im christlich-theologischen, geschichtsphilosophischen und

sozialutopischen Denken Europas“.454 Der Symbolismus der Reichsapokalypse lebt zudem

fort, so Voegelin, im Symbolismus des 19. und 20. Jahrhunderts.455 Rosenberg ist sogar der

Meinung, dass Joachim von Fiores Prophezeiung vom kommenden „dritten Reich“ seit

dem 13. Jahrhundert das entscheidende Ferment aller abendländischen Reformversuche

447 Voegelin: Die politischen Religionen, 41. 448 Vgl. Redles: Nazi End Times: The Third Reich as Millenial Reich, 173. 449 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 19-21. 450 Ebd., 27. 451 Ebd. 452 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 275-280. 453 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 50-51. 454 Zit. in „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. 455 Vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, 42. Weitere Einzelheiten zu Joachims geistesgeschichtlicher Nachwirkung bieten Matthias Riedl (Hg.): A Companion to Joachim of Fiore. Leiden: Brill 2017, Julia Eva Wannenmacher (Hg.): Joachim of Fiore and the Influence of Inspiration: Essays in Memory of Marjorie E. Reeves (1905-2003). London: Taylor & Francis 2016 und Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 50-66.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

117

geblieben ist, auch wenn sie entstellt und missbraucht und schließlich in der

nationalsozialistischen Zeit aufs äußerste säkularisiert worden ist.456

2.2.2 Joachims „drittes Reich“ und das „Dritte Reich“ im Nationalsozialismus als

politischer Religion

In seiner ausführlichen Studie über das Leben und Werk von Joachim von Fiore,

herausgegeben im Jahre 2017, widmet Matthias Riedl der möglichen Bedeutung seiner

Lehre für die kommunistische und nationalsozialistische Ideologie – die modernen

politischen Religionen – ein ganzes Kapitel. Dabei bezieht er sich mehrmals auf das Werk

Erich Voegelins, der bereits in seinem 1938 herausgegebenen Buch Die politischen

Religionen auf Joachims Reichsapokalypse verwies.457 Laut Voegelin hat Joachim mit seiner

trinitarischen Eschatologie ein Symbolaggregat geschaffen, das bis heute die

Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft bestimmt.458 Gerade die Stärke

dieses Symbolaggregats – und besonders die Symbolik des dritten status – wäre eine

mögliche Erklärung für den Erhalt von Joachims Erbe bis in die Neuzeit:

The memory of this transformation of eschatology, the name of its initiator, and the basic

symbols connected to it were always preserved in Western civilization, independently of

concrete knowledge about the abbot’s writings.459

Sowohl Voegelin als auch Riedl unterscheiden vier Symbole aus Joachims

Reichsapokalypse, die für die modernen politischen Religionen von zentraler Bedeutung

wären: In der Vorstellung der Geschichte als eine Abfolge von drei Zeitaltern sei das

Symbol des dritten status – des dritten Reiches – als letzten Zeitalters das erste zentrale

Symbol. Das zweite Symbol sei die zu diesem dritten Reich gehörende Führerfigur. Das

dritte Symbol, der Prophet des neuen Zeitalters, könne in das zweite Symbol des „Führers“

aufgehen. Der von Joachim vorgesehene Mönchorden – auch eine Bruderschaft oder

Gemeinschaft perfekter Spirituellen – erweise sich schließlich als das vierte zentrale

Symbol.460

Die Verwendung des Symbols des „dritten Reiches“ im nationalsozialistischen „Dritten

Reich“ stelle aber ein Sonderfall dar. Obwohl auch das NS-Symbol ursprünglich auf die

joachitische Lehre zurückzuführen sei, sollte das Symbol vielmehr wegen zweifelhafter

456 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 52. 457 Vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, 40-41. 458 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 271. 459 Ebd., 276. 460 Vgl. Erich Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction. Chicago, London: The University of Chicago Press 1952, 11-113; Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 277-280.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

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literarischer Transfers überlebt haben.461 Der deutsche Begriff „Drittes Reich“ erschien

zum ersten Mal 1888 in der deutschen Übersetzung von Kaiser und Galiläer, dem

Doppeldrama des norwegischen Autors Henrik Ibsen, nach dem es zu einem geläufigen

Ausdruck in der deutschen Literatur wurde.462 Vor allem mit Arthur Moeller van den

Brucks 1923 veröffentlichtem Buch Das dritte Reich trat das Symbol erneut in das aktive

Gedächtnis der Deutschen ein. Obwohl Alfred Läpple meint, dass Moeller van den Bruck

mit dieser Veröffentlichung die Brücke von der joachitischen Utopie zur politischen

Ideologie Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus geschlagen habe,463 führt Voegelin

Moeller van den Brucks Verwendung des Symbols auf dessen Arbeit über russische

Autoren wie Dostojewski zurück.464 In der russischen Literatur wird das Symbol des

„Dritten Reiches“ als Symbol für Moskau als das „dritte Rom“ – nach Rom als dem ersten

und Konstantinopel als dem zweiten Rom des Christentums – verwendet.465 Riedl weist in

diesem Zusammenhang auf Moeller van den Brucks Bekanntschaft mit dem russischen

Schriftsteller und Literaturkritiker Dmitri Mereschkowski (1865-1941) hin, mit dem er an

einer deutschsprachigen Dostojewski-Ausgabe arbeitete. Mereschkowski, der unter

anderem von Thomas Mann als zweitgrößter Philosoph nach Friedrich Nietzsche

gepriesen worden ist, könnte Joachims Namen über die Schriften Schellings466

kennengelernt haben. Joachims triadischer Symbolismus wäre daraufhin einfacherweise

mit dem alten Mythos des imperialistischen Russland im Einklang zu bringen. Beweis

dafür sieht Riedl in Mereschkowskis Trilogie Christ and Antichrist (1895-1904). Im zweiten

Band – Leonardo da Vinci – erzählt Mereschkowski eine Legende, die die Verschmelzung

joachitischer Symbole mit dem russischen imperialistischen Mythos illustriert. Der dritte

Band – Peter and Alexej – endet sogar mit einer joachitischen Vision, in der der Evangelist

Johannes erscheint und die Struktur der heiligen Geschichte offenbart. Riedl glaubt, es

wäre plausibel, dass Moeller van den Bruck während seiner Zusammenarbeit mit

Mereschkowski von seinen prophetischen Ideen erfahren hat.467

461 Vgl. Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, 113. 462 Vgl. „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. Für weitere Informationen über den Gebrauch des Ausdrucks „Drittes Reich“ in der deutschen Literatur am Anfang des 20. Jahrhunderts verweise ich auf denselben Artikel. 463 Vgl. Läpple: Kirche und Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich: Fakten, Dokumente, Analysen, 23. 464 Vgl. Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, 113. 465 Vgl. ebd., 112-114. 466 Schelling unterscheidet in seiner Philosophie der Offenbarung drei Perioden und lobt dabei die Freiheit der „dritten“ und „wahren Kirche“: „Petrus ist mehr der Apostel des Vaters, er blickt am tiefsten in die Vergangenheit. Paulus ist der eigentliche Apostel des Sohnes, Johannes hingegen der wahre Apostel des Heiligen Geistes. – Johannes ist der Apostel der zukünftigen, erst wahrhaft allgemeinen Kirche.“ Zit. in Arthur Schult: Das Johannesevangelium als Offenbarung des kosmischen Christus. O. Reichl 1965, 13. Schelling merkt dabei selber bereits die auffällige Kongruenz mit den Ideen von Joachim von Fiore auf. Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 307, Fn. 151. 467 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 306-309.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

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Das Symbol des „dritten Reiches“ und seine religiöse Herkunft wurde in Deutschland aber

bereits um die Jahrhundertwende rezipiert und diskutiert, wie zum Beispiel bei der vom

Dichter Richard Dehmel organisierten Tafelrunde im Berliner Lokal „Schwarzes Ferkel“,

das auch Moeller van den Bruck besuchte.468 Vor allem nach der deutschen Niederlage im

Ersten Weltkrieg taucht der Ausdruck immer häufiger auf, wie z.B. bei Oswald Spengler469,

Ernst Krieck470, Dietrich Eckart471 und natürlich Arthur Moeller van den Bruck, der das

Konzept eines „dritten Reiches“ in einem völlig anderen – säkularisierten – Kontext

erscheinen ließ:

Was aber Joachim von Fiore immerhin noch im christlichen Kontext sah, indem er vom

Dritten Reich des Heiligen Geistes, von der Endzeit-Gemeinde des universalen Pfingstfestes,

von einem nie endenden Paradies der Freude und des Friedens und vom Heiligen Geist als

dem göttlichen Führer (dux) in apokalyptischer Begeisterung sprach, ist von den Ideologen

des Nationalsozialismus radikal umgedeutet und säkularisiert worden. Adolf Hitler hat man

als Inkarnation und Personifikation des Dritten Reiches propagiert und verehrt, von dem

allein Heil und Rettung für alle Zukunft komme. Das Dritte Reich des heiligen Geistes wurde

zum Dritten Reich des unheiligen Geistes, der Menschenverachtung, der

Menschenvergötzung und des verbrecherischen Wahnsinns.472

Ob Joachim die nationalsozialistischen Ideologen tatsächlich weitgehend beeinflusst hat,

ist kaum nachzuvollziehen, so verweist Moeller van den Bruck in seinem Buch Das dritte

Reich zum Beispiel nirgendwo explizit auf Joachim. Dass Joachims Lehre aber schon bis in

die 1920er Jahre unter deutsche Intellektuelle bekannt war, belegt der direkte Verweis auf

einen „calabrischen Mönch“ in der „Rede am Feuer“ des nationalsozialistischen

Erziehungswissenschaftlers Ernst Krieck (1882-1947):473

468 Vgl. ebd., 305-306; Vgl. „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. 469 Riedl beschreibt, wie Oswald Spengler (1889-1936) in seinem Untergang des Abendlandes Joachim von Fiore als den großen zentralen Denker des Mittelaltares darstellt. Seine Ideen seien grundlegend für weitere Prozesse, die die Moderne hervorgebracht haben. Außerdem stellte Spengler, dessen Werk von jedermann aus der politischen Rechtsszene gelesen wurde, Joachims Prophezeiung als ein germanisches Ideal dar. Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 267. 470 Weiter unten wird auf Kriecks „Rede am Feuer“, in dem er explizit auf Joachims Symbol des „dritten Reiches“ eingeht, verwiesen. 471 Laut David Redles entdeckte Dietrich Eckart (1869-1923), Hitlers späterer Mentor, Joachims Idee eines „dritten Reiches“ wahrscheinlich über Henrik Ibsens Peer Gynt. Eckarts deutsche Nachdichtung aus dem Jahre 1914 gehörte zu seinen eigenen größten Erfolgen. Allerdings reinterpretierte Eckart Joachims Trinitätslehre, so Riedl, als eine besonders rassistische trinitarische Theologie. Genauso wie Alfred Rosenberg verstand er die Geschichte als einen Rassenkampf: einen universalen Kampf zwischen Licht und Dunkel, Christ und Antichrist. Vgl. Redles: Nazi End Times: The Third Reich as Millenial Reich, 174; Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 311-313. 472 Läpple: Kirche und Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich: Fakten, Dokumente, Analysen, 23 473 Nachdem Krieck diese Rede im Jahre 1931 vor Frankfurter Studenten an der Pädagogischen Akademie in Frankfurt hielt, wurde sie am 13. September 1931 in der Beilage „Der Jungstahlhelm“ der Zeitschrift Des Stahlhelms gedruckt: Ernst Krieck: Rede am Feuer. In: Der Stahlhelm. Beilage 37.2 (1931), 9.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

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Vor siebenhundert Jahren erstrahlte über dem Mittelmeer der Komet des letzten großen

Staufers, Abendland und Morgenland überscheinend. An ihn hat sich die Mythe von der

Wiederkehr der Reichsherrlichkeit geheftet, die mit ihm untergegangen ist. Zu seiner Zeit

wurde erstmals von einem calabrischen Mönch jenes Wort der Sehnsucht und der

Frohbotschaft verkündet, das dann als Erweckung von der jungen franziskanischen

Bewegung in die Herzen der Völker gepflanzt wurde; das Wort vom dritten Reich, eine

religiöse und eine politische Sehnsucht nach einem höheren Gemeinschaftsdasein,

gesprochen an einer Wende der Zeiten.474

Laut Krieck wurde dieses „Wort vom dritten Reich“ im Laufe der Geschichte noch ein

zweites und ein drittes Mal „verkündet“. Bei Gotthold Ephraim Lessing wäre die „Losung“

des „dritten Reiches“ „noch nicht Volk, sondern Menschheit“, während Moeller van den

Bruck „die Botschaft vom dritten Reich“ schließlich als „ein deutsches Schicksal“

verkündete.475 Voegelin sieht in der christlichen Reichsapokalypse und dem Symbolismus

des Spätmittelalters „den geschichtstiefen Untergrund der apokalyptischen Dynamik der

modernen politischen Religionen“.476 Auch Seitscheck glaubt, dass Joachims Vorstellung

vom „dritten Reich“ symbolisch mitspielte, wenn die Hitler-Diktatur als „Drittes Reich“

nach dem ersten und zweiten Kaiserreich bezeichnet wird.477

Es ist Riedl zufolge nicht unbedingt die wichtigste Frage, ob Joachim spätere Ideologen

beeinflusst habe. Vielmehr sei es von Bedeutung, das gemeinsame Prinzip hinter den

Parallelen zu erkennen, und zwar die Überzeugung, dass die Geschichte ein bedeutsamer

Prozess in Richtung auf die endgültige Verwirklichung des ursprünglichen telos darstellt.

In diesem Zusammenhang erscheinen Propheten, die diese geschichtliche Struktur

verstehen und in dem Sinne über Vorwissen über die Zukunft verfügen.478

Joachim of Fiore as well as the intellectual leaders of modern mass movements derived the

meaning of their existence entirely from their anticipation of the future. Their lives were

dedicated to pointing forward toward the culmination of the historical process. This

dedication, however, gave meaning not only to the individual existence of the visionaries,

but also to the existence of the collectives that accepted them as prophets: the Franciscan

Spirituals, the communist parties, and the völkisch movements.479

Obwohl das Symbol des „Dritten Reiches“ schon einen nachweisbaren christlichen

Hintergrund aufweist, kann man jedoch nicht einschätzen, inwiefern sich der kleine Mann

dieses religiösen Ursprungs bewusst war. Es hat sich aber schon als Symbol für das

474 Ebd. 475 Ebd. 476 Voegelin: Die politischen Religionen, 41. 477 Vgl. Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, 170. 478 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 316. 479 Ebd.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

121

apokalyptische Weltbild des Nationalsozialismus geeignet. Vondung betrachtet gerade

dieses apokalyptische Weltbild als die „extreme Manifestation nationalsozialistischer

Religiosität – oder eben der ‚politischen Religion‘ des Nationalsozialismus und darüber

hinaus „als die einzig plausible Erklärung für die dem Holocaust zugrundeliegende

Intention, die Juden zu vernichten“.480 Dieses Weltbild entsteht laut Vondung „in

Krisensituationen, produziert von Menschen, die sich in ihrer gesamten Existenz –

spirituell, gesellschaftlich, aber auch politisch – gefährdet und gedemütigt, unterdrückt

und verfolgt empfinden“.481 In dieser Hinsicht scheint das Aufkommen eines

apokalyptischen Weltbildes den gleichen Vorbedingungen wie das Entstehen

messianischer – oder charismatischer – Bewegungen zu unterliegen. Das zentrale

Strukturmal der Apokalypse sieht Vondung in der Verknüpfung von Untergang und

Erneuerung, Vernichtung und Erlösung.482 Die literarische Analyse der

Propagandadichtung wird zeigen, dass sich dieses Strukturmerkmal besonders im Motiv

der Auferstehung, und zwar in der Idee der Auferstehung des „Dritten Reiches“ aus der

Weimarer „Katastrophe“, niederschlägt. In diesem Zusammenhang zeigt sich außerdem

auch das chiliastische Element der nationalsozialistischen Reichsapokalypse.

Genauso wie „Messianismus“ sei auch der Begriff „Chiliasmus“ – oder der synonyme, im

englischen Sprachgebrauch gebräuchliche Terminus „Millennarismus“ – laut Vondung als

ein Systembegriff der Moderne zu verstehen.483 Mit dem vom griechischen Zahlwort χίλια

– „tausend” – abgeleiteten Begriff „Chiliasmus“ – oder vom lateinischen „millennium“

abgeleiteten Begriff „Millennarismus“ – deutet man in jüdisch-christlicher Tradition auf

die Erwartung des Tausendjährigen Reiches – auch eines Tausendjährigen Reiches des

Friedens – nach der Wiederkunft des Messias und gerade vor dem letzten Gericht und dem

Ende der Welt. Das Konzept des Chiliasmus wurde auch auf andere und nicht-religiöse

Bewegungen übertragen, in denen das – baldige – Hereinbrechen einer fundamental

veränderten Welt erwartet wird.484 Laut Vondung wurde der Begriff „Chiliasmus“ durch

die Schriften von Heinrich Corrodi und Kant im 18. Jahrhundert in Deutschland geläufig,

während die Bezeichnung „Chiliasten“ für die Anhänger des Glaubens an ein

tausendjähriges Reich schon viel früher, etwa vom Kirchenvater Augustin, geprägt wurde.

Vondung erklärt, dass die Bezeichnung „Chiliasten“ ursprünglich ein Abgrenzungs- und

Kampfbegriff innerhalb der religiösen bzw. theologischen Auseinandersetzung war, mit

dem auch Augustin die „Vertreter einer Irrlehre“ kennzeichnen wollte. Seit dem 18.

Jahrhundert kam die Kritik nicht länger nur von kirchlicher Seite, sondern auch von

480 Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, 119. 481 Ebd., 121. 482 Vgl. ebd. 483 Vgl. Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, 32. 484 Vgl. „Chiliasmus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 2, 136 und „Chiliasmus“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2, 1045-1049.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

122

Vertretern der Aufklärung und einer „vernünftigen Religion“.485 Als ein Beispiel für die

unterschiedlichen Auslegungen der chiliastischen Vision nennt Vondung Joachim von

Fiore, der laut Vondung „die folgenreichste Geschichtsspekulation des Mittelalters

entwarf“486 und dessen Vorstellung des dritten status „in Analogie zum tausendjährigen

Reich gesehen werden kann“.487 Im Zusammenhang mit neuzeitlichen Ideologien schlägt

Vondung vor, den Begriff „Chiliasmus“ als „eine systematische Geschichtsspekulation zu

bezeichnen, die einen Zustand der Vollkommenheit auf dieser Erde entwirft“.488 Anhand

dieser Definition ist der Begriff „Chiliasmus“ laut Vondung nicht nur anwendbar auf

Spekulationen, „die im Sinne der Offenbarung Johannis das tausendjährige Reich als

Einbruch in die absolute Defizienz der Geschichte erwarten“, sondern auch auf solche, „die

den Zustand der Vollkommenheit als Zielpunkt einer fortschreitenden Höherentwicklung

betrachten“.489 Vondung sieht in Joachim von Fiores Einteilung der Geschichte in drei

Zeitalter ein Beispiel dieses zweiten Typus.490 Man könnte also vorsichtig davon ausgehen,

dass das Symbol des „Dritten Reiches“ in der Vorstellung eines „Tausendjährigen Reiches“

in der nationalsozialistischen Apokalypse auf das Erbe Joachim von Fiores zurückzuführen

sei.

Obwohl sich das „Dritte Reich“ in der NS-Propaganda als wichtiges Symbol durchgesetzt

hatte,491 wurde es allmählich durch „Reich“ oder – ab 1938 – „Großdeutsches Reich“ ersetzt.

Das Symbol des „Dritten Reiches“ war vor allem dann wichtig, so lange die erwartete

Erfüllung noch in der Zukunft lag. Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 und im Kontext

des herrschenden NS-Regimes büßte das Symbol an Kraft ein. Als man scherzhaft anfing,

auf ein mögliches „Viertes Reich“ zu verweisen, wurde das Symbol deutlich abgelehnt.492

So schreibt Oswald Torsten 1943 in seinem Buch Rîche. Eine geschichtliche Studie über die

Entwicklung der Reichsidee:

Zweierlei geht wohl aus diesen Ergebnissen hervor: einmal gibt es kein erstes, zweites und

drittes Reich, es gibt auch keine kleindeutsche und großdeutsche Lösung nebeneinander.

Das Reich ist eine dem geschichtlich sich entfaltenden deutschen Werden und dem

deutschen Bewußtsein eingeborene Idee, die sich im einheitlichen Lauf der Entwicklung

vom Eintritt der Westgermanen in die europäische Geschichte bis zu Hitlers

Vollendungswerk in ununterbrochenem, einheitlichem Fluß über große Hemmungen

485 Die terminologische Problematik des Begriffs „Chiliasmus“ in der Vergangenheit beschreibt Vondung besonders in Die Apokalypse in Deutschland, 32-39. 486 Ebd., 35. 487 Ebd., 36. 488 Ebd. 489 Ebd., 36-37. 490 Vgl. ebd., 37. 491 Für eine diskursive Analyse des „Reich“-Symbols in der Dichtung von Heinrich Anacker siehe Anneleen Van Hertbruggen: Das Dritte Reich: die diskursive Sakralisierung in der NS-Propagandadichtung von Heinrich Anacker. In: Studia Theodisca 24 (2017), 51-68. 492 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 311.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

123

hinweg und unter zahlreichen Rückschlägen durch fortwährende Auseinandersetzung mit

dem Einbruch der dualistisch-theokratischen Idee Vorderasiens und des Mittelmeerraumes

verwirklicht.493

Durch mehrere aufeinanderfolgende Presseanweisungen wurde die Bezeichnung „Drittes

Reich“ im Sommer 1939 schließlich offiziell verboten.494 Die Gedichte von Heinrich

Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel, die im Rahmen dieser Arbeit

analysiert werden, sind alle zwischen 1930 und 1936 entstanden. In Die Fanfare. Gedichte

der deutschen Erhebung benutzt Anacker die Bezeichnung „Drittes Reich“ in sieben

Gedichten. In Schumanns und Menzels Gedichtbänden ist immer vom einfachen „Reich“

die Rede. Die auffällige Sakralisierung des „Reiches“ mittels der Voranstellung von

Adjektiven wie „heilig“ oder durch die Einbettung des Symbols im Auferstehungsmotiv in

der nationalsozialistischen Propaganda im Allgemeinen und in dieser

Propagandadichtung im Besonderen hat Klaus Vondung dazu gebracht, das Reichsymbol

als ein quasireligiöses Konzept der nationalsozialistischen politischen Religion zu

definieren, indem er es zu den sogenannten „Glaubensartikeln“ des NS-Credo rechnet.495

2.3 Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Mit dem Fokus auf den Glaubensartikel „Volk“ wird in diesem Teil auf das letzte

Kernkonzept der nationalsozialistischen Parole „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

eingegangen. Gerade die Idee der deutschen „Volksgemeinschaft“ stellt eine der zentralen

Ideen der nationalsozialistischen Ideologie dar. Diese „Volksgemeinschaft“ lässt sich aber

nicht separat von den zwei anderen Glaubensartikeln interpretieren. Bereits im Rahmen

der Weberschen Charisma-Theorie wurde die notwendige soziale Beziehung zwischen der

charismatischen Persönlichkeit und der Gemeinschaft, die an die außergewöhnlichen

Qualitäten dieser Führerfigur glaubt, betont. Auch Joachim von Fiore unterstellt in seiner

apokalyptischen Reichsidee das gemeinsame Auftreten einer prophetischen Führerfigur

und einer gläubigen Bewegung, die zusammen den Anfang des neuen – dritten – Reiches

einläuten. Während Joachim von Fiore eine Art neuen Mönchsordens vor Augen hatte, der

493 Oswald Torsten: Rîche. Eine geschichtliche Studie über die Entwicklung der Reichsidee. München Berlin: Verlag von R. Oldenbourg 1943, 164. 494 Vgl. Cornelia Schmitz-Berning zitiert in ihrem Vokabular des Nationalsozialismus aus verschiedenen Zeitungen und Wörterbüchern, um das Verschwinden der Bezeichnung „Drittes Reich“ zu illustrieren. Es soll der Wunsch des „Führers“ gewesen sein, diesen Ausdruck nicht mehr und anstatt dessen „nationalsozialistisches Deutschland“, „Großdeutsches Reich“ oder „Deutsches Reich“ zu verwenden. Daraufhin wurde das Stichwort „Drittes Reich“ beispielsweise aus den neuen Auflagen des Rechtschreibdudens und dem Volks-Brockhaus gestrichen und durch „Großdeutsches Reich“ ersetzt und nannte sich die Zeitschrift ‚Kunst im Dritten Reich‘ ab 1939 ‚Die Kunst im Deutschen Reich‘. Vgl. „Drittes Reich“ in: Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 159-160. 495 Vgl. Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 91.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

124

durch seine Spiritualität gekennzeichnet werde, war aus nationalsozialistischer

Perspektive das grundlegende Definitionselement des „Volkes“ die „Rasse“496 bzw. das

„Blut“.

Während sich die religiöse Aufwertung der Glaubensartikel „Reich“ und „Führer“ ziemlich

einfach im Rahmen ihrer christlichen Ursprünge erklären ließ, lässt sich die Sakralisierung

des Glaubensartikels „Volk“ nur auf implizite Weise nachweisen. Obwohl Manfred Gailus

und Armin Nolzen die „Volksgemeinschaft“ als ein rein säkulares Konzept bezeichnen, mit

dem das NS-Regime die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen versucht,497 erscheint auch

das „Volk“ oder die „Volksgemeinschaft“ als eine mythisierte und sogar sakral aufgewertete

Gegebenheit. So wird die nationalsozialistische „Bruderschaft“ in einen transzendenten

Sakralbereich verlegt, indem die „Gefallenen der Bewegung“ als Leitbild der neuen

Generation angeführt werden. Gerade in dieser als Vorbild aufgestellten Opferbereitschaft

steigert sich auch die Bedeutung des die Gemeinschaft verbindenden Bluts. Das Blut gilt

nicht nur als biologisches Definitionselement der „Volksgemeinschaft“, sondern auch als

mythisches Fundament des deutschen Reiches. So dichtet Gerhard Schumann in seinen

„Liedern vom Reich“, „so wuchs aus Blut und Erde neu das Reich“ (GS 18, V.14). Außerdem

erscheint das deutsche Volk in diesem Kontext nicht nur als „Blutsgemeinschaft“ sondern

auch als „Schicksalsgemeinschaft“: es sei ihre „Mission“, um – unter Leitung des „Führers“

– das Vaterland, das Deutsche Reich wieder groß zu machen. Im Folgenden wird zunächst

erklärt, wie sich die Vorstellung der „Volksgemeinschaft“ in den 1920er Jahren als eine

parteiübergreifende Idee durchsetzte und sich im nationalsozialistischen Kontext in

Verbindung mit der Idee der „Auserwähltheit“ und der Verherrlichung des Märtyrertodes

im Rahmen der aktiv gepflegten Erinnerungskultur zu einem mythisierten und religiös

aufgewerteten Konzept entwickelte.

2.3.1 Die „Volksgemeinschaft“: Vom parteilosen Schlagwort zur

nationalsozialistischen Erfolgsgeschichte

Obwohl der Begriff „Volksgemeinschaft“ aus heutiger Sicht unlöslich mit der

nationalsozialistischen Ideologie verbunden zu sein scheint, war der Begriff in den 1920er

Jahren keineswegs ein Reservat der Rechten. Bereits seit dem 19. Jahrhundert bildet

„Gemeinschaft“, Michael Wildt zufolge, den Gegenbegriff zu „Gesellschaft“ und gilt somit

als „Ausdruck für die Kritik an der rasanten Dynamisierung und Pluralisierung von

Sozialverhältnissen im Zuge von Industrialisierung, Säkularisierung, Marktorientierung

496 Vgl. „Volk“ in: Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 642. 497 Vgl. Manfred Gailus und Armin Nolzen: Einleitung: Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine „Volksgemeinschaft“? In: Zerstrittene „Volksgemeinschaft“ Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Hg. v. Manfred Gailus und Armin Nolzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 18.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

125

und politischem Liberalismus“.498 Sowohl Wildt als auch Thomas Mergel betonen, dass

der Begriff „Volksgemeinschaft“ nicht einfach als antidemokratisch zu bezeichnen sei,

denn nicht nur konservative und völkische Bewegungen, sondern auch rechte und linke

Liberale, Katholiken und Protestanten sowie die Sozialdemokraten bedienten sich dieses

Begriffs.499 1924 beobachtete Helmuth Plessner, die „Gemeinschaft“ sei das „Idol dieses

Zeitalters“.500 Die Sehnsucht nach einer deutschen „Volksgemeinschaft“ war aber keine

neue Utopie. Viel mehr als in anderen Ländern herrschte in Deutschland die Idee vor, dass

es zur historischen Aufgabe der Politik gehöre, Gemeinschaft herzustellen: „Die föderale

Struktur des alten Deutschen Reiches, der konfessionelle Zwiespalt und die sozialen

Friktionen: sie alle erheischten eine Politik, die in Deutschland innere

Zusammengehörigkeit stiftete“.501

Bis zum Anfang des Ersten Weltkrieges gelang es der Politik aber nicht, diesen

Erwartungen zu entsprechen. Laut Wildt verdankt die „Volksgemeinschaft“ ihre

Hochkonjunktur jedoch gerade der Kriegserfahrung des Ersten Weltkrieges. In den 1920er

Jahren blickt man fast nostalgisch auf den Anfang des Ersten Weltkrieges zurück und dann

besonders auf die Kriegsaussage von Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich

kenne nur Deutsche“.502 Dieser Satz erfasste den „Geist von 1914“ und wurde während der

Weimarer Zeit zur Formel für „die geeinte Volksgemeinschaft, die über Parteien und

Klassen hinweg in der Einheit und Geschlossenheit eine Stärke erblickte, mit der sie jedem

Feind zu trotzen glaubte“.503 Mergel betont aber den mythischen Charakter der Idee, dass

im Krieg zum ersten Male eine Gemeinschaft des ganzen Volkes entstanden ist, die im

Angesicht ihrer Feinde zu sich selber gefunden hat. Allerdings war dieser Mythos nach

dem Krieg höchst lebendig und stieß, so Mergel, auf breite Akzeptanz.504 Auch der

Nationalsozialismus nahm diese von Wilhelm II. imaginierte Einheit als Vorbild und

498 Michael Wildt: „Volksgemeinschaft“ Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011), 103. 499 Vgl. Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936, 98-99 und Wildt: „Volksgemeinschaft“ Eine Antwort auf Ian Kershaw, 104. 500 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft: eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, 28. 501 Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936, 97-98. 502 Dieser Satz, mit dem er das deutsche Volk in den Krieg geführt hat, sei das bekannteste Zitat von Wilhelm II. und wurde unzählige Male in Zeitungsmeldungen, auf Plakaten und Postkarten verbreitet. Obwohl es in Deutschland Ende Juli und Anfang August 1914 tatsächlich wilde Ausbrüche von „Hurra-Patriotismus“ gegeben hat, betonen Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff, dass diese Welle der Begeisterung keineswegs alle Bevölkerungsschichten erfasste. Vgl. Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff: Deutsche Legenden. Vom „Dolchstoß“ und anderen Mythen der Geschichte. Berlin: Ch. Links. 27-28. 503 Michael Wildt: Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 176. 504 Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936, 98.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

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Anrufung der „Volksgemeinschaft“ und versprach diese verlorene Einheit

wiederherzustellen.505 Nach der Machtübernahme wurde die Sehnsucht nach der

Gründung des „Dritten Reiches“ in der Retrospektive zudem auf die Soldaten am

Kriegsanfang projiziert. So hieß es am 2. August 1933 im Völkischen Beobachter: „Am 2.

August 1914 begann der Marsch des deutschen Soldaten in das Dritte Reich. Niemals hat

sich das soldatische Opfer in solchem Grade als Gestalter aller Dinge erwiesen“.506 In

diesem Kontext wurde der Tod so vieler Deutscher nicht länger im Zusammenhang mit

der Kriegsniederlage Deutschlands gedeutet, sondern wurde ihr Opfer als Teil des Sieges,

und zwar des Sieges der deutschen „Volksgemeinschaft“ neuinterpretiert.

Obwohl der Begriff „Volksgemeinschaft“ in der Weimarer Zeit als das politische

Schlagwort par excellence fungierte und sowohl von der rechten als auch von der linken

Szene vereinnahmt wurde, blieb die inhaltliche Auslegung eher vage. Adolf Hitler

explizierte seine Interpretation der „Volksgemeinschaft“ am 27. Januar 1934 in einem

Interview mit dem Schriftsteller Hanns Johst für das Frankfurter Volksblatt:

Volksgemeinschaft: das heißt Gemeinschaft aller wirkenden Arbeit, das heißt Einheit aller

Lebensinteressen, das heißt Überwindung von privatem Bürgertum und gewerkschaftlich-

mechanisch organisierter Masse, das heißt die unbedingte Gleichung von Einzelschicksal

und Nation, von Individuum und Volk.507

Obwohl Hitler in diesem Zitat den Schein wahrt, dass er mit der Idee der

„Volksgemeinschaft“ eine politische Gemeinschaft aller Deutschen vor Augen hat, liegt der

wesentliche Unterschied zum pro-republikanischen Verständnis der „Volksgemeinschaft“

gerade in dieser Unwahrheit:

Während sich die pro-republikanischen Parteien stets für eine politische Gemeinschaft aller

Deutschen auf der Basis der Weimarer Verfassung, also für die Inklusion aussprachen, war

die „Volksgemeinschaft“ der Völkischen und Nationalsozialisten ausnahmslos durch

Grenzen und somit durch Exklusion bestimmt, etwa in der Ausgrenzung der sogenannten

Gemeinschaftsfremden.508

Gerade diese Idee der Exklusion betrachtet Hannah Arendt als eine wesentliche

Charakteristik eines totalitären Regimes wie des Nationalsozialismus, in dem

„ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich eingeschlossen ist“.509 Auch Peter Berghoff

505 Alexander Meschnig: Die Sendung der Nation. Vom Grabenkrieg zur NS-Bewegung. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 36. 506 Völkischer Beobachter am 02.08.1933 zitiert in ebd., 40. 507 Hitler zit. in Max Domarus (Hg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1 Triumph 1932-1934.Wiesbaden: Löwit 1973, 349. 508 Gerhard Hirschfeld: Die Attraktion des Ersten Weltkriegs für die Nazi-Bewegung. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 77. 509 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 599.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

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betrachtet die „kollektive Identität“ als „exklusiv“, denn mit der Konstruktion des

„Identischen“ werde auch das „Differente“, das „Andere“ oder das „Fremde“ konstruiert.510

Die nationalsozialistische Ideologie konstruiert das „Andere“ und so auch die Grenzen der

nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ nach rassischen Kriterien. Dabei bemerkt

Arendt, dass die Nationalsozialisten den Rassebegriff nicht erfunden haben, dass er aber

„nur nie vorher mit solch gründlicher Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt

worden“511 ist. Gerade in dieser von Rasse bestimmten exklusiven Identität der

nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ lässt sich auch das manichäische Element des

Nationalsozialismus entdecken. Die manichäische Lehre, die seinen Namen seinem

persischen Stifter Mani (etwa 216-276) verdankt, ist eine gnostische Lehre mit

dualistischem Charakter: Licht und Finsternis, Gut und Böse, Geist und Materie werden

nicht radikal voneinander getrennt und sich gegenübergestellt.512 Hagen Schulze

betrachtet gerade die nationalsozialistische Rassendoktrin als ein manichäisches Gut-

Böse-Bild, die als Gegenbild des „heils- und lichtbringenden Ariertums“ eine Gruppe

brauchte, „die lediglich kraft objektiver Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse alles

Böse, Schlechte und Abartige verkörperte, und diese satanische Außenseiterposition zu

besetzen“, und zwar die Juden.513

Obwohl Hitler im Interview mit Hanns Johst zu behaupten scheint, dass die

nationalsozialistische Idee der „Volksgemeinschaft“ die Überwindung der tiefen Spaltung

zwischen den Deutschen vor Augen hat, betont Peter Fritszche, dass der

Nationalsozialismus im Grunde die – gewaltsame – Verwirklichung einer rassisch

gesäuberten „Volksgemeinschaft" erzielte. Er interpretiert den Begriff des „Volkes“ zudem

als ein doppeldeutiges Konzept: Die Idee des Volkes sei „sowohl die rhetorische Grundlage,

auf der die Nationalsozialisten operierten, als auch das Ziel, das sie anstrebten“.514 Wie

dem auch sei, die nationalsozialistische Idee der „Volksgemeinschaft“ fand Ende der 1920er

Jahre auf jeden Fall großen Beifall. Einen Beweis dafür sehen Thomas Rohkrämer und

Gudrun Brockhaus in einer Untersuchung des amerikanischen Soziologen Theodore Abel.

Abel sammelte 1934 fast 600 autobiografische Berichte früher NS-Anhänger und lobte

einen Preis aus für die beste Antwort auf die Frage: „Warum bin ich Nationalsozialist

geworden?“ Das mit Abstand meistgenannte Motiv (31,7%) war die Sehnsucht nach der

510 Peter Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation. In: Völkische Religion und Krisen der Moderne: Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende. Hg. v. Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 61. 511 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 260. 512 Vgl. „Mani“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6, 1267 und „Manichäismus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 5, 136. 513 Schulze: Kleine deutsche Geschichte, 170. 514 Peter Fritzsche: Die Idee des Volkes und der Aufstieg der Nazis. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 162.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

128

Volksgemeinschaft,515 was sich als Ausdruck des Wunsches nach Einheit und Sicherheit im

von politischen und sozialen Spaltungen geprägten Nachkriegsdeutschland deuten lässt.

2.3.2 Auserwähltheit und Märtyrerstilisierung – Die religiöse Aufwertung der

„Volksgemeinschaft“

Obwohl die Idee der „Volksgemeinschaft“ in erster Linie durchaus säkular motiviert zu

sein scheint, umgibt auch dieses Konzept eine gewisse Religiosität und dann vor allem im

Zusammenhang mit den anderen beiden Glaubensartikeln. So führt die Verbindung vom

„Führer“ mit dem pointiert religiös konnotierten Verb „erlösen“ nicht nur dazu, dass der

Führer selbst als ein quasimessianischer „Retter“ nach dem Vorbild Christi erscheint,

sondern auch dass das ihm nachfolgende Volk in gewisser Hinsicht „auserwählt“ ist,

„erlöst“ zu werden.516 Laut Klaus Schreiner gehören der Glaube und der Anspruch „eine

von Gott auserwählte Nation zu sein“, bereits zum Nationalismus der Deutschen im 19.

und 20. Jahrhundert. Schreiner zitiert dabei unter anderen Heinrich Heine und Friedrich

Schleiermacher. Während Ersterer die Deutschen – zusammen mit den Franzosen – als

die beiden „auserwählten Völker der Humanität“ bezeichnet, betrachtet Letzterer die

deutsche Nation als „ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes“.517 In ihrer politischen

Anpassungsbereitschaft zielten in den 1930er Jahren sowohl katholische als auch

protestantische Theologen darauf, aus Deutschland ein auserwähltes Volk im biblischen

Sinne zu machen.518 Dabei habe Adolf Hitler für das deutsche Volk außerdem das

„Monopol auf Auserwähltheit“ beansprucht, denn es könne „nicht zwei auserwählte

Völker geben“.519 Diese Idee der „Auserwähltheit“ schließt dem „Erlösungsbedürfnis“ des

Volkes an, das bereits im Zusammenhang mit dem messianischen Sendungsbewusstsein

des „Führers“ angesprochen wurde. Wie bereits erklärt, setzt das Auftreten einer

charismatischen – oder messianischen – Führerfigur eine Krisenzeit voraus, denn – um

noch einmal auf Robert Musil zu verweisen – solche Zeiten der Krise seien

„Geburtsstunden von messianischen Heilsbringern und Erlösern“.520 Ein solcher „Erlöser“

verkündigt in diesem Zusammenhang eine gewisse „Heilsbotschaft“, die das Ende der

Krisenzeit vorhersagt. Das Auftreten eines „Erlösers“ mit einer solchen „Heilsbotschaft“

unterstellt aber auch eine Gemeinschaft, die dazu „auserwählt“ sei, „erlöst“ zu werden. In

diesem Kontext werden „Volk“, „Nation“ und „Rasse“ – die häufig synonym gebraucht

515 Vgl. Gudrun Brockhaus: Einführung. Attraktion der NS-Bewegung – Eine interdisziplinäre Perspektive. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 16-17; Thomas Rohkrämer: Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 84. 516 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 44. 517 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 22. 518 Vgl. ebd., 24. 519 Zit. ebd., 25. 520 Ebd., 1.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

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werden – laut Peter Berghoff zu Symbolen, die das Phantasma der „kollektiven Identität“

als Antwort auf menschliche Existenz- und Identitätsfragen anbieten.521

Nicht nur der „Führer“, sondern das ganze Volk wurde außerdem aufgefordert, für die

Verwirklichung der messianischen Botschaft – und zwar die Gründung des „Dritten

Reiches“ – mitzukämpfen. In diesem Zusammenhang verlegen die Nationalsozialisten die

Volksidee in einen transzendenten Sakralbereich, indem sie Vergangenheit, Gegenwart

und Zukunft miteinander verbinden, und zwar mittels einer gezielten Märtyrerstilisierung

nationalsozialistischer Helden als „Gefallenen der Bewegung“. Bereits seit Jahrhunderten

hat sich die Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben, als ein wichtiges Motiv in der

deutschen Literatur und Kultur erwiesen.522 So verweist Baird beispielsweise auf die

Verherrlichung und den Großmut des militärischen Todes in Prinz Friedrich von Homburg

von Heinrich von Kleist und die Faszination für die erlösenden Qualitäten des

Heldentodes in Richard Wagners Opern. Mehr noch als der Sieg war die Ehre das höchste

Ziel des Helden, die er durch den Tod im Kampf erwerben konnte. Dieser „Opfertod“

garantierte diesem „Märtyrer“ nicht nur das „ewige Leben“,523 sondern forderte auch die

Opferbereitschaft der zukünftigen Generationen für das Vaterland. Auch in der

nationalsozialistischen Gesellschaft stellte die Heldenverehrung ein zentrales Leitbild dar

und spielte der „Kult um tote Helden“524 eine herausragende politische Rolle. Dieser

Heldenkult habe mehr mit Tod als mit Leben, eher mit Vernichtung als mit Sieg zu tun.525

Die nationalsozialistische „Märtyrerstilisierung“ richtete sich dabei nach zwei großen

Gruppen von Vorbildern: die verstorbenen Soldaten im Ersten Weltkrieg und die sechzehn

NSDAP-Mitglieder, die das Leben im misslungenen Putschversuch im Jahre 1923 ließen.

Was die erste Gruppe betrifft, führten die nationalsozialistischen Propagandisten in erster

Linie den Langemarck-Mythos, der bereits während der Kriegszeit und auch in den 1920er

Jahre vielfach verarbeitet wurde. Dieses „Opfer“ der sogenannten „Jugend von

Langemarck“, auf das in der Analyse noch weiter eingegangen wird, nahm in Deutschland

521 Vgl. Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation, 69-70. 522 Diese Opferbereitschaft für das Vaterland lässt sich auch in neuzeitlichen Nationalismen in anderen Ländern und in anderen Kulturepochen der deutschen Geschichte erkennen und sei in dem Sinne nicht als ein exklusives Merkmal des Nationalsozialismus zu betrachten. So wurden beispielsweise sowohl der deutschen als auch der französischen Soldaten, die im deutsch-französischen Krieg (1870-1871) gefallen waren, als Helden gedacht. Ihr Tod auf dem Schlachtfeld wurde nachträglich als Opfertod für das Deutsche Kaiserreich bzw. für die französische Dritte Republik gedeutet und ihr Sterben für das Vaterland wurde den Lebenden als Vorbild hingestellt. Laut Annette Maas hat dieses „patriotische Heldentum“ seit der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen in seiner Annäherung an die Sphäre des Heiligen eine übernatürliche Identifikationsmöglichkeit geschaffen. Vgl. Annette Maas: Der Kult der toten Krieger. Frankreich und Deutschland nach 1870-71. In: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Étienne François et al. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 215. 523 Baird Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 1-2. 524 Vgl. dazu Sabine Behrenbecks umfangreiche Dissertation, die 1996 publiziert wurde als Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole. Vierow bei Greifswald: SH-Verlag, 1996 . 525 Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, xi.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

130

mythische Proportionen an und blieb laut Gerd Krumeich, Autor des Langemarck-Beitrags

im dreibändigen Werk Deutsche Erinnerungsorte, bis 1918 die einzige positive

Kriegserfahrung der Deutschen.526 Laut Krumeich enthielt dieser Topos nicht nur die

bloße Beschreibung des Opfergeistes der „Jugend von Langemarck“, sondern er implizierte

auch die „Hoffnung auf ein Fortwirken oder Wiedererwachen eben dieses Opfergeistes“.527

Gerade diese nationalsozialistische Sinndeutung des Soldatentodes baut auf einem bereits

im 19. Jahrhundert eingebürgerten Deutungsmuster auf, das, wie Sabine Behrenbeck

anmerkt, dem Schema der christlichen Erlösungslehre folgt. Die heroische Narrative in

Kombination mit der christlichen Heilslehre schien eine Antwort auf den „Sinn des

Massensterbens“ anzubieten.528

Dieses „heroisierte Opfertum“ der deutschen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wurde

auf die eigenen Toten der nationalsozialistischen Bewegung übertragen.529 Sie wurden als

wahre „Märtyrer der Bewegung“ in der unter dem NS-Regime aktiv gepflegten

„Erinnerungskultur“ und an jährlichen Gedenktagen mit dazugehörenden Feiern und

Massenveranstaltungen verherrlicht. Bereits am Ende der 1920er Jahre wurden die ersten

kultisch veranstalteten „Totenehrungen“ organisiert, wie beispielsweise der „Langemarck-

Tag“ am 28. November 1928. Der „Kult“ um die toten Helden kulminierte aber im

Opferritus vom 9. November,530 der bereits 1926 von Hitler zum „Reichstrauertag“ der

NSDAP erklärt wurde.531 Im Mittelpunkt dieser Gedenkfeiern standen die sechzehn

NSDAP-Mitglieder, die 1923 beim Putschversuch getötet wurden. Sarah Thieme

bezeichnet diese sechzehn als „Proto-Märtyrer“ der NS-Bewegung, da sie „als zuerst

Verstorbene eine übergeordnete Rolle innerhalb der NS-Märtyrerfiguren einnahmen“.532

Laut Thieme initiierte Hitler selbst ihre Verehrung,533 indem er diese „Blutzeugen“ der

Bewegung in der über der Namensliste stehenden Widmung des ersten Bandes von Mein

Kampf zu Märtyrern stilisierte:

526 Ebd. 527 Vgl. Gerd Krumeich: Langemarck. In: Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3. Hg. v. Étienne François und Hagen Schulze. München: C.H. Beck 2001, 295. 528 Vgl. Sabine Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 45. 529 Habbo Knoch: Die „Volksgemeinschaft“ der Bilder. Propaganda und Gesellschaft im frühen Nationalsozialismus. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 139. 530 Kurz: Braune Apokalypse, 138. 531 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 299. 532 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 24. 533 Ebd., 154.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

131

Am 9. November 1923, 12 Uhr 30 Minuten nachmittags, fielen vor der Feldherrnhalle sowie

im Hofe des ehemaligen Kriegsministeriums zu München folgende Männer im treuen

Glauben an die Wiederauferstehung ihres Volkes.534

Geraden wegen des „zeremoniellen Stils“ und der „christlich konnotierten Wörter“ wie

„Glauben“, „Wiederauferstehung“ und „Blutzeugen“ traut Hansjakob Becker Hitler zu,

einem profanen Ereignis religiöse Weihe verleihen zu wollen.535 Dass das Ereignis am 9.

November 1923 als „Heilsgeschichte“ zu interpretieren sei, lässt sich auch aus späteren

Reden Hitlers am und über den 9. November demonstrieren. Becker und Behrenbeck

beschreiben, wie der Jahrestag des Todes der sechzehn Gefallenen zum Geburtstag des

Reiches wurde, weil sich der Jahrestag als Mysterium offenbarte. So habe Hitler im Jahre

1934 deklariert, dass das von ihnen vergossene Blut zum Taufwasser des „Dritten Reiches“

geworden sei.536 Laut Behrenbeck erinnerte dieser Feiertag gewissermaßen an das

„Gethsemane und Golgatha der ‚Bewegung‘“, dem zehn Jahre später die österliche

Auferstehung gefolgt sei.537 Die Gedichtanalyse wird zeigen, wie die Propagandadichtung

diese christliche Symbolik zur lyrischen Verwertung des Märtyrertodes transferierte.

3. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ - eine säkularisierte und

(re-)sakralisierte Trinität

Die sakrale Potenz der politischen Ideologeme „Volk“, „Reich“ und „Führer“ der

nationalsozialistischen Ideologie sind nur völlig in ihrer Kombination zu verstehen. Der

messianische „Führer“ verkündet eine Botschaft eines neuen „Dritten Reiches“. Das „Volk“

als „gläubige Bewegung“ glaubt an die vom „Führer“ verkündete Reichsbotschaft und das

„Volk“ engagiert sich zudem dafür, den „Führer“ in seiner Mission zu unterstützen. Keins

der Symbole kommt ohne die beiden anderen zur Geltung. Dies wird sich besonders in der

Analyse der Gedichtbände von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert

Menzel zeigen. Obwohl die Analyse sich stets auf die Sakralisierung eines Ideologems in

einem spezifischen Gedichtband fokussiert (Anacker – „Führer“; Schumann – „Reich;

Menzel – „Volk“), sind die Ideologeme keineswegs separat zu betrachten.

Bei der Analyse der messianischen Stilisierung von Adolf Hitler als „Führer“ in Anackers

Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936) wird die textuelle

Repräsentation verschiedener Eigenschaften eines „politischen Messias“ untersucht. Dabei

534 Diese Widmung ist dem ersten Band von Hitlers Mein Kampf vorangestellt. 535 Hansjakob Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration. In: Totalitarianism and Political Religions. Hg. v. Hans Maier. 2007, 27. 536 Vgl. Ebd.; Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 299-300. 537 Vgl. Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 300.

Page 132: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

132

steht nicht nur die Darstellung des „Führers“ als „Messias“ im Mittelpunkt, sondern es wird

auch auf seine Beziehung mit dem „Volk“ eingegangen. Unter anderem anhand des Motivs

der Treue wird Bereitschaft zur Nachfolge als eine „gläubige“ Überzeugung gedeutet. Auch

die politische Botschaft – und zwar die Gründung eines „Dritten Reiches“ – bekommt eine

religiöse Aufwertung, indem sie von Hitler als messianischem „Führer“ „verkündet“ wird

und er als „Bauherr“ dieses Reiches erscheint.

Das Symbol des „Dritten Reiches“ hat seine ursprünglich joachitische Konnotation in

Schumanns Gedichtband Die Lieder vom Reich (1935) verloren. Allerdings wertet er die

Reichsidee an verschiedenen Stellen mit christlicher Symbolik und Metaphorik auf. So

wird die Gründung des neuen Reiches als eine „Auferstehung“ verstanden, die an

verschiedenen Stellen auf neutestamentliche Narrative verweist. Dabei kommt vor allem

dem „Führer“ nach dem Vorbild Jesu Christi als „Bauherrn des Reiches“ eine bedeutende

Rolle zu. Ein wichtiges Thema in Schumanns Dichtung ist die Entindividualisierung des

Ichs zugunsten einer Gemeinschaft, durch die das „Reich“ lebensfähig wird. Auch der

„Führer“ bleibt dabei namenlos, weswegen die „Mission“ des „Führers“ zur Aufgabe des

ganzen Volkes wird.

Die Sakralisierung des „Volkes“ in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft

(1936) geht aus von der Pflicht, die jedem Mitglied der Volksgemeinschaft seinem „Führer“,

„Volk“ und „Reich“ gegenüber zu erfüllen hat. Es geht also um die Frage, wie sich jeder in

den Dienst der Gemeinschaft und seines Vaterlandes stellen kann. In diesem Sinne wird

die Opferbereitschaft für das Vaterland als die höchste Tugend propagiert. Der Mann soll

als „Kamerad“ dazu bereit sein, für sein Vaterland zu kämpfen und gegebenenfalls sogar

zu sterben. Gerade aus dieser Opferbereitschaft, die sich nach dem Vorbild der

verstorbenen Soldaten im Ersten Weltkrieg und der getöteten Putschisten aus dem Jahre

1923 gestaltet, ergibt sich die Möglichkeit, die Toten – auch die „Gefallenen der Bewegung“

– zu „Märtyrern“ zu stilisieren. Diese Märtyrerstilisierung ist besonders für die sakrale

Aufwertung der Rolle des Mannes in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft von

Bedeutung. Obwohl auch die „Mission“ der nationalsozialistischen Frau auf das

Weiterbestehen der Volksgemeinschaft und des Reiches bis in die Ewigkeit ausgerichtet

war, beschränkt sich die sakrale Darstellung der Frau in der religiösen Aufwerten ihrer

Mutterrolle.

Page 133: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

V Die messianische Stilisierung des „Führers“

Am Beispiel von Heinrich Anackers

Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936)

Page 134: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG
Page 135: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die messianische Stilisierung des „Führers“

135

1. Adolf Hitler - Mensch oder (politischer) Messias in

Anackers Dichtung

In seinem Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936, Erstausgabe

1933) nennt Heinrich Anacker den Namen Hitlers in 23 unterschiedlichen Gedichten und

zehnmal in Kombination mit seinem Vornamen Adolf. In 22 Gedichten benutzt er die

Bezeichnung „Führer“ und zweimal erscheint die nationalsozialistische Heil-Formel,

einmal in Kombination mit seinem Namen („Heil Hitler“: HA107, V.14) und einmal in

Kombination mit seinem „Führer“-Titel („Heil dem Führer“: HA39, V.13). In Anackers

Gedichtband, der als exemplarisch für die affirmative NS-Dichtung gilt, erscheint Adolf

Hitler nicht nur als ein rein politischer „Führer“, sondern quasi als eine gottgesandte Figur,

als ein Retter des Vaterlandes, als ein Erlöser des Volkes. Die Zuschreibung erlösender

Eigenschaften an den politischen „Führer“ Adolf Hitler führt zu einer quasimessianischen

Darstellung des nationalsozialistischen „Führers“, der so das rein Menschliche übersteigt

und als eine Pseudogottheit erscheint.

1.1 Adolf Hitler - Ein Mensch

Obwohl der Titel des hier zur Einführung angeführten Gedicht „Adolf Hitler als Mensch“

(HA108) anderes vermuten lässt, weist Anackers Gedicht gerade auf diese

Übermenschlichkeit des „Führers“ hin.

5

10

Adolf Hitler als Mensch

So sieht ihn die Welt: Gewappnet in Erz,

Und die Hand am geschliffenen Schwerte -

Wir aber kennen sein gütiges Herz

Unterm Mantel der stählernen Härte.

Die Kinder künden's in strahlendem Glück,

Die irgendwo ihm begegnet;

Und Tiere haben mit stummem Blick

Sein stilles Wohltun gesegnet.

Denn die tiefste Wurzel all seines Tuns

Ist ein volkumfassendes Lieben -

Drum ist er dem Letzten und Ärmsten von uns

Als Führer Kam'rad noch geblieben.

So sieht ihn die Welt: Gewappnet in Erz,

Und die Hand am geschliffenen Schwerte -

Page 136: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Heinrich Anackers

136

15 Wir aber kennen sein gütiges Herz

Unterm Mantel der stählernen Härte! (HA108)

Dass Hitler in diesem Gedicht für seine Liebe für Volk und Vaterland und seine

Friedenspolitik gelobt wird, jedoch gleichzeitig auch als größter Kriegsherr aller Zeiten

erscheint, stellt für Walter Knoche ein seltsames Paradox dar.538 Diese zweiteilige

Darstellung des „Führers“ wird außerdem durch die geprägte Gegenüberstellung von „wir“

und „sie“ pointiert. Besonders in der ersten und letzten Strophe unterscheidet Anacker

ganz klar, welchen Eindruck das – auffällig betonte Anfangswort – „wir“ (V.3, 15) und die

diesem Wir gegenübergestellte „Welt“ (V.1, 13) von Adolf Hitler haben. Die „Welt“ nimmt

in erster Linie nur sein Aussehen wahr und sieht ihn als einen starken, kräftigen und

kampfbereiten Menschen. Mit einem „geschliffenen Schwerte“ (V.2, 14) und einer Rüstung

„in Erz“ (V.1, 13) beschreibt Anacker Hitler eher als einen mittelalterlichen Ritter als einen

modernen Soldaten. Das kollektivierende „Wir“ durchblickt dieses äußerliche

Erscheinungsbild aber. Denn unter seinem „Mantel der stählernen Härte“ (V.4, 16)

versteckt sich anscheinend ein „gütiges Herz“ (V.3, 15), das nur „wir“ (V.3, 15) kennen. In

den nächsten Abschnitten wird die Bedeutung dieses kollektivierenden „Wir“, mit dem

generell „die Deutschen“ – also die arischen Nachfolger, vielleicht sogar die

nationalsozialistischen „Gläubigen“ – für den Erfolg Adolf Hitlers als charismatischen

„Führers“ und lang ersehnten Retters des Vaterlandes weiter expliziert. Von seiner

angeblichen Gutherzigkeit „künden“ (V.5) in der zweiten Strophe „Kinder“ (V.5) und

„Tiere“ (V.7). Als literarisches Symbol vertritt das Kind generell die Unschuld und ist in

dem Sinne im Stande vorurteilsfrei wahr zu sprechen.539 Nachdem die Kinder „ihm

begegnet“ (V.6) sind, werden sie von einem „strahlenden Glück“ (V.5) überfallen und sie

„künden“ (V.5) spontan „es“ (V.5), mit dem Hitlers gütiges Herz gemeint sein könnte.

Nicht mit Worten sondern „mit stummem Blick“ (V.7) „segnen“ (V.8) außerdem auch die

Tiere die Arbeit Hitlers.540 Dieser ungewöhnliche Kontakt oder auch die wortlose

Kommunikation mit Kindern und Tieren weist bereits auf die außergewöhnlichen – sogar

übernatürlichen – Qualitäten des „Führers“ hin, die im Folgenden im Rahmen der

messianischen Darstellung des „Führers“ weiter beschrieben werden. Den Grund – auch

die „Wurzel“ (V.9) – seiner Güte erklärt schließlich die dritte Strophe. Sein Triebfeder sei

„ein volkumfassendes Lieben“ (V.10). Alles, was Hitler macht, macht er offenbar aus Liebe

für das Volk. Dabei steht er nicht über dem Volk, sondern zwischen den Menschen.

Außerdem scheint diese Liebe grenzen- und bedingungslos zu sein, denn er ist auch „dem

538 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 21. 539 Vgl. „Kind“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 180. 540 Obwohl Knoche anmerkt, dass das Adjektiv „stumm“ schon richtig in Verbindung mit den „Tieren“ benutzt wird, scheint es ihm aber schwer vorstellbar, dass die Tiere die Arbeit Hitlers tatsächlich „gesegnet“ haben. Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 22. Es scheint aber – wie bei jeder Gedichtinterpretation – unangebracht zu sein, den inhaltlichen Realitätssinn des Textes in Frage zu stellen.

Page 137: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die messianische Stilisierung des „Führers“

137

Letzten und Ärmsten von uns / als Führer Kam’rad noch geblieben“ (V.11-12). Sowohl die

zweite Strophe als auch diese zwei Verse könnten beim christlichen Leser spontan

Assoziationen mit dem Leben Jesu Christi hervorrufen. So erinnert die in der zweiten

Strophe dargestellte positive Beziehung zu Kindern an Jesu Gebot, die Kinder zu sich

kommen zu lassen.541 In der dritten Strophe impliziert Anacker, dass sich Hitler, wie Jesus,

nicht über dem Volke erhaben fühlte, sondern einfach inmitten des Volkes stand und

sogar den Kontakt mit denen am Rande der Gesellschaft aufsuchte. Lukas und Matthäus

stellen Jesus wiederholt als einen Freund der Armen, der Zöllner, der Kranken usw. dar,542

während Anacker den „Führer“ kurz und knapp als „Kam’rad“ (V.12) der „Letzten und

Ärmsten von uns“ (V.11) beschreibt. Schließlich wiederholt die letzte Strophe die erste

wortwörtlich und betont damit die äußere Kraft und zugleich die innere Güte des

„Führers“.

Gerade mit den im- und expliziten Referenzen auf das Leben Christi als auch mit der

weiteren Zuschreibung übermenschlicher Qualitäten stellt Anacker den „Führer“ gerade

nicht als „Menschen“ dar. Anhand einer Reihe von Merkmalen eines (politischen) Messias

wird die Analyse von Anackers Gedichtband Die Fanfare sich dann auch gerade auf die

angeblich übermenschliche Seite Adolf Hitlers – oder zumindest dessen übermenschliche

Darstellung – fokussieren.

1.2 Adolf Hitler als (politischer) Messias in Heinrich Anackers

Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936)

Bei der Betrachtung messianischer Individuen und Bewegungen seien drei Gesichtspunkte

wesentlich, und zwar Botschafter, Botschaft und Bewegung.543 Es sind dann auch gerade

diese drei Faktoren, die in der messianischen Stilisierung des „Führers“ in der

Propagandapoesie eine zentrale Rolle spielen. So unterscheidet Hans Otto Seitschek in

messianischen Bewegungen drei zu differenzierenden Phasen, von denen die ersten zwei

auch in Anackers Lyrik thematisiert werden:

Erstens das messianische Warten und Hoffen auf den Messias, der in die Welt kommt, um

Erlösung zu bringen. Zweitens die bedingungslose Nachfolge, wenn der Messias auftritt und

gewissermaßen in der Welt ist. […] Drittens die Erwartung der Wiederkunft des Messias,

wenn er der Welt für eine gewisse Zeitspanne entrückt ist.544

541 Vgl. Mt 19,13-15; Mk 10,13-16; Lk 18,15-17. 542 Vgl. Lk 14,13; Lk 7,34; Mt 11,5; Mt 11,19. 543 Vgl. Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 2. 544 Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, 31-32.

Page 138: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Heinrich Anackers

138

Die erste Phase – das Warten und Hoffen – hängt direkt mit der sozialen Vorbedingung

einer messianischen Bewegung zusammen, und zwar mit der gegenwärtigen

Krisensituation. Propagandaautoren wie Anacker beschreiben die Periode zwischen der

Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Erfolg des Nationalsozialismus in den 1930er

Jahren als eine Zeit der Zerstörung, Hoffnungslosigkeit und Knechtschaft. Die Analyse

wird zeigen, dass auch Anacker diese Krisenperiode in seiner Lyrik mit einer Sehnsucht

nach einem starken, quasigöttlichen „Führer“ und darüber hinaus mit einer Hoffnung

versprechenden Heilsbotschaft verbindet.

Mit Referenzen auf die unwandelbare Treue, den blinden Gehorsam des Volkes und den

Hitler-Gruß thematisiert Anacker auch die zweite messianische Phase: die bedingungslose

Nachfolge der Bewegung von Adolf Hitler als Messias-Figur. Damit lässt sich auch eine

Parallele zu Max Webers Charisma-Theorie ziehen. Der charismatische „Führer“

beansprucht nicht nur die höchste Autorität, sondern die Anhänger akzeptieren darüber

hinaus absoluten Gehorsam als ihre Pflicht.545 Anacker dichtet aber nicht nur über die

Untertänigkeit des Volkes seinem „Führer“ gegenüber, sondern auch über den angeblichen

Glauben an die göttliche Kraft des „Führers“, was in einem religiösen Personenkult von

zentraler Bedeutung ist. Eine Gottheit wird „durch erstens Zuschreibung seitens der

Glaubenden, zweitens geglaubtes übermenschliches Wirken und drittens geglaubte

Allgegenwart“546 erwiesen. In der Analyse wird einerseits auf die religiös konnotierten

Denotationen des „Führers“ – wie „Retter“ und „Erlöser“ – und andererseits auf

Beschreibungen seiner geglaubten übermenschlichen Eigenschaften fokussiert.

Da die dritte Phase im Messianismus in nationalsozialistischem Sinne eigentlich erst nach

dem Verschwinden des Messias – sprich nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“

– stattfindet, soll es nicht überraschen, dass diese Phase in der Lyrik aus den Anfangsjahren

des NS-Regimes nicht thematisiert wird. Die Propagandaautoren haben sich bei der

Hochstilisierung des „Führers“ aber auch vom Leben des christlichen Messias inspirieren

lassen. Propagandaautoren wie Heinrich Anacker und Otto Bangert vergleichen Adolf

Hitler mehrmals explizit mit Jesus Christus. So schrieb Bangert bereits Ende der 1920er

Jahre:

Und nur aus dieser Weltuntergangsstimmung heraus vermag auch die Erscheinung eines

Hitler wirklich erfaßt zu werden; sie ist vollkommen irrational und beinahe mystisch in ihrer

Wirkung. Ihre einzigartige Macht liegt in der überwältigenden Gewißheit ihrer Sendung und

Kraft, die sicher über ein untergehendes Zeitalter schreitet, so wie einst Jesus über die

sterbende Antike schritt. Und so besteht auch Hitlers Gefolgschaft nicht aus Interessenten

545 Lepsius: The Model of Charismatic Leadership and its Applicability to the Rule of Adolf Hitler, 175. 546 Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“, 99.

Page 139: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die messianische Stilisierung des „Führers“

139

und Egoisten wie die entgeistigten Haufen der alten Parteien, sondern aus Gläubigen,

Jüngern und Idealisten, denen es um ein ewiges Deutschland geht.547

Auch Anacker war es nicht fremd, in seiner Lyrik Parallelen mit dem Leben und Wirken

Jesu zu ziehen. Weil im Neuen Testament bestimmte Züge des Lebens Jesu – z.B. Lehren

und Leiden – als messianisch gewertet werden, die im Alten Testament nicht mit dem

Messias-Bild verbunden waren, untersucht diese Arbeit schließlich auch die

Symbolsprache, die explizit der christlichen Tradition und der biblischen Bilderwelt des

Neuen Testaments entnommen wurden.

2. Heinrich Anackers messianische Stilisierung des

„Führers“

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache

Bereits auf lexikalisch-semantischer Ebene zeigt sich, wie oft und explizit Anacker für seine

politisch engagierte Dichtung aus dem christlich-religiösen Vokabular schöpft. Mit

mehreren Verweisen auf „Himmel“ (HA56, V.5, 11, 14; HA106, V.7) und „Teufel“ (HA16, V.11;

HA50, V.14; HA75, V.15; HA82, 12; HA82, V.12) und die einmalige Erwähnung des „Heiligen

Christ“ (HA113/114, V.29) greift Anacker explizit auf die christliche Tradition zurück.

Substantive wie „Altar“ (HA27, V.11; HA95, V.12), „Frucht“ (HA56, V.9; HA72, V.15; HA81,

V.19, HA106, V.12; HA113/114, V.12), „Glaube“ (HA17, V.5; HA23, V.11; HA51, V.3; HA115, V.5),

„Gnade“ (HA52, V13), „Opfer“ (HA40, V.3; HA46, V.14; HA54, V.5, 16; HA56, V.9; HA67/68,

V.13; HA70, V.3; HA75, V.14; HA88, V.7; HA104, V.4; HA109/110, V.9), „Saat“ (HA54, V. 6;

HA61, V.11, 13; HA72, V.15; HA74, V.8; HA76, V.6; HA114, V.6), „Seele“ (HA43, V.11; HA72,

V.7; HA82, V.8; HA107, V.10), „Stern“ (HA15, V.16; HA23, V.14; HA28, V.13; HA40, V.10;

HA52, V.4; HA67/68, V.11; HA101, V.6; HA105, V.4), „Tempel“ (HA45, V.7) und „Wunder“

(HA46, V.12; HA94, V.14) scheinen so dem Neuen Testament entnommen zu sein. Auch

die zahlreiche Verwendung von Adjektiven wie „ewig“ (HA28, V.15; HA46, V.15; HA77, V.13;

HA84, V.4; HA88, V.13; HA91, V.28; HA95, V.11; HA101, V.6; HA116, V.18), „gläubig“ (HA25,

V.16; HA26, V.2; HA41, V.9; HA85, V.8; HA91, V.12; HA94, V.2) und „heilig“ (HA14, V.8, 20;

HA21, V.12; HA24, V.4; HA28, V.6; HA39, V.7; HA40, V.11; HA41, V.12; HA51, V.13; HA55,

V.3; HA56, V.3; HA58, V.13; HA61, V.10; HA67/68, V.13, 24; HA69 ,V.11; HA70, V.2; HA79,

V.5; HA83, V.12; HA84, V.8; HA85, V.15; HA87, V.5; HA90, V.12; HA91, V.4; HA104, V.10;

HA114, V.17) springt gleich ins Auge. Außerdem rufen Verben wie „sich bekehren“ (HA64,

V.12), „sich bekennen“ (HA76, V.16; HA116, V.9), „erlösen“ (HA74, V.9; HA79, V.10; HA115,

V.14), „glauben“ (HA28, V.16; HA47, V.8; HA80, V.9; HA81, V.23), „jubeln“ (HA22, V.18;

547 Bangert: Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos, 147.

Page 140: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Heinrich Anackers

140

HA42, V.14; HA50, V.15; HA52, V.14; HA74, V.14; HA90, V.6; HA98, V.5; HA100 V.13; HA114,

V.2), „predigen“ (HA67/68, V.8), „segnen“ (HA26, V.12; HA52, V.11; HA60, V.5; HA108, V.8),

„verkünden“ (HA77, V.14; HA79, V.1), „vollenden“ (HA43, V.7; HA83, V.7; HA93, V.8;

HA94, V.8) und „weihen“ (HA17, V.16; HA43, V.7; HA88, V.6; HA95, V.3; HA102, V.12;

HA103, V.10; HA104, V.10; HA106, V.18; HA111, V.20; HA115, V.13) spontane Assoziationen

mit der christlichen Tradition hervor.

Auf das christliche Motiv der Auferstehung verweist Anacker nicht nur mit dem expliziten

Gebrauch des Substantivs „Auferstehn“ (HA14, V.12; HA24, V.7; HA82, V.2; HA88, V.2) und

dem Verb „auferstehen“ (HA50, V.13; HA113/114, V.6, 30), sondern er deutet die österliche

Auferstehungsgeschichte im Gedicht „Deutsche Ostern 1933“ (HA113/114) völlig im

politischen Sinne um. Mit Lexemen wie „Osterglocken“ (V.1, 7, 13, 19, 25) , „Golgatha“ (V.9),

„Kreuz“ (V.10) und „Grab“ (V.21) appelliert Anacker sofort an die christliche

Ostergeschichte. Allerdings spielt nicht Jesus, sondern das fünffach wiederholte

„Deutschland“ (V.5, 9, 15, 21, 29) die Hauptrolle in dieser deutschen „Passionsgeschichte“.

Im ersten Teil des Gedichtes wird die Vergangenheit Deutschlands, nämlich die

Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Kreuzigung Jesu gleichgesetzt, indem Anacker

schreibt „auch Deutschland erlitt sein Golgotha, / und ward ans Kreuz geschlagen“ (V.9-

10). Mit „auch Deutschlands Grab ist heute leer“ (V.21) und „war der Stein auch noch so

schwer“ (V.23) wird sehr offensichtlich auf die Geschehnisse an Ostern verwiesen. Den

biblischen Evangelien zufolge war das Grab Christi am Ostertage leer und der schwere

Stein, der vor dem Grab gelegen hatte, war weggerollt (Lk. 24, 1-4). In Anackers Gedicht

ist vielmehr das Grab Deutschlands leer, „denn Deutschland ist, wie der Heilige Christ, /

leuchtend auferstanden!“ (V.29-30) Die letzten zwei Zeilen sind sogar nicht mehr

metaphorisch zu verstehen; hier wird buchstäblich die Situation Deutschlands mit der

Auferstehung des „Heiligen Christ“ verglichen.

Auch das Weihnachts- und Pfingstfest deutet Anacker in nationalsozialistischem Sinne

um. So beschreibt Anacker das Weihnachtsfest im Gedicht „Frontweihnacht 1931“ (HA23)

als die „Christnachtfeier“ (HA23, V.12) und in „Weihnachtsamnestie“ (HA52) als „Fest des

Herrn“ (HA52, V.2). Der „Befreier“ (HA23, V.14) und so auch die Freiheit des Volkes werden

gemäß der weihnachtlichen Überlieferung von einem „Stern“ (HA23, V.14; HA52, V.4)

angekündigt. Schließlich scheint sich Anacker mit dem Symbol der „Feuerzungen“ (HA115,

V.3) auch dem Pfingstfest anzunähern. Allerdings lassen sich Anackers „Feuerzungen“

nicht auf irgendwelche Apostel nieder, sondern „es spricht das neue Deutschland zur Welt

/ mit hundert feurigen Zungen“ (HA115, V.19-20).

Page 141: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die messianische Stilisierung des „Führers“

141

2.2 Eine Heilsbotschaft in der Krisenzeit – Warten und Hoffen auf

den „Messias“

Die erste Phase in der messianischen Erwartung kennzeichnet sich durch das Warten und

Hoffen auf den Messias. Anacker beschreibt diese „Wartezeit“ als „Kampfzeit“, in der

bereits an die göttliche Sendung des „Führers“ geglaubt wurde.

2.2.1 Die „Wartezeit“ als „Kampfzeit“

Die erste Phase des messianischen Prozesses, nämlich das Warten und Hoffen auf eine

Messiasfigur wird in vier Gedichten thematisiert. Die Gedichte „Dem Führer!“ (HA11/12),

„Durchhalten, zum Endkampf bereit“ (HA38) und „Wir warten!“ (HA50) beschreiben eine

Wartezeit von mehreren Jahren, während das „Am Abend des 5. März“ (HA76) eine

„Wartezeit“ von einigen Stunden darstellt. Dieses letzte Gedicht gehört zum vierten

Themenbereich in Anackers Gedichtband Die Fanfare, nämlich „Die deutsche Erhebung“.

Alle 34 Gedichten aus diesem Themenfeld thematisieren in größerem oder geringerem

Maße die konkreten Verhältnisse der deutschen Machtergreifung im Jahre 1933. In „Am

Abend des 5. März“ (HA76) beschreibt Anacker den Tag der Neuwahlen nach der

Machtergreifung. Diese waren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die letzte Wahl, an

der mehr als eine Partei teilnahm. Denn nach dieser Wahl gewannen die

Nationalsozialisten (NSDAP) und die Konservativen (DNVP) mit einer knappen Mehrheit,

wonach die nationalsozialistische Diktatur endgültig anfangen konnte. Anacker

beschreibt in diesem Gedicht, wie „[d]as fiebrige Warten beginnt / Auf die

siegbedeutenden Zahlen –“ (HA76, V.2-3). Diese Wartezeit dauert jedoch nur eine kurze

Periode, denn in der letzten Strophen klingt es:

Und eh' noch der Morgen dämmert

Eilt die Runde von Land schon zu Land,

Daß Deutschland, wachgehämmert,

Sich zum Werk Adolf Hitlers bekannt! (HA76, V.13-16)

Obwohl die nationalsozialistische Partei als Sieger aus der Wahl hervorging, zeugt die

letzte Strophe des Gedichtes bereits von dem Personenkult um Adolf Hitler.

„Deutschland“ (HA76, V.15) hat nicht die NSDAP gewählt, sondern hat „Sich zum Werk

Adolf Hitlers bekannt!“ (HA76, V.16) Mittels der Kombination des Verbes „sich bekennen“

und des Präpositionalobjekts „zum Werk Adolf Hitlers“ betont Anacker die Hingabe des

Volkes an den „Führer“. Die Konstruktion „sich bekennen zu“ impliziert zudem mehr als

bloß „eine Partei wählen“. Das nicht-reflexive Verb „bekennen“ bezeichnet unter anderem

„Zeugnis für seinen Glauben ablegen“. Mit der reflexiven Verbform „sich bekennen zu“

spricht man sich offen für eine bestimmte Religion aus, z.B. in der Formel „sich zum

Page 142: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Heinrich Anackers

142

Christentum bekennen“.548 Dass sich Deutschland, laut Anacker, zum Werk Adolf Hitlers

bekannt hat, ruft in dem Sinne quasi das Gefühl eines religiösen Bekenntnisses hervor.

Dieses Gefühl wird außerdem durch die Verwendung des Substantivs „Werk“ (HA76, V.16)

verstärkt. Deutschland hat sich nicht zu den Prinzipien, der Ideologie, der Überzeugung

oder dem Parteiprogramm Adolf Hitlers, sondern zu seinem „Werk“ bekannt. Bereits in

Otto Bangerts Gedicht „Adolf Hitler“ aus dem Jahre 1926 war von dessen „heiliges Werk“

die Rede, was eine Assoziation mit den Werken Gottes549 oder vielleicht mit den im

Matthäusevangelium von Jesus beschriebenen Werken der Barmherzigkeit550 hervorruft.

Während in „Am Abend des 5. März“ (HA76) nur einige Stunden auf die Wahlergebnisse

gewartet wurde, spielen die drei anderen Gedichte auf eine viel längere und schwierigere

Wartezeit an. Im Eröffnungsgedicht des Gedichtbandes „Dem Führer!“ (HA11/12) wird die

Dauer der Wartezeit sogar sehr konkret bestimmt:

Wir kämpften erbittert zwölf Jahre lang;

Wir lernten das schweigende Warten … (HA11/12, V.1-2)

Wegen des dem Gedicht hinzugefügten Verfassungsdatums – 31. Januar 1933 – und des

Datums der Erstausgabe des Gedichtbandes im Jahre 1933 kann man ableiten, dass die

Wartezeit im Jahre 1921, als Hitler zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt wurde,

angefangen hat. Dieses „Warten“ (HA11/12, V.2) wurde laut des ersten Verses von Kampf

und Erbitterung gekennzeichnet. Das anaphorische „wir“ am Versanfang betont die

Tatsache, dass es das Volk sei, das auf einen Retter oder Erlöser wartete. Mit der parallelen

Konstruktion am Ende des Gedichtes schließt sich der Zirkel und wird die Hingabe zu

Adolf Hitlers erkennbar:

Wir schwören es dir am heutigen Tag:

Adolf Hitler, wir halten dir Treue! (HA11/12, V.29-30)

Mit dem Wort „Sehnsucht“ (HA11/12, V.21), die Adolf Hitler entgegenzukommen scheint,

steigert Anacker die emotionale Verbundenheit des Volkes: „Die Sehnsucht der

Deutschen, du machtest sie wahr“ (HA11/12, V.21). Mittels der Verwendung von

Substantiven wie „Werk“ (HA76, V.16) und „Sehnsucht“ (HA11/12, V.21) in Zusammenhang

mit dem Namen des „Führers“ wird Adolf Hitler äußerst positive und sogar quasi-religiöse

Eigenschaften zugeschrieben.

548 Vgl. „bekennen“ in: Duden.de. ORL: http://www.duden.de/rechtschreibung/bekennen [02.09.2016]. 549 Mit den Werken Gottes sind im Alten Testament bestimmte Taten Gottes in Bezug auf die Schöpfung und die Geschichte gemeint. Vgl. Bührer, Walter, „Werke Gottes“. ORL: https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/34768/ Nov. 2014. [Letzter Zugriff: 05.09.2016]. 550 Mt 25, 34-46.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

143

In den letzten zwei Gedichten wird keine konkrete Zeitspanne des Wartens beschrieben.

Genauso wie das „fiebrige Warten“ (HA76, V.2) wird auch in „Durchhalten, zum Endkampf

bereit“ (HA38) die Wartezeit als eine schwere und nervenauftreibende Periode

beschrieben:

Ich weiß, Kameraden, wie schwer das ist,

Dies Warten, dies tatlose Warten;

Ich weiß, wie verzehrend am Herzen es frißt,

Dies Warten, dies Warten, dies Warten … (HA38, V.1-4)

Das lyrische Ich spricht den „Kameraden“ (HA38, V.1) zu und scheint mit ihnen die

frustrierten Gefühle zu teilen. Das Warten scheint sinnlos weil „tatlos“ (HA38, V.2) zu sein.

Die Geminatio von „Dies Warten“ (HA38, V.4) im vierten Vers betont die Passivität und

die daraus hervorgehende Frustration. In der zweiten Strophe wird hinzugefügt, dass die

Kameraden nicht nur „tatlos“, sondern auch „voll brennender Ungeduld“ (HA38, V.8)

warten. Das lyrische Ich fordert sie jedoch dreimal auf, „des Führers Gebot“ (HA38, V.6, 13,

20) zu befolgen. Mittels Anführungszeichen setzt Anacker eine Strategie der

Perspektivierung ein und lässt er den „Führer“ sein „Gebot“ selber wiederholen:

„‘Durchhalten – zum Endkampf bereit!‘“ (HA38, V.7, 14, 21).

Im letzten Gedicht Wir warten! (HA50) werden die Kameraden nicht aufgefordert,

während der Wartezeit dem Gebot des „Führers“ zu folgen, sondern sie warten auf sein

konkretes „Signal“ (HA50, V.1):

Wir alle warten auf das Signal!

Wir warten, wir warten, (HA50, V.1-2)

Auch hier springt der anaphorische Gebrauch des Personalpronomens „wir“ ins Auge und

im zweiten Vers wird mit einer Geminatio von „wir warten“ erneut die Passivität betont.

Auf welches „Signal“ gewartet wird, wird in der zweiten Strophe weiter expliziert:

Wir harren auf unseres Führers Ruf!

Wir harren, wir harren,

Wie Pferde, die treu ihrem Schlachtroßberuf

Mit ungeduldig schlagendem Huf

In klirrenden Steinen schon scharren. (HA50, V.6-10)

Mittels der parallelen Konstruktion wird die Frustration des Wartens ein zweites Mal

hervorgehoben. Genauso wie in „Durchhalten, zum Endkampf bereit“ (HA38) wird

„ungeduldig“ (HA50, V.9) gewartet. Diese Ungeduld wird in diesem Gedicht jedoch nicht

direkt auf die Wartenden bezogen, sondern mittels eines Vergleichs mit Pferden, die „mit

ungeduldig schlagendem Huf“ (HA50, V.9) darauf warten, ihre Aufgabe zu vollbringen.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

144

2.2.2 Adolf Hitler als der gottgesandte Retter

Erwartet wird also Adolf Hitler, der das Volk nicht nur aus der politischen Krisensituation

der Weimarer Republik führen soll, sondern auch selber als ein Symbol der Freiheit und

somit als Retter und Befreier nach einer langen Periode von Kampf und Leid dargestellt

wird. Die Zeit des Aufstiegs der NSDAP – seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zur

„Machtergreifung“ im Jahre 1933 – wurde im „Dritten Reich“ als „Kampfzeit“ bezeichnet,

die aus nationalsozialistischer Perspektive von Terror und Unterdrückung gekennzeichnet

wurde.551 Auch Anacker schildert in seinen Gedichten die jüngste Vergangenheit des

damaligen Deutschlands als eine schwere und leiderfüllte Periode. Im Eröffnungsgedicht

lässt Anacker die „Kampfzeit“ im Jahre 1921, als Hitler zum Parteivorsitzenden der NSDAP

gewählt wurde, anfangen. Bereits in der ersten Strophe des Eröffnungsgedichtes „Dem

Führer!“ (HA11/12) klingt es, „Wir kämpften erbittert zwölf Jahre lang“ (HA11/12, V.1) und

dieser „Weg“ wird als „ein einziger Opfergang“ (HA11/12, V.3) beschrieben. Im Gedicht

„Preußens Erhebung“ (HA67/68) dichtet Anacker über die „Knechtschaft“ (HA67/68,

V.26) und „die blutigen Ketten / Des teuflischen Paktes von Versailles“ (HA67/68, V.27-

28). Anacker übernimmt in zahlreichen Gedichten das literarische Symbol der „Kette“ als

Symbol der Knechtschaft und Unterdrückung 552, oft als Anspielung auf die kommende

Befreiung und Freiheit. Das Gedicht „Die Fahnen verboten“ (HA14) ruft mittels des

Kettensymbols zu Protest auf: „Zerbrechet die Ketten!“ (HA14, V.21). In „Gegen Versailles!“

(HA18) lockt die Freiheit dagegen schon, denn „Wir trugen vierzehn Jahr lang das Joch - /

Nur Ketten noch sind zu verlieren …“ (HA18, V.17-18).

Das Ende dieser Knechtschaft und die Freiheitsprophezeiung wird immer im

Zusammenhang mit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Partei im Allgemeinen

und des „Führers“ im Besonderen verstanden. So schreibt Anacker in Preußens Erhebung

(HA67/68) „Im Hakenkreuze nur naht uns das Heil“ (HA67/68, V.29), wobei er in dem

Symbol des Hakenkreuz die Hoffnung auf Errettung sieht. Die letzte Strophe dieses

Gedichtes erklärt schließlich sehr explizit, dass man „mit Hitler“ (HA67/68, V.34) auf ein

„Deutschland der Freiheit und Ehre“ (HA67/68, V.35) hoffen darf:

Die Fahne weht, die den Weg uns weist;

Aus dem Boden schon wachsen die Heere.

Der lange geknebelte Adler kreist -

Mit Hitler im alten Preußengeist

Für ein Deutschland der Freiheit und Ehre! (HA67/68, V.31-35)

Indem Hitler an vielen Stellen explizit mit einem Freiheitsgedanken assoziiert wird, wird

er als der lang erhoffte Retter des Vaterlandes dargestellt. So heißt es in „Wir alle tragen

551 Vgl. „Kampfzeit“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 347. 552 Vgl. „Kette“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 180.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

145

im Herzen dein Bild“ (HA107) im letzten Vers: „Heil Hitler, dem Führer zu Freiheit und

Brot!“ (HA107, V.14). Das Gedicht „München grüßt Adolf Hitler“ (HA85) wiederholt diese

Formel und deutet Hitler zudem explizit als Retter des Vaterlandes an: „Adolf Hitler, dem

Führer zu Freiheit und Brot! / Dem Retter des Vaterlandes!“ (HA85, V.17-18) Schon im

zweiten Gedicht seines Gedichtbandes „Die Fahnen verboten“ (HA14) hat Anacker den

„Führer“ explizit zum Retter erklärt. In der ersten Strophe beschreibt Anacker die

Weimarer Zeit als ein kommunistisches und jüdisches Regime: „Es herrscht der Haß der

Roten, / Es herrscht der Juden Neid“ (HA14, V.3-4). In den folgenden Strophen klingt aber

schon die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, weil Deutschland „aufsteigt aus Schmach

und Trümmern“ (HA14, V.19) als „Das heil'ge Dritte Reich“ (HA14, V.20). In der letzten

Strophe wird Hitler schließlich als Retter des Vaterlandes aufgeführt:

Nur Hitler wird uns retten!

Nur Hitler macht uns frei! (HA14, V.23-24)

Der anaphorische Gebrauch von „Nur Hitler“ (HA14, V.23-24) betont, dass „nur“ der

„Führer“ dem Volk und dem Vaterland Errettung und Freiheit bringen kann. Die

Sakralisierung der Führerfigur als Retter wird zudem dadurch gesteigert, dass die

„Freiheit“ (HA14, V.8) in der zweiten Strophe als ein „heil’ges Gut“ (HA14, V.8) dargestellt

wird. Außerdem scheint das Volk nicht einfach die Gründung eines neuen deutschen

Reiches vor Augen zu haben, sondern es möchte „für Deutschlands Auferstehn“ (HA14,

V.12) an Hitlers Seite kämpfen. Deutschland werde dann unter Führung des neuen Messias

als „das heil’ge Dritte Reich“ (HA14, V20) auferstehen.

2.3 Eine gläubige und gehorsame Bewegung

In der zweiten Phase der messianischen Bewegung ist der lang ersehnte Messias endlich

da. Das Vertrauen und der feste Glaube der Bewegung kommt in einem bedingungslosen

Gehorsam zum Ausdruck. Außerdem glaubt die Bewegung fest daran, dass dieser Messias

tatsächlich über eine göttliche Natur verfügt und deswegen als Heilsbringer und Erlöser

zu betrachten ist.

2.3.1 Die bedingungslose Nachfolge der Bewegung

Das angebliche Vertrauen zu dem „Führer“ als Retter des Volkes und Gründer des neuen

deutschen Reiches spricht aus den zahlreichen Ausdrücken der Treue zum „Führer“ in

Anackers Gedichten, die die Nachfolge des Volkes implizieren. Das Motiv der Treue zum

„Führer“ schlägt sich sowohl in wörtlichen Treueschwüren als auch in der Beschreibung

der körperlichen und sentimentalen Treueausdrücke nieder. So endet das

Eröffnungsgedicht „Dem Führer!“ (HA11/12) bereits mit einem wörtlichen Treueschwur:

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Am Beispiel Heinrich Anackers

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Wir schwören es dir am heutigen Tag:

Adolf Hitler, wir halten dir Treue! (HA11/12, V.29-30)

In „Potsdam I“ (HA93) kombiniert Anacker den wörtlichen Treueschwur mit der

Beschreibung des Emporhebens der Hand, was als eine körperliche Darstellung der Treue

zum „Führer“ zu verstehen wäre:

Da zuckt er heiß durch jedes deutsche Herz -

Empor die Hand, daß sie den Treuschwur leiste:

„Mit Hindenburg und Hitler sonnenwärts,

In Potsdams zeitlos-jungem Heldengeiste!“ (HA93, V.9-12)

Die Hochhebung der Hand zum „Deutschen Gruß“ oder auch „Hitlergruß“ kam schon in

den 1920er Jahren auf und wurde im „Dritten Reich“ als offizielles Grußritual eingeführt,

meistens in Kombination mit den Worten „Heil Hitler“. Das Nicht-Hochheben der Hand

konnte den Verdacht auslösen, der NSDAP und seinem Führer ablehnend

gegenüberzustehen.553 Auch den wörtlichen „Heil Hitler“-Gruß könnte man in gewissem

Sinne als einen Treueschwur interpretieren. Denn, die Verwendung abweichender

Grußformeln wurde als Provokation betrachtet.554 Anacker nimmt diese Grußformel in

verschiedenen Gedichten auf. So endet das Gedicht „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“

(HA107) mit „Heil Hitler, dem Führer zu Freiheit und Brot!“ (HA107, V.14). „In Kameraden,

Tritt gefaßt!“ (HA39) wird Adolf Hitler nicht namentlich genannt, die Heil-Formel wird

jedoch mit seinem Führertitel kombiniert:

Kameraden, Hand empor!

Dröhnen soll’s wie Donnerchor:

Heil dem Führer! Heil den Fahnen, (HA39, V.11-13)

Nicht nur wird die wörtliche Heil-Formel mit dem körperlichen Treueausdruck des

Hitlergrußes verbunden, die Bedeutung des Treueschwurs wird zudem mit einer Hyperbel

intensiviert, denn er soll „dröhnen […] wie Donnerchor“ (HA39, V.12). Dass der

Treueschwur quasi zu einer religiösen Handlung wird, verdeutlicht das Gedicht „Steig‘ auf,

du Jahr der deutschen Schicksalswende!“ (HA24): „Zum heil'gen Schwur erheben wir die

Hände“ (HA24, V.4). Mit dem Adjektiv „heilig“ charakterisiert Anacker den Treueschwur

anhand einer prädikativen Strategie zu etwas Übermenschlichem.

Auch in „Durchs Brandenburger Tor!“ (HA69) wird der „Schwur“ (HA69, V.12) von der

Hochhebung der Hand unterstützt. Außerdem verwendet Anacker hier – genauso wie in

553 Vgl. „Deutscher Gruß“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 141-142. 554 Vgl. „Heil Hitler“ in ebd., 301.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

147

„Potsdam I“ (HA93) – Anführungszeichen, um die Treue des Volkes dem „Führer“

gegenüber angeblich wortwörtlich zu zitieren.

Und wieder schwellen Ruf und Lied zum urgewalt'gen Chor:

Zum Führer heben wir die Hand in heißem Glück empor.

Oh, wie da Aug' in Auge brennt, verklärt von heil'gem Licht!

Und jeder Blick ist wie ein Schwur: „Wir stehn in Treu und Pflicht!

Wir kennen ein Gelübde nur und einen Willen bloß:

Dir, Adolf Hitler, folgen wir, bis Deutschland frei und groß!“ (HA69, V.9-14)

Mit einer Hyperbel hebt Anacker hervor, dass das Volk „ein Gelübde nur und einen Willen

bloß“ (HA69, V.13) kennt, und zwar dass man „Adolf Hitler“ „folgen“ wird, „bis

Deutschland frei und groß“ ist (HA69, V.14). Der „Führer“ wird also erneut explizit mit

dem Freiheitsgedanken verbunden und in dem Sinne implizit als Retter des Volkes

charakterisiert. Dieser Treueschwur wird – nebst der Hochhebung der Hand – außerdem

durch weitere körperliche Zeichen intensiviert. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit

einem „Blick“ (HA69, V.12) lässt sich die Treue zum „Führer“ erkennen. Die Treue zum

„Führer“ sei also nicht nur in konkreten Worten zu fassen, sondern findet seinen Ausdruck

auch in sentimentalen Formulierungen. So schreibt Anacker in „Heraus zu neuem Kampf“

(HA31), „Der Führer kann sich auf uns verlassen“ (HA31, V.13) und im Gedicht „Am Abend

des 5. März“ (HA76) wird mittels der schon oben erwähnten Formel „sich bekennen zu“

ein religiöses Gefühl erweckt. Dem „Führer“ wird nicht nur aus rationalen Gründen

gefolgt, er nimmt sogar einen besonderen Platz „im Herzen“ (HA107, V.1) seiner Anhänger

ein, wie in „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“ (HA107). In diesem Gedicht wird zudem

die Bedingungslosigkeit der Nachfolge hervorgehoben, denn „Wir folgten dir blind und in

stürmischem Drang“ (HA107, V.11). Dass mit „dir“ (HA107, V.11) zweifelsohne der „Führer“

gemeint sein sollte, wird sicherheitshalber im letzten Vers dieses Gedichtes mit der Formel

„Heil Hitler“ (HA107, V.14) noch mal expliziert. Auch im Gedicht „Treue!“ (HA27) wird das

Symbol des Herzens noch einmal als intensivierende Strategie eingesetzt:

Immer schlägt das Herz uns gleich

Für den Führer, für das Reich. (HA27, V. 7-8)

Seit dem Mittelalter wurde das Herz sowohl im profanen als auch im religiösen Sinne

immer mehr zum Symbol der Liebe, indem es als ein Knoten, durch den Mensch und

Mensch oder Gottheit miteinander verbunden sind, betrachtet wurde.555

555 Vgl. „Herz“ in: Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 153.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

148

2.3.2 Der Glaube an die göttliche Natur des „Führers“

Neben der Tatsache, dass Hitler an mehreren Stellen explizit als „Retter“ oder „Befreier“

des Volkes dargestellt wird, scheint der „Führer“ auch übermenschliche, vielleicht sogar

gottähnliche Qualitäten zu besitzen. So waren es die Kinder und die Tiere, die im zur

Einführung angeführten Gedicht „Adolf Hitler als Mensch“ (HA108) das geglaubte

übermenschliche Wirken des „Führers“ symbolisieren. Denn seit jeher gelten Kinder und

Tiere „als in ihrem unbefangenen Urteil untauschbar“ und sie werden „in ihrem Verhalten

als Indikatoren übernatürlicher Kräfte angesehen“.556

Die Kinder künden’s in strahlendem Glück,

Die irgendwo ihm begegnet;

Und Tiere haben mit stummen Blick

Sein stilles Wohltun gesegnet. (HA108, V.5-8)

Das stille „Wohltun“ (HA108, V.8) des „Führers“ wird von den Kindern „gekündet“ und von

den Tieren sogar „gesegnet“, weswegen die religiöse oder übermenschliche Eigenschaft des

„Führers“ noch einmal explizit betont wird.

Weil ihr eine besondere Wirkung zugeschrieben wird, interpretiert Schmidt auch die

Stimme des „Führers“ innerhalb des übermenschlichen Wirkens des Führers.557 Adolf

Hitler vermittelt seine ideologische Überzeugung nicht nur sachgerecht und rational,

seine Botschaft wird in „Und ihr habt doch gesiegt!“ (HA86) als „wundervolles Wort“

(HA86, V.1) charakterisiert, wobei die Alliteration des W das Wundervolle besonders in

den Vordergrund rückt. Anhand der Stimme des „Führers“ thematisiert Anacker

außerdem die geglaubte Allgegenwart des „Führers“ als messianische Charakteristik.

Bereits im Eröffnungsgedicht „Dem Führer!“ (HA11/12) beschreibt Anacker, wie seine

„Stimme“ „klang im ewigen Chor“ (HA11/12, V.9). Indem Anacker die Stimme in „Adolf

Hitler im Rundfunk“ (HA83) als „überall hindringend“ (vgl. HA83, V.3) und als ein

„Beschwören“ (HA83, V.4) darstellt, betont er die Allgegenwart und den

übermenschlichen Aspekt der Stimme:

Adolf Hitler im Rundfunk

Einst mußten wir weit durch die Gaue ziehn,

um nur einmal den Führer zu hören.

Nun dringt seine Stimme überall hin,

Aufrüttelnd in heißem Beschwören.

556 Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“, 109. 557 Ebd.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

149

5

10

Von Deutschland spricht er, von Deutschland allein,

Von Zielen, die ferne schienen;

Und er mahnt uns, Vollender des Werkes zu sein

In friderizianischem Dienen.

Millionen hören ihn, ernst und still,

In tiefergriffenem Lauschen -

Und es geht durch das Volk, das frei sein will,

Wie ein heiliges Frühlingsrauschen! (HA83)

Besonders die erste Strophe beschreibt die angebliche Allgegenwart der Stimme des

„Führers“. Während man sich in der Vergangenheit – „Einst“ (HA83, V.1) – besondere

Mühe geben musste, um den „Führer“ hören zu können, dringt seine Stimme „Nun“

(HA83, V.3) überall hin. In der zweiten Strophe kommen die drei Aspekte des

Nationalsozialismus als einer messianischen Bewegung zusammen. Nicht nur der

Botschafter, dessen Stimme mit Wörtern wie „aufrüttelnd“ und „Beschwören“ (HA83, V.4)

sogar quasi-magische Qualitäten zugeschrieben wird, sondern auch die Botschaft und die

Bewegung seien von Bedeutung. Der „Führer“ spricht „von Deutschland allein“ (HA83, V.5)

und die Bedeutung von „Deutschland“ wird mittels der Wiederholung betont. Außerdem

ruft der „Führer“ seine Anhänger dazu auf, „Vollender des Werkes zu sein“ (HA83, V.7),

was ihre aktive Teilnahme an die Gründung, oder – wenn man das Gedicht „Die Fahnen

verboten“ (HA14) in Erinnerung hat – auch die „Auferstehung“ des „Dritten Reiches“

impliziert. Die dritte Strophe intensiviert die Allgegenwart der Stimme mittels einer

Hyperbel, denn nicht nur die Leute in unmittelbarer Nähe sondern „Millionen“ (HA83,

V.9) hören sie. In „Steig’ auf, du Jahr der deutschen Schicksalswende!“ (HA24) benutzt

Anacker eine ähnliche intensivierende Strategie, indem er hyperbolisch behauptet, der

ganze „Erdkreis hört auf unsres Führers Worte“ (HA24, V.14). Die Stimme scheint

außerdem einen gewissen Effekt auf die Zuhörer zu haben, denn sie scheinen

„tiefergriffen“ (HA83, V.10) von seiner Botschaft zu sein. Genauso wie in der ersten Strophe

wird der Stimme in der letzten Zeile quasimagische Eigenschaften zugeschrieben, indem

sie „wie ein heiliges Frühlingsrauschen“ (HA83, V.12) dargestellt wird.558

In „Sieg der Treue“ (HA89) wird Hitlers Botschaft nicht nur als „wundervoll“ oder als eine

frische Brise beschrieben, sondern Anacker macht einen expliziten Vergleich mit einem

„zündenden Wetterstrahl“ (HA89, V.4):

558 Dieses Gedicht veranschaulicht noch einmal den ambivalenten Charakter des Nationalsozialismus als Produkt der Moderne. Auf der einen Seiten wird die Allgegenwart und in dem Sinne die übermenschliche – quasi göttliche – Natur der Stimme hervorgehoben, auf der anderen Seite verrät der Titel, dass Hitlers Stimme das Volk einfach über den „Rundfunk“, den sogenannten „Volksempfänger“, und in dem Sinne einfach wegen technischer Innovation im „Dritten Reich“ erreicht.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

150

Vor dreizehn Jahren, in diesem Saal,

Begann das große Genesen:

Hier warf der Führer zum erstenmal

Wie einen zündenden Wetterstrahl

Ins Volk seine ehernen Thesen. (HA89, V.3-5)

Der Blitz (und Donner) wird in vielen Kulturen als Symbol der Präsenz und Macht eines

Gottes verstanden. So ist ein Blitzbündel in antiker Mythologie das Attribut des

Göttervaters Zeus oder Jupiter.559 Auch die Wiederkehr Jesu Christi wird im

Lukasevangelium mit einem Blitz assoziiert: „Denn wie der Blitz oben vom Himmel blitzt

und leuchtet über alles, was unter dem Himmel ist, also wird des Menschen Sohn an

seinem Tage sein“ (Lk 17, 24). Im obigen Gedicht scheint Hitler seine These bereits „vor

dreizehn Jahren“ (HA89, V.1) und genauso wie Zeus als ein Blitzbündel ins Volk zu werfen.

2.3.3 Der „Führer“ als Heilsbringer und Erlöser

Das Ende der Kampfzeit und die Freiheitsprophezeiung wird immer im Zusammenhang

mit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Partei im Allgemeinen und des „Führers“

im Besonderen verstanden. Wie bereits angedeutet, benutzt Anacker in „Preußens

Erhebung“ (HA67/68) das Symbol des Hakenkreuzes als ein Symbol der Hoffnung auf

Errettung oder auch ein Symbol des Heils. In der Mehrzahl der Gedichte fungiert der

„Führer“ selbst aber als ein Symbol der Hoffnung, indem er als Retter oder Befreier

dargestellt wird. Besonders in Verbindung mit dem Verb „erlösen“ bekommt der „Führer“

eine quasimessianische Aura, wie in „Nun schmückt die Fahne mit jungem Grün!“ (HA115):

Nun dürfen wir endlich nach dunkler Zeit

Uns wieder der Zukunft freuen,

Und dürfen die Fahnen, den Toten geweiht,

Durch den Führer erlöst, durch den Führer befreit,

Bekränzen mit pfingstlichen Maien (HA115, V.11-15)

Neben dem schon genannten Verb „befreien“ benutzt Anacker hier das sehr religiös

konnotierte Verb „erlösen“ in Verbindung mit dem Fahnensymbol.560 Auch im Gedicht

„Die erwachte Nation“ (HA79) greift Anacker das Verb „erlösen“ auf, obwohl in diesem

Gedicht undeutlich bleibt, was „des Führers erlösende Tat“ (HA79, V.10) genau bedeutet.

Obwohl Anacker nirgendwo das Substantiv „Erlöser“ benutzt, meint Knoche, dass das

559 Vgl. „Gewitter / Blitz und Donner“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 129. 560 Dass die jährliche Weihung der Nationalfahnen durch Hitlers Berührung mit der sogenannten „Blutfahne“ als ein quasireligiöse Handlung – eine „Konsekration“ der Fahnen – interpretiert werden könnte, wird im Rahmen der Analyse von „Volk“ in Herybert Menzels Gedichtband näher beleuchtet.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

151

Wort „Erlöser“ schon ohne Worte hervorgerufen wird, weil es seiner Meinung nach

unbestreitbar sei, dass das Adjektiv „erlöst“ religiös konnotiert ist.561

Auch die Heil-Formel, die Anacker in Gedichten wie „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“

(HA107) und „Kameraden, Tritt gefaßt!“ (HA39) benutzt, wäre mit der messianischen

Charakterisierung zu verbinden. Obwohl die erste Assoziation, die „Heil“ heutzutage im

Gedächtnis der meisten Deutschen auslösen dürfte, der sogenannte ‚Deutsche Gruß‘ ist,

kam das Heil aber nicht erst durch die Nationalsozialisten in die deutsche Geschichte; es

habe durch sie bloß eine tiefgreifende Wandlung erfahren. In ihrem Beitrag zu „Heil“ als

deutschem Erinnerungsort beschreibt Sabine Behrenbeck, dass die NSDAP ihre

Grußpraxis – genauso wie in so vielen anderen Aspekten ihrer Propaganda – nicht neu

erfunden hat. Der Heilsgruß wurde schon viel länger in Sportvereinigungen (wie das ‚Gut

Heil‘ in der Turner-Bewegung von Friedrich Ludwig Jahn) oder als Trinkspruch unter den

Studenten benutzt. Auch viele völkische oder patriotische Bewegungen haben den

Heilsgruß übernommen und in Österreich wurde er sogar zum vaterländischen Gruß der

Alldeutschen. Behrenbeck behauptet, dass es in den frühen Partei- oder SA-

Versammlungen der NSDAP noch keine eigene Grußformel gab, die Anhänger

antworteten nach einer Rede jedoch häufig mit beifälligen Heilrufen. Seit Ende 1922 habe

Adolf Hitler seine Reden vielfach mit Formeln wie ‚Heil euch!‘ oder ‚Heil Deutschland‘

abgeschlossen. Damit stand die Partei in der Tradition anderer völkischer oder

vaterländischer Kreise. Hieraus entwickelte sich dann allmählich der Hitler-Gruß, der zum

einen die Bedeutung eines ‚Errette uns, Hitler!‘ und zum anderen den Wunsch nach einem

gesunden und starken „Führer“ zum Ausdruck brachte. Der Gruß soll aber in jedem Fall

Bekenntnischarakter getragen haben.562 Allerdings geht die Idee des Heils auch auf eine

christliche Tradition zurück.

Im Neuen Testament ist die Verwirklichung von Heil ausschließlich an Jesus Christus

gebunden und bezieht sich auf alle Formen von physischer, psychischer, sozialer und

spiritueller Not. Jesus Christus wird als Mitte einer Gesamtgeschichte verstanden, die von

der Erschaffung der Welt bis zu ihrer Vollendung im Reich Gottes verläuft. Das Reich Gottes

bedeutet die Befreiung von Krankheit und Leid, die Errettung aus unmittelbarer

Lebensgefahr, die Versöhnung mit Gott, die Auferstehung und das ewige Leben.563

Mit dem Hitler-Gruß wird das ‚Heil‘ aber nicht mit Jesus, sondern mit dem „Führer“

verbunden und wird dem „Führer“ erneut eine messianische Eigenschaft zugeschrieben.

561 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 20-21. 562 Vgl. Sabine Behrenbeck: Heil. In: Vandenhoeck & Ruprecht. Hg. v. Étienne François und Hagen Schulze. München: Beck 2005, 310-314. 563 Ebd., 316.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

152

2.4 Der „Führer“ nach dem Vorbild Christi

Bereits in der Nachahmung der biblischen Sprache hat sich gezeigt, wie ausführlich

Anacker aus dem christlich-religiösen Lexikon schöpft. Er beschränkt sich aber nicht auf

die reine Übernahme des Vokabulars. In seiner messianischen Darstellungen beschreibt

er Adolf Hitler wiederholt nach dem Vorbild Jesu Christi, wobei sich die Bibel – und

besonders das Neue Testament – als eine wichtige intertextuelle Quelle erweist.

2.4.1 Der lehrende und leidende „Messias“

Du lehrtest uns niederknieen [sic]

Vor des Vaterlandes Hochaltar, (HA11/12, V.22-23)

Bereits im Eröffnungsgedicht wird Adolf Hitler genauso wie Jesus Christus als „Lehrer“

charakterisiert. Die kniende Haltung ist in erster Linie aus religiösen Kontexten als

Gebetshaltung und so auch als Symbol der Über- oder Hingabe bekannt. Hitler scheint

seinen Nachfolgern also einen sehr konkreten und körperlichen Ausdruck des Gebets

beizubringen. Damit folgt er dem Beispiel Jesu Christi, weil auch Jesus, den Evangelisten

Matthäus und Lukas zufolge, seine Jünger zu beten gelehrt hat.564 Das Vaterunser wird

heutzutage immer noch als zentrales Gebet in allen unterschiedlichen christlichen

Strömungen gebetet.

Im selben Gedicht wird auch der leidende Aspekt des Messianismus thematisiert. In der

ersten Strophe wird die Zeit vor dem Aufkommen Hitlers als „ein einziger Opfergang“

(HA11/12 V.3) beschrieben; eine Zeit, in der gekämpft und schweigend auf ihn gewartet

wurde (vgl. HA11/12, V.1-2). Auch im Gedicht „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“ (HA107)

wird diese Periode als eine leiderfüllte Zeit dargestellt, denn „Du gingst uns voran in

leidvollen Jahren“ (HA107, V.3). Die Analogie mit dem leidenden Christus wird aber nur in

„Dem Führer!“ (HA11/12) weiter expliziert:

Du aber lebtest das Schwerste uns vor;

Du warest der Wachste von Allen:

Du rissest die Müdegewordnen empor – (HA11/12, V.6-8)

Diese Beschreibung des Führers erinnert an die neutestamentliche Geschichte von Jesus

im Garten Gethsemane. Diese Geschichte wird von drei Evangelisten erzählt: Markus,

Matthäus und Lukas. Sie erzählen, wie Jesus nach dem letzten Abendmahl mit seinen

Jüngern zum Gebet in den Garten Gethsemane geht. Jesus weiß, welche Schmerzen und

schließlich welcher Tod ihn in den nächsten Tagen erwartet – sein letzter ‚Opfergang‘

sozusagen – und bekommt Angst. Er bittet seine Jünger mit ihm zu beten, sie schlafen aber

564 Vgl. Mt 6, 9-13 und Lk 11, 1-4.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

153

alle ein. Bei Markus und Matthäus findet Jesus seine Jünger nicht weniger als dreimal

schlafend und bittet sie, mit ihm zu wachen und zu beten. (Mk 14, 32-42; Mt 26, 36-46; Lk

22, 40-46) Mit den Wörtern „der Wachste“ (HA11/12, V. 7) und „die Müdegewordnen“

(HA11/12, V. 8) scheint Anacker indirekt auf diese Geschichte anzuspielen. Auch die

dreifache Wiederholung – und so der anaphorische Gebrauch – des Personalpronomens

„du“ scheint diese These zu unterstützen.

2.4.2 Der Messias als Bauherr

In der alttestamentlichen Prophezeiungen wird der Messias als Bauherr des Tempels

charakterisiert. Im zweiten Buch des Propheten Samuel liest man: „Der soll meinem

Namen ein Haus bauen, und ich will den Stuhl seines Königreichs bestätigen ewiglich“

(2Sam, 7, 13). Der Prophet Sacharia schreibt zudem, „und sprich zu ihm: So spricht der

HERR Zebaoth: Siehe, es ist ein Mann, der heißt Zemach; denn unter ihm wird's wachsen

und er wird bauen des HERRN Tempel“ (Sach 6, 12). Obwohl Jesus keinen imposanten

Tempel gebaut hat, fügt er sich in sein Schicksal als Messias, indem er gesagt haben soll:

„Ich will den Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen

anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht sei“ (Mk 14, 58). Obwohl Adolf Hitler nicht

als Bauherr eines Tempels dargestellt wird, spielt Anacker in seinem Eröffnungsgedicht

„Dem Führer!“ (HA11/12) schon darauf an. Nicht nur lege Adolf Hitler „den Grundstein zum

Dritten Reich“ (HA11/12, V.16), er lehre das Volk auch niederknien „Vor des Vaterlandes

Hochaltar“ HA11/12, V.23). Gerade die Vorstellung eines „Hochaltars“ ruft die Assoziation

mit einem Tempelgebäude hervor. In „Das Volk hat gesprochen“ (HA77) fehlt die Tempel-

Assoziation, Anacker charakterisiert den „Führer“ aber mittels einer Apposition hinter

seinem Namen schon als „Bauherr des Reiches“ (HA77, V15).

Dann aber beginnt mit dem mächtigen Bau,

Und er finde auf Erden kein Gleiches …

Laßt ragen die Türme ins ewige Blau,

So wie es verkündet in herrlicher Schau

Adolf Hitler - der Bauherr des Reiches! (HA77, V.11-15)

Dieses „Reich“, das beispielsweise in „Die Fahnen verboten“ (HA14) explizit als „heilig“

(HA14, V.20) gekennzeichnet wird, wird auch in diesem Gedicht auf eine sakrale Ebene

gehoben, indem es „auf Erden kein Gleiches“ (HA77, V.12) finde. So erscheint nicht nur das

„Reich“ quasi als ein „Reich Gottes“, sondern der „Führer“ selbst erscheint in seiner

Tätigkeit als „Bauherr“ außerdem als übermenschlich.

2.4.3 Der Messias und das Symbol des Brots und des Lichts

Neben den wörtlichen Treueschwüren und der Beschreibung des körperlichen

Hitlergrußes wird das Vertrauen oder der Glaube an den „Führer“ auch in anderen

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Am Beispiel Heinrich Anackers

154

Kontexten zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel in Verbindung mit dem Symbol des

Lichts oder der Sonne. In „Wintersonnwend 1931“ (HA21) werden der „Führer“ und das

nationalsozialistische Hakenkreuzsymbol mittels der anaphorischen Verwendung von

„Aufwärts“ mit dem Sonnenzeichen assoziiert:

Aufwärts mit Hitler und Hakenkreuz!

Aufwärts im Zeichen der Sonne! (HA21, V.14-15)

Diese Aufwärtsbewegung wird mit der Emporhebung der Hand zum Hitlergruß auch

körperlich dargestellt. In „Potsdam I“ (HA93) wird der Hitlergruß nicht mit der üblichen

Heilformel verbunden, sondern mit einem Ausruf, in dem die Aufwärtsbewegung in

Richtung der Sonne mit dem einfachen Wort „sonnenwärts“ ausgedrückt wird:

Da zuckt er heiß durch jedes deutsche Herz -

Empor die Hand, daß sie den Treuschwur leiste:

„Mit Hindenburg und Hitler sonnenwärts,

In Potsdams zeitlos-jungem Heldengeiste!“ (HA93, V.9-12)

Klaus Vondung behauptet, dass die Nationalsozialisten die Sonnensymbolik den

kosmologischen Sonnenmythen entnommen haben. In diesen Mythen erscheine die

Sonne als Symbol des Guten, des Lebens und der Kraft, während die Finsternis die Welt

des Bösen und des Todes vertritt. Der Nationalsozialismus übernahm die Sonnensymbolik

für seine Gut-Böse-Polarisierung, indem er sich selbst mit der Welt des Lichtes

identifizierte und seine Gegner der Welt der Finsternis zuordnete.565

Auch das Lichtsymbol steht schon seit der Antike in oppositioneller Beziehung zur

Finsternis und wird als Attribut des Göttlichen gedeutet.566 So sagte Jesus Christus über

sich selbst: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8, 12). In christlicher Tradition gilt als Lichtfest

schlechthin das Weihnachtfest, wobei der Geburt Jesu gedacht wird.567 Die

Nationalsozialisten versuchten, das Weihnachtsfest für den eigenen Jahreskalender zu

vereinnahmen, wie beispielsweise im Sonett „Frontweihnacht 1931“ (HA23):

So treten wir zur stillen Christnachtfeier …

Empor den Blick, du Volk! Am Horizont

Aufsteigt dein Stern: Auch dir naht der Befreier! (HA23, V.11-13)

Obwohl in diesem Gedicht der Name des „Führers“ nicht genannt wird, kann man im

Kontext des Gedichtbandes davon ausgehen, dass an dieser Stelle mit „Befreier“ (HA23,

565 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 186. 566 Vgl. „Licht“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 205; „Sonne“ in ebd., 354. 567 Vgl. „Weihnachten“ in ebd., 418.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

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V.13) der „Führer“ gemeint ist. Anacker intensiviert die religiöse Konnotation des Befreiers

in diesem Gedicht, indem er zweimal auf das Weihnachtsfest anspielt. Die

„Christnachtfeier“ (HA23, V.11) wird erstens als temporaler Rahmen dieses Gedichtes

genannt. Zweitens übernimmt Anacker das Sternsymbol aus der Weihnachtsgeschichte,

mit dem die Geburt des neuen Königs, nämlich Jesu, angekündigt wird. Der Evangelist

Matthäus schreibt:

Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe,

da kamen die Weisen vom Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der

neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind

gekommen, ihn anzubeten. (Mt 2, 1-2)

Auch in Anackers Gedicht steigt ein wegweisender „Stern“ (HA23, V.13) auf. Er kündigt

aber nicht die Geburt Christi, sondern das Kommen des neues Messias, und zwar Adolf

Hitlers an. Die Lichtsymbolik wird also mittels der Kollektivsymbolik des

Weihnachtsfestes indirekt thematisiert.

Eine weitere Ähnlichkeit mit dem biblischen Messias findet sich im Brot-Symbol. Sowohl

im Gedicht „München grüßt Adolf Hitler“ (HA85) als auch in „Wir alle tragen im Herzen

dein Bild“ (HA107) wird Adolf Hitler mittels der Apposition „dem Führer zu Freiheit und

Brot“ (HA85, V.17; HA107, V.14) als Befreier charakterisiert. Die Apposition verbindet den

Namen des „Führers“ aber gleich mit dem literarischen Symbol „Brot“. Das Metzler Lexikon

literarischer Symbole beschreibt das Brot-Symbol als (1) des Lebensnotwendigen, (2) der

Agrikultur, (3) der Gemeinschaft und (4) der leibhaften Gegenwart Christi.568 Im Rahmen

des christlich-religiösen Diskurses sind vor allem die erste und vierte Symbolerklärung von

Bedeutung. Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas erzählen, wie Jesus zu seinem

letzten Abendmahl das Brot bricht und es seinen Jüngern gibt mit den Worten: „Das ist

mein Leib“ (Mk 14, 22; Mt 26, 26; Lk 22, 19). Der vierte Evangelist Johannes charakterisiert

Jesus als „das Brot des Lebens“ (Joh 6, 48) und „das lebendige Brot, das vom Himmel

herabgekommen ist“ (Joh 6, 51). Das Metzler Lexikon vermerkt, dass der Vers „Unser

tägliches Brot gib uns heute“ aus dem Vaterunser-Gebet (Mt 6,11) selbst in postreligiösen

Zeiten und Sphären noch zum Kernbestand des allgemeinen Zitatenschatzes gehört.569

Das Brot als Kollektivsymbol charakterisiert den „Führer“ also auch als Bringer des

lebensnotwendigen Brotes und schlägt die Brücke zur christlichen Darstellung Jesu.

568 Vgl. „Brot“ in ebd., 55. 569 Vgl. ebd.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

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3. Zwischenfazit – Die messianische Repräsentation des

„Führers“ in affirmativer NS-Dichtung

Dass Anacker den „Führer“ im Titel seines zur Einführung aufgeführten Gedichtes so

pointiert als „Mensch“ beschreibt, hat die Frage hervorgerufen, wie der „Führer“ von

Zeitgenossen dann wohl wahrgenommen wurde. Auch Volker Ullrich versieht eines der

einundzwanzig Kapitel seiner umfangreichen Biographie über Adolf Hitler mit dem Titel

„Der Mensch Hitler“. Laut Ullrich ist die Frage, wer denn nun dieser Mann war, der im

Alter von nur 43 Jahren am 30. Januar 1933 in das Kanzleramt einzog, schwer zu

beantworten. Eine Erklärung für diese Schwierigkeit sieht er in Hitlers gezielter

Inszenierung, sich „als einen Politiker zu präsentieren, der, ganz mit seiner Führerrolle

identisch, allen privaten Bindungen entsagt habe und einsam seiner historischen Mission

nachgehen müsse“.570 Dieses Kapitel hat erforscht, inwiefern sich Anacker in seiner

poetischen Stilisierung des „Führers“ eines christlich-religiösen Diskurses bedient, um

diese sogenannte „historische Mission“ als eine göttliche Sendung und den „Führer“ selbst

in diesem Sinne als einen gottgesandten Messias darzustellen.

Zunächst zeugen die zahlreichen Erwähnungen des „Führer“-Titels und des Namens

„(Adolf) Hitler“ in Anackers Gedichtband Die Fanfare von der großen Bedeutung, die

diesem Thema in seiner Dichtung zukommt. Außerdem hat die literarische Analyse die

weitgehende Sakralisierung dieses Themas gezeigt, denn an vielen Stellen wird der

„Führer“ als eine messianische Figur gekennzeichnet. Die messianische Charakterisierung

wurde anhand der zusammengestellten Eigenschaftsliste eines Messias überprüft. So

werden die ersten zwei von Seitschek beschriebenen Phasen im Messianismus – das

Warten und Hoffen auf den Messias und die bedingungslose Nachfolge der Anhänger – an

mehreren Stellen, vor allem mittels wörtlicher und körperlicher Treueschwüre, belegt.

Dass die „Glaubenden“ dem „Führer“ die Messiasrolle zuschreiben, kann auch aus der

Perspektive des Dichters heraus erklärt werden. Heinrich Anacker gilt als

nationalsozialistischer Dichter in gewisser Hinsicht auch als „Gläubiger“ und in dem Sinne

wäre seine messianische Charakterisierung des „Führers“ als Zuschreibung seitens eines

Glaubenden zu verstehen. Das geglaubte übermenschliche Wirken des „Führers“ als

Messias und seine geglaubte Allgegenwart wurde hauptsächlich anhand seiner

sakralisierten Stimme gezeigt. Schließlich wurden auch Parallelen mit Jesus Christus als

Messias gezogen. So übernimmt der „Führer“ in Anackers Dichtung auch eine lehrende

und leidende Funktion und er wird an einigen Stellen explizit als Bauherr des Reiches

beschrieben. Außerdem erscheint der „Führer“ mehrmals in Verbindung mit dem

570 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 422.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

157

Lichtsymbol und dem Symbol des Brots. Genauso wie Jesus Christus wird der „Führer“

schließlich auch als Heilsbringer charakterisiert.

Ein Blick auf die Gedichtbände von Gerhard Schumann und Herybert Menzel macht

deutlich, dass auch diese Autoren sich eines ähnlichen religiösen Diskurses bedienen, um

den „Führer“ als eine quasi-messianische Figur darzustellen. Obwohl Schumann und

Menzel – im Gegensatz zu Anacker – Adolf Hitlers Namen nicht nennen, kann man davon

ausgehen, dass auch sie mit der Bezeichnung „Führer“ eindeutig auf den

nationalsozialistischen „Führer“ Rücksicht nehmen. Besonders indem der „Führer“

mehrmals schlicht als „der Eine“ beschrieben wird (vgl. etwa GS22, HM48), stellen auch

Schumann und Menzel diesen „Führer“ als „Auserwählten“ (GS22, V.10) dar, der sich, wie

das nächste Zitat durchblicken lässt, selbst eines religiösen Diskurses bedient:

Nun hält nur uns der Eine auf,

wenn er sein Amen spricht! (HM10, V.14-15)

Bereits aus diesem Zitat spricht erneut der Glaube an den und die Treue zum „Führer“.

Auch in einem anderen Gedicht betont Menzel die bedingungslose Nachfolge des Volkes,

indem er dichtet: „Was unser Führer von uns fordert, gilt“ (HM23, V.6) Genauso wie

Anacker benutzt Schumann in seinem sechsten Sonett der „Lieder vom Reich“ eine

Hyperbel, um diesen Glauben an den „Führer“ zu beschreiben. Während Anacker mit dem

Substantiv „Erdkreis“ (HA24, V.14) die angebliche Wirkung des „Führers“ auf die ganze

Erde ausdehnt, drückt Schumann den allumfassenden Glauben an die Rettungskraft des

„Führers“ mit dem anaphorisch verwendeten Zahlwort „tausend“ aus:

Aus tausend Augen glomm das letzte Hoffen!

Aus tausend Herzen brach der stumme Schrei:

Den Führer! Knechte uns! Herr mach uns frei! (GS21, V.12-14)

Gerade die letzte Verszeile dieses Sonetts beschreibt die Beziehung des Volkes zu seinem

diktatorischen „Führer“ mit einem Oxymoron. Während das Volk, oder die Masse, im

Nationalsozialismus als totalitärem Regime tatsächlich „geknechtet“ wurde, wird diese

Knechtschaft bei Schumann zur gleichen Zeit als Befreiung gedeutet. Die Treue zum

„Führer“ impliziert also auch die Bereitschaft, seine Worte als „Gebot“ (Vgl. HA38, V.6, 13,

20; HM9, V.18) hinzunehmen.

Wie Anacker verweisen auch Menzel und Schumann in ihrer Darstellung des „Führers“

mehrmals auf die biblische Tradition. So wird „der Eine“ in Schumanns siebtem Sonett des

Zyklus „Die Lieder vom Reich“ besonders mit dem Verb „erlöst“ (GS22, V.13) verbunden

und spielt er die Hauptrolle in einer Szene, die stark an einer neutestamentlichen

Erzählung erinnert, in der Jesus nachts mit einem Engel im Garten Gethsemane kämpft

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Am Beispiel Heinrich Anackers

158

(vgl. GS22 und Lk 22, 41-44).571 In seinem Gedicht „Es lebt der Eine!“ (HM48) übernimmt

Menzel der gelebten christlichen Praxis zudem die Idee, man solle sich an das Leben des

„Führers“ – und also nicht an das Leben Jesu Christi – ein Beispiel für das eigene Verhalten

nehmen, oder zumindest versuchen, „ihm nachzustreben“ (HM48, V.15):572

Wie er zu leben,

Ist uns versagt.

Ihm nachzustreben,

Froh sei's gewagt! (HM48, V.13-16)

Weil der „Führer“ also immer wieder als eine sakralisierte Messiasfigur erscheint, scheint

es schon angebracht, „Führer“ als Glaubensartikel zu klassifizieren. Während ‚Verehrung

von „Führer“ und Partei‘ bereits von Behrens und Gentile zum Wesen der politischen

Religion gerechnet wurde, kann man diesen Glaubensartikel auch mit dem

mehrdimensionalen Religionskonzept von Ninian Smart verbinden. Als Glaubensartikel

gehört er eindeutig in die (2) doktrinär-philosophische Dimension, der ganze

Führermythos wäre aber auch der (3) mythisch-narrativen Dimension zuzuordnen.

Außerdem kann man den Führerkult mit Hitlergruß – sowohl wörtlich als auch körperlich

– zur (1) rituell-praktischen Dimension rechnen.

571 Im nächsten Kapitel zu Schumanns Dichtung wird diese Szene unter 2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs weiter erläutert. 572 Nach der Fußwaschung fordert Jesus seine Jünger auf: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe“ (Joh 13, 15).

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VI Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

Am Beispiel von Gerhard Schumanns

Die Lieder vom Reich (1935)

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

161

1. Das - „Dritte“ oder „heilige“ - Reich in Schumanns

Dichtung

1.1 Der Reichsgedanke Gerhard Schumanns

Der Glaube an das Reich war eine Konstante in Schumanns Leben.573 Der

nationalsozialistische Literaturwissenschaftler Helmuth Langenbucher beobachtete, dass

der Reichsgedanke in Schumanns Denken und Dichten zentral war. Er zählt seine

Reichsgedichte dann auch zum „Kern seines lyrischen Werkes“.574

Ob Schumann ein Landschaftsbild oder ein Naturerlebnis besingt, ob er von der Heiligkeit

deutschen Muttertums kündet, ob er große Gestalten der Bewegung oder den arbeitenden

Menschen in seiner Alltagsumwelt dichterisch verklärt: immer und überall begegnen wir

dem neuen Lebensgefühl unseres Volkes, aus dem heraus das Reich geschaffen wurde und

bewahrt wird, und der inneren Ordnung, in deren Gefüge jeder Einzelne von uns seinen

Platz hat.575

Bereits in diesem Zitat wird die enge Beziehung zwischen „Reich“ und „Volk“, die quasi

ineinander zusammenfließen, offenbar. Auch Schumanns Zeitgenosse Rudolf Erckmann

schreibt 1939, dass es in Schumanns Reichsidee um die Gestaltwerdung des deutschen

Volkes, die Realisierung der Gestaltidee des Deutschtums schlechthin handele.576 Diese

Grundüberzeugung Schumanns zeigt sich im titellosen und 1934 verfassten

Eröffnungsgedicht (GS7) seines Gedichtbandes:

5

Wer sich dem Reich verschrieb,

Ist ein Gezeichneter.

Auf seiner Stirn entbrennt

Ein jäh durchzuckend Mal.

Den Vielen ist er fremd,

Weil er sich selbst vergaß,

Weil ihn ein Sternbild treibt,

Das zwingend vor ihm glüht.

573 Auch nach 1945 beharrte er laut Bautz darauf, dass Deutschland eine Führungsrolle in Europa einnehmen werde. Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 343. 574 Langenbucher: Die deutsche Geg enwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit, 225. 575 Ebd. 576 Vgl. Rudolf Erckmann: Der Reichsgedanke im Werk schwäbischer Dichter. In: Schwaben 11.4/5 (1939), 310.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

162

10

Kaum einer sieht die Sucht.

Nur wenige lieben ihn.

Doch einmal springt sein Wort

Wie Feuer in den Kreis.

Da steht er leuchtend vorn.

Hält flatternd den Befehl. (GS7)

Gleich in der ersten Verszeile des Gedichtes – und so auch gleich am Anfang des

Gedichtbandes – nennt Schumann das „Reich“ (GS7, V.1). Die Gestaltung des Reiches

ergibt sich aber erst aus der notwendigen Selbstaufgabe des Ichs zugunsten der

Gemeinschaft. Dabei betont Schumann gleich am Anfang „das Erwähltsein dessen […], der

sein Leben ohne Vorbehalte in den Dienst der Reichsidee stellt“.577 Dieser ist in Schumanns

Gedicht „ein Gezeichneter“ (GS7, V.4). Indem ein „Mal“ (GS7, V.4) auf seiner Stirn

erscheint, darf man dies sogar sehr wörtlich nehmen. In seiner Hingabe an das Reich ist

dieser „Gezeichnete“ zunächst einsam, denn „den Vielen ist er fremd“ (GS7, V.5).

Außerdem verliert er auch sich selbst, indem „er sich selbst vergaß“ (GS7, V.6). Hillesheim

und Michael erkennen diese Begriffe des Zerfließens und Sich-Verlierens als Topoi der

Romantik, mit denen Schumann die Überwindung der Ich-Grenzen dichterisch versucht

zu verdeutlichen.578 Diese Hingabe an das Reich scheint nicht nur aus reinem Idealismus

hervorzugehen, sondern von einer höheren Kraft – einem „Sternbild“ (GS7, V.7) –

aufgezwungen oder vielleicht prophezeit zu werden. In der dritten Strophe findet das Ich

letztendlich Zugang zu einer Gemeinschaft, in dem sein „Wort / Wie Feuer in den Kreis“

(GS7, V.11-12) springt und gerade dieses Aufgehen des Ichs in der Gemeinschaft, oder auch

im Volk oder im Reich, setzt Schumann für die Erfüllung der Reichsidee voraus. In der

letzten Strophe hat der „Gezeichnete“ seine Einsamkeit endgültig überwunden, indem er

in eine Position der Führerschaft geraten ist. Er steht nicht länger außerhalb der „Vielen“,

sondern geht voran und führt jetzt sogar den „Befehl“ (GS7, V.14). In dieser führenden

Position übernimmt er die Funktion des Sternbilds, das ihn vorangetrieben hat. In diesem

Gedicht fließen also nicht nur Volk und Reich zusammen, sondern stellt sich auch der

„Führergedanke“ als wichtiges Thema neben dem Reichsgedanken heraus. Im Gegensatz

zu Heinrich Anacker bleibt die Führerfigur in Schumanns Dichtung eine unbestimmte und

namenlose Figur, da sowohl für den „Führer“ als auch das Volk die Gestaltung des Reiches

zentral steht.

577 Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 407. 578 Vgl. ebd.

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

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1.2 Die Sakralisierung des „Reiches“ in Gerhard Schumanns

Gedichtband Die Lieder vom Reich (1935)

Gerhard Schumanns Gedichtband Die Lieder vom Reich erschien 1935 als

Jubiläumsbändchen beim Münchner Verlag Albert Langen – Georg Müller579 und enthält

37 Gedichte, die zwischen 1930 und 1935 geschrieben worden sind.580 Bautz zufolge

markiert das Jahr 1935 eine Zäsur in Schumanns Biografie, denn nach nur gut zwei Jahren

nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland war er zu einem gefeierten Dichter des

Regimes geworden.581 Cornelia Jungrichter kennzeichnet Schumann sogar als den „wohl

populärste[n] ns Sonettdichter“ (sic).582 Das Schlussgedicht „Dennoch“ (GS50) wurde am

31.05.1935 in der Sonntagsausgabe des Völkischen Beobachters publiziert, was seine

„Repräsentativität und Prominenz während der Gleichschaltungsphase des ‚Dritten

Reiches‘“583 zeigen sollte. Die Gedichtanthologie Die Lieder vom Reich erreichte mit

mehreren Neuauflagen bis in die Kriegsperiode eine Auflage von 75 000 Exemplaren.584

Nach dem titellosen Eröffnungsgedicht fasst Schumann die weiteren 36 Gedichte in drei

Gedichtgruppen – „Durchbruch“, „Not und Sieg“ und „Dennoch!“ – von jeweils zwölf

Gedichten zusammen. Hillesheim und Michael beschreiben den Gedichtband Die Lieder

vom Reich als eine Gedichtanthologie, „in der die Bereiche von Politik und Religion, von

Immanenz und Transzendenz, verschwimmen und oft sogar austauschbar werden“.585

Dies zeigt sich besonders in den zwei Sonettzyklen „Die Lieder vom Reich“ (GS16-22) und

„Die Reinheit des Reiches“ (GS42-46). Schumann verfasste die sieben Sonette des Zyklus

„Die Lieder vom Reich“ (GS16-22) bereits im Jahre 1930 und sie erschienen zum ersten Mal

im Bändchen Ein Weg führt ins Ganze (1932). Obwohl die Sonette also noch vor der

nationalsozialistischen Machtübernahme geschrieben wurden, enthalten sie bereits

grundlegende Elemente der faschistischen Ideologie.586 Indem die ersten vier Sonette im

Wort „Reich“ kulminieren und die letzten drei auf den „Führer“ ausgerichtet sind,

thematisiert Schumann erneut sowohl den „Führer“- als auch den Reichsgedanken. Gerade

wegen der sakralisierten Stilisierung von „Reich“, „Volk“ und „Führer“ erklärte Erich

Voegelin Schumanns Sonettzyklus „die Lieder vom Reich“ zu einem „der stärksten

579 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 375. 580 Im Inhaltsverzeichnis hat Schumann seinen Gedichten in Klammern das Verfassungsdatum hinzugefügt. Siehe Schumann: Die Lieder vom Reich, 51-52. 581 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 274. 582 Vgl. Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55. 583 Ebd., 387. 584 Vgl. Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1911-1965. München: Verlag Dokumentation 1976, 426. 585 Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 407. 586 Vgl. Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

164

Ausdrücke politisch-religiöser Erregungen“.587 Bereits Voegelin hat auf die Religiosität in

Schumanns Dichtung hingewiesen. Dabei unterscheidet er aber klar zwischen christlicher

und nationalsozialistischer Religiosität:

Sie [„Die Lieder vom Reich“] machen es möglich, den Seelenbewegungen nachzugehen, aus

deren Stoff sich die Symbole und die geschichtliche Wirklichkeit der innerweltlichen

Gemeinschaft aufbauen. Sie haben als religiöse Erregungen ihre Wurzeln im Erlebnis der

Kreatürlichkeit; aber das Realissimum, in dem sie sich erlösen, ist nicht, wie im christlichen

Erlebnis, Gott, sondern das Volk und die Bruderschaft der verschworenen Gefährten, und

die Ekstasen sind nicht geistig, sondern triebhaft, und münden im Blutrausch der Tat.588

In seiner „stilisierte[n] Darstellung der Realität“589, in der „Volksgemeinschaft“ und „Reich“

grundlegende Elemente sind, schöpft Schumann also bewusst aus der christlich-religiösen

Tradition und ihrer Bildersprache. Auch in den fünf Sonetten des Zyklus „Die Reinheit

vom Reich“ schöpft Schumann aus der christlich-religiösen Symbolsprache. Diese Sonette

sind 1934 und gerade noch vor dem Röhm-Putsch entstanden und dem Bändchen Fahne

und Stern (1934) entnommen. Langenbucher erklärte diesen Sonettzyklus zum

„kraftvollsten und Erschütterndsten, was uns bisher an nationalsozialistischer Dichtung

geschenkt worden ist“.590 Viktor Žmegač sieht in diesen Sonetten ein seltsames Beispiel

der innerfaschistischen Opposition, da sie sich inhaltlich weitgehend mit den

Ausführungen, die der Stabschef der SA, Ernst Röhm, 1933 und 1934 zur Forderung nach

einer „Zweiten Revolution“ gemacht habe, decken.591 Langebucher beschreibt sie als

„Lieder des Zorns gegen die, die nicht im Kampfe waren, aber jetzt am Siege um so lauter

teilhaben wollen“.592

Die literarische Analyse untersucht besonders die religiöse Ebene in Schumanns

poetischer Reichsgestaltung. Dabei fokussiert die Analyse auf folgende Aspekte der

christlich-religiösen Bildersprache: die Nachahmung biblischer Sprache, die Adaption

neutestamentlichen Erzählstoffs und den Transfer christlicher Symbolik mit besonderer

Aufmerksamkeit auf die apokalyptische Symbolik.

587 Voegelin: Die politischen Religionen, 59. 588 Ebd., 59-60. 589 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55. 590 Langenbucher: Dichtung der Jungen Mannschaft, 97. 591 Vgl. Victor Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Königstein: Athenäum 1984, 355. 592 Langenbucher: Dichtung der Jungen Mannschaft, 97.

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

165

2. Gerhard Schumanns sakralisierte Reichsidee

Auch Schumanns dichterische Sprache schöpft an vielen Stellen direkt aus dem christlich-

religiösen Vokabular. Er übersteigt aber das rein Lexikalische, indem er christliche und

apokalyptische Symbolik umdeutet und neutestamentlichen Erzählstoff für die

sakralisierte Gestaltung des Reiches in seiner Dichtung adaptiert.

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache

Mit mehrfachen Verweisen auf den „Himmel“ (GS17, V.1; GS21, V.10; GS22, V.13; GS29, V.3;

GS32, V.2; GS39, V.5) und die wortwörtliche Erwähnung Gottes (GS15, V.11; GS19, V.17; GS

26, V.8; GS29, V.4,14; GS48, V.6) greift Schumann sehr explizit auf die christliche Tradition

zurück. Auch Verben wie „segnen“ (GS18, V.2), „glauben“ (GS43, V.3; GS44, V.12, 14),

„predigen“ (GS44, V.14) und „erlösen“ (GS22, V.13; GS31, V.12; GS50, V.14) und Substantive

wie „Auserwählter“ (GS22, V.10), „Engel“ (GS11, V.3,4), „Gebet“ (GS15, V.7), „Glaube“ (GS29,

V.12), „Gnade“ (GS45, V.8), „Münster“ (GS11, V.1), „Opfer“ (GS43, V.6), „Seele“ (GS25, V.8;

GS29, V.2; GS34, V.5; GS35, V.6; GS41, V.10; GS45, V.12; GS46, V.12), „Stern“ (GS28, V.5;

GS34, V.2,16), „Sternbild“ (GS7, V.7), „Tempel“ (GS43, V.12) und „Wunder“ (GS32, V.13)

rufen spontane Assoziationen mit der christlichen Überlieferung hervor. Schließlich

springen auch die Adjektive „ewig“ (GS35, V.1; GS50, V.4), „gläubig“ (GS48, V.8) und das

der „Fahne“ (GS20, V.11) vorangestellte Adjektiv „heilig“ (GS20, V.11) in diesem Sinne ins

Auge. Nicht nur mittels spezifischer Wortschatzübernahme, auch auf Grammatikebene

versucht Schumann einen bibelähnlichen Kontext zu schaffen. So ahmt er mit den

altertümlichen Formen „Talen“ (GS22, V.4) und „aufstund“ (GS22, V.9) im siebten Sonett

der „Lieder vom Reich“ der alttestamentlichen Sprache nach. Auch die Voranstellung des

Genitivs – wie etwa in „des Reiches hehren Hort“ (GS20, V.7) und „des Reiches heilge

Fahne“ (GS20, V.11) – erscheint als bibelähnliche Sprache.593

Schließlich benutzt Schumann auch einige Konstruktionen, die weniger explizit auf einen

biblischen Kontext verweisen. So ruft Schumann in seiner Stilisierung der Neugeburt des

Reiches an mehreren Stellen die Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis/ersten Buch Mose

hervor. Während sich der „Eine“ in Schumanns dritten Sonett zur „fruchtbare“ Erde

niederbückte und sie „segnete … und sprach“ (GS18, V.2), heißt es in Gen 1 sowohl nach

593 Christian Dube beschreibt, dass Luther den Genitiv zum Teil noch vor, an anderen Stellen aber auch nach dem Kopfsubstantiv stellt. Hieraus folgert Dube, dass die Stellung des Genitivs zur Zeit seiner Bibelübersetzung noch nicht einheitlich modernisiert war. Ab 1900 verschwindet der pränominale Genitiv aber allmählich. Wegen der Kenntnis biblischer Wendungen, wie gerade die Menschensohn-Passagen in den Evangelien, in denen Luther schon die alte Position beibehalten hat, und die Tatsache, dass die alte Wortstellung im Neuhochdeutschen unüblich geworden ist, bringen Dube zur Schlussfolgerung, dass der pränominale Genitiv als biblische Sprache erscheint. Vgl. Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 86.

Page 166: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Gerhard Schumanns

166

der Schöpfung der Tiere als auch nach der der Menschen: „Und Gott segnete sie und

sprach […]: Seid fruchtbar und mehrt euch […]“ (1 Mose 1, 22; 1 Mose 1,28). Auch die

Erwähnung einer neuen „Wölbung neuer Himmel“ (GS17, V.1) könnte einen Verweis auf

die Schöpfungsgeschichte sein. Obwohl in der Lutherbibel aus dem Jahre 1912 „Feste“ statt

„Wölbung“ (1 Mose 1, 1-20) benutzt wird, erscheint in der Schöpfungsgeschichte in

verschiedenen Hausbibeln aus dem 19. Jahrhundert an mehreren Stellen schon das Wort

„Wölbung“.594 Auch die Wendung „Da wandten sich […] ab und weinten“ (GS20, V.9)

könnte bei christlichen Lesern eine spontane Bibelassoziation hervorrufen. In Gen 42

reisen die Söhne Jakobs nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Ihr Bruder Joseph, den sie

nicht wiedererkennen, ist Regent im Lande und stellt sie auf die Probe. Als Joseph seine

Brüder über sie reden hörte, übermannte ihn die Rührung: „Und er wandte sich von ihnen

und weinte“ (1 Mose 42, 24). Eine ähnliche Reaktion – in einem komplett unterschiedlichen

Kontext – hat Petrus, nachdem er erkennt, dass er Jesus – sowie dieser vorhergesagt hatte

– zum dritten Mal verleugnet hat: „Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich“ (Lk 22,

62).

2.2 Adaption christlicher Symbolik

Neben der Übernahme eines explizit christlichen Vokabulars und der Nachahmung

biblischer Sprache, fallen auch bestimmte Symbole, die direkt der christlich-religiösen

Symbolik entnommen wurden, ins Auge. Dieser Abschnitt untersucht besonders

Schumanns Adaption der Symbole Brot, Wein und Blut sowie der Licht-Dunkel-Symbolik

und bestimmter apokalyptischer Symbole.

2.2.1 Brot und Wein

„Brot“ und „Wein“ sind wiederkehrende Kollektivsymbole in der Literatur, wobei ihre

christliche Bedeutung als „Symbol der leibhaftigen Gegenwart Christi“ von großer

Bedeutung ist:

Und er nahm das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Das ist mein Leib,

der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen auch den Kelch, nach

dem Abendmahl, und sprach: Das ist der Kelch, das neue Testament in meinem Blut, das für

euch vergossen wird.595

Laut Jungrichter artikuliert Schumann in seinen Gedichten besonders „die Hoffnung der

desorientierten Bevölkerungsschichten, die in der Weimarer Zeit angesichts ihrer sozialen

594 Beispielsweise in Leander van Ess: Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes. Sulzbach: Seidel 1858, 1. Mose 1, 1-17. 595 Lk 22, 19-20.

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

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Misere Wunderlösungen herbeisehen“.596 Mit dem Brot-Symbol thematisiert Schumann

das „Leiden“ und die „Not“ des Volkes. So erinnert er mit der Aussage „Und hungern Brot“

(GS19, V.9) im vierten Sonett der „Lieder vom Reich“ an Jesus‘ Versprechen: „Ich bin das

Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern“ (Joh 6, 35). Obwohl

Schumann in seinen Gedichten schon das Kommen eines „Befreiers“ oder „Retters“

beschreibt, wird nicht Jesus Christus erwartet. Diese spezifische Verwendung des Brots

passt aber schon zu des Volkes Hoffnung auf eine „Wunderlösung“. Im fünften Sonett des

gleichen Sonettzyklus erscheinen die Symbole „Blut“ und „Wein“ nebeneinander.

Allerdings bezieht sich Schumann hier nicht auf die Geschehnisse am Gründonnerstag,

sondern ruft er die Opfer im Ersten Weltkrieg in Erinnerung: Aus den Wunden des

personifizierten Reiches (GS20, V.7-8) könnte man „Blut und Wein […] keltern“ (GS20,

V.8).

2.2.2 Das Blut und die Wundmale Christi

Auch das Blut Christi und seine Wundmale haben zu einer langen Traditionsgeschichte in

der christlichen Symbolik geführt. Das Blut symbolisiert die Opferbereitschaft Christi, die

zur Errettung und Erlösung der Menschheit geführt hat.597 Die Narben – oder die

Wundmale – Christi fungieren im Neuen Testament als Zeugnis seiner Leidensgeschichte

und zugleich als Symbol der Auferstehung.598 Schumann appelliert in seinem Gedichtband

mehrmals an die Passionsgeschichte Christi, aber nur einmal beschreibt er die blutenden

Wunden Gottes, und zwar in „Das Münster“ (GS29), das bereits im Jahre 1930 verfasst

wurde: „Und Gottes rote Wunden bluten“ (GS29, V.4). In allen anderen Fällen blutet nicht

Christus, sondern das personifizierte Reich, wie im Gedicht „Deutschland“ (GS15), das

ebenfalls im Jahre 1930 verfasst wurde und so zu den frühesten Gedichten Schumanns

zählt.

5

Deutschland

Blut strömt aus tausenden Wunden,

Not frißt, das graue Gespenst.

Größer die Qual der Sekunden,

Da du dich selber erkennst.

Nun dich der Erdball zertreten,

Säumst du nicht frevelnd zugleich?

Türmst nicht in wilden Gebeten

Opfernder Reinheit das Reich?

596 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55. 597 Vgl. „Blut“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 54. 598 Vgl. „Narbe / Muttermal“ in ebd., 247.

Page 168: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Gerhard Schumanns

168

10

In dir und um dich vermessen

Höhnisches Lachen schlich.

Hat denn der Gott dein Vergessen?

Oder verrietest du dich? (GS15)

Laut Baird spricht aus diesem Gedicht die Sehnsucht der späten 1920er und frühen 1930er

Jahre nach der Errettung des Reiches und einem starken „Führer“, der das realisieren

könnte.599 Schumann beschreibt die damalige Situation – und zwar das Ende der

Weimarer Republik – als eine Zeit der „Not“ (GS15, V.2) und der „Qual“ (GS15, V.3), die in

Anackers Dichtung pointiert als eine Zeit der Knechtschaft dargestellt wurde. Jay W. Baird

interpretiert das Symbol des Blutes in der ersten Verszeile so, dass Schumann eine

umgedeutete Version der Passionsgeschichte beschreibt, in der nicht Jesus Christus

sondern Deutschland am Kreuz dargestellt wird.600 Gerade die letzte Strophe unterstützt

diese These. Während rund um das blutende Deutschland am Kreuz höhnisch gelacht

wird, verspotteten auch die Hohepriester Jesus im Vorübergehen.601 Laut der

Überlieferung war zudem eine der letzten Sachen, die Jesus vor seinem Tod sagte: „Mein

Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“602 Auch Schumann fragt sich, ob Gott

Deutschland vielleicht vergessen habe (vgl. GS15, V11). Er nuanciert diese Überlegung aber

gleich, indem er kritisch fragt: „Oder verrietest du dich?“ (GS15, V.12) Es wäre möglich,

dass Schumann hier auf die nationalsozialistische Überzeugung reflektiert, dass die

Niederlage Deutschland im Ersten Weltkrieg eine Folge des Verrats der sogenannten

„Novemberverbrecher“ war.

Auch im Gedicht „Kreuz“ (GS31), das Schumann als ein „Schmerzenszeichen“ (GS31, V.3)

beschreibt, greift er die Idee einer Leidensgeschichte wieder auf. Das Kreuz sollte als ein

„Blutmal in die junge Stirn gebrannt“ (GS31, V.4) sein. Die Notwendigkeit des Leides

erklärt Schumann in der letzten Strophe dieses Gedichtes.

Die Frage und der Kampf. Es ruhet nicht,

Bis es dich tief in jeden Abgrund stößt.

Doch blüht aus Wust und Qual ein Reines Leid,

Dann ist ein Stück des dunklen Seins erlöst. (GS31, V.9-12)

In dieser Strophe adaptiert Schumann ein weiteres Element der christlichen

Passionsgeschichte: Während das Leiden Christi und sein Kreuzestod den Christen die

Erlösung brachte, sei das von Schumann beschriebene „Leid“ (GS31, V.11) notwendig, damit

599 Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 132. 600 Ebd. 601 Vgl. Mk 15, 31; Mt 27, 41. 602 Vgl. Mk 15, 34; Mt 27, 46.

Page 169: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

169

„ein Stück des dunklen Seins erlöst“ (GS31, V.12) wird und das lyrische Ich weitergehen

kann.

Im Gedicht „Straßburg“ (GS11), dem ersten Gedicht der Gedichtgruppe „Durchbruch“,

verbindet Schumann das Reich schließlich mit einem weiteren Symbol der

Passionsgeschichte Christi, und zwar mit dem „Dornenkranz“ (GS11, V.12). Das literarische

Symbol der Dornenkrone wird allgemein als ein Symbol des Leidens und der

Liebesschmerzen gedeutet, in den Evangelien von Matthäus, Markus und Johannes ist die

Dornenkrone das Symbol der Passion Christi schlechthin.603

Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesus zu sich in das Richthaus und

sammelten über ihn die ganze Schar und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel

an und flochten eine Dornenkrone und setzten sie auf sein Haupt und ein Rohr in seine

rechte Hand und beugten die Kniee vor ihm und verspotteten ihn und sprachen: Gegrüßet

seist du, der Juden König! (Mt 27, 27-29)

In „Straßburg“ (GS11) ist nicht das Haupt Jesu, sondern das blutende Münster „gramvoll

umflochten von dem Dornenkranze“ (GS11, V.1-2). Das personifizierte Straßburger

Münster trauert darum, dass es seit dem Versailler Vertrag nicht länger in das Deutsche

Reich, sondern zu Frankreich gehört.

Schumann verbindet die Symbolik der Wundmale nicht nur mit der Reichsidee. Auch mit

dem Wort „gezeichnet“, das er sowohl im Eröffnungs- als auch im Schlussgedicht benutzt,

ruft er die christliche Tradition hervor. Heute noch definiert der Duden „stigmatisiert“

beispielsweise eindeutig als „mit den Wundmalen Christi gezeichnet“.604 Der Heilige

Franziskus von Assisi, der bereits im Zusammenhang mit der joachitischen Drei-Zeiten-

Lehre erwähnt wurde, gilt als der erste offiziell anerkannte Fall von Stigmatisation in der

Katholischen Kirche. Laut der Überlieferung sollen die Wundmale Christi – auf Füßen,

Händen, Seite und Stirn – im Jahre 1222 bei ihm erschienen sein.605 Bereits im

Eröffnungsgedicht seines Gedichtbandes benutzt Schumann dieses Symbol des

„Gezeichnet-seins“. Hillesheim und Michael bemerken, dass er bereits in den

einführenden Verszeilen das „Erwähltsein dessen betont, der sein Leben ohne Vorbehalte

in den Dienst der Reichsidee stellt“.606 Mit dem „Mal“ auf der Stirn des „Gezeichneten“

verwende er das biblische Motiv des Kainsmals in umgekehrtem Sinne:

603 Vgl. „Dorn / Dornbusch / Dornausziehen“ in: Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 67. 604 Vgl. „stigmatisiert“ in: www.duden.de ORL: https://www.duden.de/rechtschreibung/stigmatisiert [09.02.2015]. 605 Vgl. „Stigma“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd.7, 1737 und Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9, 1004. 606 Vgl. Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 407.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

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Wurde Kain wegen des Mordes am Bruder durch das Zeichen an der Stirn geächtet,

gebrandmarkt, gleichzeitig aber auch vor der Rache anderer behütet, unter den Schutz

Gottes gestellt, so ist derjenige, der das Mal um des Reiches willen trägt, aus der Masse der

Vielen qualitativ herausgehoben, demonstriert das Mal doch die kompromißlose Hingabe

an das Reich.607

Aber nicht nur in dieser Genesisgeschichte, sondern auch in der Offenbarung des Johannes

erscheint das „Zeichen an der Stirn“ als ein wiederkehrendes Symbol. So heißt es in Off 7,

3 „und er sprach: Beschädiget die Erde nicht noch das Meer noch die Bäume, bis wir

versiegeln die Knechte unsers Gottes an ihren Stirnen!“ In seiner Auslegung der ersten acht

Verse des siebten Kapitels des Buches der Offenbarung greift Zac Poonen auf die jüdische

Geschichte und die Anfänge des Christentums zurück. Poonen beruft sich auf Römer 11,

wenn er bestreitet, dass, „soweit es Gott angeht, sein Zweck für Israel mit dem Kommen

Christi abgeschlossen wurde“.608 Am Tag des Jüngsten Gerichts werde es einen „göttlichen

Überrest“ geben, die Jesus nicht als ihren Messias anerkannt haben und also keine Christen

geworden sind. Trotzdem werde Gott sie vor seinem Zorn schützen, indem er ihnen einen

Engel schicke, der diese Israeliten mit einem Zeichen an der Stirn „versiegeln“ solle.609 In

der Offenbarung werden mit dem Symbol der Versiegelung also die „Gottzugehörigen“

gemeint.610 In Schumanns Gedicht tritt das „Reich“ quasi an die Stelle Gottes: Der

„Gezeichnete“ ist kein „Gottzugehöriger“, sondern, indem er „sich dem Reich verschrieb“,

ein „Reichszugehöriger“. Während dieser „Gezeichnete“ im Eröffnungsgedicht noch

einsam war, alleine stand und schließlich zum „Führer“ der anderen wurde, indem er

„flatternd den Befehl“ (GS7, V.14) hält, erscheint das kollektive „Wir“ (GS50, V.1,2,3) als

eine Gruppe von „Gezeichneten“ (GS50, V.14) im Schlussgedicht „Dennoch“ (GS50) als

„erlöst“.

Weil unsre Lippen nur entschlossner schweigen.

Weil jede Qual, die hart ins Herz uns stößt,

Uns die Gezeichneten zur Tat erlöst. (GS50, V.12-14)

Damit schließt sich der Kreis: Derjenige, der sich in der ersten Verszeile des

Gedichtbandes „dem Reich verschrieb“ (GS7, V.1), ist nicht nur ein „Gezeichneter“,

sondern erscheint in der letzten Verszeile des Gedichtbandes als „erlöst“ (GS50, V.14). Die

Selbstaufgabe des Ichs zugunsten des Reiches führt also zur Erlösung.

607 Ebd. 608 Zac Poonen: Der finale Triumph: Vers für Vers durch das Buch der Offenbarung. Neobooks.com 2014. ORL: https://play.google.com/books/reader?id=acVgAwAAQBAJ&pg=GBS.PT1. [Letzter Zugriff: 20.02.2019], 108. 609 Vgl. ebd., 107-109. 610 Vgl. „Heilige Versiegelung“ in: Netzwerk Apostolische Geschichte. ORL: http://www.apostolische-geschichte.de/wiki/index.php?title=Heilige_Versiegelung [09.02.2018].

Page 171: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

171

Im zweiten Sonett der „Lieder vom Reich“ berührt Schumann das Blut-Symbol mit dem

Symbol des „Grals“, der in der Überlieferung die heilige Schale mit Christi Blut symbolisiert

und auch im letzten Sonett des Zyklus „Die Reinheit des Reiches“ genannt wird (GS17, V.11;

GS46, V.12). Laut Jungrichter erschien der Gral zum ersten Mal in der deutschen Literatur

in Wolframs von Eschenbach Parzivaldichtung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts habe

ein abgewandelter Parzival- und Gralsgedanke in Deutschland seine Renaissance erlebt.611

Dieser Parzival war ein Einzelner, der auf der Suche nach einem noch unbestimmten Gott

war und am Ende seiner Queste ein ‚neues Reich‘ gründete. Jungrichter erklärt, dass diese

Parzivalfigur von der NS-Bewegung zu einem nordisch-germanischen Menschen gemacht

wird und der Gral zum Symbol der „Erwähltheit“ des deutschen Volkes, wobei der Gral

nicht länger das Blut Christi sondern das arische Blut beinhaltet.612

Auftauchend aus dem Hasse hehr und schmal,

In klarer Wucht, in rein getürmter Schichtung,

Der Stufenbau des Seins, der neue Gral.

Und hingebeugt zu schwörender Verpflichtung

So knieten wir, blickhart und herzenweich.

Und über uns im Licht der Dom, das Reich. (GS17, V.9-14)

Der „neue Gral“ (GS17, V.11) enthält im zweiten Sonett der „Lieder vom Reich“ (GS17) nicht

nur das arische Blut als den „Stufenbau des Seins“ (GS17, V.11), sondern symbolisiert

eindeutig das „Reich“ (GS17, V.14) selber. Schumann beschreibt das Aufkommen dieses

Grals quasi als eine Auferstehung aus „dem Hasse hehr und schmal“ (GS17, V.9), der

Anackers Beschreibung der Weimarer Zeit als eine Zeit des Hasses und Neides ähnelt (vgl.

HA14, V.3-4).613 Die Bedeutung des „Reiches“ wird noch dadurch gesteigert, dass das

kollektivierende Wir aus Ehrfurcht vor ihm hinkniet (vgl. GS17, V.13).

2.2.3 Licht-Dunkel-Symbolik

An vielen Stellen kontrastiert Schumann „Licht“ und „Finsternis“, wobei das (zukünftige)

Reich mit Lichtsymbolen und die graue Vergangenheit mit Finsternis verbunden wird. So

beschreibt Schumann seine Heimat in „Tod und Leben“ (GS12) als eine „lichtdurchbrauste

Sonnenlandschaft“ (GS12, V.1) und „Deutschland“ im gleichnamigen Gedicht (GS35) als ein

„ewiges Feuer“ (GS35, V.1), wobei das Adjektiv „ewig“ als chiliastisches Element in der

nationalsozialistischen Perspektive auf das „Dritte Reich“ zu beziehen sei. Obwohl in

611 Vgl. Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 64. 612 Vgl. ebd. 613 Zum Diskurs des Zerfalls sowie einem Diskurs des Hasses in nationalsozialistischer Dichtung siehe Anneleen Van Hertbruggen: Ein Diskurs des Zerfalls als Strategie der Klimax in Heinrich Anackers nationalsozialistischer Propagandalyrik. In: Le déclin dans le monde germanique: mots, discours et représentations (1914-2014) / Platelle, Fanny. Hg. v. Fanny Platelle. Reims: Épure 2018, 121-144.

Page 172: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Gerhard Schumanns

172

Schumanns Lyrik nirgendwo explizit von einem „tausendjährigen Reich“ die Rede ist,

scheint er sich mit der Beschreibung von Deutschland als „ewig“ schon auf diese

Vorstellung beziehen.

Besonders im letzten Sonett der „Lieder vom Reich“ (GS22), das auf den namenlosen und

schlicht als „der Eine“ bezeichneten „Führer“ zugeordnet ist, greift Schumann den Licht-

Dunkel-Kontrast ausführlicher auf.

5

10

Die Lieder vom Reich VII

Da kam die Nacht. Der Eine stand und rang.

Und Blut entfloß den Augen, die im Schauen

Erstarben vor dem fürchterlichen Grauen.

Das aus den Talen zu dem Gipfel drang.

Notschrei fuhr auf und brach sich grell und bang.

Verzweiflung griff mit letzter Kraft ins Leere.

Er aufgebäumt, erzitternd vor der Schwere. -

Bis der Befehl ihn in die Kniee zwang.

Doch als er aufstund fuhr der Feuerschein

Des Auserwählten um sein Haupt. Und niedersteigend

Trug er die Fackel in die Nacht hinein.

Die Millionen beugten sich ihm schweigend.

Erlöst. Der Himmel flammte morgenbleich.

Die Sonne wuchs. Und mit ihr wuchs das Reich. (GS22)

Das Gedicht beginnt in der „Nacht“ (GS22, V.1), in der „der Eine stand und rang“ (GS22,

V.1). Schumann beschreibt die Nacht ausschließlich mit negativ konnotierten Wörtern:

„fürchterlichen Grauen“ (GS22, V.3), „Notschrei“ (GS22, V.5), „grell und bang“ (GS22, V.5),

„Verzweiflung“ (GS22, V.6), „erzitternd“ (GS22, V.7) und „zwang“ (GS22, V.8). Nach der

zweiten Strophe findet mit „aufstund“ (GS22, V.9) der Umbruch statt und überherrschen

Lichtsymbole, wie „Feuerschein“ (GS22, V.9), „Fackel“ (GS22, V.11), „Himmel“ (GS22, V.13),

„flammte“ (GS22, V.13) und „Sonne“ (GS22, V.14). Laut Vondung haben die

Nationalsozialisten diese Symbolik den kosmologischen Sonnenmythen entnommen, die

meist ein dualistisches Weltbild symbolisieren:

Die Sonne erscheint als Hierophanie und Symbol des Guten, des Lebens, der Kraft.

Demgegenüber vertritt die Finsternis die Welt des Bösen und des Todes. Diese Möglichkeit

der Symbolisierung entsprach der Gut-Böse-Polarisierung des nationalsozialistischen

Weltbildes. Der Nationalsozialismus übernahm das Sonnensymbol bewußt […] und

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

173

identifizierte sich mit der Welt des Lichts; seine Gegner wurden der Welt der Finsternis

zugeordnet.614

Auch nationalsozialistische Dichter wie Gerhard Schumann verwenden dieses dualistische

Bild von Licht/Gut und Finsternis/Böse in ihrer Dichtung. Dabei wird das Lichtsymbol mit

dem nationalsozialistischen „Führer“, mit dem Reich oder mit dem Regime schlechthin in

Verbindung gebracht, während die Finsternis immer mit der grauen Vergangenheit, mit

Regimefeindlichen oder Außenseitern – also „Nicht-Zugehörigen“ wie beispielsweise den

Juden – assoziiert wird.

Am Ende des siebten und letzten Sonetts der „Lieder vom Reich“ wird das Lichtsymbol

nicht nur mit dem nationalsozialistischen Regime verbunden. Der – bei Schumann

anonyme – „Führer“ verjagt als „Lichtbringer“ die nächtliche Finsternis, denn

„niedersteigend / trug er die Fackel in die Nacht hinein“ (GS22, V.10-11). Somit ermöglicht

er die Erfüllung des neuen Reiches, indem „die Sonne wuchs. Und mit ihr wuchs das Reich“

(GS22, V.14). Diese Bezeichnung des „Führers“ als Lichtbringers ist nicht nur in Einklang

mit kosmologischen Sonnenmythen zu bringen, sondern auch mit der neutestamentlichen

Idee von Jesus Christus, der die Finsternis verjagt: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir

nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens

haben“ (Joh 8, 12). In christlicher Tradition wird die Geburt Jesu – Weihnachten – als Fest

des Lichts gedeutet. Wegen dieser Lichtsymbolik wurde das Weihnachtsfest im vierten

Jahrhundert auf den 25. Dezember festgelegt, weil bereits die Römer an diesem Tag das

Fest des Lichts feierten, weil die Tage wieder länger werden.615 Obwohl Schumanns Sonett

einen „Führer“ mit quasimessianischen Zügen beschreibt, steht im Gegensatz zu Heinrich

Anackers Dichtung nicht die Figur des „Führers“ sondern die Reichsidee zentral.616

Auch im Eröffnungsgedicht wird der „Gezeichnete“ von einem „leuchtenden“ (GS7, V.13)

Aura umgeben, sobald er eine führende Position einnimmt. Dabei übernimmt er die

Funktion des „Sternbilds“ (GS7, V.7), das in der zweiten Strophe noch „zwingend vor ihm

glüht[e]“ (GS7, V.8). Neben der Sonne ist auch der Stern ein wichtiges Lichtsymbol, mit

dem sowohl in der Bibel als auch sonst in der Literatur die Zukunft bzw. die zukünftige

Welt617 dargestellt wird. Außerdem werden Sterne in der Bibel oft in Verbindung mit einer

Prophezeiung verstanden. So wird die Geburt Christi in der Weihnachtsgeschichte von

einem Stern angekündigt:

614 Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 186. 615 Vgl. Erwin Roosen: Waar woont God? En 100 andere geloofsvragen. Averbode: Altiora 2004, 45. 616 Dass sich in Schumanns Darstellung des „Einen“ im siebten Sonett der „Lieder vom Reich“ eine Parallele mit der neutestamentlichen Ölbergvision von Jesus im Garten Gethsemane ziehen lässt, wird unter 2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs weiter erläutert. 617 „Stern“ in: Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 369.

Page 174: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Gerhard Schumanns

174

Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe,

da kamen die Weisen vom Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der

neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind

gekommen, ihn anzubeten. (Mt 2, 1-2)

Schumanns „Sternbild“ (GS7, V.7) kündigt nicht die Geburt Christi an, sondern geht dem

Gezeichneten „zwingend“ (GS7, V.8) voran. In dem Sinne scheint das Sternbild die

Vorhersage des Reiches zu verkörpern. Indem der Gezeichnete das Sternbild folgt,

entsteht die Möglichkeit, dass die Prophezeiung der neuen Reichsidee erfüllt werden kann.

Außerdem wird die Botschaft der Erfüllung der Reichsidee – oder im Gedicht einfach das

„Wort“ (GS7, V.11) – mit dem Feuer- und so dem Lichtsymbol assoziiert. Das „Wort“ (GS7,

V.11) des Gezeichneten springt „wie Feuer in den Kreis“ (GS7, V.12) und erreicht so

schließlich doch die Gemeinschaft, die für die Erfüllung des Reiches unentbehrlich ist.

Diese Erfüllung der Reichsidee bezeichnet Schumann in seinem eigenen

Weihnachtsgedicht „Deutsche Weihnacht“ (GS32) als einen „Gottestraum“ (GS32, V.7).

Obwohl das kollektive Wir „keine Qual und keine Schmach vergessen“ (GS32, V.6) hat,

kniet sie doch um diesen Traum. Indem sie das tun, passiert ein „Wunder“ (GS13), denn

sie werden „zu schweigenden Gefäßen. / Erfüllt mit Licht“ (GS32, V.8-9). In diesem Sinne

benutzt Schumann die Licht-Dunkel-Symbolik nicht nur, um die Führerfigur als

„Lichtbringer“ darzustellen, sondern die Botschaft der zukünftigen Erfüllung der

Reichsidee erscheint auch als eine Botschaft des Lichts und schließlich erfüllt diese

Botschaft diejenigen, die für die Botschaft offenstehen, mit Licht. Schließlich wird auch

die Reichsfahne, die im fünften Sonett der „Lieder vom Reich“ sogar als „heilig“ (GS20,

V.11) bezeichnet wird, im Gedicht „Du Einzelner“ (GS25) mit Lichtsymbolik verbunden:

Wie unsre Flamme, unsre Fahne Weht!

Sie flattert überschüttet ganz von Licht! (GS25, V.11-12)

2.2.4 Apokalyptische Symbolik

Schumann übernimmt und adaptiert in seiner Dichtung auch apokalyptische Symbolik,

was bereits mit dem Verweis auf das Mal an der Stirn im Eröffnungsgedicht angesprochen

wurde. Auch die wiederkehrende Kombination von Blut und Feuer könnte als

apokalyptische Symbolik gedeutet werden. Gerhard Kurz verweist in dem Zusammenhang

auf die Apokalypse des Propheten Joel, die Petrus in seiner Pfingstpredigt zitiert: 618

Und ich will Wunder tun oben im Himmel und Zeichen unten auf Erden: Blut und Feuer

und Rauchdampf; die Sonne soll sich verkehren in Finsternis und der Mond in Blut, ehe denn

der große und offenbare Tag des HERRN kommt. (Apg 2, 19-20)

618 Vgl. Kurz: Braune Apokalypse, 136.

Page 175: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

175

Aus diesem Grund lässt sich, so Kurz, im Blutkult des Nationalsozialismus apokalyptische

Symbolik vermuten. Er interpretiert das als „Flammenbach“ (GS18, V.8) beschriebene Blut

in Schumanns dritten Sonett der „Lieder vom Reich“ als ein apokalyptisch Element, wobei

das Blut als ein „Symbol der Gewalt und einer apokalyptischen Vernichtung und

Erneuerung“619 fungiere. Auch die Assoziation mit Feuer wäre im apokalyptischen Kontext

zu betrachten. Kurz beschreibt Feuer in der nationalsozialistischen Bildwelt als ein Symbol

der Reinigung, das bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zu einer realen Handlung

und als apokalyptisches Symbol verstanden wurde.620 Im zweiten Sonett desselben

Sonettzyklus lässt sich mit dem Symbol des „Abgrunds“ (GS17, V.4) ebenfalls

apokalyptische Symbolik vermuten. Das apokalyptische Wörterbuch erklärt, dass das

„Reich der Finsternis“ im Buch der Offenbarung meistens mit dem Wort „Abgrund“

angedeutet wird.621 In diesem Abgrund verbirgt sich laut der Offenbarung ein „Tier“ (vgl.

Off 11, 7; 17, 8), das „ohne Zweifel den Volksgeist der neusten Zeit“ bezeichnet, „der, von

dem Unglauben durchdrungen, den Glauben an die Kirchenlehre ganz zu unterdrücken

sucht, und also wirklich aus dem Abgrunde aufsteigend genannt werden kann“.622 In

Schumanns Sonett ist nicht das Tier, sondern der das Reich symbolisierende „neue Gral“

(GS17, V.11) aus dem Abgrund aufgestiegen. Im Zusammenhang mit der apokalyptischen

Symbolik in Schumanns Sonetten weist Kurz auf die Differenz der nationalsozialistischen

Apokalyptik zur biblischen Apokalyptik hin: Der Nationalsozialismus deutet die

Erwartung eines zukünftigen Ereignisses in die nahe Gegenwart um, weshalb das

Transzendente in das Immanente umgedeutet wird. Dabei erscheint nicht Gott, sondern

der Nationalsozialismus selbst als „Handelnde“, indem er sich als „Weltgericht“ setzt: „Die

„Verbrennung“ der alten Zeit soll die alte Zeit weniger tilgen als reinigen. Die neue Zeit ist

die Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus“.623

2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs

Mit der Übernahme von Symbolen wie Brot, Wein und Sternbild und der Nachahmung

der biblischen Sprache verweist Schumann an verschiedenen Stellen implizit und eher

oberflächlich auf biblische Geschichten wie etwa die Schöpfungsgeschichte oder die

Geburt Jesu. In zwei Gedichten verarbeitet er aber viel detaillierter zwei neutestamentliche

619 Kurz: Braune Apokalypse, 137. 620 Vgl. ebd., 135-136. 621 Vgl. Nikolaus von Brunn (Hg.): Apokalyptisches Woerterbuch, Brauchbar als ein Schluessel zur Eroeffnung des Geheimen Winke, die in der Offenbarung Jesu Christi durch den Junger, den Er lieb hatte, der Kirche erheilt worden. Basel: C.F. Spittler 1834, 3. 622 von Brunn (Hg.): Apokalyptisches Woerterbuch, Brauchbar als ein Schluessel zur Eroeffnung des Geheimen Winke, die in der Offenbarung Jesu Christi durch den Junger, den Er lieb hatte, der Kirche erheilt worden, 3. 623 Kurz: Braune Apokalypse, 137.

Page 176: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Gerhard Schumanns

176

Geschichten: die Ölbergvision und die Tempelreinigung. Beide Geschichten werden

ausführlich inhaltlich verarbeitet und umgedeutet.

Im bereits zitierten siebten Sonett der „Lieder vom Reich“ kontrastiert Schumann Licht

und Finsternis. Nicht nur wegen des Lichtsymbols wird die beschriebene Führerfigur mit

dem lichtbringenden Christus verglichen, auch inhaltlich ruft das Gedichte einen

spezifischen biblischen Kontext hervor. Obwohl Karl-Heinz Joachim Schoeps624 und

Albrecht Schöne625 in diesem Gedicht eine Parallele mit der alttestamentlichen Geschichte

von Moses, der mit den Gesetzestafeln vom Berge Sinai hinabsteigt, sehen, teile ich Erich

Voegelins Meinung, dass es hier um eine Ölbergvision geht.626 Schumann erzählt in

seinem Gedicht eine abgewandelte Version der Erzählung von Jesus‘ nächtlichem Kampf

mit einem Engel im Garten Gethsemane, sowie sie vom Evangelist Lukas beschrieben wird:

Und er riß sich von ihnen einen Steinwurf weit und kniete nieder, betete und sprach: Vater,

willst du, so nehme diesen Kelch von mir, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Es

erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und es kam, daß er mit dem Tode

rang und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.

(Lk 22, 41-44)

Jesus „rang“ mit dem Tode, nachdem er nach seinem letzten Abendmahl zum Gebet in den

Garten Gethsemane gegangen war. In Schumanns Sonett „rang“ (GS22, V.1) auch „der Eine“

(GS22, V.1) in der Nacht. Während das Blut den Augen des Einen entfloss (GS22, V.2),

wurde der Schweiß Jesu zu Blutstropfen, die auf die Erde fielen. Während Jesus freiwillig

zum Gebet niederkniet, wird Schumanns „Einer“ vom „Befehl“ (GS22, V.8) in die kniende

Haltung „gezwungen“. Bereits im Eröffnungsgedicht hat der Leser erfahren, dass dieser

„Befehl“ (GS7, V.14) die Erfüllung der Reichsidee ist. In diesem letzten Sonett ersetzt die

Reichsidee also eine göttliche Instanz, vor der man sich in einer knienden – betenden –

Haltung hinsetzt. In Schumanns Gedicht wird der Eine schließlich zum „Auserwählten“

(GS22, V.10), der das Volk „erlöst“ (GS22, V.13).

In seinem Sonettzyklus „Die Reinheit des Reiches“ kontrastiert Schumann zwischen den

„Reinen“, die aus reiner Überzeugung und in großer Opferbereitschaft für das neue Reich

gekämpft haben, und den „Unreinen“, die sich aus Opportunismus zum

Nationalsozialismus bekannten. Bereits im ersten Sonett kritisiert Schumann diese zweite

Gruppe, die den Sieg „feiern“ (GS42, V.1), den Ruhm „reichlich“ (GS42, V.3) teilen und den

Sinn des Kampfes „weise“ (GS42, V.7) erklären wollen, ohne am Kampf teilgenommen zu

624 Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 135. 625 Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 36. 626 Vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, 61.

Page 177: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

177

haben. Im zweiten Sonett greift Schumann auf die neutestamentliche Geschichte der

Tempelreinigung zurück, um diese Kritik auf die Spitze zu treiben.

5

10

Die Reinheit des Reiches 2

Und schon sind auch die Händler da und schlängeln

Beredt durchs Volk sich hin, das dumpf und bang

Und glaubend aufschaut zu dem schweren Gang.

Doch wimmelts rings von Buben und von Bengeln.

Sie handeln mit dem Leid, das wir getragen.

Verschleudern Opfer, herb uns abgekargt.

Das Blut der Toten bieten sie zu Markt.

Sie feilschen um den Lohn, dem wir entsagen.

Sie haben alles käuflich schon erworben,

Auf Wechslertischen reizvoll ausgelegt.

Dafür sind diese Toten nicht gestorben!

Er kommt, der züchtigt und den Tempel fegt!

Ihr faßt es nicht in Buden und in Ständen,

Das Schicksal, das anhebt sich zu vollenden (GS43)

Zunächst benutzt er mit „Händler“ (GS43, V.1), „handeln“ (GS43, V.5), „zu Markt bieten“

(GS43, V.7), „um den Lohn feilschen“ (GS43, V.8), „käuflich“ (GS43, V.9) und

„Wechslertischen“ (GS43, V.10) einen kapitalistischen Diskurs, der in der

nationalsozialistischen Rassenlehre als antisemitisch zu verstehen ist. Außerdem ruft

dieser Diskurs spontan Assoziationen mit der Tempelreinigungsgeschichte hervor:

Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im

Tempel und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer und sprach zu

ihnen: Es steht geschrieben: „Mein Haus soll ein Bethaus heißen“; ihr aber habt eine

Mördergrube daraus gemacht. (Mt 21, 12-13)

In dieser Anekdote verjagt Jesus die jüdischen Händler aus dem Jerusalemer Tempel und

fordert die Reinheit des Tempels als Gebethaus. In der letzten Strophe des vierten Sonetts

greift Schumann sehr explizit auf diese Geschichte zurück: „Er kommt, der züchtigt und

den Tempel fegt!“ (GS43, V.12) Schumann betont die Notwendigkeit eines starken

„Führers“, der die Reinheit des Reiches garantieren kann. Im Kontext des Gedichtes setzt

er das Reich dem „Tempel“ (GS43, V.12) gleich und versieht die politische Reichsidee

erneut mit einem religiösen Aura, indem er ihn als einen sakralen Ort beschreibt.

Page 178: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Gerhard Schumanns

178

3. Zwischenfazit – Die sakralisierte Gestaltung des

„Reiches“ in der affirmativen NS-Dichtung

Die Analyse von Schumanns Gedichtband zeigt, dass der Glaubensartikel „Reich“ stark mit

dem Führergedanken und der Volksidee verschränkt ist. Dabei stehen aber sowohl der

„Führer“ als auch das Volk immer im Dienste der Gestaltung des Reiches. Besonders in der

letzten Verszeile des ersten Sonetts der „Lieder vom Reich“ (GS16) betont Schumann die

Notwendigkeit der Entindividualisierung zugunsten der Reichsidee: „Verlor mich selbst

und fand das Volk, das Reich“ (GS16, V.14). Nur in der Kollektivität konstituiert sich das

Volk, aus dem das Reich entsteht. Auch Herybert Menzel betont, „es geht hier nicht um

Mein und Sein“ (HM8, V.22), sondern um das „ewige Deutschland“ (HM8, V.23). Obwohl

dieser Gedanke in der Dichtung von Heinrich Anacker und Herybert Menzel sonst weniger

ausgesprochen hervortritt, erscheint das Reich aber schon vielerorts in Verbindung mit

„Führer“ und/oder „Volk“. So wurde der messianische „Führer“ im vorigen Kapitel bereits

als „Bauherr“ des Reiches dargestellt, indem der „Führer“ unter anderem in Anackers

Eröffnungsgedicht „den Grundstein zum Dritten Reich“ (HA11/12, V.16) legte. Menzel

charakterisiert den „Führer“ sogar besonders durch dessen Liebe für das Vaterland: „Es

lebt der Eine / Der Deutschland liebt“ (HM48, V.9-10). Diese Liebe widerspiegelt sich in

Hitlers Augen, denn „In seinen Augen glänzt uns Deutschlands Bild“ (HM23, V.8). Nach

dem Vorbild des „Führers“ schlägt auch „das Herz“ des Volkes „für das Reich“ (HA27, V.7-

8).

Neben der Übernahme eines religiös konnotierten Lexikons und der Nachahmung

biblischer Syntax, hat sich vor allem das Motiv der Auferstehung als wichtigstes Element

des religiösen Diskurses in Schumanns sakralisierter Darstellung des Reiches erwiesen. Im

Rahmen dieses Motivs übernimmt er das Blut- und Weinsymbol und die Licht-Dunkel-

Symbolik. Das Motiv der Auferstehung sei auch im Zusammenhang mit der

apokalyptischen Weltvision des Nationalsozialismus zu verstehen, denn nur aus der

kompletten Vernichtung oder Zerstörung lässt sich die „Auferstehung“ oder Erneuerung

des Reiches verstehen. Konkret bedeutet dies aus nationalsozialistischer Perspektive, dass

das neue Reich aus der Krisenzeit der Weimarer Republik „aufersteht“. Anacker ist der

einzige der für diese Arbeit ausgewählten Autoren, die das „Reich“ explizit als das „Dritte

Reich“ beschreibt (vgl. HA11/12, V.16; HA14, V.20; HA60, V.2; HA94, V.9; HA95, V.4; HA101,

V.12; HA104, V.7). Besonders im Gedicht „Die Fahnen verboten“ (HA14) beschreibt er

dieses „Dritte Reich“, das aus „Schmach und Trümmern“ (HA14, V.19) aufersteht, als

„heilig“ (HA14, V.20). In Anackers Dichtung zeigt sich das Motiv der Auferstehung in erster

Linie symptomatisch auf lexikalisch-semantischer Ebene, indem in zwei unterschiedlichen

Gedichten explizit von „Deutschlands Auferstehn“ (HA14, V.12; HA24, V.7) die Rede ist.

Genauso wie Menzel thematisiert Anacker das Motiv der Auferstehung immer im

Page 179: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

179

Zusammenhang mit der Opfer- und Kampfbereitschaft des „Volkes“, auf die im nächsten

Kapitel in der Analyse des Glaubensartikels „Volk“ in Menzels Gedichtband Gedichte der

Kameradschaft näher eingegangen wird. So betont Menzel in seinem Gedicht „Die

schweigenden Mahner“ (HM33), dass das Volk nach dem Vorbild der für das Vaterland

Verstorbenen handeln soll:

Jeder soll sein wie sie,

Immer zum Opfer bereit.

Jeder soll kämpfen wie sie

Für Deutschlands Unsterblichkeit. (HM33, V.12-15)

Anacker betrachtet die „Gräber“ (HA24, V.6) der Freunde als „Meilensteine“ (HA24, V.6)

am Weg zu „Deutschlands Auferstehn“ (HA24, V.7). Gerade in dieser Idee der

Auferstehung oder Unsterblichkeit des deutschen „Reiches“ erweist sich auch in Anackers

und Menzels Dichtung den chiliastischen Charakter des Nationalsozialismus. In seinem

Gedicht „Ewiges Deutschland“ (HA28) beschreibt Anacker das Reich mit dem ihm

vorangestellten Adjektiv „ewig“ also sehr explizit als ein „ewiges“ Reich. Im Schlussgedicht

seines Gedichtbandes „Blick in die Zukunft“ (HA116) fordert er das „Reich“ sogar zu einem

gewissen „ewigen“ Zustand auf:

Du Reich, das ein Arndt und ein Bismarck ersehnt,

Das ein Dietrich Eckart schon nahe gewähnt,

Brich an zur ewigen Dauer! (HA116, V.16-18)

Nur in seinem Gedicht „Deutsche Ostern 1933“ (HA112/113) deutet Anacker, wie bereits

angedeutet, die christliche Ostergeschichte und so das Motiv der Auferstehung ganz

eindeutig politisch um. Nicht der „Heilige Christ“ (HA112/113, V.29), mit dem er das Reich

in der vorletzten Verszeile explizit vergleicht, sondern das fünffach wiederholte

„Deutschland“ (HA112/113, V.5, 9, 15, 21, 29) spielt die Hauptrolle in dieser

nationalsozialistischen Passionsgeschichte.

Besonders im Zusammenhang mit dem christlichen Motiv der Auferstehung erhebt sich

das Ideologem „Reich“ in der affirmativen NS-Dichtung also auf eine sakrale Ebene,

weswegen es als Glaubensartikel eindeutig in die (2) doktrinär-politischen Dimension der

(politischen) Religion einzuordnen wäre. Das Auferstehungsmotiv verleiht der Reichsidee

aber – auch in Anlehnung an Joachim von Fiores Vorstellung des „Dritten Reiches“ –

zudem eine gewisse mythische Dimension, die Vergangenheit und Zukunft – besonders in

der chiliastischen Auslegung des „ewigen Reiches“ – mit einander verbindet. In dem Sinne

kann man das Symbol des („Dritten“) Reiches auch der (3) mythisch-narrativen Dimension

zuordnen. Obwohl Gerhard Schumann nicht explizit darauf eingeht, impliziert er

besonders im Symbol des „Gezeichnet-seins“ die Exklusivität des Volkes, das sich „dem

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

180

Reich verschreibt“ (vgl. GS7). Gerade dieses Symbol sei also auch als Hinweis auf die (5)

ethisch-rechtliche Dimension der (politischen) Religion zu verstehen, da im NS-Regime

die Exklusivität durch Rassezugehörigkeit bestimmt wurde.

Obwohl Schumanns Gedichte aus der Anthologie Die Lieder vom Reich und dann vor allem

die beiden Sonettzyklen „Die Lieder vom Reich“ (GS16-GS22) und „Die Reinheit des

Reiches“ (GS42-GS46) von zeitgenössischen Literaturwissenschaftlern wie Helmuth

Langenbucher gepriesen wurden, wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht deutlich, ob sie

auch in der rituellen Praxis des Nationalsozialismus verwendet wurden. Nur beim Gedicht

„Deutsche Weihnacht“ hat Schumann explizit angegeben, dass das Gedicht im Jahre 1931

bei einer Weihnachtsfeier der SA gesprochen wurde. Für andere von Schumann verfasste

Gedichten ist aber schon belegt, dass sie an offiziellen Veranstaltungen wiederholt

rezipiert wurden. So hat Schumann anlässlich des Anschlusses Österreichs folgendes

Gedicht mit dem Titel „Ja (zum 10. April 1938)“ verfasst:

Nach tausendjährigen Wunden

hat Blut zu Blut gefunden,

geborsten Wall und Deich!

Vom Nordmeer bis zum Brenner

nur flammende Bekenner:

Ein Führer, Volk und Reich!627

Fünf Jahre nach der Publikation der Anthologie Die Lieder vom Reich scheint sich

Schumann immer noch eines gleichen religiösen Diskurses zu bedienen. Noch expliziter

als in den in diesem Kapitel analysierten Gedichten stellt Schumann „Führer“, „Volk“ und

„Reich“ in diesem Gedicht als eine Triade sakralisierter Ideologeme dar, die nicht

voneinander zu trennen sind. Erneut wird deutlich, dass die Gefolgsleute der

nationalsozialistischen Bewegung – hier schlicht das „Volk“ (V.6) – nicht als reine

„Anhänger“ einer politischen Bewegung zu verstehen sind, sondern dass sie als „Bekenner“

(V.5) an „Führer“ und „Reich“ (V.6) glauben. Auch in diesem Gedicht betont Schumann

noch einmal die nationalsozialistische Rassenidee, indem „Blut zu Blut gefunden“ (V.2)

hat. Laut Baird hat dieses Gedicht Adolf Hitler so beeindruckt, dass er Schumann zu einem

Treffen einlud, bei dem auch der Komponist Hans Gansser und Max Roth des

Württemberger Staatstheater anwesend waren. Unter Klavierbegleitung von Gansser sang

Roth Schumanns Gedicht, welches auf Hitlers Befehl täglich auf allen Sendern gespielt

werden sollte.628 Obwohl eine Radiosendung nicht direkt als rituelle Praxis zu verstehen

sei, kann man Schumanns Dichtung gerade wegen ihrer Übertragung im Rundfunk auch

im Rahmen der (1) rituell-praktischen Dimension interpretieren.

627 Gerhard Schumann: Schau und Tat. Gedichte. München: Langen-Müller 1938 75, V. 1-6. 628 Vgl. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon 145.

Page 181: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

VII Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Am Beispiel von Herybert Menzels

Gedichte der Kameradschaft (1936)

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

183

1. Die Volksgemeinschaft in Menzels Dichtung

1.1 Die Gemeinschaftsidee von Herybert Menzel

Herybert Menzels Zeitgenosse Gerhard Schilde meinte, dass Menzels Herkunft zur

Triebfeder seines ganzen Schaffens geworden sei: „Wo immer er weilte – und in der Zeit

des Zu-sich-Findens besonders – wird ihm das Erbe, das ihm von seinen Ahnen überkam,

nur noch bewußter.629 Geboren in Obornik/Posen entstammte er einer Region, die in der

Vergangenheit immer wieder zwischen deutscher bzw. preußischer und polnischer

Herrschaft schwankte. Menzel sah sich selbst und seine Heimat aber als „rein deutsch“.630

Er hat sich dann auch schon früh dazu entschlossen, unter anderem als Schriftsteller für

den Nationalsozialismus zu kämpfen.631 Menzel war davon überzeugt, dass der „Kampf“

den natürlichen Zustand des Menschen, sogar „das Grundelement des Lebens schlechthin“

bezeichnet: „Die Welt wird als ein von Feinden ringsum wimmelnder Kampfplatz

vorgestellt, wo das Hassen mit göttlichem Segen versehen ist und jeder Einzelne bereit

sein muss zur totalen Selbstaufgabe, um blind dem einen Führer in seiner von Gott

gewollten Mission zu folgen“.632 Diese Kampfbereitschaft sei auch eine

Grundvoraussetzung der nationalsozialistischen Idee von „Kameradschaft“, an die Menzel

bereits im Titel seines Gedichtbandes anknüpft. In ihrem Vokabular des

Nationalsozialismus definiert Cornelia Schmitz-Berning diese „Kameradschaft“, die zu

einem politisch-soziologischen Zentralbegriffs des „Dritten Reiches“ geworden ist, als den

„Geist der nationalen Solidarität in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“.633

Diese „Kameradschaft“ sei im Schützengraben des Ersten Weltkrieges entstanden, was die

„soldatische Haltung“ der Kameradschaft erklärt. Sie sei „im Wollen gemeinsam

ausgerichtet […], in ihr verwirklicht sich wahrer Sozialismus der Tat und der

Opferbereitschaft“.634 Gerade diese Vorstellung von Kameradschaft zeigt sich im

folgenden Gedicht von Menzel, das im Gedichtband Gedichte der Kameradschaft ohne

Titel aufgenommen ist, aber dem bei späteren Veröffentlichungen den Titel „Der

Kamerad“ hinzugefügt wurde.

Wenn einer von uns müde wird,

Der andre für ihn wacht.

Wenn einer von uns zweifeln will,

Der andre gläubig lacht.

629 Schilde: Herybert Menzel, 3. 630 Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 145. 631 Vgl. ebd., 154. 632 Ebd., 157. 633 „Kameradschaft“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 343. 634 „Kameradschaft“ in ebd.

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Am Beispiel Herybert Menzels

184

5

Wenn einer von uns fallen sollt,

Der andre steht für zwei.

Denn jedem Kämpfer gibt ein Gott

Den Kameraden beid. (HM26)

Menzel entwirft das Bild einer bedingungslosen Freundschaft zwischen zwei Kameraden,

die einander in schwierigen Zeiten stets gegenseitig unterstützen. Während es in der

ersten Strophe nur darum geht, dem Anderen im Falle von Müdigkeit (vgl. HM26, V.1)

oder Zweifel (vgl. HM26, V.3) zur Seite zu stehen, greift Menzel in der zweiten Strophe das

Kampfthema wieder auf. Wie Andrés Nader anmerkt, scheint gerade diese

Kampfbereitschaft eine Grundvoraussetzung für die Kameradschaft zu sein, die darüber

hinaus von einem „Gott“ (HM26, V.7) zur Verfügung gestellt wird. Dieser Gott versehe

jeden Kameraden mit einem Kameraden und scheine diese Kameradschaft sogar über den

Tod hinaus zu garantieren.635 Das Gedicht wurde besonders in Gedenkfeiern am 9.

November in der Hitlerjugend rezitiert,636 in denen der Toten des misslungenen Putsches

im Jahre 1923 gedacht wurden. Gerade diese Idee von Gott als Gemeinschaft erwählt zu

werden und die Opferbereitschaft der Gemeinschaft erweisen sich in der Gedichtanalyse

als Ausgangpunkte für die Sakralisierung des Glaubensartikels „Volk“.

1.2 Die Stilisierung der „heiligen Mission“ der Volksgemeinschaft in

Herybert Menzels Gedichte der Kameradschaft (1936)

Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft, für den ihm im Jahre 1938 seine erste

literarische Auszeichnung und zwar der dritte Preis des Literaturpreises der Stadt Berlin

verliehen wurde, enthält 48 Gedichte und wurde bis 1944 immer wieder aufgelegt.637 Aus

dem ganzen Gedichtband spricht die Idee, dass der Einzelne sich in den Dienst der

Volksgemeinschaft und des „Führers“ stellen sollte. Die Rolle, die Männer und Frauen

dabei aufnehmen, unterscheidet sich in Menzels Gedichtband gemäß der

nationalsozialistischen Ideologie. Die Frau, die übrigens nur in fünf unterschiedlichen

Gedichten erwähnt wird, dient dem Volke in ihrer Rolle als Mutter der zukünftigen

Generation. Der Mann – auch der Kamerad – stellt sich dazu bereit, für das Volk und

seinen Führer zu kämpfen und gegebenenfalls sein Leben für das Vaterland hinzugeben.

Menzel wertet die Volksidee in drei Hinsichten religiös auf. Zunächst beschreibt er die

Exklusivität der deutschen Volksgemeinschaft anhand der Idee des „Auserwähltseins“ des

Volkes. In der Darstellung der Opferbereitschaft des Kämpfers bezieht Menzel sich auf die

christliche Tradition der Märtyrerstilisierung. In diesem Zusammenhang stellt er die

635 Vgl. Andrés José Nader: Traumatic Verses: On Poetry in German from the Concentration Camps, 1933-1945. Rochester, New York: Camden House 2007, 173. 636 Heinz Schreckenberg: Ideologie und Alltag im Dritten Reich. Frankfurt am Main: Lang 2003, 487. 637 Vgl. Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 160.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

185

verstorbenen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg und die gefallenen Putschisten aus dem

Jahre 1923 zum Vorbild. Schließlich versieht er die Mutterrolle der Frau mit einem sakralen

Aura, indem er diese Frauen der Mutter Maria gleichstellt.

2. Herybert Menzels Gestaltung der „heiligen Mission“ der

Volksgemeinschaft

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache

Genauso wie in Anackers und Schumanns Dichtung zeigt sich der religiöse Diskurs in

Herybert Menzel Gedichtband Gedichte der Kameradschaft zunächst auf lexikalisch-

semantischer Ebene. Wie Anacker und Schumann erwähnt Menzel an mehreren Stellen

„Gott“ (HM15/16, V3, 7, 13, 17, 21, 29; HM18, V.15; HM26, V.7; HM29, V.8; HM50/51, V.17, 21;

HM52, V.9; HM57, V.12), er ist aber der einzige, der auch „Maria“ (HM56, V.24) namentlich

nennt, indem er die Mutter Jesu den deutschen Müttern als Vorbild stellt. Auch Menzel

bedient sich mit Substantiven wie „Amen“ (HM10, V.15), „Ewigkeit“ (HM40, V.14; HM44,

V.13; HM57, V.4, 16), „Geist“ (HM36, V.6), „Glaube“ (HM11/12, V.28; HM40, V.16; HM50/51,

V.3), „Gleichnis“ (HM55, V.7), „Himmel“ (HM8, V.3; HM9, V.14; HM39, V.4, 10), „Opfer“

(HM20, V13; HM33, V.13; HM45, V.12), „Opfergang“ (HM35, V.6), „Saat“ (HM18, V.16;

HM34, V.3, 15; HM35, V.4; HM55, V.2), „Schicksal“ (HM7, V.10, 12; HM8, V.12; HM20, V.3),

„Seele“ (HM18, V.2, 5; HM57, V.7), „Segen“ (HM33, V.14; HM41, V.3) und „Stern“ (HM11/12,

V.18, 31; HM37, V.2; HM39, V.9; HM56, V.16; HM57, V.6) eines offensichtlich christlich-

religiösen Vokabulars. Auch die Adjektive „ewig“ (HM7, V.6; HM8 V.3; HM22, 12, 15; HM35,

V.10, HM36, V.12; HM37, V.3; HM39, V.6), „gläubig“ (HM26, V.4; HM38, V.10; HM56, V.22)

und „heilig“ (HM15/16, V.14; HM20, V.5; HM21, V.1; HM39, V.4; HM42, V.16; HM54, V.7)

sowie Verben wie „auferstehen“ (HM9, V.17; HM34, V.4; HM42, V.18), „sich bekennen“

(HM15/16, V.18; HM33, V.6), „beten“ (HM15/16, V.4, 27; HM22, V.7), „glauben“ (HM15/16,

V.28; HM17, V.9; HM50/51, V.20; HM56, V.15), „segnen“ (HM8, V.19; HM15/16, V.10, 29;

HM18, V.9; HM42, V.17) und „weihen“ (HM11/12, V.15) lassen sich erneut als christlich-

religiöses Vokabular erkennen. Mit dem Titel „Stern über den Hütten“ (HM56) und die

Beschreibung einer „werdende[n] Mutter“ (HM56, 23) als „Maria“ (HM56, V.24)

inkorporiert auch Menzel die Weihnachtsgeschichte in seiner politischen Dichtung.

Page 186: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Herybert Menzels

186

2.2 Die kollektive Identität – „deutsche“ Exklusivität

2.2.1 Das Kollektiv – Eine „exklusive“ Identität

Die nationalsozialistische Vorstellung von „Kameradschaft“ übersteigt, so Schmitz-

Berning, die Idee der „Freundschaft“, die „eine Teilerscheinung zwischen zweien“ sei.

„Kameradschaft“ bezeichne als „Kollektivum“ immer „eine geschlossene größere

Gemeinschaft“.638 Dieses Kollektivum wird in zahlreichen propagandistischen Texten mit

dem kollektivierenden Personalpronomen „Wir“ ausgedruckt. Wie aber bereits

angedeutet, bezieht sich dieses „wir“ auf eine „geschlossene Gruppe“, die durch ihre

Exklusivität charakterisiert wird. Besonders im Gedicht „Der Fahnenträger“ (HM21) wird

diese Exklusivität als „Auserwähltheit“ gedeutet:

Edles Blut und auserkoren,

Kühn im Siege und im Tod (HM21, V.5-6)

Gerade das Adjektiv „auserkoren“ (HM21, V.5) betont die Idee der „Auserwähltheit“ der

deutschen „Volksgemeinschaft“. Die entscheidende Voraussetzung für die Zugehörigkeit

zu dieser deutschen Volksgemeinschaft ist das „edle Blut“ (HM21, V.5), das in

„Deutschland im Marschtritt“ (HM22) auch als „das beste Blut“ (HM22, V.16) bewertet und

in der nationalsozialistischen Ideologie nach rassischen Kriterien definiert wird. Dass die

Gemeinschaft gerade im gemeinsamen Blut seinen Kameraden erkennt, betont Menzel im

Gedicht „Reih dich ein!“ (HM19):

Lausch auf dein Blut tief innen,

Es spricht wie wir! (HM19, V.9-10)

Nur in einem Gedicht spezifiziert Menzel das „Blutserbe“ explizit als exklusiv „deutsch“,

und zwar in der ersten Strophe des Gedichtes „Von unserm Schritt“ (HM38)

Von unserm Schritt erwachten Bataillone,

Von unsern Trommeln klang's an aller Ohr:

Das deutsche Erbe ruft nach seinem Sohne,

Hier geht der Weg, die Fahne schreitet vor. (HM38, V.1-4)

Bereits in diesem Gedicht wird die „Volksgemeinschaft“ als ein quasitranszendentes

Konzept dargestellt, indem das unbestimmte aber schon personifizierte „deutsche Erbe“

(V.3) seine Nachkommenschaft anruft. Die „Volksgemeinschaft“ übersteigt damit die

gegenwärtige Generation und verbindet das vergangene „Erbe“ mit der zukünftigen

638 „Kameradschaft“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 343.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

187

Nachkommenschaft. Noch expliziter beschreibt Menzel diese generationenübergreifende

Gemeinschaft in der dritten Strophe des folgenden Gedichtes:

5

10

15

Deutschland im Marschtritt

Wenn wir marschieren - Schritt um Schritt -

Wir lauschen: unser Herz schlägt mit.

Mein Herz und dein Herz, Kamerad.

Im gleichen Takt: Soldat! Soldat!

So Reih um Reihe - Schritt um Schritt -

Kolonnen stampfen gleichen Tritt.

Wir ahnen's groß, wir beten's schon:

Dies ist der Pulsschlag der Nation.

Wenn wir marschieren - Schritt um Schritt -

In unserm Blute ziehen mit

Die Väter all, die Enkel schon:

Im ewigen Pulsschlag der Nation.

Soldat! Soldat! So Tritt um Tritt.

Hört Deutschland, wie es stritt und litt!

Hört Deutschland, wie es ewig zieht,

Das beste Blut, ins Heldenlied! (HM22)

Auch hier verbindet das Blut die heutige Generation mit der der „Väter“ und der „Enkel“

(HM22, V.11). Im Gedenken der Vergangenheit ruft Menzel bewusst die deutsche

Kriegsvergangenheit in Erinnerung, auf die später noch im Rahmen der

Märtyrerstilisierung eingegangen wird. Menzel und mit ihm viele andere NS-Dichter

greifen in ihrer Lyrik aber auch auf das Bild der marschierenden Kolonnen (HM22, V.5) als

Symbol für die nationale Einheit zurück. So merkt Karl-Heinz Schoeps an, dass sich der

Klang marschierender Kolonnen durch zahlreiche Gedichtanthologien zieht: „The

monotonous rhythm of marching, especially when accompanied by a drum, encourages

placing everyone on the same level and enforces group solidarity; its ‚motoric

suggestiveness‘ does not touch the intellect but mobilizes ‚deeper levels‘“.639 Heidrun

Ehrke-Rotermund erschließt eine solche „tiefere Ebene“ im emotionalen Bezug, der in der

ersten Strophe dreimal mit dem Wort „Herz“ (HM22, V.2-3) beschworen werde. Dieser

Bezug lasse sich auch „ohne weiteres auf das Kollektiv von Volk, Vaterland, Nation oder

Deutschland übertragen. Indem der Soldat sich seinen Kameraden verbunden fühlt, soll

639 Schoeps: Literature and Film in the Third Reich, 176.

Page 188: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Herybert Menzels

188

er sich zugleich als Glied des lebendigen deutschen Volkskörpers empfinden lernen“.640

Diese emotionale Verbundenheit kommt auch im Rhythmus des Marschliedes zum

Ausdruck. Dass die Herzen „im gleichen Takt“ (HM22, V.4) schlagen, wäre die angestrebte

Wirkung eines solchen Marschliedes.641 Denn, gerade beim „Marsch im Gleichschritt

erfährt der Soldat die Übereinstimmung seines eigenen Bewegungs- und Herzrhythmus

mit dem aller neben ihm Marschierenden“.642 Gerade diese „Einheit im Takt“ symbolisiert

die quasinaturgemäße „Einheit der Gemeinschaft“. Denn im Gedicht „Die Welt gehört der

Führenden“ (HM13/14) schreibt Menzel, „ein Kerl muß bei Soldaten sein“ (HM13/14, V.23)

und „gleich schlägt sein Herz im Takt“ (HM13/14, V.24).

Bereits in Gerhard Schumanns „Liedern vom Reich“ kam die Entindividualisierung

zugunsten der Idee der Kollektivität zum Ausdruck: Nur im Kollektiv findet die Reichsidee

Erfüllung. Auch in Menzels Dichtung kommt dem Individuum ausschließlich im Kontext

des größeren Ganzen eine Rolle zu. So heißt es in „Trommeln und Feuer“ (HM8), einem

weiteren Marschlied, explizit: „Es geht hier nicht um Mein und Sein“ (HM8, V.22). Es geht

um das kollektive „Wir“, das „ins ewige Deutschland“ (HM8, V.23) einzieht und deswegen

von der zukünftigen Generation „nicht vergessen“ (HM8, V.24) wird.

2.2.2 Das Volk als eine „gläubige“ Bewegung

Das Konzept des Volkes verfügt nicht über eine ihm inhärente sakrale Dimension. In

Verbindung mit den anderen beiden „Glaubensartikeln“ Reich und „Führer“, scheint aber

schon eine gewisse „Gläubigkeit“ von dem Volk auszugehen. Im Rahmen der Debatte über

den Nationalsozialismus als eine politische Religion betonen Forscher wie Klaus Vondung

und Uriel Tal die Bedeutung des (politischen) Glaubens im nationalsozialistischen System.

Tal bezeichnet gerade diesen Glauben als „the magic that inflames the masses“.643 Laut

Vondung fand dieser Glaube ab 1935 allmählich immer mehr Ausdruck in sogenannten

„Bekenntnisliedern“, die vor allem für den Gebrauch in Feierveranstaltungen bestimmt

waren.644 Auch in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft lässt sich einen

solchen – politischen Glauben – entdecken. So klingt im Gedicht „Jugend, wir tragen die

Fahnen!“ eindeutig: „Vaterland heißt unser Glaube“ (HM11/12, V.18). Außerdem wird der

„Führer“ erneut als eine quasimessianische Figur dargestellt. Genauso wie Schumann,

640 Heidrun Ehrke-Rotermund: Die Wehrmacht als Gegenstand der Literatur während des „Dritten Reiches“. In: Die Wehrmacht: Mythos und Realität. Sonderausgabe. Hg. v. Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2012, 692. 641 Vgl. von Bormann, Alexander, Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, in: Denkler und Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich, 272. 642 Ehrke-Rotermund: Die Wehrmacht als Gegenstand der Literatur während des „Dritten Reiches“, 691-692. 643 Tal: ‚Political Faith‘ of Nazism Prior to the Holocaust, 19. 644 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 118.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

189

bezeichnet Menzel den „Führer“ mehrmals als den „Einen“, der als „Führer“ „auferstanden“

(HM9, V.17) sei.

5

10

15

Es lebt der Eine!

Wer wollte sagen,

Daß er nicht fehlt?

Wir alle tragen,

Was einsam quält.

Wir irrten lange

In Nacht und Schuld.

Das macht nun bange.

Doch habt Geduld.

Es lebt der Eine,

Der Deutschland liebt.

Es lebt der Reine,

Der Kraft uns gibt.

Wie er zu leben,

Ist uns versagt.

Ihm nachzustreben,

Froh sei's gewagt! (HM48)

Auch Menzel benutzt die Licht-Dunkel-Symbolik um die alte – führerlose – Zeit mit der

neuen Epoche, in der „der Eine“ lebt, zu kontrastieren. Das kollektive „wir“ war „einsam“

(HM48, V.4) und „irrte(n) […] / in Nacht und Schuld“ (HM48, V.5-6). Mit dem Auftreten

des „Einen“ bekommt das Volk neue „Kraft“ (HM48, V.12), die quasi als ein Geschenk von

ihm angenommen wird. Dieser „Eine“ wird außerdem nicht unbedingt als ein politischer

„Führer“, sondern vielmehr als ein moralischer Wegweiser dargestellt. Seine große Kraft

scheint im Emotionalen zu liegen, und zwar in seiner Liebe zu „Deutschland“ (HM48,

V.10). Das kollektive Wir soll es wagen, „wie er zu leben“ (HM48, V.13) und „ihm

nachzustreben“ (HM48, V15).

Dieses grenzenlose Vertrauen zum „Führer“ führt auch zu einer restlosen Hingabe. Das

Volk agiert nur, wenn der „Führer“ ihn dazu befiehlt. In der letzten Zeile des Gedichtes

„Nun schlägt das Herz zum Trommelschlag“ (HM10) wird der Befehl des „Führers“ quasi

zu einem heiligen Gebot:

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Am Beispiel Herybert Menzels

190

Wir sind erweckt, wir sind im Lauf,

Nun hält uns nur der Eine auf,

Wenn er sein Amen spricht! (HM10, V.13-15)

Besonders mit dem Wort „Amen“ (HM10, V.15) wird die Beziehung zwischen Volk und

„Führer“ in gewisser Hinsicht religiös aufgewertet. Nicht nur erscheint der „Führer“ als

eine quasimessianische Persönlichkeit, deren Worte ein heiliges Gewicht bekommen,

darüber hinaus ergibt sich das Volk als eine gläubige Bewegung, die für eine solche religiös

anmutende „Botschaft“ aufgeschlossen ist. Menzel beschreibt das kollektive „Wir“ in

seinem bereits erwähnten Gedicht „Von unserm Schritt“ (HM38) außerdem nicht nur als

exklusiv „deutsch“ (HM38, V.3) sondern auch als „jung und gläubig“ (HM38, V.10):

Die wir im Dunkel auf den Ruf einst harrten,

Wir traten jung und gläubig in das Licht.

Die Fahne glüht, es leuchten die Standarten

Und unser Deutschland zeigt ein neu Gesicht. (HM38, V.9-12)

In der mühsamen und „dunkeln“ Wartezeit sehnt sich das Volk nach dem „Ruf“ (HM38,

V.9) eines Retters. Seine Ankunft bedeutet das Ende der Dunkelheit und ein Neuanfang

für „Deutschland“ (HM38, V.12), das hier wiederum als Personifikation auftritt. Genauso

wie in Joachims Reichsapokalypse und Max Webers Charisma-Theorie erweist sich die

Stärke der Konzepten „Führer“ /charismatische Persönlichkeit, (Drittes)

Reich/Heilsbotschaft und Volk/gläubige Bewegung nur in ihrem gemeinsamen Auftreten.

Wie bereits angedeutet, entwickelte sich diese Dreiheit auch im Nationalsozialismus quasi

zu einer neuen – alternativen – „Trinität“,645 die schließlich auch in der letzten Strophe des

Gedichtes „In seinen Augen“ (HM23) deutlich zum Ausdruck kommt.

Was morgen wird, das wollen wir nicht fragen,

Was unser Führer von uns fordert, gilt.

Er ist der Weg, der Sturm, das große Wagen,

In seinen Augen glänzt uns Deutschlands Bild. (HM23, V.4-8)

Gerade in der achten Zeile springt die – aus der christlichen Überlieferung durchaus

bekannte – dreigliedrige Struktur ins Auge. Während der Evangelist Johannes Jesus die

Worte in den Mund legt, er sei „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6),

beschreibt Menzel den „Führer“ in ähnlicher Weise als den „Weg“, den „Sturm“ und „das

große Wagen“ (HM23, V.7). Das Volk akzeptiert seine Worte als unwiderlegbare Wahrheit,

denn was er von ihnen fordert, „gilt“ (HM23, V.6) ohne Weiteres. Das Einzige, was der

„Führer“ – und so auch das Volk – vor Augen hat, ist die Verwirklichung des Reiches, also

645 Vgl. Baird: Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich 3; Hay: Religiöser Pseudokult in der NS-Lyrik am Beispiel Baldur v. Schirach, 857-858.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

191

„Deutschlands“ (HM23, V.8). Zu diesem Zweck erklärt sich das Volk bereit, sich für das

Reich zu opfern.

2.3 Die unsterbliche Gemeinschaft – Die Märtyrerstilisierung

Der Tod der Soldaten im Ersten Weltkrieg und der sechzehn Parteimitglieder, die das

Leben beim misslungenen Putschversuch im Jahre 1923 ließen, wurde in der

nationalsozialistischen Propaganda zu einem wahren Martyrium stilisiert. Anhand des

„Langemarck-Mythos“, der bereits während der Kriegszeit und in Kriegsliteratur der

Weimar Republik verarbeitet wurde, greift Menzel den Soldatentod als „Opfer für das

Vaterland“ auf. Die verstorbenen Putschisten, die als Erste im eigentlichen „Kampf“ der

nationalsozialistischen Bewegungen getötet wurden, werden zu den wahren „Proto-

Märtyrern“646 der NS-Bewegung stilisiert. Diese „Märtyrer“ dienen der Volksgemeinschaft

zum Vorbild und fordern sie auf, in ihre Fußstapfen zu treten.

2.3.1 „Die Jugend von Langemarck“ – Das leuchtende Vorbild der deutschen

Soldaten

Der Tod der deutschen Soldaten erwies sich bereits während aber auch nach dem Ende

des Ersten Weltkrieges als identitätsstiftend für das deutsche Kollektiv. Sogar

solchermaßen, dass der Flämische Toponym „Langemarck“, der immer noch die

Assoziation mit Soldatenfriedhöfen hervorruft, auch heute noch in der Liste der

sogenannten „deutschen Erinnerungsorte“ erscheint. Obwohl die Bedeutung dieses Topos

für das aktuelle kollektive Gedächtnis eher niedrig einzuschätzen ist, hatte der Ortsname

in der Weimarer Zeit und im „Dritten Reich“ schon einen quasi-mythischen Beiklang.647

So fragt sich Heinrich Anacker in seinem Gedicht „Ewiges Deutschland“ (HA28)648

Denn wer von uns ist so stark,

Und so heilig-trunken,

Wie die, die bei Langemarck

Singend dahingesunken? (HA28, V.4-8)

Dem zeitgenössischen Leser war der Ortsname Langemarck so bekannt, dass eine weitere

Referenz auf den Ersten Weltkrieg überflüssig scheint. Indem Anacker seine Kriegshelden

„singend“ (V.8) untergehen lässt, schließt er aber schon eindeutig an den bereits mythisch

gewordenen Langemarck-Topos an. Dieser kannte seinen Ursprung, so sind sich

646 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 24. 647 Vgl. Krumeich: Langemarck, 292. 648 Der Langemarck-Topos in Heinrich Anackers Dichtung wird ausführlich analysiert in Anneleen Van Hertbruggen: Die a Hero in Langemarck: Flanders in the Nazi Poetry of Heinrich Anacker. In: Journal of Dutch literature 8.1 (2017), 41-59.

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Am Beispiel Herybert Menzels

192

Krumeich, Baird, Ketelsen, Aichele und weitere Forscher einig, im Heeresbericht der

Obersten Heeresleitung vom 11. November 1914: „Westlich Langemarck brachen junge

Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste

Linie der feindlichen Stellung vor und nahmen sie […]“.649 Die historische Wahrhaftigkeit

dieses Berichtes wird von vielen Forschern in Frage gestellt. So bezweifelt Aichele zum

Beispiel den faktischen Wahrheitsgehalt der zwei Hauptpunkte dieses Berichtes: „Weder

wurde unter Absingen des Deutschlandliedes gestürmt noch waren die eingesetzten und

verheizten Regimenter im biologischen Sinne jung“.650 Allerdings hatte der Bericht schon

einen wahren Kern und – viel wichtiger – er trug ein Element der Hoffnung, auf dem sich

der „Langemarck-Mythos“ aufbauen ließ. Bereits während der Kriegszeit wurde

„Langemarck“ propagandistisch verwertet und das Bild der vorstoßenden Regimenter, die

das Deutschlandlied sangen, nahm in Deutschland mythische Proportionen an. Mit ihrem

Opfer habe die Jugend einen Sieg errungen, was bis 1918 als positive Kriegserfahrung der

Soldaten ausgenutzt wurde.651 Die anfängliche Kriegsbegeisterung äußerte sich auch in der

massenhaften Produktion und Verbreitung von Kriegslyrik. Bereits im Jahre 1915 gehörte

diese Kriegslyrik auch zu der für die Schule empfohlenen Literatur.652 Nach dem Ende des

Ersten Weltkrieges ging die Popularität des Langemarck-Topos erst einmal zurück. Laut

Krumeich hat sich die Langemarck-Erinnerung in den 1920er Jahren auf Elemente der

Jugendbewegung beschränkt und dann in erster Linie an Universitäten, wobei die Jugend,

die nun als Studenten im selben Alter als „die jungen Regimenter in Langemarck“ waren,

diese Kriegserfahrung oft kritisch und bitter reflektierten. Erst ab 1928 gewann die

Kriegserzählung und der Langemarck-Topos – mit dem zehnten Jahrestag des Kriegsendes

und der zunehmenden sozialen und politischen Polarisierung in Deutschland – erneut

Konjunktur. So wurde der 19. November 1928 zum Beispiel als „Langemarck-Tag“ der

deutschen Studentenschaft etabliert.653 Sowohl Krumeich als auch Ketelsen betonen die

Verbindung von Jugend, Opfer und Nation als Kraft des Langemarck-Mythos,654 eine Kraft,

die auch von den nationalsozialistischen Propagandisten erkannt und ausgenutzt wurde.

Dass der Langemarck-Topos bereits gut im kollektiven Gedächtnis verankert war,

illustriert Ketelsen mit einem Verweis auf Ernst Jüngers Werk Der Friede655, in dem Jünger

die flämischen Ortsnamen „Douamont“ und „Langemarck“ ohne weitere Erläuterung

649 Zit. nach Krumeich: Langemarck, 292 650 Alexander Aichele: Singend sterben – mit Fichte nach Langemarck: Authentischer Fichteanismus im Ersten Weltkrieg. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81.4 (2007), 619. 651 Vgl. Krumeich: Langemarck, 300. 652 Vgl. Reinhard Dithmar: Der Langemarck-Mythos in Dichtung und Unterricht. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand 1992, xi. 653 Vgl. Krumeich: Langemarck, 306-307. 654 Vgl. Ebd., 309; Uwe-K. Ketelsen: „Die Jugend von Langemarck“. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit. In: ‚Mit uns zieht die neue Zeit‘ Der Mythos Jugend. Hg. v. Thomas Koebner et al. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, 75. 655 Die ersten Drucke erschienen 1941/43 und 1945/46.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

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erwähnt. Ketelsen folgert daraus, dass diese Toponymen seinen Lesern so gegenwärtig

seien, „daß ihre bloße Nennung genüge, um solche weitreichenden und befrachteten

Zusammenhänge zu verstehen, wie er sie vorträgt“.656 Vielleicht hatte es damit zu tun, dass

dieser Topos auch in der NS-Schulpolitik seinen Charakter als „Symbol für das heldische

Jugendopfer und den Geist der Freiwilligkeit und der Hingabe für Deutschland“657 behielt.

Herybert Menzel erwähnt „Langemarck“ einmal in seinem Gedichtband Gedichte der

Kameradschaft, wobei er den Tod und die Motivation dieser „schweigenden Mahner“ als

leuchtendes Beispiel für die neue Generation darstellt.

5

10

15

Die schweigenden Mahner

Sie sind gefallen bei Langemarck,

Sie sind gefallen im Kampf um die Straßen.

Die Fahnen wehen, das Reich steht stark,

Stark sind die Völker, die nie ihre Toten vergaßen.

Nicht mit Trauern und Klagen

Werden wir uns bekennen.

Ihre Liebe zu Deutschland muß in uns weiterbrennen.

Mütter, ihr sollt euren Kindern

Stolz ihre Namen nennen.

Väter, an eurer Art

Wollen wir ihr Vorbild erkennen.

Jeder soll sein wie sie,

Immer zum Opfer bereit.

Jeder soll kämpfen wie sie

Für Deutschlands Unsterblichkeit.

Keiner soll klagen dürfen,

Denn er hat mehr noch zu geben.

Vor ihrem Sterben schweig still

Jedes ruhmvolle Leben. (HM33)

Gleich in der ersten Strophe betont Menzel die Kraft der Erinnerung. Man soll seine Toten

nicht vergessen, aber noch wichtiger scheint das Gebot zur Nachfolge: „Jeder soll sein wie

sie“ (HM33, V.12). Die Erinnerung an sie bleibt weiterhin lebendig, indem die Mütter

aufgefordert werden, ihren Kindern „stolz ihre Namen (zu) nennen“ (HM33, V.9).

Außerdem scheinen die Väter diesen Gefallenen bereits nachzufolgen, denn an ihrer „Art

/ wollen wir ihr Vorbild erkennen“ (HM33, V. 10-11). Das Gedenken der Verstorbenen

656 Ketelsen: „Die Jugend von Langemarck“. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, 69. 657 Vgl. Krumeich: Langemarck, 309.

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Am Beispiel Herybert Menzels

194

enthält also mehr als das bloße „Trauern und Klagen“ (HM33, V.5). Die zentrale normative

Setzung der Mythen sei laut Thieme „der geforderte unerschütterliche Glauben, der sich

im Tod der Märtyrer manifestiert habe“.658 Gerade dieser „Glaube“ sollte von den

„Mythenrezipienten“ fortgeführt werden. Menzel fordert explizit zum Gedächtnis dieser

Verstorbenen auf: „Ihre Liebe zu Deutschland muß in uns weiterbrennen“ (HM33, V.7).

Nach dem Vorbild der Gefallenen sollte diese „Liebe zu Deutschland“ auch die

Opferbereitschaft (vgl. HM33, V.13) der neuen Generation erregen. Das Kostbarste, das

man als Individuum der Bewegung, dem „Führer“ und dem Vaterland schenken kann, sei

ja das eigene Leben, das man aus Treue zur nationalsozialistischen Sache opfere. In den

letzten vier Zeilen unterstreicht Menzel, dass „jedes ruhmvolle Leben“ (HM33, V.19) sich

vor dem „Sterben“ (HM33, V.18) in Stillschweigen hüllen sollte. Der Kampf und das

eventuelle Opfer führe dann schließlich zu „Deutschlands Unsterblichkeit“ (HM33, V. 15).

Krumeich merkt an, dass dieser Topos nicht nur die bloße Beschreibung des Opfergeistes

der „Jugend von Langemarck“ enthielt, sondern auch die „Hoffnung auf ein Fortwirken

oder Wiedererwachen eben dieses Opfergeistes“ implizierte.659 Gerade diese

nationalsozialistische Sinndeutung des Soldatentodes baut auf einem bereits im 19.

Jahrhundert eingebürgerten Deutungsmuster auf, das dem Schema der christlichen

Erlösungslehre folgt. Das heroische Narrativ in Kombination mit der christlichen

Heilslehre schienen eine Antwort auf den „Sinn des Massensterbens“ anzubieten.660 Der

Opfertod für das Vaterland führe, so liest man auch in Menzels Gedicht, schließlich zu

„Deutschlands Unsterblichkeit“ (HM33, V.16). Die Beschreibung dieses „heroisierte

Opfertum“ beschränkt sich außerdem nicht auf die deutschen Soldaten im Ersten

Weltkrieg, sondern wurde auf die Toten der eigenen Bewegung übertragen,661 die dann als

wahre „Märtyrer der Bewegung“ verherrlicht wurden.

2.3.2 Die „Gefallenen der Bewegung“ – Die nationalsozialistische

Märtyrerverehrung

Nachdem Hitler die NSDAP im Jahre 1925 neugründete, wuchs die Bedeutung des

Kultischen allmählich an. Nicht nur die kultische Verehrung des Führers kannte in diesen

Jahren seinen Anfang, auch die ersten kultisch veranstalteten „Totenehrungen“ wurden

bereits am Ende der 1920er Jahre organisiert, wie beispielsweise der „Langemarck-Tag“ am

28. November 1928. Laut Gerhard Kurz kulminierte der „Kult“ um die toten Helden aber

658 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 146. 659 Vgl. Krumeich: Langemarck, 295. 660 Vgl. Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung, 45. 661 Knoch: Die „Volksgemeinschaft“ der Bilder. Propaganda und Gesellschaft im frühen Nationalsozialismus, 139.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

195

im Opferritus vom 9. November,662 der bereits 1926 von Hitler zum „Reichstrauertag“ der

NSDAP erklärt wurde.663 Im Mittelpunkt dieser Gedenkfeiern standen die sechzehn

NSDAP-Mitglieder, die 1923 beim Putschversuch getötet worden waren. Diese sechzehn

gelten als „Proto-Märtyrer“ der NS-Bewegung, da sie „als zuerst Verstorbene eine

übergeordnete Rolle innerhalb der NS-Märtyrerfiguren einnahmen“.664 Hitler selbst hat

ihre Verehrung initiiert,665 indem er diese „Blutzeugen“ der Bewegung in der über der

Namensliste stehenden Widmung des ersten Bandes von Mein Kampf zu Märtyrern

stilisierte. Becker und Behrenbeck beschreiben, wie der Jahrestag des Todes der sechzehn

Gefallenen zum Geburtstag des Reiches wurde, weil sich der Jahrestag als Mysterium

offenbarte. So hat Hitler im Jahre 1934 deklariert, dass das von ihnen vergossene Blut zum

Taufwasser des „Dritten Reiches“ geworden sei.666 Dieser Feiertag erinnerte laut

Behrenbeck gewissermaßen an das „Gethsemane und Golgatha der ‚Bewegung‘“, dem zehn

Jahre später die österliche Auferstehung gefolgt sei.667 Auch Menzel transferierte

christliche Symbolik zur lyrischen Verwertung dieses Topos, wie im folgenden Gedicht:

5

10

Ihr von der Feldherrnhalle

Wie ihr schrittet zu der Feldherrnhalle,

Erste Zeugen Deutschlands neuer Tat,

Davon sagen nun die Mütter alle,

Und ihr werdet immer wieder Saat.

Wie ihr schrittet, folgten Männer, Knaben.

Ohne Ende war der Opfergang.

Deutschlands Hoffnung wurde oft begraben,

Aber immer neu die Trommel klang.

Wie ihr schrittet zu der Feldherrnhalle,

Das soll ewig unvergessen sein.

Seht, wir kommen, und wir danken alle,

Und wir holen euch in unsre Reihn. (HM35)

Erneut betont Menzel die Kraft der Erinnerung, indem der Marsch auf die Feldherrnhalle

„ewig unvergessen“ (HM35, V.10) sein wird. Die Putschisten leben aber nicht nur weiter in

662 Vgl. Kurz: Braune Apokalypse, 138. 663 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 299. 664 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 24. 665 Ebd., 154. 666 Vgl. Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration, 27; Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 299-300. 667 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 300.

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Am Beispiel Herybert Menzels

196

der bloßen Erinnerung, sondern auch in der aktiven Nachfolge der neuen Generation. Ihr

Vorbild generiert „immer wieder Saat“ (HM35, V.4) für neue Märsche, die als „Opfergang“

(HM35, V.6) beschrieben werden. Obwohl viele in ihrem Versuch anscheinend gescheitert

sind, denn „Deutschlands Hoffnung wurde oft begraben“ (HM35, V.7), findet man immer

neuen Mut, um neuanzufangen. In diesem Gedicht beschreibt Menzel, wie das „Opfer“ der

Putschisten, die als „Erste Zeugen Deutschlands neuer Tat“ (HM35, V.2) tatsächlich als

„Proto-Märtyrer“ dargestellt werden, die neue Generation bereits zur aktiven Nachfolge

inspiriert hat. In anderen Gedichten ruft Menzel noch zur Nachfolge ihres Beispiels und

zur aktiven Anteilnahme in der Bewegung auf, damit auch die neue Generation als Teil

der Volksgemeinschaft für „ewig unvergessen“ sein wird.

2.3.3 Nach dem Vorbild der Märtyrer durch das Opfer ins ewige Leben

Gerade diese Sehnsucht nach oder das Versprechen von Unsterblichkeit wird als eine

Antwort auf individuelle existenzielle Fragen verstanden. In seinem Gedicht „In unsern

Herzen wird der Feind geschlagen“ (HM20) hebt Menzel ganz besonders hervor, „das

Leben ist ein Nichts in seiner Dauer, / wer’s überloht, hat erst sich selbst erlangt“ (HM20,

V.7-8). Gerade die Sinndeutung des eigenen Lebens im Jenseits mutet besonders religiös

an. Laut Berghoff schließt eine solche „profane Transzendenz“ das Jenseits der konkreten

Existenz in der Vergangenheit und Zukunft des Kollektivs“ ein.668 Im selben Gedicht

erklärt Menzel dann auch, wie das eigene Leben und das hypothetische Opfer an

Bedeutung gewinnen kann:

Erst wer im Marschtritt Kämpfern sich verbunden,

Erst wer der Fahne folgt, entgeht der Zeit.

Es lebt das Reich in seinen hohen Stunden,

Wir sind das Opfer, und wir sind bereit. (HM20, V.9-12)

Gerade in der Treue zum Vaterland, die im Opfer für das Vaterland münden kann, befindet

sich das Versprechen der Ewigkeit. Auch im Gedicht „Der alte Sturm“ (HM44) ruft Menzel

in der zweiten Strophe die Kriegsvergangenheit in Erinnerung, um dies zu

veranschaulichen.

Die hohe Zeit der Kämpfe lebt uns wieder.

Du warst dabei in jener bangen Nacht,

Du sangst sie mit, die glaubensstarken Lieder.

Kamerad, wer hat wie du uns froh gemacht?! (HM44, V.5-8)

668 Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation, 70-71.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

197

Vor allem mit dem Verweis auf „die glaubensstarken Lieder“ (HM44, V.7), die „in jener

bangen Nacht“ (HM44, V.6) gesungen wurden, appelliert Menzel an eine Kriegsszene, die

bis zum heutigen Tage im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Zu Weihnachten 1914, als

die Hoffnung noch groß war, dass der Krieg bald zu Ende kommen würde, kam es an

verschiedenen Frontabschnitten zu spontaner Verbrüderung zwischen – vor allem –

britischen und deutschen Soldaten. Berichte von Soldaten erzählen über das gemeinsame

Singen von Weihnachtsliedern und sogar den Austausch von kleinen Geschenken.669

Unter dem NS-Regime wurde nicht gerade der Verbrüderung der einander feindlich sich

gegenüber stehenden Soldaten gedacht, sondern schon das „gemeinsame Singen“ als

kollektive Erfahrung betont. Außerdem wird die letzte Verszeile in Menzels Gedicht

anhand dieser Kriegsreferenz fast als eine Aufforderung und zur gleichen Zeit auch als ein

Versprechen gedeutet: „In unsrer Treue ist die Ewigkeit“ (HM44, V.13). Wegen ihrer

Aufopferung für das Vaterland haben die deutschen Soldaten die Unsterblichkeit erreicht.

Auch die heutige deutsche Generation kann mittels ihrer „Treue“ zur

nationalsozialistischen Sache und die daraus folgende Opferbereitschaft das „ewige

Leben“ gewinnen. Allerdings gilt auch das Umgekehrte, wie Menzel in der zweiten Strophe

des Gedichtes „Jugend, wir tragen die Fahnen“ (HM11/12) beschreibt. Und zwar droht für

denjenigen, der nicht zum Opfer bereit ist, die ruhmlose Vergessenheit:

Willst du dein Leben nicht wagen,

Bist nicht zum Einlaß bereit,

Wirst du vergehn in den Tagen,

Wir sind der Ruhm unsrer Zeit. (HM11/12, V.13-16)

Auch im Gedicht „Vorm Schicksal“ (HM7) droht Menzel, dass wer zaudert und zagt „für

ewig verdammt“ (HM7, V.6) sein wird. Das Ziel des Helden ist also nicht unbedingt der

Sieg, er geht bewusst das Risiko ein, dass er – genauso wie die „Gefallenen der Bewegung“

– eine Niederlage erleiden kann. Als oberster moralischer Wert wurde den Angehörigen

der „Bewegung“ der Glaube an die nationalsozialistische „Sache“ und „Idee“ und an ihren

„Führer“ präsentiert, durch den man sich auch bereit erklärte, bei Bedarf das Leben

hinzugeben. Denn die Märtyrer haben gerade mit ihrem Sterben ihren Glauben bezeugt

und unterstrichen.670 Das Ziel des neuen Helden sei also nicht der Sieg, sondern der ewige

„Ruhm“ (HM11/12, V.16) oder Ehre, indem nicht gerade sein individuelles Schicksal von

Bedeutung ist, sondern seine im Opfer deutlich gewordene Anteilnahme an der Erlösung

– und so der Unsterblichkeit – der Gemeinschaft.

669 Vgl. Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main: Fischer 2013, 87. 670 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 146-147.

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Am Beispiel Herybert Menzels

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Volk auf dem Wege

Wir schreiten ernst, wir schreiten still,

Es weiß das Herz, wohin es will.

Der Weg ist hart, der Weg ist weit,

Wir schreiten in die Ewigkeit.

Ein Volk, das sich zusammenlitt,

Ein Volk, das um die Sterne stritt

Ein Volk, in dem die Seele rang

Um den Untersterblichkeitsgesang.

Ein Volk, das sich in Demut bog,

Ein Volk, das heiß zum Sturme flog,

Ein Volk, das irrend sich verlor

Und doch noch fand an Gottes Tor.

Wir schreiten ernst, wir schreiten still.

Es weiß das Herz, wohin es will.

Der Weg ist hart, der Weg ist weit,

Wir schreiten in die Ewigkeit. (HM57)

Menzel fasst das Wesen und das Ziel des „Volkes“ noch einmal im letzten Gedicht seines

Bandes Gedichte der Kameradschaft zusammen, wodurch der ganze Gedichtband

letztendlich im Wort „Ewigkeit“ (HM57, V.16) gipfelt. Dass aus der nationalsozialistischen

Gemeinschaft eine emotionale Verbundenheit und Motivation spricht, zeigt sich erneut in

der Verwendung des Wortes „Herz“, das weiß, „wohin es will“ (HM57, V.2,14). Gerade in

diesem Gedicht wird das erstrebte Ziel der Volksgemeinschaft mittels christlicher

Symbolsprache religiös aufgewertet. Das Volk ist auf dem Wege zur „Ewigkeit“ (HM57,

V.4, 16) und weiß, dass der Weg dahin „hart“ und „weit“ ist (HM57, V.3, 15). Albrecht W.

Thöne sieht in der Beschreibung des unerreichbaren Zieles des Volkes, „das um die Sterne

stritt“ (HM57, V.6) einen Aspekt des idealistischen Charakters des Nationalsozialismus.671

Thöne erklärt, dass sich die Gestirne seit jeher der religiösen Projektionsneigung des

Menschen besonders anbot. Indem sie unerreichbar und deswegen nur begrenzt

erforschbar waren, symbolisierten sie die „Unendlichkeit“. Wegen ihrer scheinbaren

„vollkommenen“ Gestalt, ihrer geordneten Beziehung zueinander und ihrer

gesetzmäßigen Bewegung scheinen sie zudem von „ewiger“ Dauer.672 Dass das Volk seine

Sinndeutung auf eine transzendente Ebene verlegt, zeigt sich zudem auch darin, dass sich

671 Vgl. Albrecht W. Thöne: Das Licht der Arier: Licht-, Feuer- u. Dunkelsymbolik d. Nationalsozialismus. München: Minerva-Publikation 1979, 62-63. 672 Ebd., 38.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

199

das Volk schließlich angeblich „an Gottes Tor“ (HM57, V.12) wiederfand. Diese

nationalsozialistische Vorstellung von Gott wird im nächsten Abschnitt weiter im Bezug

zu dem Symbol der Fahne ausgeführt.

2.3.4 Blut und Fahne als Symbole der Märtyrer

Die Fahne als das nationalsozialistische Symbol schlechthin wird in der

Propagandadichtung wiederholt religiös aufgewertet. So stellt Menzel die Fahnen als

Wegweiser in die „Ewigkeit“ dar, wie etwa in „In unsern Herzen wird der Feind geschlagen“

(HM20): „Erst wer der Fahne folgt, entgeht der Zeit“ (HM20, V.10). An anderen Stellen

bekommt die Fahne einen quasireligiösen Status, indem sie mit einem aus der christlichen

Liturgie entnommenen Diskurs verbunden wird. So bezeichnet Menzel sie im Gedicht

„Der Fahnenträger“ (HM21) als eine „heilige Fahne“ (HM21, V.1) und in „Jugend, wir tragen

die Fahnen“ (HM11/12) werden die Fahnen vom „Führer geweiht“ (HM11/12, V.15). Gerade

die enge Assoziation vom „Führer“ mit der Fahne hat laut Knoche dazu geführt, dass um

die Fahne eine mythische Aura lag. So sollte zum Beispiel der Hitler-Gruß sowohl an Adolf

Hitler als auch an die Fahne gerichtet werden.673 Eine weitere religiöse Aufwertung

bekommt die Fahne in der Verbindung zum Blut, wie im Gedicht „Marsch ins Jahrtausend“

(HM9):

Einer ist als Führer auferstanden,

Und er hat die Schau und das Gebot.

Und wie sie sich alle zu ihm fanden,

Färbt ihr Blutschwur seine Fahne rot. (HM9, V.17-20)

Auch in diesem Gedicht treten „Führer“ und Fahne gemeinsam auf, allerdings ist hier von

einer sehr spezifischen Fahne die Rede, und zwar von der Fahne, die beim misslungenen

Putschversuch im Jahre 1923 mitgetragen wurde und von den Nationalsozialisten als „the

Holy of Holies“ betrachtet wurde.674 Als die sechzehn ersten „Märtyrer“ tot in der

Residenzstraße bei der Feldherrnhalle lagen, war die Straße voller Blut, das die

mitgetragene Fahne durchtränkt habe.675 Im obigen Beispiel scheint die Fahne ihre rote

Farbe gerade wegen der blutigen Niederschlagung der Putschisten – oder lieber: der

„Märtyrer“ – bekommen zu haben. Laut Baird wurde die Blutfahne zu einer bedeutsamen

„Reliquie“ in den Feiern im „Dritten Reich“.676 Die originale Blutfahne wurde im „Braunen

Haus“ in München aufbewahrt und nur zweimal pro Jahr dem Publikum gezeigt: am

„Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ und am Reichsparteitag. Nicht nur steigerte

diese Tatsache die mythische Bedeutung der Blutfahne, sie bekam auch eine besondere

673 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 104-105. 674 Ebd., 110. 675 Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 44. 676 Ebd.

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Rolle in einer Art Weihungsritual neuer Fahnen. So „segnete“ Hitler die neuen Fahnen, die

alle Repliken der ursprünglichen Blutfahne waren, indem er sie mit der Blutfahne berührt.

Knoche beschreibt dieses Ereignis als eine Art „säkulare Transsubstantiation“, wobei die

angeblich mythischen Kräfte der Blutfahne, die sie durch das Märtyrerblut bekommen hat,

auf die neuen Flaggen transferiert werden. Gerade der Transfer der „mythischen Kräfte“

durch die bloße „Berührung“ der Fahne rufe spontan eine neutestamentliche Geschichte

in Erinnerung.677 Matthäus erzählt von einer Frau, die bereits seit zwölf Jahren an

schweren Blutungen leidet und Jesus aufsucht, in der festen Überzeugung, dass die bloße

Berührung seines Kleides ihr Genesung bringen würde: „Und siehe, ein Weib, das zwölf

Jahre den Blutgang gehabt, trat von hinten zu ihm und rührte seines Kleides Saum

an. Denn sie sprach bei sich selbst: Möchte ich nur sein Kleid anrühren, so würde ich

gesund“ (Mt 9, 20-21). Gerade die Idee der Transferierbarkeit mythischer oder heilsamer

Kräfte funktionierte auch für das Symbol der Fahne. Die neu „konsekrierten“ Fahnen

wurden nach dem Weihungsritual über ganz Deutschland verteilt. Sie sollten das Volk an

ihre Gehorsamspflicht erinnern und galten als eine visuelle Gedächtnishilfe an das Blut,

das bereits für die Bewegung vergossen worden war. Gerade durch die rote Farbe der Fahne

waren die Märtyrer omnipräsent.678 Dieses Weihungsritual der Fahnen scheint Menzel in

seinem oben bereits erwähnten Gedicht „Jugend, wir tragen die Fahnen“ (HM11/12) vor

Augen zu haben.

Jugend, wir tragen die Fahnen,

Die unser Führer geweiht.

Wie sie uns rauschen, so ahnen

Wir schon die kommende Zeit. (HM11/12, V.14-17)

Die geweihte Fahne erscheint als eine quasireligiöse Reliquie und enthält sogar ein

gewisses Versprechen auf eine bessere Zukunft, weshalb sie auch zu einem wichtigen

Symbol in der nationalsozialistischen Heilslehre wird. In verschiedenen Gedichten

erscheint die Fahne zudem als ein Lichtsymbol, wie etwa in „Von unserm Schritt“ (HM38).

So heißt es zunächst am Ende der ersten Strophe ganz allgemein: „Hier geht der Weg, die

Fahne schreitet vor“ (HM38, V.4). Die Fahne führt die Bewegung in der dritten Strophe

aber auch „im Dunkel“ (HM38, V.9), denn indem „die Fahne glüht, […] leuchten die

Standarten“ (HM38, V.11). Laut Knoche dient die mystische Kraft der Fahne als ein

leuchtendes, führendes Licht und als eine Quelle der Kraft in dunkeln Zeiten. Wenn man

sich der Fahne völlig hingibt, so folgert Knoche, wird sie zur Quelle der Erlösung.679 Im

hier als letztes Beispiel angeführten Gedicht versucht Menzel die „Heiligkeit“ der Fahne

dadurch zu beweisen, indem er einfach unterstellt, dass Gott selber „in“ der Fahne ist.

677 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 111-112. 678 Ebd. 679 Ebd., 108.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

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In unsern Fahnen lodert Gott

Nun gilt nicht hüh, nun gilt nicht hott:

Sturm! blasen die Trompeten.

In unsern Fahnen lodert Gott,

Wir kämpfen wie wir beten.

Nichts hält uns ab, nicht Zwang, nicht Spott,

Der Marsch ist angetreten!

Gott will kein Dach, Gott will kein Haus,

Wenn wir die Stuben lassen,

Er zieht mit uns zum Kampfe aus

Und segnet unser Hassen.

Wir halten ihn im Sturmgebraus,

Wenn wir die Fahne fassen.

In unsern Fahnen lodert Gott,

Drum wir sie heilig nennen.

Drum gegen Lug und Trug und Spott

Zum Sturme wir anrennen.

Und wer da fällt, der stirbt für Gott,

Zu dem wir uns bekennen.

Der hat zu ihm sich nie bekannt,

Der bleibt, wenn wir marschieren.

In dem ist Gott noch nie entbrannt,

Der will, daß wir verlieren.

Doch er durchglüht das ganze Land,

Wird uns zum Siege führen!

So pressen unsre Hände wir

Nur fester um die Waffen.

So wie wir kämpfen, beten wir;

So wie wir fallen, glauben wir!

Gott segne Wehr und Waffen,

Die du zum Kampf erschaffen! (HM15/16)

Besonders in der dritten Strophe betont Menzel, dass gerade die Anwesenheit von „Gott“

in der Fahne dazu führt, dass „wir sie heilig nennen“ (HM15/16, V.14). Auch in diesem

Gedicht fallen religiös konnotierte Wörter wie „beten“ (HM15/16, V.4, 27), „segnen“

(HM15/16, V.10, 29) und „glauben“ (HM15/16, V.28), sowie die Formel „Gott / zu dem wir

uns bekennen“ (HM15/16, V.17-18) gleich ins Auge. Außerdem wird „Gott“ selber in allen

fünf Strophen mindestens einmal genannt. In diesem Gedicht erscheint die Fahne

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Am Beispiel Herybert Menzels

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eindeutig als ein Symbol des Kampfes. Hansjakob Becker sieht gerade darin einen

wichtigen Unterschied zu den christlichen Heilssymbolen. So sei die Hakenkreuzfahne als

ein „Sakrament“ zu betrachten, das die Einheit zwischen „Führer“ und Nation im Blut

repräsentiere. Becker kontrastiert die Fahne in diesem Kontext mit dem christlichen

Sakrament der Eucharistie, die das Opfer Jesu am Kreuz und dadurch die Einheit zwischen

Christus und der Kirche im Heiligen Geist darstellt. Allerdings interpretiert er die

Eucharistie als das „Siegel der Erlösung“, während die Fahne das „Siegel der Pflicht“

darstelle: „The Eucharist is a sacrament of peace; the flag is a ‚sacrament of struggle‘.“680

Gerade die Anwesenheit von religiös konnotierten Wörtern macht aus diesem „Kampf“

(HM15/16, V.9, 30) fast einen Kreuzzug, in dem die „Fahne“ (HM15/16, V.12) als heiliges

Symbol mitgetragen wird. „Gott“ scheint in diesem quasi heilig erklärten Kampf auf der

Seite der Nationalsozialisten zu stehen, denn „er zieht mit uns zum Kampfe aus“ (HM15/16,

V.9) und wird sie wegen ihres Glaubens sogar „zum Siege führen“ (HM15/16, V.24).

Allerdings erscheint der hier siebenmal erwähnte Gott durchaus als „unchristlich“, indem

er an bloß eine Nation und eine Fahne gebunden zu sein scheint. Laut Schreckenberg sei

der ursprünglich christliche Gott in diesem Gedicht zum ideologischen Helfer des

Nationalsozialismus und dessen Messias Hitler geworden.681 Laut Knoche versucht Menzel

mit diesem Gedicht Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung auszulösen und

diejenigen, die sich noch nicht engagiert haben, gerade durch die religiösen Assoziationen

dazu zu überzeugen.682 Dabei scheint es von großer Bedeutung zu sein, die Fahne zu einem

„heiligen“ Symbol zu erklären. Mittels schlichter Wiederholung versucht Menzel seine

Leser davon zu überzeugen, dass Gott „in unsern Fahnen lodert“ (HM15/16, V.3, 13) und

also aufseiten der Nationalsozialisten steht.

2.4 Männer und Frauen – Eine unterschiedliche „Mission“

Obwohl die affirmative NS-Dichtung die nationalsozialistische Volksgemeinschaft in ihrer

Gesamtheit als ein – exklusives – Kollektiv darstellt, fokussiert sie in ihrer Darstellung in

erster Linie auf die männlichen Mitglieder dieser Gemeinschaft. In diesem Sinne scheint

sie die patriarchale Struktur des nationalsozialistischen Regimes richtig zu fassen, denn

wie so viele andere politische Regimen war der faschistische Staat ein Männerstaat. Bereits

seit der Parteigründung wurden Frauen von Leitungspositionen ausgeschlossen und auch

unter der NS-Herrschaft dominierten Männer in allen nationalsozialistischen

Organisationen und Verbänden, abgesehen von der NS-Frauenschaft. Außerdem merkt

Elke Nyssen an, dass der Begriff „Frau“ im Schlagwortregister von Hitlers Mein Kampf nicht

680 Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration, 36. 681 Vgl. Schreckenberg: Ideologie und Alltag im Dritten Reich, 478. 682 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 114-115.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

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auftaucht.683 Auch in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft ist die Frau

auffällig unterrepräsentiert. Die Suche nach dem einfach Schlagwort „Mann“ weist als

Resultat bereits sechzehn unterschiedliche Gedichte auf – und dann wurden alternative

männliche Bezeichnungen wie „Soldat“, „Kamerad“, „Bauer“ oder „Arbeiter“ noch außer

Acht gelassen. Das Schlagwort „Frau“ lässt sich dagegen nur in einem Gedicht finden, und

zwar in „Frauen sind Heimat“ (HM53), dessen Titel bereits etwas über das

nationalsozialistische Frauenbild aussagt. Wenn zusätzlich auch nach den Bezeichnungen

„Mutter“ und „Mädchen“ gesucht wird, scheint die Frau in nur sechs weiteren Gedichten

erwähnt zu werden. Dieser letzte Analyseteil fokussiert schließlich auf die von Menzel

skizzierten Aufgaben des Mannes und der Frau als Mitglieder der Volksgemeinschaft und

ganz besonders wird dabei nachgewiesen, inwiefern ihre Tätigkeiten als eine Art „heilige

Mission“ zu verstehen wären.

2.4.1 Das Ideal des „streitbaren Mannes“

Bereits in den vorigen Analyseteilen wurde deutlich, dass die Hauptaufgabe des Mannes

in erster Linie im Kampf für das Vaterland liegt. Im Kontext der nationalsozialistischen

Märtyrerstilisierung wurde erklärt, wie der Mann sich nach dem Vorbild der

Kriegssoldaten und der ersten Märtyrer der Bewegung in gleicher Begeisterung zum

vaterländischen Opfer bereit erklären sollte. So kennzeichnet Menzel den Mann im

folgenden Gedicht denn auch eindeutig als „streitbar“:

Der streitbare Mann

Aufwächst der Mann im Bund der Kameraden,

Sein Ziel ist Ehre und sein Ruhm die Tat.

Früh wird er schon von schwerer Pflicht beladen,

Die fordert er als seiner Volks Soldat. (HM52, V.1-4)

Gerade in dieser ersten Strophe werden die „Ehre“ und der „Ruhm“ (HM52, V.2) als Ziel

des Mannes unterstrichen. Interessant ist, dass dieses Gedicht an einer standesamtlichen

Hochzeit eines jungen Paares in Posen rezitiert wurde.684 Seine „Pflicht“ scheint dem

Manne schon „früh“ (HM52, V.3) erkennbar zu werden, und zwar die Pflicht als des „Volks

Soldat“ (HM52, V.4). Im ganzen Gedicht wird die Frau nicht erwähnt. Menzel hebt in den

683 Elke Nyssen: Frauen und Frauenopposition im Dritten Reich. In: Erziehung im Nationalsozialismus: „–und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!“ Hg. v. Kurt-Ingo Flessau et al. Köln, Wien: Böhlau 1987, 26. 684 Vgl. Christian Ingrao: Hitlers Elite: Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords. Ullstein eBooks 2012, 91.

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Am Beispiel Herybert Menzels

204

letzten zwei Verszeilen sogar explizit hervor, dass das Volk ein eindeutig „männliches“

Volk ist:685

Ein männlich Volk im Kampf um seine Ehre,

Ein männlich Volk im Kampfe um sein Recht. (HM52, V.15-16)

Der Mann als „Volkssoldat“ müsste also zu jeder Zeit für das Vaterland kämpfen und sich

darüber hinaus stets in den Dienst der Volksgemeinschaft stellen, was an die

nationalsozialistische Interpretation der „Kameradschaft“ erinnert. Dass das Opfer für das

Vaterland durchaus auf eine sakrale Ebene erhoben wurde, wurde im vorigen Abschnitt

schon ausführlich behandelt. Dass auch alltägliche Tätigkeiten religiös aufgewertet

wurden – zumindest in der NS-Propaganda – zeigt sich im folgenden Gedicht:

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Aufruf zum Opfer

Dir stand das Feld in Garben,

Du fuhrest ein dein Brot.

Da stehen die, die darben,

Die nichts als Gram erwarben

Und sehn dich an in Not.

Sie stehen leidverregnet

Und wie versteint im Schrei.

Da du der Not begegnet

Und selber wardst gesegnet,

Geh achtlos nicht vorbei

Dir hat das Glück geschienen,

Erheb dich nicht mit Spott.

Verbunden bist du ihnen,

Du mußt dem Volke dienen,

Am Armen prüft dich Gott.

Dir ward nur Saat gegeben

Wie gutem Ackerland.

Was wird zu Lichte streben?

Wie dienst du allem Leben?

Wardst fruchtbar du anerkannt?

685 An der erwähnten Hochzeit wurde nach diesem Gedicht ein anderes Gedicht von Herybert Menzel rezitiert, dass die Aufgaben der Frau thematisiert. Dieses Gedicht mit dem Titel „Frauen sind Heimat“ (HM53), das auch im Gedichtband Gedichte der Kameradschaft gleich auf „Der streitbare Mann“ (HM52) folgt, wird im nächsten Abschnitt unter die Lupe genommen.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

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25

Der hat auf uns verzichtet,

Der nur für sich erwirbt.

Das Volk steht auf und richtet.

Wir sind ihm nicht verpflichtet.

Und seine Seele stirbt. (HM18)

Die Dienstbarkeit dem Volke gegenüber betont Menzel besonders in der dritten Strophe,

indem das Dienen des Volkes quasi als ein Gebot erscheint. Ganz eindeutig klingt auch in

der letzten Strophe, dass wer „nur für sich erwirbt“ (HM 18, V.22), im Grunde auf die

Volksgemeinschaft „verzichtet“ (HM18, V.21). Die religiöse Aufwertung dieser

individuellen Dienstbarkeit zugunsten des Kollektivs zeigt sich in der direkten

Verbindung mit Gott in der Wendung „am Armen prüft dich Gott“ (HM18, V.15).

Außerdem bedient sich Menzel mit „Brot“ (HM18, V.2), „segnen“ (HM18, V.9), „Saat“

(HM18, V.16) – und in dem Kontext auch „Ackerland“ (HM18, V.17) – und „Seele“ (HM18,

V.25) bewusst der christlich-biblischen Symbolsprache. Eine besondere biblische Referenz

scheint die zweite Strophe zu enthalten. Wenn man „der Not begegnet“ (HM18, V.8) sollte

man nicht „achtlos“ (HM18, V.10) vorbeigehen. Gerade in dieser Aufforderung könnte man

eine Parallele zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter ziehen. Dieses Gleichnis, das

Jesus im Lukas-Evangelium686 erzählt, gehört vielleicht zu den bekanntesten Gleichnissen

schlechthin. Gerade in der Dienstbarkeit findet auch der Nationalsozialist Erlösung, im

Gegensatz zu demjenigen, der das nicht tut, denn „seine Seele stirbt“ (HM18, V.25.)

2.4.2 Die Frau als Mutter

Auch die Frau hat ihre bestimmte Mission im Rahmen der Volksgemeinschaft, auch wenn

ihre Pflichten sich weniger auf den öffentlichen Raum konzentrieren. So erläuterte Adolf

Hitler die unterschiedlichen Aufgaben von Männern und Frauen in einer Rede vor der NS-

Frauenschaft am 8. September 1934:

Wenn man sagt, die Welt des Mannes ist der Staat, die Welt des Mannes ist sein Ringen, die

Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, so könnte man vielleicht sagen, daß die Welt der

Frau eine kleinere sei. Denn ihre Welt ist ihr Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus.687

Dass sich der Raum der Frau auf das private und Familienleben beschränkte, tritt auch aus

Menzels Gedichtband hervor. So erwähnt er sie fünfmal mit der Bezeichnung „Mutter“

und nur einmal mit der allgemeineren Benennung „Frau“. In den Gedichten „Die

schweigenden Mahner“ (HM33), „Chor der Gefallenen“ (HM34) und „Ihr von der

Feldherrnhalle“ (HM35) werden sie bloß als „Mütter“ der bereits verstorbenen Märtyrer

erwähnt. Auch in „Frauen sind Heimat“ (HM53), das nach dem Gedicht „Der streitbare

686 Lk 10, 25-37. 687 Hitler zit. in Domarus (Hg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1,450 .

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Am Beispiel Herybert Menzels

206

Mann“ (HM52) an der Hochzeit in Posen vorgelesen wurde, wird ihre Aufgabe als Mutter

hervorgehoben:

5

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Frauen sind Heimat

Im starken Volke dienen still die Frauen,

Sie sind die Heimat und sie sind das Haus.

Wenn Männer wagen, schenken sie Vertrauen,

Was Männer schaffen, schmücken sie erst aus.

Sie sind die frohe Mütter stolzer Söhne,

Die wollen sie als ihren hellsten Ruhm.

Sie tragen in die Jahre alles Schöne,

Sie wirken für ein hohes Menschentum.

Von solchem Volke wird viel Kraft genommen,

Was leuchten soll, muß stark durch Leiden gehn.

Und wenn das Schwere düster ist gekommen,

Groß muß die Frau dem Mann zur Seite stehn. (HM53)

Während im Gedicht „Der streitbare Mann“ (HM52) die Frau nicht mal erwähnt wurde,

erscheint die Frau im obigen Gedicht schon im Kontrast zum Manne: sie sind Teil des

„starken“ Volkes (HM53, V.1). In jeder Aufgabe scheint die Frau dem Manne unterlegen

oder dienstbar zu sein. Wenn der Mann etwas „wagt“, schenkt die Frau ihm bloß

„Vertrauen“ (HM53, V.3). Während Männer etwas „schaffen“, soll die Frau nur

„schmücken“ (HM53, V.4). Die Hauptaufgabe der Frau besteht aus nationalsozialistischer

Perspektive darin, „ein hohes Menschentum“ (HM53, V.8) zu erzeugen. In ihrer Rolle als

„Mütter stolzer Söhne“ (HM53, V.5) kommt den Frauen dann auch die größte Ehre zu. In

diesem Kontext merkt Nyssen an, dass sich die Frauenideologie im Nationalsozialismus in

folgenden zwei Punkten zusammenfassen lässt: „Einerseits Funktionalisierung der Frau als

Gebärerin – wobei natürlich nur die arischen Frauen gemeint waren –, andererseits und

gleichzeitig die Glorifizierung und damit Aufwertung der Frau als Mutter“.688 Dieses enge

Frauenbild führte unter anderem zu einer Änderung in der Steuergesetzgebung im Jahre

1939, die die Steuerklasse auf Grund der Anzahl geborener Kinder in den letzten fünf Jahre

bestimmte. Der Fokus auf der Mutterrolle führte auch zu einer Verbesserung der

Schwangerschaftsbedingungen und der Kinderfürsorge. Außerdem wurden Frauen auch

je nach Kinderzahl mit einem bestimmten „Mutterkreuz“ ausgezeichnet.689 In Menzels

688 Nyssen: Frauen und Frauenopposition im Dritten Reich, 28. 689 Vgl. ebd., 30.

Page 207: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

207

Gedichtband wurde die Mutterrolle der Frau im vorletzten Gedicht „Stern über den

Hütten“ (HM56) und dann besonders in der letzten Strophe religiös aufgewertet:

Über den ärmlichen Hütten

Steht es wie Weihnachtsschein.

Für das kommende Große

Ist keine Hütte zu klein.

Alle wollen wir dienen,

Gläubigen Herzens und rein,

Jede werdende Mutter

Soll uns Maria sein. (HM56, V.16-23)

Mit der Beschreibung von „ärmlichen Hütten“ (HM56, V.16), dem bereits im Titel

genannten „Stern“, der „über den Hütten“ steht und dem explizit genannten

„Weihnachtsschein“ (HM56, V.17) appelliert Menzel in diesem Gedicht an der christlichen

Weihnachtsgeschichte. Während in der christlichen Tradition an Weihnachten der

Geburt Christi gedacht wird, bleibt undeutlich, welche „kommende Große“ (HM56, V.18)

in diesem Gedicht erwartet wird. Allerding wird die Mutterrolle der Frau explizit religiös

gewertet, indem jede Mutter der Mutter Gottes, und zwar „Maria“ (HM56, V.23)

gleichgestellt wird.

3. Zwischenfazit - Die religiöse Ebene der

Volksgemeinschaft in der affirmativen NS-Dichtung

Obwohl am Ende der literarischen Analyse noch auf die Sakralisierung der

unterschiedlichen „Mission“ von Männern und Frauen in der nationalsozialistischen

Volksgemeinschaft hingewiesen wird, erweist sich die größte Kraft der sakralisierten

Volksidee in der Märtyrerstilisierung der Toten der Bewegung. Eine solche Darstellung –

oder besser Verehrung – von Helden ist in vielen Kulturen und Religionssystemen zu

finden. Allerdings gelangte das Heldenideal während der NS-Herrschaft zu einem

Popularitätshöhepunkt in der deutschen Geschichte der Neuzeit. Indem dieser Heldenkult

sich mit menschlichem Leid und Tod beschäftigt und dazu dient, ein „Sinnproblem“ zu

bewältigen, tritt er laut Sabine Behrenbeck ein religiöses Erbe an. In diesem

Zusammenhang interpretiert sie den nationalsozialistischen Heldenkult dann auch als ein

religiöses Phänomen.690 Das für das als Heilsgeschichte interpretierte heroische Narrativ

wichtigste Element ist die Opferbereitschaft des Helden. Gerade wegen seines Opfers für

das Gemeinwohl – und zwar aus nationalsozialistischer Perspektive die Volksgemeinschaft

690 Vgl. Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 17-18.

Page 208: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Herybert Menzels

208

und das Vaterland – empfängt der Held nicht nur den Dank und die Verehrung der

Geretteten, sondern auch das Versprechen der Unsterblichkeit:

So wird der mythische Held zum Heilbringer, der über den Tod hinaus wirkt und die profane

Zeit aufhebt: Er hat den Tod überwunden bzw. ist vom Tod auferstanden. Insofern gibt der

Heroismus auch eine weitere Antwort auf die Frage, wie der Mensch mit der Tatsache des

Todes umgehen kann. Der Mythos deutet den Tod des Helden als Wechsel der

Existenzweise, diese Transformation macht ihn erträglich.691

Indem die nationalsozialistische Propaganda bei der politischen Instrumentalisierung auf

das bereits vorhandene Deutungsmuster der christlichen Erlösungslehre und des

katholischen Märtyrertodes zurückgreift, erscheint die heroische Stilisierung nicht gerade

als originell. Indem religiöse Motive aus der christlichen Tradition transferiert werden,

stilisiert der nationalsozialistische Kult ihre „Märtyrer“, so Schreckenberg, nach dem

Vorbild der katholischen Kirche.692 Hillerbrand hebt diese Opferbereitschaft als wichtigen

Bestandteil der messianischen Bewegung hervor, denn hieraus erwächst eine

Erinnerungskultur, die das Selbstverständnis der Bewegung entscheidend bestimme.693

Behrenbeck weist aber auch gleich auf einen wichtigen Unterschied bezüglich der

Erlösungserwartung aus traditionell christlicher und nationalsozialistischer Perspektive.

Während Jesus seinen Nachfolgern mit seinem Tode die Erlösung schenkt, wird die

Wirkung des Opfers in der nationalsozialistischen Neuauslegung in die Zukunft verlegt:

Der Sinn des Opfers musste von den Überlebenden erst noch eingelöst werden. […] Die

Erinnerung an die Toten sollte bei den Lebenden eine ähnliche Opferbereitschaft erzeugen.

Ein Leben mit derselben Hingabebereitschaft verbürge die Wiederauferstehung des

gedemütigten Vaterlandes.694

Nach der Machtübernahme im Jahre 1933, der als Beginn der „Heilszeit“ interpretiert

wurde, wurde der Märtyrertod der deutschen Soldaten und der Märtyrer der Bewegung in

der Retrospektive als ein Offenbarungsereignis gedeutet: Der Sinn ihres Martyriums und

ihres Opfers hat sich so Thieme als richtig erwiesen, denn das Opfer hat sich im Erreichen

des Heilzieles erfüllt. Allerdings blieb die Auslegung der Heldenmythen weiterhin

ambivalent: „einerseits wurde der 30. Januar als Sieg der NS-Bewegung und Beginn der

Heilszeit gedeutet, in deren Vorgeschichte das Opfer der Märtyrer zeitlich verortet wurde;

andererseits wurde gleichzeitig die ‚Machtergreifung‘ lediglich als erster Schritt zum Heil

691 Ebd., 67. 692 Vgl. Schreckenberg: Ideologie und Alltag im Dritten Reich, 472; Roßmeißl: Märtyrerstilisierung in der Literatur des Dritten Reiches, 44-46. 693 Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 14. 694 Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung, 49.

Page 209: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

209

gedeutet“.695 Kurz: „Der Kampf wurde aktualisiert und als ‚noch-nicht-fertig‘

umschrieben“.696 In dieser Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt

sich auch eine gewisse transzendente Ebene entdecken. Im Rahmen der Identitätskrise des

deutschen Volkes nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verschaffen die Heldenmythen

Antworten auf die Identitätsfrage über die Grenzen von Geburt und Tod.

In den hypostasierten und substantialisierten Identitätskonstruktionen des Volkes, der

Nation, der Rasse, der Ethnie und des Staates wurde schließlich das Kollektiv als Ursprung

imaginiert, der als Schoß die Lebenden aus der vitalen Substanz der Toten gebiert. Diese

Verbindung von Toten, Lebenden und noch Ungeborenen ist eine imaginäre Verbindung

von Ursprung, Status und Zukunft, die als Antwort von der Instanz des Kollektivs erscheint.

Kollektive Identität als Band der Lebenden, Toten und noch Ungeborenen wird damit zu

einer profanen Transzendenz, die das Jenseits der konkreten Existenz in der Vergangenheit

und Zukunft des Kollektivs einschließen soll.697

Gerade die Idee einer „profanen Transzendenz“ im Rahmen der Existenzinterpretation fügt

sich gut zur Auffassung von Claus-Ekkehard Bärsch, dass der Mensch, auch wenn er

Religion und Politik zu trennen versucht, weiterhin von religiösen Denkmustern abhängig

ist.698 Diese profane Transzendenz ermöglicht dem Volk zudem das Versprechen auf

Unsterblichkeit. So führt Behrenbeck aus, dass dem Kriegstod selber die Aura eines

sakralen Aktes zukam, denn der Opfertod der Soldaten wurde quasi als eine Wiederholung

der Passion Christi dargestellt: Ihre Niederlage und in dem Sinne ihr „Leiden“ habe zur

Auferstehung und so auch zur Unsterblichkeit der Nation geführt.699 Dabei sei nicht das

Einzelschicksal des Helden, sondern seine Erlösungsfunktion für die Gemeinschaft von

zentraler Bedeutung.700 Hansjakob Becker betont in diesem Kontext die Unbedeutsamkeit

des Individuums aus nationalsozialistischer Perspektive. Nur als Mitglied der Nation, die

das „ewige“ Blut in sich trägt, könne das Individuum unsterblich werden.701

Genau in diesem Zusammenhang sei auch die religiöse Aufwertung des Glaubensartikels

„Volk“ in der affirmativen NS-Dichtung von Herybert Menzel, Heinrich Anacker und

695 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 165. 696 Ebd. 697 Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation, 70-71. 698 Claus-Ekkehard Bärsch: Nation, Volk und Volksgeist als Gegenstand der Religionspolitologie. Zum problem der Kontinuität kollektiver Identität. In: Aktuelle Probleme der politischen Wissenschaft, dargestellt von VertreterInnen des Faches an der Gerhard-Mercator-Universität - Gesamthochschule - Duisburg. Geschenkband zur Verabschiedung von Frau Prof. Dr. Heidrun Abromeit (1994), 3. 699 Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung, 50. 700 Ebd., 53. 701 Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration, 44.

Page 210: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Am Beispiel Herybert Menzels

210

Gerhard Schumann zu verstehen. Auch wenn sich die Analyse in diesem Kapitel

ausschließlich auf die stilisierte Opferbereitschaft des Volkes in Menzels Gedichtband

Gedichte der Kameradschaft beschränkt hat, erweist sich dieses Thema als besonders

wichtig in der affirmativen NS-Dichtung im Allgemeinen. Gerhard Schumann bezieht sich

in seiner Anthologie Die Lieder vom Reich nirgends explizit auf die „Gefallenen der

Bewegung“. Trotzdem betont er im dritten Sonett des Zyklus „Die Lieder vom Reich“, dass

das Reich „aus Blut und Erde“ (GS18, V.14) wuchs. Im fünften Sonett desselben Zyklus

scheint Schumann zudem auch der verstorbenen Soldaten zu gedenken, indem er dichtet

„Die Besten tot, verblutet auf den Feldern“ (GS20, V.5).

Genauso wie Menzel thematisiert Anacker die Opferbereitschaft der sogenannten

„Gefallenen der Bewegung“ viel expliziter. Bereits in seinem Eröffnungsgedicht bezieht er

sich auf diejenigen, die „tapfer und löwengleich / In Flandern und Rußland“ (HA11/12, V.18-

19) gekämpft haben und gefallen sind. Wie bereits erwähnt, beschreibt er im Gedicht

„Ewiges Deutschland“ (HM28) die singenden Regimenter, die bei „Langemarck“ (HA28,

V.8) untergegangen sind. In seinem Gedicht „Die Blutfahne“ (HA87) thematisiert Anacker

dann wieder den Tod der Putschisten im „November Dreiundzwanzig“ (HA87, V.2).

Sowohl die im Titel und im Gedicht erwähnten „Blutfahne“ (HA87, V.16) als auch die

zweimal wiederholte und vollständig ausgeschriebene Jahreszahl „Dreiundzwanzig“

(HA87, V.2, 16) lassen keine Zweifel darüber bestehen, welcher „Toten“ (HA87, V.1)

Anacker in diesem Gedicht gedenkt. Außerdem erscheint die „Fahne“ auch in diesem

Gedicht als eine quasireligiöse Reliquie, indem Anacker sie als „heiliges Tuch“ (vgl. HA87,

V.5), das „das ganze deutsche Volk […] erweckt“ (HA87, V.15) hat, beschreibt. Aufgefordert

vom Symbol der Fahne und „vom Geiste des toten Kam’raden durchdrungen“ (HA54, V.7)

zeigt sich das Volk auch in Anackers Dichtung dazu bereit, für „Deutschlands Auferstehn“

(HA14, V.12; HA24, V.7) zu kämpfen und gegebenenfalls zu sterben.

Obwohl die sakralisierte Aufwertung der Volksgemeinschaft in der NS-Dichtung auch das

„Volk“ als Glaubensartikel in der (2) doktrinär-philosophischen Dimension der

nationalsozialistischen (politischen) Religion einordnen lässt, hat es in diesem Kapitel

auch mehrere Hinweise auf die (1) rituell-praktische Ebene der (politischen) Religion

gegeben. Besonders die Stilisierung der „Märtyrer der Bewegung“ fand seinen rituellen

Widerklang im jährlichen „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“. An diesem

Gedenktag wurden chorische Dichtungen von unterschiedlichen NS-Autoren aufgeführt,

die den misslungenen Putschversuch im Jahre 1923 als eine wahre Tragödie darstellten und

auf als ein wahres Martyriums darstellten.702

702 Klaus Vondung interpretiert in seiner Dissertation verschiedene Passagen aus chorischen Dichtungen für Feiern an diesem Gedenktag im Rahmen des „Mythos von der ideologischen Unsterblichkeit“. Für näheres zu diesem Thema vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 159-171.

Page 211: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

VIII Fazit

Abschließende Bemerkungen über

Repräsentativität und Schuld

Page 212: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG
Page 213: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Fazit

213

Als Dichter der „Jungen Mannschaft“ waren Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und

Herybert Menzel prominente Persönlichkeiten im „Dritten Reich“. Ihre Gedichte wurden

nicht nur in diversen Anthologien aufgenommen, sondern auch in Zeitungen abgedruckt

oder im Rundfunk ausgestrahlt. Als „liturgische Texte“ erfüllte ihre Feier- und

Weihedichtung zudem eine spezifische Rolle an den jährlich wiederkehrenden Staats- und

Parteifeiertagen des NS-Regimes, die im Rahmen der „Feiern im nationalsozialistischen

Jahreslauf“703 als einer Art kanonischen Feierkalenders nach christlichem Beispiel

organisiert wurden. Auch in der Schule und in Jugendorganisationen wie dem

Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädel wurde ihre Dichtung weitgehend rezipiert.

Darüber hinaus wurden Anacker, Schumann und Menzel für ihre lyrische Produktivität

mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihre Dichtung wurde in dieser Arbeit

denn auch als exemplarisch für die nationalsozialistische Dichtung im Ganzen

herangezogen. In diesen abschließenden Bemerkungen sollen noch zwei Reflexionen

formuliert werden. Zunächst geht dieses Kapitel auf die Repräsentativität des in der

nationalsozialistischen Dichtung benutzten religiösen Diskurses ein, schließlich hat diese

Arbeit seiner Verfasserin auch dazu gebracht, sich über die „Schuldfrage“ zu besinnen.

Die vorliegende Arbeit hatte für die ideologiekritische Textanalyse eine strikte Dreiteilung

vorausgesetzt, und zwar die Interpretation der messianischen Stilisierung des „Führers“ in

Anackers Gedichtband Die Fanfare, die sakrale Gestaltung des „Reiches“ in Schumanns

Anthologie Die Lieder vom Reich und den besonderen Fokus auf die Märtyrerstilisierung

im Rahmen der religiösen Aufwertung des „Volkes“ in Menzels Gedichte der

Kameradschaft. Allerdings hat sich diese Dreiteilung gerade wegen der ideologischen

Verknüpfung dieser drei Ideologeme als sehr künstlich und fast unhaltbar erwiesen.

Bereits auf lexikalisch-semantischer Ebene hat sich gezeigt, dass die drei Dichter aus

einem selben christlich-religiösen Vokabular schöpfen. Aber auch hinsichtlich der

Symbolik und Motivik lassen sich Parallele zwischen den drei Autoren ziehen. Die

messianische Darstellung, das Motiv der Auferstehung,704 die religiös anmutende

Märtyrerstilisierung, die Licht-Dunkel-Symbolik, das Brot-und-Wein-Symbol, die

deutsche Mutter als eine Maria-Figur, … all diese Motive und Symbole gehören zu einem

christlich-religiösen Diskurs, dessen sich Anacker, Schumann und Menzel in ihrer

politischen Dichtung bedienen, um die nationalsozialistischen Ideologeme „Führer“,

„Reich“ und „Volk“ zu quasireligiösen Höchstwerten zu steigern. Außerdem sind Anacker,

Schumann und Menzel überhaupt nicht die einzigen Dichter – nicht mal die einzigen

Nationalsozialisten –, die sich eines solchen religiösen Diskurses im Zusammenhang mit

den drei fokussierten nationalsozialistischen Ideologemen bedienten. Auch andere

703 Ebd., 39. 704 Das Motiv der Auferstehung wird nicht nur zur Sakralisierung des „Reiches“, sondern auch des „Führers“ angewandt. Vgl. Anneleen Van Hertbruggen: Christian Resurrection as a Propaganda Tool in Heinrich Anacker's Nazi Poetry - The sacralization of Reich and Führer. In: Focus on German Studies 24 (2017), 19-32.

Page 214: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Über Repräsentativität und Schuld

214

nationalsozialistische Dichter wie Baldur von Schirach, Herbert Böhme, Hans Baumann,

Richard Euringer, Will Vesper, Eberhard Wolfgang Möller und Hella Reuter schöpften für

ihre Dichtersprache aus der gleichen christlichen Tradition, weshalb eine

ideologiekritische Analyse ihrer Gedichte zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen würde.

Darüber hinaus lässt sich belegen, dass nicht nur nationalsozialistische Dichter in ihrer

poetischen Darstellung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ eine christlich-religiöse

Bildersprache anwandten, sondern dass dieser Diskurs auch in nicht-fiktiven Kontexten

benutzt wurde. So haben sich auch Adolf Hitler und Joseph Goebbels in ihren politischen

Reden eines ähnlichen religiösen Diskurses bedient und verwendeten

nationalsozialistische Germanisten in ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur

Interpretation zeitgenössischer Dichtung und zur Beschreibung der „Aufgabe“ des

Dichters eine religiös anmutende Sprache. Darüber hinaus zeugte Victor Klemperer

davon, wie auch die Alltagssprache im nationalsozialistischen Deutschland immer mehr

religiöse Züge aufwies und zeigte Klaus Vondung in seiner Dissertation die Parallelen

zwischen nationalsozialistischen Feiern und christlichen Liturgien auf. Diese scheinbare

Allgegenwärtigkeit des religiösen Diskurses im nationalsozialistischen Deutschland lässt

sich anhand des von Peter Zima im Rahmen seiner Textsoziologie neudefinierten Begriffs

„Soziolekt“ erläutern.

Zima betrachtet die Sprache des Nationalsozialismus als eine spezifische

„Gruppensprache“ oder einen „Soziolekt“. Eine solche Sprache ist kein „statisches System“,

sondern ein „Ensemble von historischen Strukturen, deren Entwicklung eng mit den

Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen zusammenhängt“.705

Deswegen sind „Soziolekte“ laut Zima dazu verurteilt, „unablässig miteinander zu

konkurrieren, einander zu kritisieren“ – und für diese Arbeit wichtiger noch – „einander

intertextuell-parasitär aufzunehmen und miteinander in Symbiosen zu verschmelzen“.706

Auch der nationalsozialistische „Soziolekt“ lässt sich in diesem Zusammenhang als ein

„Ensemble von Diskursen“,707 die miteinander dialogieren, verstehen. Da aus dem

nationalsozialistischen Soziolekt auch ein pointiert religiöser Diskurs hervorgeht, der mit

völkischen, biologischen, antisemitischen, politischen und anderen Diskursen konkurriert

und dialogiert, lässt sich erklären, weshalb sich eine religiöse Bildlichkeit in

unterschiedlichen Kontexten und auch in Verbindung mit einer politischen Sprache – wie

in den für diese Arbeit fokussierten Gedichten oder in politischen Reden – aufweist. Dieser

religiöse Diskurs zeigt sich zunächst symptomatisch auf lexikalischer Ebene, viel

interessanter sind aber die semantischen und narrativen Strukturen, in denen sich die

nationalsozialistischen Inhalte und Ideen niederschlagen, wie beispielsweise anhand des

705 Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 238. 706 Ebd., 416. 707 Ebd., 250.

Page 215: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Fazit

215

Motivs der Auferstehung, das auch Will Vesper in seinem Gedicht „Das neue Reich“

verarbeitet:

Sechs Jahre nur – und dem Wunder gleich

stieg aus dem Schutte das Neue Reich,

ein Reich des Friedens, ein Reich in Waffen,

von Einem gewollt und von Einem geschaffen708

Die ersten vier Zeilen dieses längeren – 47 Zeilen umfassenden und im Jahre 1939

verfassten – Gedichtes veranschaulichen bereits das Zusammenspiel eines politischen,

religiösen und historischen Diskurses: Das christliche Motiv der Auferstehung ist auf

intertextueller Ebene auf die christlich-biblische Tradition zurückzuführen, in der die

Bibel als „kultureller Text“ zum kollektiven Gedächtnis der Nation gehört und deren Bilder

also zur gesamten und zeitlosen Bildlichkeit der Kultur aufgenommen sind. In diesem

Gedicht stellt Vesper das Motiv der Auferstehung aber in einen sehr spezifischen

historisch-politischen Kontext. Mit der Zeitangabe „sechs Jahre nur“ datiert Vesper den

Anfang des „Reich[es] des Friedens“ präzise im Jahre der Machtübernahme, und zwar im

Jahre 1933. Im nationalsozialistischen Sinne sei die „Auferstehung“ aus dem „Schutte“ als

die Errettung aus der Weimarer Krisenzeit zu verstehen. Außerdem lässt sich anhand des

großgeschriebenen „Einem“ auch die Verknüpfung vom Reichsgedanken mit der Person

des „Führers“, der genauso wie in Schumanns und Menzels Dichtung als der „Eine“

dargestellt wird, erkennen. Auch die messianische und Märtyrerstilisierung sowie die dem

Neuen Testament entlehnten Symbole und Motive haben sich in der

nationalsozialistischen Sprache als beliebte semantische Strukturen in Kombination mit

einem pointiert politischen Diskurs erwiesen.

Die in dieser Arbeit fokussierte Verflechtung von einem religiösen und politischen Diskurs

in nationalsozialistischer Dichtung und zwar die Kombination von „Führer“ und Messias,

„Reich“ und Motiv der Auferstehung und „Volk“ und Märtyrerstilisierung beschränkt sich

also nicht auf die nationalsozialistische Dichtung von Anacker, Schumann und Menzel,

sondern erweist sich als eine beliebte Strategie in der nationalsozialistischen Sprache im

Ganzen. Gerade in der ständigen Wiederholung dieser religiös aufgewerteten Ideologeme

lag die propagandistische Funktion der NS-Dichtung. Der polnische

Sprachwissenschaftler Jacek Makowski sieht in diesem „Verfahren der Wiederholung“

sogar eine wichtige Technik der Überredung bzw. der Manipulation, bei der „bestimmte

Lexeme, Phrasen, Komponenten oder aber auch gesamte Motive multipliziert werden, was

auf das Erreichen der gewünschten, dem Redner bzw. Agitator genehmen Wirkung

abzielt“.709 Gerade dieser manipulierende Charakter der nationalsozialistischen

708 Zit. in Graeb-Könneker (Hg.): Literatur im Dritten Reich 261-262, V. 1-4. 709 Jacek Makowski: Zur Multiplizierung in der politischen Sprachmanipulation. In: Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica 5 (2009), 5.

Page 216: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Über Repräsentativität und Schuld

216

Dichtersprache bringt diesem Kapitel zu seinem zweiten Bedenken, und zwar der

„Schuldfrage“.

Herybert Menzel fiel im Februar 1945 in Tirschtiegel710 und erlebte das Ende des Zweiten

Weltkrieges und den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes also nicht

mehr. Heinrich Anacker und Gerhard Schumann wurden im Zuge der Entnazifizierung als

„Minderbelastete“ eingestuft.711 Besonders für Schumann ist belegt, dass gerade die

religiösen und metaphysischen Züge in seiner Dichtung zu seiner Einstufung als

„Minderbelasteten“ beigetragen haben, was aber im Schwäbischen Tageblatt als

„Fehlurteil“ scharf kritisiert wurde: „Er wird die ‚Lieder der Länder‘, Hymnen, ‚Sonette des

Friedens‘ zeugen und den ‚Führer‘ wieder durch den lieben Gott ersetzen. Das kann ihm

doch nicht schwerfallen als Minderbelasteter mit Talent“.712 Auch wenn die „Schuldfrage“

kein vorgesehenes Thema der vorliegenden Arbeit war, kam sie im Laufe der Forschung

immer wieder auf. Denn, als Mitglieder der NSDAP und als Parteifunktionäre haben auch

Anacker, Schumann und Menzel aktiv am nationalsozialistischen Regime mitgearbeitet.

Als engagierte und produktive Parteidichter haben sie die nationalsozialistische Ideologie,

die doch im Grunde antisemitisch war und an ihrem Höhepunkt Auschwitz ermöglicht

hat, dichterisch gestaltet und verbreitet. Gerade innerhalb des heutigen europäischen

sogar globalen Weltgeistes, der erneut Züge der Radikalisierung aufweist und in dem social

media wie Facebook, Twitter und weitere online Kanäle an die Stelle der traditionellen

Massenmedien getreten sind, lässt sich erneut über die Frage nach „Schuld“ und

„Verantwortung“ nachdenken, und dann im Besonderen: Ist man schuldig, wenn man

einer bestimmten – grundsätzlich zu Verbrechen aufrufenden – Überzeugung oder

Ideologie anhängt, ohne direkt an diesen Verbrechen teilzuhaben, und ist man bereits

(mit-)verantwortlich, wenn man diese Überzeugungen in reinen Worten, wie etwa in

Tweets oder Dichtung, fasst?

In diesem Zusammenhang leuchtet Karl Jaspers‘ analytische Auseinandersetzung mit der

Frage nach „Schuld“ und „Verantwortung“ in Bezug auf die nationalsozialistischen

Verbrechen ein. In seiner 1946 erschienen Studie Die Schuldfrage unterscheidet der

deutsche Philosoph vier Kategorien der Schuld: die kriminelle, die politische, die

moralische und die metaphysische Schuld.713 Mit dem Begriff der kriminellen Schuld

bezieht sich Jaspers auf objektiv-strafrechtlich feststellbare Gesetzesverstöße von

710 Vgl. Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 327. 711 Für Anacker vgl. o.N.: Anacker als Minderbelasteter eingestuft. In: Neue Württembergische Zeitung (20.08.1948). Zeitungsauszug, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (H: Anacker, Heinrich); Für Anacker vgl. o.N.: Der ‚minderbelastete‘ Schumann. In: Schwäbisches Tageblatt (22.06.1948). Zeitungsauszug, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (Z: Schumann, Gerhard). 712 Vgl. o.N.: Der ‚minderbelastete‘ Schumann. 713 Vgl. Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Heidelberg: Lambert Schneider, 1946.

Page 217: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Fazit

217

individuellen Deutschen, die dafür durch die dafür zuständigen Gerichte abgeurteilt

werden müssen. Alle anderen deutschen Staatsbürger, die unter dem NS-Regime in

Deutschland gelebt haben und die Entfaltung des verbrecherischen Regimes entweder

unterstützt oder nicht aktiv versucht verhindert zu haben, haben in Jaspers‘ Auslegung des

Schuldbegriffs in unterschiedlichem Ausmaße an einer politischen, moralischen oder

metaphysischen Schuld teil. Auch die politische Schuld ließe sich noch durch das

Bestrafen der Schuldigen abbüßen. Die Bewältigung der moralischen und metaphysischen

Schuld könne nur in einem Prozess der „inneren Wandlung“ und radikalen „Umkehr“ der

moralischen und politischen Denkungsart geleistet werden.714

In ihrer Unterstützung als NS-Parteifunktionäre und wegen ihrer Anteilnahme an der

weiteren Entfaltung der nationalsozialistischen Ideologie durch ihre engagierte

Parteidichtung scheinen Anacker, Schumann und Menzel schon eine gewisse politische

Schuld zu tragen, für die Anacker und Schumann als „Minderbelastete“ abgeurteilt sind.

Ob dieses Urteil, wie das Schwäbische Tageblatt hinsichtlich Schumann meinte, als

„Fehlurteil“ zu kritisieren sei, lässt sich für diese Arbeit nicht klären. Die vorliegende

Arbeit möchte an dieser Stelle nur noch betonen, dass auch die Auseinandersetzung mit

dem engagierten „Wort“, das im nationalsozialistischen Deutschland unter anderem in der

Parteidichtung zum Ausdruck kam, im Rahmen eines „historischen Bewusstseins“ von

Bedeutung ist. Auch wenn die nationalsozialistische Dichtung wegen ihres unethischen

und politisch-funktionalen Charakters lange Zeit von der Literaturwissenschaft

vernachlässigt worden ist, stellt sie laut Walter Knoche einen guten Gradmesser für den

damaligen Zeitgeist dar. Knoche glaubt, dass sich radikale politische Ideen, unabhängig

davon, ob die neue Gefahr von linksextremer oder rechtsextremer Seite kommen würde,

in Zukunft erneut in der Literatur zeigen würden und die Literatur somit die drohende

Gefahr widerspiegeln würde.715 In diesem Sinne hat auch die vorliegende Arbeit die

nationalsozialistische Dichtung als ein Produkt seines Zeitgeistes betrachtet. Als

abschließende Bemerkung hält diese Arbeit es für relevant, sich in zukünftigen

Forschungsarbeiten weiterhin mit nationalsozialistischen Manipulationstechniken, für die

die NS-Dichtung als ein Beispiel gilt, auseinanderzusetzen und vielleicht an gegenwärtigen

Radikalisierungserscheinungen in der Massenpropaganda zu spiegeln. Denn, so betont

Zeitzeugin Gudrun Wilcke, „nur wer von der Gefahr weiß, ist wachsam“.716

714 Vgl. Kurt Salamun: Karl Jaspers. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, 78 und Arvi Sepp: Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 309. 715 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 173. 716 Wilcke: Die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung, 9.

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Literaturverzeichnis

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Literaturverzeichnis

221

1. Primärliteratur

1.1 Anackers, Menzels und Schumanns Werke

Anacker, H.: Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung. München: Eher 1936,

Erstausgabe 1933.

Menzel, H.: Gedichte der Kameradschaft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1936.

Schumann, G.: Die Lieder vom Reich. München: Albert Langen - Georg Müller 1935.

---: Schau und Tat. Gedichte. München: Langen-Müller 1938.

1.2 Andere nationalsozialistische Werke

Bangert, O.: Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos. München: Eher 1930.

Dippel, P. G.: Heinrich Anacker. München: Deutscher Volksverlag 1937.

Erckmann, R.: Der Reichsgedanke im Werk schwäbischer Dichter. In: Schwaben 11.4/5

(1939). 300-312.

Goebbels, J.: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. München: Eher 1934.

Göring, H.: Aufbau einer Nation. Berlin: E. S. Mittler & Sohn 1934.

Hitler, A.: Mein Kampf. München: Eher 1943, Urheberrecht Band I 1925; Band II 1927.

Kindermann, H.: Des deutschen Dichter Sendung in der Gegenwart. Leipzig: Philipp

Reclam 1933.

---: Dichtung und Volkheit. Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1937.

Krieck, E.: Rede am Feuer. In: Der Stahlhelm. Beilage 37.2 (1931). 9.

Langenbucher, H.: Dichtung der Jungen Mannschaft. Hamburg: Hanseatische

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Page 237: „DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG

Abstract

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Abstract

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1. Deutsche Fassung

„Des deutschen Dichters Sendung“

Die Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ in der national–

sozialistischen Dichtung: Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert

Menzel

Ein auffälliger religiöser Diskurs auf allen Ebenen des nationalsozialistischen Systems –

zum Beispiel im politischen Kult, in der Propaganda und den Reden von Hitler und

verschiedenen anderen hochrangigen NS-Funktionären – gab bereits im „Dritten Reich“

Anlass dazu, den Nationalsozialismus als sogenannte „politische Religion“ zu beschreiben.

Die vorliegende Arbeit untersucht die textuelle Repräsentation dieser „politischen

Religion“ in der affirmativen NS-Dichtung und insbesondere die Sakralisierung dreier

zentraler Ideologeme: „Führer“, „Reich“ und „Volk“. Zu diesem Zweck wird im

theoretischen Teil dieser Studie das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Religion

auf der einen Seite und Nationalsozialismus und Dichtung auf der anderen Seite

hervorgehoben. Die literarische Analyse konzentriert sich auf die Kristallisation des

religiösen Diskurses in der affirmativen NS-Dichtung und geht der Frage nach, wie

politische und profane Kernideen wie „Führer“, „Reich“ und „Volk“ auf eine sakrale Ebene

hochstilisiert werden.

Aus theoretischer Sicht wird zunächst die Frage untersucht, inwieweit der Begriff der

„politischen Religion“ tatsächlich auf das nationalsozialistische Regime anwendbar ist. Zur

Einführung wirft diese Studie zunächst einen Blick auf die Totalitarismusforschung seit

dem Zweiten Weltkrieg. Danach geht sie tiefer auf die Forschungstradition zur

„politischen Religion“ ein. Obwohl die Grundlage für diese Forschung über „politische

Religionen“ bereits in den 1930er Jahren gelegt wurde, entstand erst in den 1990er Jahren

ein breites und differenziertes Forschungsfeld. Diese Dissertation geht nicht nur auf die

Definitionsproblematik der „politischen Religion“ ein, sondern plädiert auch für eine

Erweiterung des Religionsbegriffes selbst. Auf diese Weise bietet diese Dissertation eine

neue und multidimensionale Perspektive auf die „(politische) Religion“, die somit als

handhabbares Konzept für die Beschreibung totalitärer Regime wie des National–

sozialismus verwendet werden kann. Noch auf theoretischer Ebene versucht diese Studie,

die Frage zu beantworten, was nationalsozialistische Dichtung sei. Für eine nuancierte und

ideologiekritische Interpretation dieser politischen Dichtung, die von der Literatur–

wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem wegen ihrer zweckdienlichen

Funktion weitgehend vernachlässigt wurde, greift diese Arbeit den textsoziologischen

Ansatz des österreichischen Literaturwissenschaftlers Peter Zimas auf.

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Abstract

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Die konkrete Textanalyse und somit die Interpretation des religiösen Diskurses in der

affirmativen NS-Dichtung bilden den eigentlichen Kern dieser Forschungsarbeit. Obwohl

diese Arbeit aufweist, dass die Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“ bereits über eine

gewisse sakrale Potenz verfügen, steigert die affirmative NS-Dichtung ihre pseudoreligiöse

Bedeutung im Zusammenhang mit einem pointiert religiösen Diskurs umso mehr. Da sich

die Analyse immer auf die Sakralisierung eines der drei Ideologeme in einem bestimmten

Gedichtband konzentriert, lässt sich der textanalytische Teil dieser Arbeit in drei

thematische Schwerpunkte unterteilen. Der erste Teil untersucht die Darstellung von

Adolf Hitler - dem „Führer“ - als „Messias“ in der Gedichtsammlung Die Fanfare. Gedichte

der deutschen Erhebung (Erstausgabe 1933) von Heinrich Anacker (1901-1971). Die

Interpretation erfolgt vor dem Hintergrund des so genannten „politischen Messianismus“

und der typischen messianischen Erlösungsbedürfnisse im krisenbetroffenen Deutschland

nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Für die Interpretation der sakralisierten

Gestaltung von „Reich“ in der Anthologie Die Lieder vom Reich (1935) von Gerhard

Schumann (1911-1995) kehrt diese Dissertation zu den theologischen Wurzeln „des Dritten

Reiches“ zurück, insbesondere zur Drei-Zeiten-Lehre des mittelalterlichen Mönchs

Joachim von Fiore (ca. 1130-1202). Obwohl „Volk“ das profanste Konzept der drei zu sein

scheint, ist auch „Volk“ in der Gedichtsammlung Gedichte der Kameradschaft (1936) von

Herybert Menzel (1906-1945) von einer religiösen Aura umgeben. Gerade wenn Individuen

als Märtyrer dargestellt werden und – in geringerem Maße – wenn die gesellschaftliche

Rolle von Frauen und Männern religiös gewertet wird, erhebt sich auch dieses „Volk“ zu

einem geheiligten Konzept. Gerade wegen dieser gezielten Sakralisierung von „Führer“,

„Reich“ und „Volk“ betrachtet diese Dissertation diese drei Ideologeme als

„Glaubensartikel“ der nationalsozialistischen (politischen) Religion.

2. Niederländische Fassung

„Des deutschen Dichters Sendung“

De sacralisering van „Führer“, „Reich“ en „Volk“ in nationaalsocialistische poëzie:

Heinrich Anacker, Gerhard Schumann en Herybert Menzel

Een opvallend religieus discours op alle niveaus van het nationaalsocialistische systeem –

bijvoorbeeld in de politieke cultus, de propaganda en toespraken van Hitler en diverse

andere hooggeplaatste nazifunctionarissen – gaf reeds in het „Derde Rijk“ aanleiding tot

het beschrijven van het nationaalsocialisme als een zogenaamde „politieke religie“. Deze

studie onderzoekt de tekstuele representatie van deze „politieke religie“ in affirmatieve

nazipoëzie en in het bijzonder de sacralisering van drie centrale ideologemen: „Führer“,

„Reich“ en „Volk“. Met dit doel belicht het theoretische luik van deze studie de relatie

tussen het nationaalsocialisme en religie enerzijds en nationaalsocialisme en poëzie

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Abstract

241

anderzijds. De literaire analyse focust op de kristallisatie van het religieus discours in de

affirmatieve nazipoëzie om zo te onderzoeken hoe politieke en profane kernideeën zoals

„Führer“, „Reich“ en „Volk“ naar een sacraal niveau getild worden.

Vanuit een theoretisch perspectief wordt eerst de vraag onderzocht in hoeverre het begrip

„politieke religie“ daadwerkelijk toepasbaar is op het nationaalsocialistische regime. Als

inleiding werpt deze studie eerst een blik op het totalitarismeonderzoek sinds de Tweede

Wereldoorlog, om nadien dieper in te gaan op het traditionele onderzoek naar „politieke

religies“. Hoewel de basis voor dit onderzoek al in de jaren dertig van de vorige eeuw werd

gelegd, ontstond er pas vanaf de jaren negentig een breed en genuanceerd onderzoeksveld.

Dit proefschrift beschrijft niet enkel de problematiek wat betreft het definiëren van de

„politieke religie“, maar pleit bovendien voor een verruiming van het concept „religie“ zelf.

Op deze manier biedt dit proefschrift een nieuwe visie op „(politieke) religie“, die zo als

hanteerbaar concept gebruikt kan worden voor de beschrijving van totalitaire regimes

zoals het nationaalsocialisme. Nog op theoretisch niveau probeert deze studie een

antwoord te bieden op de vraag: „Wat is nationaalsocialistische poëzie?“ Om tot een

genuanceerde en ideologiekritische interpretatie van deze politieke poëzie te komen, die

net wegens haar utilitaire functie door de literatuurwetenschap na de Tweede

Wereldoorlog grotendeels genegeerd werd, beroept deze studie zich op de

tekstsociologische benadering van de Oostenrijkse literatuurwetenschapper Peter Zima.

De concrete tekstanalyse en dus de interpretatie van het religieuze discours in affirmatieve

nazipoëzie vormt de eigenlijke kern van dit onderzoek. Hoewel dit onderzoek aantoont

dat de ideologemen „Führer“, „Reich“ en „Volk“ reeds over een zeker inherent sacraal

potentieel beschikken, worden ze in de affirmatieve nazipoëzie doelgericht in verbinding

met een religieus discours verder religieus opgewaardeerd. Doordat de analyse telkens op

de sacralisering van één van de drie ideologemen in één specifieke gedichtbundel focust,

valt het tekstanalytische luik van dit proefschrift uiteen in drie thematische

zwaartepunten. Het eerste deel onderzoekt de voorstelling van Adolf Hitler – de „Führer“

– als een soort „Messias“ in de gedichtbundel Die Fanfare. Gedichte der deutschen

Erhebung (eerste uitgave in 1933) van Heinrich Anacker (1901-1971). De interpretatie

gebeurt tegen de achtergrond van het zogenaamde „politiek messianisme“ en de typerende

messiaanse verlossingsbehoeften in het door crisis geteisterde Duitsland na het einde van

de Eerste Wereldoorlog. Voor de sacrale vormgeving van „Reich“ in de anthologie Die

Lieder vom Reich (1935) van Gerhard Schumann (1911-1995) keert dit proefschrift terug

naar de theologische wortels van „het Derde Rijk“, met name naar de verdeling van de

geschiedenis in drie tijdperken door de middeleeuwse monnik Joachim van Fiore (ca. 1130-

1202). Hoewel „Volk“ het meest profane concept van de drie lijkt te zijn, wordt ook „Volk“

in de gedichtbundel Gedichte der Kameradschaft (1936) van Herybert Menzel (1906-1945)

omgeven door een religieus aura. In het bijzonder wanneer individuen als martelaren

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worden voorgesteld en – in mindere mate – wanneer de maatschappelijke rol van vrouwen

en mannen religieus wordt geduid, verheft ook dit „Volk“ zich tot een sacraal

opgewaardeerd concept. Net door deze doelgerichte sacralisering van „Führer“, „Reich“ en

„Volk“ beschouwt dit proefschrift deze drie ideologemen als het ware als „geloofsartikelen“

van de nationaalsocialistische (politieke) religie.