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Ausbildung – Vorbereitungskurse Deutsch mündlich Fachdossier Niveau I weiterwissen.

Deutsch mündlich - phlu.ch · Anforderungen im Fachbereich Deutsch mündlich für die Eintrittsprüfung Niveau I an die Pädagogische Hochschule Zentralschweiz (PHLU) Lernziele

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Ausbildung – Vorbereitungskurse

Deutsch mündlich Fachdossier Niveau I

weiterwissen.

Anforderungen im Fachbereich Deutsch mündlich für die Eintrittsprüfung Niveau I an die Pädagogische Hochschule Zentralschweiz (PHLU)

Lernziele

Folgende Fähigkeiten zur Textreflexion werden geprüft:

Die Kandidatin / der Kandidat kann:

- einen literarischen Text sinngebend lesen und das gewonnene Verständnis mitteilen - den Text als literarischen Text identifizieren und mit Mitteln der Textanalyse beschreiben - literaturwissenschaftliche Grundbegriffe anwenden - Urteile und Einsichten überzeugend formulieren - Vergleiche zu anderen Werken ziehen - das Gesamtverständnis ergänzen durch Einbezug geschichtlicher, gesellschaftlicher,

biographischer und literaturgeschichtlicher Aspekte - eigene Gedanken mit passenden Textstellen belegen

… sinngebend lesen:

- inhaltliche Kernpunkte nennen - Thematik beschreiben - Problemstellung erkennen und erläutern - Deutungshypothesen formulieren - paraphrasieren und interpretieren - Leerstellen konkretisieren - Konflikte nennen - Symbolik und Motive erkennen - Figuren charakterisieren, vergleichen, ihre Handlungsmotivation nennen,

Beziehungsverhältnisse beschreiben

… die Form analysieren und in die Deutung einbeziehen:

- Aufbau: inhaltliche Gliederung, Abfolgen, Wendepunkte, Zeitverhältnisse, Spannungsbogen - Rahmen- bzw. Binnenstruktur - Geschlossen‐ bzw. Offenheit

- Kommunikationssituation - szenisch‐dramaturgische Mittel (Drama) - Figurenkonstellation - Erzählperspektive und ‐situation (auktorial, neutral, personal, Ich‐, Er‐Erzähler) (Epik) bzw.

lyrisches Ich (Lyrik) - Rede‐ und Gedankenwiedergabe - Sprache: Satzbau, auffällige Stilmittel, Bildhaftigkeit, Rhetorik - Strophenform, Metrum und Rhythmus (Lyrik)

… das Gesamtverständnis ergänzen:

- Gattungsmerkmale nennen - biographische und historische Ereignisse einbeziehen - literaturgeschichtliche Bezüge herstellen - Aspekte der Rezeptionsgeschichte kennen - Aktualitäts‐ bzw. Gegenwartsbezüge herstellen

… sich klar und verständlich ausdrücken:

- korrekte, dem Gegenstand und der Situation angemessene Sprache und Präsentation - Dialogfähigkeit

Inhalte

Die mündliche Prüfung Deutsch bezieht sich inhaltlich auf vier literarische Werke (Epik / Drama) und drei

Gedichte (Lyrik).

Die persönliche Textwahl basiert auf einer verbindlichen Lektüreliste, die den Kandidaten bei der

Prüfungsanmeldung vom zuständigen Kursleiter bzw. der Kursleiterin abgegeben wird. Die ausgewählten

Werke müssen jede der drei Gattungen Lyrik, Epik, Dramatik und sieben Epochen abdecken. Die Textwahl

muss von den Prüfenden bewilligt werden.

Empfohlene Vorbereitung / Literatur Um ausreichend auf das Prüfungsgespräch vorbereitet zu sein, sind die oben genannten Analyse- und

Interpretationskompetenzen mit Hilfe geeigneter Lehrmittel und von wissenschaftlicher Literatur zu

erarbeiten.

Empfohlen für die Vorbereitung wird:

- Wucherpfennig, W.: Deutsche Literaturgeschichte - Von den Anfängen bis zur Gegenwart

aber auch:

- Gigl, Claus J.: Deutsche Literaturgeschichte. Abiturwissen Deutsch (Literaturgeschichte für die Mittelschule)

- Kindlers Literaturlexikon (Autoren und ihre Werke) - Klett Lektürehilfen (Lernhilfen) - Königs Erläuterungen (Lernhilfen) - Reclams Erläuterungen (Lernhilfen) - Sammlung Metzler (Monographien zu Epochen oder Themen) - Text + Kritik (Sammelbände mit Einzelbeiträgen zu Autoren oder Themen) - Texte, Themen und Strukturen (Lehrmittel für die Mittelschule mit Kapiteln zu

Literaturgeschichte und Gattungen) Prüfungsmodalitäten und Bewertungskriterien

Die Prüfung wird im Dialog geführt. Ausgangspunkt ist ein kurzer Auszug aus einem der gewählten Werke.

Die Prüfung dauert 15 Minuten. Der Prüfung geht eine stille Vorbereitungszeit von 15 Minuten voraus, für

die dem Kandidaten/der Kandidatin Prüfungstext und Aufgabenstellung abgegeben werden.

Die Kandidaten referieren möglichst selbständig zum vorgelegten Text und stellen wo möglich und sinnvoll

Querbezüge zu den anderen gelesenen Texten her. Der/die Prüfende führt das Gespräch anhand der auf

dem Prüfungsblatt gestellten Aufgaben sowie von sich aus dem Dialog entwickelnden Fragen. Bewertet

werden Qualität und Ergiebigkeit des Gesprächs im Sinne der oben formulierten Lernziele.

Musterprüfung Franz Kafka - Die Verwandlung

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu

einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah,

wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Ver-steifungen

geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum

noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen 5

Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas

zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem

Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war -

Samsa war Reisender - hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift 10

ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine

Dame dar, die mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren

Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegen-hob.

Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter - man hörte Regentropfen auf

das Fensterblech aufschlagen - machte ihn ganz melancholisch. »Wie wäre es, wenn ich noch ein 15

wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße«, dachte er, aber das war gänzlich

undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in

seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die

rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl

hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, 20

als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.

Aufgaben 1. Analysieren Sie Stil und Sprache des Textausschnitts. 2. Erläutern Sie die Erzählsituation (Ausschnitt und ganzes Werk). 3. Erläutern und deuten Sie den Textausschnitt. Nehmen Sie dabei Bezug auf Figuren und Themen des

ganzen Werks. 4. Interpretieren Sie das Werk, auch vor dem Hintergrund der Epoche, in der es entstanden ist.

Lektüreliste 2016/17

Die persönliche Vorbereitungslektüre basiert für alle auf dieser Lektüreliste. Es müssen sieben Werke ausgewählt werden, die verschiedenen Gattungen angehören - drei Gedichte (s. S. 10 ff.) , mindestens ein Drama, mindestens ein episches Werk - und aus sieben verschiedenen literarischen Epochen stammen. Abkürzungen: SCH: Schauspiel / T: Tragödie / K: Komödie / E: Erzählung / R: Roman / N : Novelle I G : Geschichten / L: Lyrik/ Gedicht (in Klammern ungefähre Anzahl Seiten)

AUFKLÄRUNG (18. Jh.) Barthold Heinrich Brockes Kirschblüte bei der Nacht, 1727 (L) Gotthold Ephraim Lessing Emilia Galotti, 1772 (T) (40) Gotthold Ephraim Lessing Nathan der Weise, 1779 (SCH) (80) STURM UND DRANG (1770-1785) Sophie von La Roche Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771 (R) (350) Johann Wolfgang von Goethe Die Leiden des jungen Werther, 1774 (R) (150) Johann Wolfgang von Goethe Rastlose Liebe, 1776 (L) Johann Wolfgang von Goethe Der Erlkönig, 1778 (L) Friedrich Schiller Die Räuber, 1782 (SCH) (150) Friedrich Schiller Kabale und Liebe, 1784 (T) (110) KLASSIK (1786-1805/32) Johann Wolfgang von Goethe Iphigenie auf Tauris, 1787 (SCH) (62) Johann Wolfgang von Goethe Das Märchen, 1795 (E) (40) Johann Wolfgang von Goethe Novelle, 1797 (N) (30) Johann Wolfgang von Goethe Faust I, 1808 (T) (135) Friedrich Schiller Die Bürgschaft, 1798 (L) Friedrich Schiller Wilhelm Tell, 1804 (T) (130) ROMANTIK (1795-1835) Friedrich de la Motte-Fouqué Undine, 1811 (E) (95) Joseph von Eichendorff Waldgespräch, 1811/15 (L) Joseph von Eichendorff Das Marmorbild, 1818 (N) (60) Adalbert von Chamisso Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, 1814 (E) (80) Adalbert von Chamisso Tragische Geschichte, 1831 (L) Ludwig Uhland Fräuleins Wache, 1815 (L) E.T.A. Hoffmann Der goldne Topf, 1814/18 (N) (160) E.T.A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderie, 1821 (N) (80)

FRÜHREALISMUS (1815-1850) Heinrich Heine Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, 1823/24 (L) Heinrich Heine Die Stadt Lucca, Die Bäder von Lucca, 1831 (E) (150) Georg Büchner Woyzeck, 1836 (T, Fragment) (30) Georg Büchner Leonce und Lena, 1836 (K) (40) Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche, 1842 (N) (60) Annette von Droste-Hülshoff Der Knabe im Moor, 1841/42 (L) Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne, 1842 (N) (120) Adalbert Stifter Brigitta, 1844 (E) (65) REALISMUS (1850 -1890) C.F. Meyer Der Schuss von der Kanzel, 1877 (N) (55) C.F. Meyer Der schöne Tag, 1892 (L) Theodor Storm Der Schimmelreiter, 1888 (N) (130) Theodor Storm Immensee, 1849/51 (N) (55) Theodor Storm Ein Doppelgänger, 1887 (N) (80) Marie v. Ebner-Eschenbach Das Gemeindekind, 1887 (R) (205) Theodor Fontane Irrungen, Wirrungen, 1888 (R) (180) Theodor Fontane Effi Briest, 1895 (R) (340) NATURALISMUS (1880-1900) Frank Wedekind Frühlingserwachen, 1891 (T) (80) Gerhard Hauptmann Die Weber, 1891 (SCH) (80) Gerhard Hauptmann Die Ratten, 1911 (TK) (140) GEGENSTRÖMUNG ZUM NATURALISMUS / 1. WELTKRIEG Hugo von Hofmannsthal Vorfrühling, 1892 (L) Hugo von Hofmannsthal Jedermann, 1911 (SCH) (70) Rainer Maria Rilke Herbsttag, 1902 (L) Hermann Hesse Unterm Rad, 1905 (E) (160) Stefan Zweig Angst, 1910 (N) (120) Thomas Mann Tod in Venedig, 1912 (N) (80) Thomas Mann Buddenbrooks, 1901 (R) (750) Heinrich Mann Der Untertan, 1914 (R) (490) EXPRESSIONISMUS I DADA (1910 -1925) / ZWISCHENKRIEGSZEIT Gottfried Benn Morgue (Kleine Aster, Schöne Jugend, Kreislauf), 1912 (L) Gottfried Benn Gehirne, 1916 (fünf N) (50) Franz Kafka Die Verwandlung, 1912 (N) (60) Alfred Döblin Die Ermordung einer Butterblume, 1913 (zwölf E) (120) Hermann Hesse Der Steppenwolf, 1927 (R) (230) Annemarie Schwarzenbach Lyrische Novelle, 1933 (N) (100)

EPOCHE DES NATIONALSOZIALISMUS / EXILLITERATUR (1930-1945) Kurt Tucholsky Schloss Gripsholm, 1931 (E) (160) Irmgard Keun Gilgi, 1931 (R) (260) Erich Kästner Fabian, 1931 (R) (230) Klaus Mann Mephisto, 1936 (R) (390) Stefan Zweig Schachnovelle, 1941 (N) (50) Anna Seghers Der Ausflug der toten Mädchen, 1944 (drei E) (125) Else Lasker-Schüler Die Verscheuchte, 1943 (L) ZEIT DES KALTEN KRIEGES (1945-1989) Bertold Brecht Das Leben des Galilei, 1955 (SCH) (180) Max Frisch Homo Faber, 1957 (R) (200) Günter Grass Die Blechtrommel, 1959 (R) (780) Marie Luise Kaschnitz Lange Schatten, 1960 (E) ganzer Band (170) Hans Magnus Enzensberger fränkischer kirschgarten im januar, 1962 (L) Heinrich Böll Ansichten eines Clown, 1963 (R) (250) Max Frisch Biografie - Ein Spiel, 1967 (SCH) (110) Christa Wolf Nachdenken über Christa T., 1968 (R) (180) Peter Handke Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, 1970 (E) (100) Fritz Zorn Mars, 1977 (R) (250) AIfred Andersch Der Vater eines Mörders, 1980 (E) (100) LITERATUR NACH DER WENDE (nach 1990) eigene Wahl

Barthold Heinrich Brockes

Kirschblüte bei der Nacht (1727)

Ich sahe mit betrachtendem Gemüte Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte, In kühler Nacht beim Mondenschein; Ich glaubt', es könne nichts von größrer Weiße sein. Es schien, ob wär ein Schnee gefallen. Ein jeder, auch der kleinste Ast Trug gleichsam eine rechte Last Von zierlich-weißen runden Ballen. Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt, Indem daselbst des Mondes sanftes Licht Selbst durch die zarten Blätter bricht, Sogar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat. Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden Was Weißers aufgefunden werden. Indem ich nun bald hin, bald her Im Schatten dieses Baumes gehe, Sah ich von ungefähr Durch alle Blumen in die Höhe Und ward noch einen weißern Schein, Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar, Fast halb darob erstaunt, gewahr. Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein Bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht Von einem hellen Stern ein weißes Licht, Das mir recht in die Seele strahlte. Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergetze, Dacht ich, hat Er dennoch weit größre Schätze. Die größte Schönheit dieser Erden Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.

Johann Wolfgang von Goethe

Rastlose Liebe (1776)

Dem Schnee, dem Regen,

Dem Wind entgegen,

Im Dampf der Klüfte,

Durch Nebeldüfte,

Immer zu! Immer zu!

Ohne Rast und Ruh!

Lieber durch Leiden

Möcht ich mich schlagen,

Als so viel Freuden

Des Lebens ertragen.

Alle das Neigen

Von Herzen zu Herzen,

Ach, wie so eigen

Schaffet das Schmerzen!

Wie soll ich fliehen?

Wälderwärts ziehen?

Alles vergebens!

Krone des Lebens,

Glück ohne Ruh,

Liebe, bist du!

Johann Wolfgang von Goethe

Der Erlkönig (1778) Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? - Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? - Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. - "Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand." Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? - Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. - Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, Und wiegen und tanzen und singen dich ein." Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? - Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. - "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! - Dem Vater grausets, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.

Friedrich Schiller Die Bürgschaft (1798)

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande: Ihn schlugen die Häscher in Bande, "Was wolltest du mit dem Dolche? Sprich!" Entgegnet ihm finster der Wüterich. "Die Stadt vom Tyrannen befreien!" "Das sollst du am Kreuze bereuen." "Ich bin", spricht jener, "zu sterben bereit Und bitte nicht um mein Leben: Doch willst du Gnade mir geben, Ich flehe dich um drei Tage Zeit, Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit; Ich lasse den Freund dir als Bürgen, Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen." Da lächelt der König mit arger List Und spricht nach kurzem Bedenken: "Drei Tage will ich dir schenken; Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist, Eh' du zurück mir gegeben bist, So muss er statt deiner erblassen, Doch dir ist die Strafe erlassen." Und er kommt zum Freunde: "Der König gebeut, Dass ich am Kreuz mit dem Leben Bezahle das frevelnde Streben. Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit, Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit; So bleib du dem König zum Pfande, Bis ich komme zu lösen die Bande." Und schweigend umarmt ihn der treue Freund Und liefert sich aus dem Tyrannen; Der andere ziehet von dannen. Und ehe das dritte Morgenrot scheint, Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint, Eilt heim mit sorgender Seele, Damit er die Frist nicht verfehle. Da giesst unendlicher Regen herab, Von den Bergen stürzen die Quellen, Und die Bäche, die Ströme schwellen. Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,

Da reisset die Brücke der Strudel hinab, Und donnernd sprengen die Wogen Des Gewölbes krachenden Bogen. Und trostlos irrt er an Ufers Rand: Wie weit er auch spähet und blicket Und die Stimme, die rufende, schicket. Da stösset kein Nachen vom sichern Strand, Der ihn setze an das gewünschte Land, Kein Schiffer lenket die Fähre, Und der wilde Strom wird zum Meere. Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht, Die Hände zum Zeus erhoben: "O hemme des Stromes Toben! Es eilen die Stunden, im Mittag steht Die Sonne, und wenn sie niedergeht Und ich kann die Stadt nicht erreichen, So muss der Freund mir erbleichen." Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut, Und Welle auf Welle zerrinnet, Und Stunde an Stunde entrinnet. Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut Und wirft sich hinein in die brausende Flut Und teilt mit gewaltigen Armen Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen. Und gewinnt das Ufer und eilet fort Und danket dem rettenden Gotte; Da stürzet die raubende Rotte Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort, Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord Und hemmet des Wanderers Eile Mit drohend geschwungener Keule. "Was wollt ihr?" ruft er vor Schrecken bleich, "Ich habe nichts als mein Leben, Das muss ich dem Könige geben!" Und entreißt die Keule dem nächsten gleich: "Um des Freundes willen erbarmet euch!" Und drei mit gewaltigen Streichen Erlegt er, die andern entweichen. Und die Sonne versendet glühenden Brand, Und von der unendlichen Mühe Ermattet sinken die Knie. "O hast du mich gnädig aus Räubershand, Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,

Und soll hier verschmachtend verderben, Und der Freund mir, der liebende, sterben!" Und horch! da sprudelt es silberhell, Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen, Und stille hält er, zu lauschen; Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell, Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell, Und freudig bückt er sich nieder Und erfrischet die brennenden Glieder. Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün Und malt auf den glänzenden Matten Der Bäume gigantische Schatten; Und zwei Wanderer sieht er die Strasse ziehn, Will eilenden Laufes vorüber fliehn, Da hört er die Worte sie sagen: "Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen." Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß, Ihn jagen der Sorge Qualen; Da schimmern in Abendrots Strahlen Von ferne die Zinnen von Syrakus, Und entgegen kommt ihm Philostratus, Des Hauses redlicher Hüter, Der erkennet entsetzt den Gebieter: "Zurück! du rettest den Freund nicht mehr, So rette das eigene Leben! Den Tod erleidet er eben. Von Stunde zu Stunde gewartet' er Mit hoffender Seele der Wiederkehr, Ihm konnte den mutigen Glauben Der Hohn des Tyrannen nicht rauben." "Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, Ein Retter, willkommen erscheinen, So soll mich der Tod ihm vereinen. Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht, dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, Er schlachte der Opfer zweie Und glaube an Liebe und Treue!" Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor, Und sieht das Kreuz schon erhöhet, Das die Menge gaffend umstehet; An dem Seile schon zieht man den Freund empor, Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor: "Mich, Henker", ruft er, "erwürget!

Da bin ich, für den er gebürget!" Und Erstaunen ergreifet das Volk umher, In den Armen liegen sich beide Und weinen vor Schmerzen und Freude. Da sieht man kein Auge tränenleer, Und zum Könige bringt man die Wundermär'; Der fühlt ein menschliches Rühren, Lässt schnell vor den Thron sie führen, Und blicket sie lange verwundert an. Drauf spricht er: "Es ist euch gelungen, Ihr habt das Herz mir bezwungen; Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn - So nehmet auch mich zum Genossen an: Ich sei, gewährt mir die Bitte, In eurem Bunde der Dritte!"

Josef von Eichendorff

Waldgespräch (1811)

Es ist schon spät, es wird schon kalt,

Was reitst du einsam durch den Wald?

Der Wald ist lang, du bist allein,

Du schöne Braut! Ich führ dich heim!

»Groß ist der Männer Trug und List,

Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist,

Wohl irrt das Waldhorn her und hin,

O flieh! Du weißt nicht, wer ich bin.«

So reich geschmückt ist Ross und Weib,

So wunderschön der junge Leib,

Jetzt kenn ich dich – Gott steh mir bei!

Du bist die Hexe Lorelei.

»Du kennst mich wohl – von hohem Stein

Schaut still mein Schloss tief in den Rhein.

Es ist schon spät, es wird schon kalt,

Kommst nimmermehr aus diesem Wald!«

Ludwig Uhland

Fräuleins Wache (1815)

Ich geh all Nacht die Runde Um Vaters Hof und Hall'. Es schlafen zu dieser Stunde Die trägen Wächter all. Ich Fräulein zart muß streifen, Ohn' Wehr und Waffen schweifen, Den Feind der Nacht zu greifen. O weh des schlimmen Gesellen! Nach Argem steht sein Sinn. Würd' ich nicht kühn mich stellen, Wohl stieg' er über die Zinn'. Wann ich denselben finde, Wie er lauert bei der Linde, Ich widersag ihm geschwinde. Da muß ich mit ihm ringen Allein die Nacht entlang; Er will mich stets umschlingen, Wie eine wilde Schlang'; Er kommt vom Höllengrunde, Wie aus eins Drachen Schlunde, Gehn Flammen aus seinem Munde. Und hab ich ihn überwunden, Halt ihn im Arme dicht: Doch eh' die Sterne geschwunden, Entschlüpft mir stets der Wicht. Ich kann ihn niemand zeigen, Muß meinen Sieg verschweigen Und mich in Trauer neigen.

Heinrich Heine

Die Heimkehr (1823/24)

Ich weiß nicht was soll es bedeuten, Dass ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar; Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lore-Ley getan.

Adelbert von Chamisso

Tragische Geschichte (1831)

's war einer, dems zu Herzen ging, Daß ihm der Zopf so hinten hing, Er wollt es anders haben. So denkt er denn: "Wie fang ichs an? Ich dreh mich um, so ists getan" - Der Zopf, der hängt ihm hinten. Da hat er flink sich umgedreht, Und wie es stund, es annoch steht – Der Zopf, der hängt ihm hinten. Da dreht er schnell sich anders 'rum, 's wird aber noch nicht besser drum – Der Zopf, der hängt ihm hinten. Er dreht sich links, er dreht sich rechts, Es tut nichts Guts, es tut nichts Schlechts - Der Zopf, der hängt ihm hinten. Es dreht sich wie ein Kreisel fort, Es hilft zu Nichts, in einem Wort - Der Zopf, der hängt ihm hinten. Und seht, er dreht sich immer noch, Und denkt: "Es hilft am Ende doch" - Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Annette von Droste-Hülshoff

Der Knabe im Moor (1841/42)

Oh schaurig ist’s übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt, O schaurig ists übers Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche! Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt, als ob mann es jage; Hohl über die Fläche sauset der Wind – Was raschelt drüben am Hage? Das ist der gespenstische Gräberknecht, Der dem Meister die besten Torfe verzecht; Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind! Hinducket das Knäblein zage. Vom Ufer starret Gestumpf hervor, Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, Durch Riesenhalme wie Speere; Und wie es rieselt und knittert darin! Das ist die unselige Spinnerin, Das ist die gebannte Spinnlenor´, Die den Haspel dreht im Geröhre! Voran, voran! nur immer im Lauf, Voran, als woll es ihn holen! Vor seinem Fuße brodelt es auf, Es pfeift ihm unter den Sohlen Wie eine gespenstische Melodei; Das ist der Geigemann ungetreu,

Das ist der diebische Fiedler Kanuf, Der den Hochzeitheller gestohlen! Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margret: "Ho, ho, meine arme Seele!" Der Knabe springt wie ein wundes Reh; Wär nicht Schutzengel in seiner Näh, Seine bleichenden Knöchelchen fände spät Ein Gräber im Moorgeschwele. Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide, Die Lampe flimmert so heimatlich, Der Knabe steht an der Scheide. Tief atmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre wars fürchterlich, O schaurig wars in der Heide!

Conrad Ferdinand Meyer

Der schöne Tag (1982)

In kühler Tiefe spiegelt sich

Des Juli-Himmels warmes Blau,

Libellen tanzen auf der Flut,

Die nicht der kleinste Hauch bewegt.

Zwei Knaben und ein ledig Boot -

Sie sprangen jauchzend in das Bad.

Der eine taucht gekühlt empor.

Der andre steigt nicht wieder auf.

Ein wilder Schrei: "Der Bruder sank!"

Von Booten wimmelts schon. Man fischt.

Den einen rudern sie ans Land,

Der fahl wie ein Verbrecher sitzt.

Der andre Knabe sinkt und sinkt

Gemach hinab, ein Schlummernder,

Geschmiegt das sanfte Lockenhaupt

An einer Nymphe weisse Brust.

Hugo von Hofmannsthal

Vorfrühling (1892) Es läuft der Frühlingswind Durch kahle Alleen, Seltsame Dinge sind In seinem Wehn.

Er hat sich gewiegt, Wo Weinen war, Und hat sich geschmiegt In zerrüttetes Haar.

Er schüttelte nieder Akazienblüten Und kühlte die Glieder, Die atmend glühten.

Lippen im Lachen Hat er berührt, Die weichen und wachen Fluren durchspürt.

Er glitt durch die Flöte, Als schluchzender Schrei, An dämmernder Röte Flog er vorbei.

Er flog mit Schweigen Durch flüsternde Zimmer Und löschte im Neigen Der Ampel Schimmer.

Es läuft der Frühlingswind Durch kahle Alleen, Seltsame Dinge sind In seinem Wehn.

Durch die glatten Kahlen Alleen Treibt sein Wehn Blasse Schatten

Und den Duft, Den er gebracht, Von wo er gekommen Seit gestern Nacht.

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Rainer Maria Rilke

Herbsttag (1902)

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin, und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

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Gottfried Benn

Morgue (1912)

I KLEINE ASTER

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, kleine Aster!

II SCHÖNE JUGEND

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

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III KREISLAUF

Der einsame Backzahn einer Dirne, die unbekannt verstorben war, trug eine Goldplombe. Die übrigen waren wie auf stille Verabredung ausgegangen. Den schlug der Leichendiener sich heraus, versetzte ihn und ging für tanzen. Denn, sagte er, nur Erde solle zur Erde werden.

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Else Lasker-Schüler

Die Verscheuchte (1943)

Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt, Entseelt begegnen alle Welten sich- Kaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild.

Wie lange war kein Herz zu meinem mild... Die Welt erkaltete, der Mensch verblich. Komm bete mit mir - denn Gott tröstet mich.

Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich? Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild Durch bleiche Zeiten träumend - ja ich liebte dich...

Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt? Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich Und ich vor deine Tür, ein Bündel Wegerich.

Bald haben Tränen alle Himmel weggespült, An deren Kelchen Dichter ihren Durst gestillt- Auch du und ich.

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Hans Magnus Enzensberger

fränkischer kirschgarten im januar (1962)

1 was einst baum war, stock, hecke, zaun: unter gehn in der leeren schneeluft diese winzigen spuren von tusche wie ein wort auf der seite riesigem weiß: weiß zeichnet dies geringfügig schöne geäst in den weißen himmel sich, zartfingrig, fast ohne andenken, fast nur noch frost, kaum mehr zeitheimisch, kaum noch oben und unten, umsichtig die linie zwischen himmel und hügel, sehr wenig weiß im weißen: fast nichts –

2 und doch ist da, eh die seite, der ort, die minute ganz weiß wird, noch dies getümmel geringer farben im kaum mehr deutlichen deutlich: eine streitschar erbitterter tüpfel: zink-, blei-, kreideweiß, gips, milch, schlohweiß und schimmernd

jedes von jedem distinkt: so vielstimmig, so genau, in hellen gesprenkelten haufen, der todesjubel der spuren: wieviel büschel von winzigen weißen schreien vor der gähnenden siegerin ewigkeit!

3 zwischen fast nichts und nichts wehrt sich und blüht weiß die kirsche.

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August 2016 / Andrea Grüter

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