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Deutsche Seefahrtsgeschichtliche Kommission (Hrsg.) Schifffahrt und Handel / Shipping and Trade

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Deutsche Seefahrtsgeschichtliche Kommission (Hrsg.)

Schifffahrt und Handel / Shipping and Trade

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Deutsche Maritime Studien / German Maritime Studies 24

Foto: Andreas Bohnhoff, Bremen

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Deutsche Seefahrtsgeschichtliche Kommission (Hrsg.)

Vorträge, gehalten anlässlich der Verabschiedung von

Lars U. Scholl in den Ruhestand im März 2012

Schifffahrt und Handel /

Edition Falkenberg

Shipping and Trade

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1. Auflage 2016Copyright © Edition Falkenberg, BremenISBN 978-3-95494-078-3ISSN 1860-989www.edition-falkenberg.de

Gesamtherstellung: Edition FalkenbergPrinted in Germany

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotogra-fie, Mikrofilm oder irgendein anderes Verfahren) ohne schriftliche Erlaubnis des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.edition-falkenberg.de

Abbildung auf dem Umschlag:Ulrich Hübner (1872 – 1932): Bremen und Europa an der Columbuskaje in Bremerhaven (ca. 1930), Öl auf Leinwand, 80 x 60,5 cm (Keilrm.), Inv. Nr.: I/10526/09(Deutsches Schiffahrtsmuseum)

Bildnachweis:Wenn hier nicht aufgeführt, stehen die Bildnachweise direkt unter dem Bild.

Trotz größter Sorgfalt und intensiver Recherche konnten in einigen, wenigen Fällen die Urheber bzw. Rechteinhabe nicht ermittelt werden. Es wird gegebenenfalls um Nachricht an den Verlag gebeten.

Alle Bilder im Beitrag Rainer Slotta stammen aus der Sammlung des Autors.Die Bilder im Beitrag Martin Rheinheimer stammen aus der Sammlung des Au-

tors.Alle Abbildungen im Beitrag Eike Lehmann stammen aus der Sammlung des Au-

tors.Alle Abbildungen im Beitrag Klaus-Peter Kiedel stammen aus dem Archiv des

Deutschen Schiffahrtsmuseum, Bremerhaven.

Deutsche Maritime Studien, Band 24 hrsg. von Lars U. Scholl

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Inhalt

Lars U. SchollDanksagung / Word of Thanks ......................................................................................... 7

Ingo HeidbrinkDeutsche Schifffahrtsgeschichte in ihren internationalen Bezügen ................................... 9

Rainer Slotta„Cognac war nicht alles“ – die Schifffahrt auf der Charente ........................................... 20

Robert BohnDie Reise des Gotländischen Schoners Calypso 1834 – 35 ............................................... 30

Martin RheinheimerThe End of Seafaring. The Case of Amrum in the Nineteenth Century .......................... 40

Yrjö KaukiainenThe Filipinos of the late 19th Century: Finnish Sailors on Foreign Vessels ................... 66

Lewis R. FischerThe International Merchant Marine in Comparative Perspective: An Analysis of Canada and Norway, 1870 – 1900 ............................................................ 77

David M. WilliamsTechnology, Market Forces and the Development of Commercial Cruising with Reference to Great Britain and Germany before 1914 ............................................ 100

Hans-Joachim BraunKreativitätsprozesse in Technik und Kunst. Möglichkeiten und Grenzen kognitionspsychologischer Ansätze .................................. 120

Jörn LindnerDie Aufbringung der Mai RiCkMeRs vor Taiwan- der lange Schatten deutscher Waffenexporte nach Ostasien in den 1920er und 1930er Jahren .................... 134

Michael EpkenhansDie europäische Flottenrüstung vor 1914 ....................................................................... 170

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Stefan KiekelHamburg, sein Gauleiter Karl Kaufmann und die Schifffahrt Maritime Ambitionen und Gau-Lobbyismus 1933 – 1945 .............................................. 180

Hajo NeumannDie Kriegsmarinewerft Wilhelmshaven in der „Stunde Null“ ....................................... 195

Ortwin PelcDie Industrialisierung des Hamburger Hafens ............................................................... 212

Eike LehmannGeschichtliche Entwicklung der Festigkeit der Schiffe .................................................. 228

Detlev EllmersExponate des Deutschen Schiffahrtsmuseums zur Schiffbautradition von Kogge und Kahn ...................................................................................................... 264

Ingo Heidbrink„Aufbewahren für alle Zeit“ – mögliche Antworten auf einige ungestellte Fragen zur Erhaltung von historischen Originalschiffen ............................................... 286

Klaus-Peter KiedelFlachware mit Tiefgang II – Das Archiv des Deutschen Schiffahrtsmuseums in den Jahren 2002 bis 2014 .............. 296

Beatrix FrommLars U. Scholl: Veröffentlichungen 1977 – 2016 ............................................................. 308

Autorenverzeichnis ......................................................................................................... 336

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Danksagung / Word of Thanks

Die in Band 24 der Deutschen Maritimen Studien/German Maritime Studies abgedruckten Beiträge wurden im März 2012 im Deutschen Schiffahrtsmuseum(DSM) in Bremerhaven anlässlich meiner Verabschiedung in den Ruhestand gehalten.

Den Organisatoren der zweitägigen Veranstaltung Beatrix Fromm, Ingo Heidbrink, Erik Hoops und Klaus-Peter Kiedel danke ich vielmals dafür, dass ich mein Berufsleben mit ei-nem solchen Höhepunkt ausklingen lassen konnte. Meinen in- und ausländischen Kollegen sowie meinen Freunden und Schülern bin ich sehr dankbar für ihre Teilnahme und für die mir gewidmeten Beiträge. Sie haben mir mit dem Symposium eine große Freude bereitet.

Mein besonderer Dank gilt dem Vorstand der Deutschen Seefahrtsgeschichtlichen Kom-mission, der die Herausgeberschaft der Vorträge übernommen hat. Den beiden Sponsoren, die ungenannt bleiben möchten, sowie meiner Verlegerin, die sich unermüdlich für die Ver-öffentlichung eingesetzt hat, sage ich ein herzliches Dankeschön.

These papers were presented on the occasion of my retirement as managing director of the German Maritime Museum in March 2012. I would like to thank my former colleagues at the museum for organizing such a splendid farewell symposium. Long standing friends and colleagues from Canada, the United States, from Great Britain, and Skandinavia as well as from Germany and some of my former Ph.D.-students came to Bremerhaven for two days in order to sweeten the transition from the day to day routines at the museum and Bremen University to a life that is exclusively governed by my own interests. I thank them all for their kindness.

I am sorry that the publication took such a long time. All the more, I am grateful to the German Commission for Maritime History which kindly volunteered to ensure the publication of the papers and contributed substantially to the costs with. But without the financial engagement of two sponsors, who wish to remain unknown, the book would not have been published. Due to the unshakeable enthusiasm of my publisher Linda Falkenberg, the papers appear as number 24 in the German Maritime Studies, the series I founded in 2005. I am very happy that the series will continue in the Edition Falkenberg, after the previous publisher went out of business in 2013.

Loxstedt, im Frühjahr 2016 Lars U. Scholl

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##vakat

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Deutsche Schifffahrtsgeschichte in ihren internationalen

Bezügen. Zur wissenschaftlichen Arbeit von Lars U. Scholl

Ingo Heidbrink

Wer gegenwärtig zur Deutschen Schifffahrtsgeschichte in ihren internationalen Bezügen ar-beitet, wird dabei früher oder später nahezu zwangsläufig auf eine der zahlreichen wissen-schaftlichen Arbeiten von Lars U. Scholl stoßen. Innerhalb der letzten vier Jahrzehnte hat er nicht nur umfangreich zu einer Vielzahl von Themen dieser historischen Teildisziplin ge-forscht und publiziert, sondern diesen Forschungsbereich gestaltet und geprägt, wie vielleicht kein anderer deutscher Wissenschaftler seiner Generation. Egal ob es um die Geschichte der Binnenschifffahrt, der Emanzipierung der technischen Berufe, des Schiffbaus, der Marine-malerei, der Handelsschifffahrt oder der Marine handelt, immer wieder finden sich Arbeiten von Lars U. Scholl unter den wichtigsten Publikationen zu diesen Themen. Das besondere Verdienst all dieser Publikationen liegt weiterhin eindeutig darin, dass sie nicht nur diese Themen als neue Themen für die schifffahrtshistorische Forschung in Deutschland erschlos-sen haben, sondern sie in einen internationalen Kontext gesetzt und somit der Forschung zur deutschen Schifffahrtsgeschichte eine Dimension erschlossen haben, die dieser zuvor weit-gehend unbekannt war.

Als Lars U. Scholl in den 1980er Jahren begann, als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Schiffahrtsmuseum (DSM) tätig zu werden, war der Auftrag des Hauses bereits eindeutig auf eine international komparative Herangehensweise ausgerichtet. Doch die tägli-che Arbeit der wenigen wissenschaftlichen Kollegen am DSM war weitestgehend durch den Auf- und Ausbau des Museums und die damit verbundenen alltäglichen Aufgaben gebunden. Die drei Gründungsdirektoren des Hauses mussten sich auf den Aufbau des ambitionierten Projektes eines Schifffahrtsmuseums konzentrieren, das nicht nur ein bedeutendes großes Haus werden wollte, sondern als das Deutsche Schiffahrtsmuseum sollte es zugleich ein Na-tionalmuseum sein. Die weiteren zu dieser Zeit am DSM tätigen Kollegen waren mit dem Aufbau der Sammlungen des Hauses und anderen museumsspezifischen Aufgaben wie z.B. der Redaktion so ausgelastet, dass Ihnen zur Entwicklung eines Forschungsprofiles, das über die konventionelle Ansätze der deutschen Schifffahrtsgeschichte hinausging, nur wenig freie Kapazitäten verblieben. Um so erstaunlicher ist es, dass es ihnen dennoch gelang, in einzel-nen Bereichen der Schifffahrtsgeschichte, wie z.B. der mittelalterlichen Schifffahrt oder des Walfanges, eine solche Expertise aufzubauen, dass das DSM innerhalb kürzester Zeit zu ei-ner der führenden Forschungseinrichtungen im Kontext dieser Themen wurde.

Lars U. Scholl, der bereits zuvor zu einer Vielzahl von Themen mit einer mehr oder min-der großen schifffahrtshistorischen Relevanz gearbeitet hatte, übernahm die komplexe Aufga-be, nahezu den gesamten Bereich der Geschichte der Handelsschifffahrt und der Marine des 19. und 20. Jahrhunderts als Forschungs- und Ausstellungsabteilung aufzubauen. Ein Verant-wortungsbereich solcher Größe erforderte mehr oder minder zwangläufig eine Schwerpunkt-setzung und Fokussierung der wissenschaftlichen Forschung, zumindest wenn eine gewisse analytische Tiefe erreicht werden sollte. Und genau dieses war die Zielsetzung von Scholl.

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„Cognac war nicht alles“ – die Schifffahrt auf der Charente

Rainer Slotta

1. Einleitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,als mich Herr Kiedel zu einem Vortrag zu Ehren des ausscheidenden Direktors des Deut-schen Schiffahrtsmuseums einlud, lag ein Thema auf der Hand, das in der Umgebung eines gemeinsamen Projektes zwischen dem Deutschen Schiffahrtsmuseum und dem Deutschen Bergbau-Museum angesiedelt war, z. B. ein Thema aus dem großen Bereich der berufsbezo-genen Versicherung (Stichwort „Seekasse“ bzw. „Knappschaft“) oder des Salpeters aus Chi-le mit seinen vielfältigen Beziehungen zwischen Schifffahrt, Transport und Bergbau. Da ich mich nicht entscheiden konnte, entschloss ich mich, die Entscheidung zu vertagen, da ja noch Zeit war. Dann kamen die Sommerferien 2011 dazwischen, die ich erstmalig in Südfrank-reich in der Gegend von Angoulême verbrachte. Meine Frau und ich hatten eine ehemalige Mühle auf einer Insel in der Charente gemietet, neben der Mühle befand sich eine leider nicht mehr existierende Brennerei, aber gegenüber der Mühle eine Schleuse, an der sich alltäglich Schifffahrts-Dramen abspielten, wenn z. B. englische, vorwiegend männliche Freizeit-Ka-pitäne ihre Familienmitglieder zum richtigen Schleusen bzw. dem richtigen Gebrauch von Tauen anhielten, was bisweilen zu erheblichen, auch lautstarken Debatten führte und man-

Brouage, ehem. Festungsstadt (17. Jahrhundert)

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chem weiblichen Familienoberhaupt – die meist im Teenager-Alter befindlichen Kindern in vollem Umfang mit eingeschlossen – wohl nachhaltig die Freude an der christlichen Seefahrt verleidet haben mag. Für mich als Betrachter war es immer sehr spannend und unterhaltsam.

Vor dem Hintergrund derartiger Ereignisse und einiger Besichtigungen von Denkmalen, die ich mangels sorgfältiger Ferienvorbereitungen so in der näheren Umgebung nicht erwar-tet hatte, wuchs schließlich der Gedanke, die Verabschiedung des hiesigen Museumsdirek-tors mit einem sehr persönlichen Beitrag zu erweitern, der sich zwischen Schifffahrt, Tech-nischen Denkmälern, in gewissem Umfang auch mit Bergbau sowie – ganz wesentlich und wie immer kommt das Beste zum Schluss – auch mit Kulinarischem befasst.

Sie, meine Damen und Herren, mögen mir meine Kühnheit verzeihen, wenn ich mich als Landratte und noch dazu als einfacher Bergmann erkühne, ein Thema aus der Schifffahrt anzugehen – sehen Sie mir also einfach meine mangelhafte Ausdrucksweise und sicher auch einige Fehleinschätzungen nach.

2. Die Charente als Fluss und ihre Bedeutung in der Geschichte Südfrankreichs

Die Charente war nach Ansicht des französischen Königs François I. (1494 – 1547) der „schönste Fluss Frankreichs“1 – diese Beurteilung verwundert nicht, denn er wurde in der Burg von Cognac an der Charente geboren. Dieser 360 km lange Fluss liegt im Südwes-ten Frankreichs und entspringt im Limousin in Chéronnac im Departement Haute-Vienne,

1 „La Charente est le plus beau ruisseau du Royaume de France.“

Rochefort, Schwebefähre

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durchquert in großen Krümmungen die Departements Vienne, Charente und Charente-Ma-ritime, bevor er zwischen Fouras und Port-des-Barques in den Atlantischen Ozean mündet.

Die flache und langsam dahin fließende Charente wurde in ihrem Unterlauf schon im-mer, spätestens seit gallo-römischer Zeit als Verkehrs- und Transportweg genutzt. Schon seit dem 11. Jahrhundert nimmt man Schifffahrt auf der Charente an, unter François I. wird die Errichtung von Schleusen ähnlichen Bauwerken zwischen Angoulême und Jarnac erwähnt. Die Kanalisierung der Charente wurde unter Pierre-Marie-Jérôme Trésaguet (1716 – 1796), dem damaligen Chefingenieur und späteren Generalinspekteur der Ponts-et-Chaussées, in den Jahren zwischen 1767 und 1789 durchgeführt. Frachtgüter vom Atlantik ins Hinterland waren vor allem das an der Küste gewonnene Salz, Wein sowie die Werksteine und Quader aus den Steinbrüchen von Saint-Même-les-Carrières. Haupthafen im Binnenland war Cog-nac. Der Höhepunkt der Binnenschifffahrt betrug rd. 7,6 Mio t im Jahre 1892, davon allein 6 Mio t zwischen Cognac und Rochefort. Danach übernahm die Eisenbahn den Transport, nach 1920 befuhren nur noch rd. 20 Frachtschiffe die Charente. 1944 endete die Binnen-schifffahrt, 1957 wurde die Charente aus der Liste der schiffbaren Flüsse Frankreichs gestri-chen. Seit 1963 bzw. 1969 nutzen Schiffe den Fluss wieder zu touristischen Zwecken.

Nach der Schiffbarmachung der Charente im 18. Jahrhundert auf 170 km Länge zwi-schen Fouras und Angoulême sind Ebbe und Flut bis zu der Ortschaft Saint-Savinien spür-bar, bei großem Koeffizienten sogar bis unterhalb von Saintes. Ab Saint-Savinien setzt die Binnenschifffahrt ein, ein mächtiges Sperrwerk verhindert, dass der Tidenhub die Binnen-schifffahrt stört und dass der Unterlauf sozusagen „flachfällt“. Von Saint-Savinien bis nach Angoulême existieren 21 Schleusen, nur zwei davon sind motorisiert, alle übrigen müssen von Hand betrieben werden.

Die zunächst eher lokale oder höchstens regionale Bedeutung der Charente als schiff-barer Wasserweg wich einer strategischen. Diese Entwicklung war bedingt durch eine be-sondere politische Großwetterlage und der Wahl von Rochefort zu einem der stärksten fran-zösischen Marinestützpunkte. Damit verbunden war der Ausbau der Charente in seinem Unterlauf vor allem von Rochefort bis zum Meer: Dieser Teil war praktisch eine Fortsetzung der Hochsee-Schifffahrt, während der Oberlaufs der Charente von Saint-Savinien bis Ang-oulême den Regeln der Binnenschifffahrt unterlag.

2.1. Die Charente als Teil der Hochseeschifffahrt

Um 1650 suchte der französische Marine- und Finanzminister Jean Baptiste Colbert (1619 – 1683) einen Stützpunkt zur Verteidigung der Atlantikküste, die durch die ständigen Überfälle der englischen Flotte gefährdet war. Da der alte Festungsort Brouage langsam ver-sandete und die Bucht von La Rochelle nicht geschützt genug lag, entschied er sich für den Ort Rochefort. Rochefort liegt 15 km im Landesinneren von der Charente-Mündung entfernt, war aber durch die Inseln Ré, Aix und Oléron sowie durch die leicht zu befestigenden Hügel von Fouras und Le Chapus geschützt. In Rochefort wurde ein Militärhafen mit einer bedeu-tenden Schiffswerft errichtet, seit 1666 entstanden die Befestigungsanlagen und das Arsenal. 1671 zählte Rochefort bereits 20.000 Einwohner, seit 1688 ersetzte der Marineintendant Mi-chel Bégon (1638 – 1710) die hölzerne Stadt durch eine steinerne. Nach ihm wurde übrigens die Begonie benannt, die er aus Amerika eingeführt hat.

Das Arsenal Colberts war im Jahre 1690 das „größte, am weitesten fertig gestellte und schönste des Königreichs“. 47 Schiffe wurden dort ausgerüstet, darunter mehrere als Drei-

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decker wie die berühmte louis-le-GRand. Zwischen 1690 und 1800 baute man in Rochefort rd. 300 Schiffe. Von Rochefort aus trat Gilbert du Motier, Marquis de Lafayette (1757 – 1834) mit der gerade im Arsenal fertig gestellten HeRMione am 21. März 1780 seine zweite Reise nach Amerika an. 1816 stach die Fregatte la Méduse ebenfalls von Rochefort aus in Rich-tung Senegal in See – ihr Schiffbruch vor der Küste Mauretaniens inspirierte den Maler Thé-odore Géricault (1791 – 1824) zu seinem berühmten Gemälde „Das Floß der Medusa“ (1819). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Rochefort die spHinx, das erste große Dampfschiff der französischen Marine, sowie der MoGadoR, die größte Fregatte mit Schau-felradantrieb, die es je in Frankreich gegeben hat, erbaut. Auch das erste französische Un-terseeboot, der plonGeuR, wurde 1863 in Rochefort auf Kiel gelegt, musste aber schon vier Jahre später wieder außer Dienst genommen werden. 1926 wurde das Arsenal stillgelegt, gegenwärtig entsteht hier an historischer Stätte der Nachbau der HeRMione. Und im Jahre 1722 nahm in Rochefort die weltweit erste Schule für Schifffahrtsmedizin ihren Dienst auf.

Dieser Ausbau von Rochefort zu einem neben Brest, Cherbourg und Toulon stärksten französischen Kriegshafen führte zu hohen architektonischen Investitionen. Allein die 373 m lange Corderie Royale (kgl. Seilerei) des Architekten François Blondel (1618 – 1686) mag als Beleg genügen. Erwähnenswert ist ferner das ausgedehnte Befestigungsprogramm vor-wiegend von Sébastien le Prestre, Seigneur de Vauban (1633 – 1707), das dieser auf den vor der Charente-Mündung gelegenen Inseln Oléron, Ré und Aix durchführte; die spektakulären Festungen von Chapus und Boyard liegen als künstliche Inseln im Meer.

Neben diesen sehr eindrucksvollen Denkmalen besteht in Rochefort auch noch eine Schwebefähre, vergleichbar der in der Nähe von Bremerhaven erhaltenen Schwebefähre über die Oste bei Basbeck-Osten, die 1909 von der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg in Gustavsburg erbaut worden ist. Die Schwebefähre in Rochefort wurde im Jahre 1900 als 175 m lange stählerne Konstruktion errichtet und überspannt die Charente mit einer frei-en Höhe von 50 m Höhe. Von den fünf vergleichbaren französischen Konstruktionen in Marseille, Brest, Rouen, Nantes und Rochefort, die von dem Ingenieur Ferdinand Arnodin (1845 – 1924) errichtet worden sind, ist nur diese erhalten. Sie wurde 1994 für den Tourismus wieder in Betrieb genommen und kann von Radfahrern und Fußgängern genutzt werden. Für den Bau der Schwebefähre hatte man sich seinerzeit entschieden, um den schweren Kreuzern mit ihren hohen Aufbauten die Einfahrt in die Docks von Rochefort zu ermöglichen.

2.2. Die Charente als Teil der Binnenschifffahrt

Die Erbauung des Kriegshafens von Rochefort war letztlich der gewichtigste Anlass zur Nutzung der Charente als Schifffahrtsweg auch ins Landesinnere gewesen. Der Transport von kriegswichtigem Guss und anderem Ausrüstungsmaterial, vor allem von Geschützen, aus dem Hüttenwerk Ruelle-sur-Touvre bei Angoulême, erwies sich als wichtigster Grund. Dieses Hüttenwerk verfügte über reichlich Wasserkraft, die Holzkohle kam aus den um-fangreichen Wäldern bei Braconne und ergiebige Eisenerzlagerstätten lagen im Bandiat-Tal. Dieses vom Marquis Marc-René de Montalemberg (1714 – 1800) im Jahre 1750 gegründe-te Hüttenwerk hatte sich auf die Produktion von Geschützen spezialisiert – bis heute – und suchte eine günstige Transportverbindung nach Rochefort: Sie bot sich in der kanalisierten Charente von Angoulême an. Seitdem transportierte das Hüttenwerk seine Güter auf der Straße bis nach Angoulême, lud sie dort auf Schiffe um und transportierte sie dann bis nach Rochefort. Diese Binnenschifffahrt mit ihren Denkmalen auf der Charente besitzt nun ei-

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nen ganz anderen Charakter als den bislang gezeigten, der eher von der Hochseeschifffahrt geprägt ist.

Hier sind zunächst die Schleusen zu erwähnen. Die 21 heute vorhandenen Schleusen der Charente wurden im späten 18. Jahrhundert errichtetet. Die beiden größten besitzen Längen von 48,5 m bzw. 34, 8 m und Breiten von 8 m bzw.6, 5 m, alle übrigen 19 Schleusen weisen ein Einheitsmaß von 31 m Länge und 6,5 m Breite auf, sind also verhältnismäßig klein und folgen der gewöhnlichen Bauart. Die Schleusungshöhe liegt zwischen 60 cm und 1,70 m, der Tiefgang der Charente selbst schwankt zwischen 80 cm am Oberlauf und 1,80 m bei Saint-Savinien. Als bemerkenswert habe ich empfunden, dass die Schleusentore nicht mit Hand-kurbeln, sondern mit scheibenförmigen Handrädern bewegt werden, was durchaus Rücken-„schonend“ ist.

Die Schleusen wurden für ein spezifisches Schiff der Charente errichtet, die Gabarre. Sie war meist ein kastenförmiges, größtenteils offenes Flachbodenschiff mit breitem Bug, der einzige Mast steht an unterschiedlicher Position im Schiff, das Heck des Schiffes kann mit einem Deck bzw. einem niedrigen Aufbau versehen sein, auf dem der Steuermann sitzen und mit einem langen Arm das Steuer bedienen kann. Am Mast hängt ein längsrechtecki-ges Segel. Mit der Zeit entwickelten sich mehrere Typen der Gabarre, u. a. mit lanzettförmig zulaufendem Bug und auch mit einem Kiel. Auf jeden Fall waren die „Gabarres“ robuste Binnenschiffe, die Ladung aufnehmen mussten. Sie waren die typischen „Arbeitspferde“ der Binnenschiffer auf der Charente, Loire und Garonne; um 1850 leisteten sie 60 % des Waren-verkehrs auf der Garonne zwischen Bergerac und Bordeaux. Originale Gabarres sind kaum noch anzutreffen, Nachbauten, die meist touristisch genutzt werden, findet man auf der Dor-dogne, der Charente und der Loire.

Charente, Schleuse (bei St. Simon)

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Die Gabarres besaßen einen mittlere Länge von 28 m, eine mittlere Breite von 5,6 m, eine Höhe von rd. 2,4 m und eine Tragfähigkeit zwischen 90 t und 120 t. Sie wurden getrei-delt bzw. nutzten den Wind, als Baumaterial nahm man Eichen- oder Akazien-Holz, für die Masten verwendete man Pitchpine. Ein Kapitän, ein oder zwei Mann und ein Junge gehörten zur Mannschaft. Um das Jahr 1890 benötigte man zwischen 12.000 und 14.000 Arbeitsstun-den zum Bau einer Gabarre, etwa zur gleichen Zeit gehörten zu einer Werft rd. ein Dutzend Handwerker, darunter Holzfäller, Tischler, Kalfaterer, Sägewerker, Dübler, Maler, Schlosser, Seiler und Fuhrleute.

Saint-Simon, ein kleiner Weiler rd. 20 km flussabwärts von Angoulême, gilt heute als die beste Örtlichkeit, in der man das Leben der Binnenschiffer – der Gabarriers – anhand von Originalstätten und einigen technischen Denkmalen noch nachvollziehen kann. Der kleine, rd. 200 Einwohner zählende Ort liegt oberhalb der Charente auf einer steil zum Fluss abfallenden Anhöhe, die romanische Kirche dokumentiert durch ein im Eingangs-bereich aufgehängtes Votivschiffsmodell, dass man sich in einem Dorf mit Binnenschif-fer-Charakter befindet. Am Quai steht eine Mauer, in der Ritzzeichnungen von Schiffen eingetragen sind, die wahrscheinlich von Gabarriers während Ruhepausen oder Reparatur-zeiten eingraviert worden sind. Eine Werft oder Hellinge haben sich nur als Örtlichkeit auf dem dem Quai gegenüber liegenden Charente-Ufer erhalten. Darüber hinaus aber gibt es in Saint-Simon und im Ortsteil Juac noch einige weitere Denkmäler, die durchaus erwähnens-wert sind und durch einen Lehrpfad („Circuit des Gabarriers“) miteinander verbunden und ausgeschildert sind:

- in einer Gartenmauer eingelassen, findet man das Relief des Kalfaterers Jean Brian aus dem Jahre 1774, der diesen bei der Arbeit und sein Arbeitsgerät zeigt;

Charente, Nachbau einer Gabarre

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- das sehr schöne, inzwischen zugesetzte Portal des Wohnhauses eines Zimmermanns aus dem Jahre 1602 zeigt im dreieckigen Tympanon die Werkzeuge des Handwerkers, wie dieser sie für den Bau oder die Reparatur der Gabarres benötigt hat;

- der Mast einer Gabarre hat als Bauholz in einem (heute zerstörten) Haus eine Zweit-verwendung gefunden;

- auf dem Friedhof finden sich noch Grabsteine der Gabarriers, die durch ihre besonde-re Ikonographie den Beruf der Verstorbenen belegen.

Es verdient eine besondere Beachtung, dass sich der kleine Ort ein eigenes Museum „leistet“ – die Maison des Gabarriers. Es wurde mitten im Ort und gegenüber der Pfarrkirche in einem aus hellem weißen Kalksteinquadern errichteten, für die Region charakteristischen Haus des 18./19. Jahrhunderts eingerichtet und dokumentiert die Geschichte der Binnenschifffahrt so-wie die Kulturgeschichte der Gabarriers auf der Charente. In sehr anschaulicher Weise zeigt das Museum anhand von originalen Exponaten und Modellen den Bau der Gabarres und die Bedeutung der zu transportierenden Waren, ein informativer Film wurde vor der Einstellung des Binnenschifffahrt gedreht und wird in regelmäßigen Abständen gezeigt. Außerdem ge-hört zum Museumsbesuch eine Fahrt auf der RenaissanCe, dem Nachbau einer Gabarre, die von der Lände in Juac inklusive einer Schleusung eine Strecke von rd. 5 km innerhalb von eineinhalb Stunden hin und zurücklegt. Erläuterungen sind eingeschlossen.

3. Schluss

Meine Damen und Herren,Sie werden sich sicherlich die ganze Zeit gefragt haben, warum ich Ihnen diesen an sich doch recht mittelmäßigen Wasserlauf überhaupt vorgestellt habe, der – von den Denkmä-lern bei Rochefort und den Festungsanlagen an und vor seiner Mündung einmal abgesehen – auch kaum etwas Besonders zu bieten hat. Als Bergmann muss ich natürlich die zahlrei-

chen, sehr eindrucksvollen, auch unter-tägigen Steinbrüche ausklammern, die einen schönen weißen Stein liefern: Sie machen die Region dann doch wieder besuchenswert.

Die Antwort auf die gestellte Fra-ge, warum die Charente hier vorgestellt worden ist, liegt auf der Hand und ist zum einen in der Person und Persönlich-keit des heute zu ehrenden Museumsdi-rektors, zum anderen in den Handels-gütern begründet, die auf der Charente transportiert worden sind. Zum einen waren dies Waffen und Kanonen, doch mit wenigen Ausnahmen – z. B. bei der Untersuchung des tragischen Unfalls auf dem Schulschiff der Bundesmarine – hat sich der Museumsdirektor meines Wissens nach nur selten mit wehrtechni-Die Weinbaugebiete von Cognac

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Weinfelder in der Charente

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Die europäische Flottenrüstung vor 1914

Michael Epkenhans

Im Frühjahr 1909, auf dem Höhepunkt der durch die kaiserliche Flottenrüstung1 ausgelösten Krise zwischen Deutschland und England, zeichnete ein künstlerisch begabter Karikaturist des „Wahren Jakob“, dem sozialdemokratischen Pendant zum bürgerlichen „Simplicissis-mus“, ein düsteres Bild von der Zukunft: Wie zwei besessene Rennfahrer rasten der engli-sche König Eduard VII und der deutsche Kaiser Wilhelm II. in ihren Rennwagen vom Typ „Dreadnought“ auf einer Rennpiste, die aus Geschützrohren bestand und deren Kurven im-mer enger und gefährlicher wurden, dem Ziel entgegen: dem gemeinsamen Tod in der Un-endlichkeit des Universums.2

Dieses Bild sollte eine Warnung und eine Prophezeiung zugleich sein. Es entsprach in vie-lem zudem dem, was die große Mehrzahl der Zeitge-nossen für möglich, ja teilweise für wahrscheinlich hielt, wenn es nicht gelingen sollte, diesem irrsin-nigen Rennen ein Ende zu bereiten. Englische Dro-hungen eines „preemptive strike“, wie ein Präventiv-schlag im Nuklear zeitalter heißen sollte, bzw. eines „Copenhagening“ der deutschen Flotte, trugen dazu bei, dieses Schreckensszenario noch wahrschein-licher zu machen. Denn, so die allgemeine Erinne-rung, bereits ein Jahrhundert zuvor, beim Überfall auf die dänische Flotte – hatte die Royal Navy vor-gemacht, dass sie vor Verletzungen des Völkerrechts nicht zurückschreckte, wenn es um die Wahrung der so genannten „British Interests“ ging, und die von Großbritannien maßgeblich mit aufgebaute japani-sche Flotte hatte nur wenige Jahre zuvor eindrucks-voll beim Angriff auf Port Arthur vorgemacht, dass der eigene Vorteil stets schwerer wog als überkom-mene internationale Normen und Gepflogenheiten. Wie groß die Gefahr zu sein schien, zeigt nicht zu-letzt das Verhalten des deutschen Reichskanzlers Bernhard von Bülow in diesen Monaten. Ursprüng-

1 Zum deutschen Flottenbau: Volker R. Berghahn: Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpoliti-schen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 19871; Michael Epkenhans: Die wilhelminische Flot-tenrüstung 1908 – 1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991. Aus englischer Sicht: Arthur J. Marder: From the Dreadnought to Scapa Flow. The Royal Navy in the Fisher Era, 1904 – 1919, Bd. 1: The Road to War, 1904 – 1914, London 1961.

2 S. Abbildung 1.

Karikatur von P. Singer aus dem „Wahren Jacob“, Nr. 598, 22.6.1909, S. 6265.

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lich ein großer Verteidiger der deutschen Flottenrüstung, bemühte er sich seit dem Herbst 1908, aus finanziellen und außenpolitischen Gründen die Notbremse zu ziehen. „Wir können nicht“, so schrieb der Reichskanzler unter Hinweis auf die enormen Kosten des sich beschleu-nigenden Rüstungswettlaufs in einem Brief an die „graue Eminenz“ der deutschen auswär-tigen Politik, Friedrich v. Holstein, gleichzeitig die größte Armee und die zweitgrößte Flotte auf dem Kontinent unterhalten.“3 Wenig später versuchte Bülow, Tirpitz, den „Vater der Flot-te“, mit der Frage, ob das deutsche Volk einem englischen Angriff „mit Ruhe und Vertrau-en“ gelassen entgegen sehen könne, zu Konzessionen zu zwingen.4 Vergeblich, und auch sein Hinweis in einer der wenigen wirklich größeren Besprechungen zwischen allen Entschei-dungsträgern, die einzige „schwarze Wolke“ liege über der Nordsee, diese sei aber „gewitter-schwer“, verhallte im Sommer 1909 ungehört,5 denn, so ein hochrangiger Mitarbeiter: „Auf den Gedanken an große Macht verzichtet man nicht gerne.“6 Das Wettrüsten dauerte daher an, und je mehr Schiffe die Kaiserliche Marine auf Stapel legte, umso größer war die Zahl derer, die die Royal Navy in Bau gab. Technische Verbesserungen der Schiffe und diverse Umgrup-pierungen der Einheiten trugen zusätzlich dazu bei, möglichst günstige Voraussetzungen zu schaffen für den „Tag“, wie die von allen erwartete Entscheidungsschlacht genannt wurde. Allein die „navy scares“7, wie die erregten öffentlichen Debatten über das gegenseitige Rüs-ten in England hießen, wurden weniger, da beide Seiten sich bemühten, ihre Ultras in Schach zu halten, um einen Konflikt zur falschen Zeit zu vermeiden. Gleichwohl: Das Misstrauen blieb, und beide Mächte fanden sich im Sommer 1914 in unterschiedlichen Lagern wieder.

Umso erstaunlicher war es daher, dass, als im Sommer 1914 der berühmte „Kessel“8 explo-dierte, nicht, wie von unserem Karikaturisten vorhergesagt, die deutsch-englische Flottenriva-lität, sondern ein lokales Ereignis auf dem Balkan einen großen europäischen Krieg auslöste und dass vornehmlich die Armeen der beteiligten Staaten aufeinander losmarschierten, weniger deren Flotten. Anders als es viele vermutet und – vor allem – als es die verantwortlichen Poli-tiker und Marineoffiziere um die Jahrhundertwende geplant hatten, hielten sich die Flotten der kriegführenden Mächte zurück, beschränkten sich – von Ausnahmen abgesehen – auf den Sta-tus einer „fleet-in-being“ oder – umgekehrt – den des Bewachers. Dies mochte der Ehre vieler Seeoffiziere zwar nicht entsprechen, gleichwohl lag dahinter eine Rationalität, die der Logik des Wettrüstens immanent war: Kriegsschiffe waren inzwischen so teuer geworden, dass alle Mari-nen Verluste vermeiden mussten, um ihre Schlagkraft nicht mit einem Mal gänzlich zu verlieren, da eine Erneuerung der Flotten kostspielig und zeitraubend zugleich war.

3 Bülow an Holstein, 12.8.1908, in: Die geheimen Papiere Friedrich v. Holsteins, hrsg. von Norman Rich/M.H. Fisher (dt. Ausgabe von Werner Frauendienst)), 4 Bde., hier Bd. 4, Göttingen 1956 – 63, Nr. 1117.

4 Bülow an Tirpitz, 30.11.1908, zitiert in: Epkenhans, Flottenrüstung (wie Anm.1), S. 38.5 Besprechung beim Reichskanzler, 3.6.1909, in: Epkenhans, Flottenrüstung (wie Anm. 1), S. 50.6 Stemrich an Kiderlen-Wächter, 6.10.1909, in: Alfred v. Kiderlen-Wächter, der Staatsmann und Mensch.

Briefwechsel und Nachlass, hrsg. Von Ernst Jäckh, Bd. 2, Stuttgart 1924, S. 387 Vgl. Manfred Dunger: Die Mulliner-Affäre und ihre Hintergründe: Seerüstung, Industrie und liberale Politik

in Großbritannien 1908 – 1909, in: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Ru-dolf Vierhaus zum 70. Geburtstag, hrsg. von Klaus A. Vogel, Göttingen 1992, S. 293 – 325; Klaus Wormer: Großbritannien, Russland und Deutschland. Studien zur britischen Weltreichpolitik am Vorabend des Ersten Weltkriegs, München 1980, S 154 – 158.

8 So der Londoner „Punch“ in einer berühmten Karikatur aus dem Jahre 1908.

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II.

Wie aber – so gilt es erstens zu fragen – sind die Flottenrüstungen vor 1914 und ihre Brisanz also zu erklären und, zweitens, welchen Beitrag haben sie wenn nicht direkt so doch indirekt zur Herbeiführung jenes Krieges geleistet, in dem sich die Hauptakteure des Wettrüstens dann im Sommer 1914 – offensichtlich hilflos – wiederfanden?

Um diese Entwicklungen verstehen zu können, gilt es zunächst mehrere miteinander ver-schränkte Entwicklungen im Blick zu behalten:

Zunächst ist dies die Verschränkung von sich beschleunigender Industrialisierung und wachsendem Welthandel, imperialer Expansion und Aufrüstung zur See sowie – nicht zuletzt – sozialdarwinistischer Überzeugungen vom Aufstieg und Niedergang von Staaten. Alle dieser Faktoren schienen einander nicht nur zu bedingen, sondern waren, wie das englische Beispiel ja offenkundig bewies, der Garant für Wachstum und Stabilität, Macht und Prestige.9

Bereits im Zeitalter des Merkantilismus waren die Kriege zwischen den Kabinetten nicht nur zu Lande, sondern auch auf den Meeren ausgetragen worden. Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts hatten dann die Rahmenbedingungen für diese Auseinandersetzung verändert: die Befreiung von den Fesseln der Ständegesellschaft bereitete den Boden für die Entfaltung der Kräfte des Marktes durch das Bürgertum. Damit einher gingen das, wenn auch zeitversetzte industrielle Wachstum bald aller europäischen Staaten und die Ausweitung ihres Handels auf schließlich alle Erdteile einschließlich oft kleiner, aber durchaus wichtiger Inseln in der fernen Südsee. Lebensmittel, Waren und Rohstoffe wurden importiert und exportiert, um die eigene Bevölkerung zu ernähren und die Industrie, von der diese lebte, am Laufen zu halten. Bald ka-men Kolonien hinzu, sei es als billiger Rohstofflieferant oder Absatzgebiet. Schiffe, seit jeher die billigsten Transportmittel, brachten die produzierten Waren, die abgebauten Rohstoffe und die angebauten Nahrungsmittel in immer größerem Ausmaße an alle Punkte der Erde.

Immer schnellere und stärker bewaffnete Kriegsschiffe schützten diese dabei auf ihren Routen. Die Kehrseite der Medaille war, dass nun auch jene Staaten, die als Kontinental-mächte keine traditionellen Seemächte waren, glauben konnten, diesem „Club“ beitreten zu können, ja dies tun zu müssen. In dieser Entwicklung, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog, ist der eigentliche Ursprung jener Riva-lität zu suchen, die zum Wettrüsten zwischen einzelnen Staaten, bald fest gefügten Blöcken und schließlich zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges führte.

Nur ein global player, so die zeitgenössische Auffassung, konnte in diesem Wettbewerb der Nationen bestehen und, vor allem, wachsen. Anderenfalls würde er, wie der englische Premier Lord Salisbury es formulierte, bald zu den „dying nations“ oder, wie Tirpitz mein-te, zu den „Phäakenstaaten“ gehören. Historiker, vor allem aber Volkswirte haben sie dabei in bestellten oder auch selbst angefertigten Gutachten in diesem Glauben ebenso bestärkt wie die Wechsellagen der Konjunktur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.10 Weit-

9 Vgl. Rolf Hobson: Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitz-plan 1875 bis 1914, München 2004.

10 Beispiele hierfür sind die vom Reichsmarineamt in Auftrag gegebenen, mit unterschiedlichen Titeln verse-henen „Denkschriften über Deutschlands Seeinteressen“ aus den Jahren 1897, 1900 und 1906. Gleiches gilt für die diversen Aufsätze im offiziösen „Nauticus“. Detailliert dazu: Wilhelm Deist: Flottenpolitik und Flot-tenpropaganda. Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897 – 1914, Stuttgart 1976, S.107, 114.

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aus entscheidender als die nüchternen Daten, auf die vor allem die Kaiserli-che Marine bei der Begründung ihrer Expansionspläne mit großem Geschick zurückgriff, war freilich das zum „Mo-dellfall“ hochstilisierte englische Bei-spiel: Gestützt auf seine Marine hatte England, so suggerierten es Alfred T. Mahan und seine Epigonen, eine Welt-machtstellung erlangt, die in der Ge-schichte ohne Beispiel war.

Doch um ein global player wer-den, das englische Beispiel nachah-men zu können, und nicht wie in der Bismarck-Ära nur eine auf den Konti-nent beschränkte latente Hegemonial-macht bleiben zu müssen, bedurfte es aus deutscher Perspektive einer Flotte, die schlagkräftig genug war, um die deutschen Interessen und Ansprüche durchsetzen und d.h. notfalls der eng-lischen Flotte halbwegs erfolgreich Pa-roli bieten zu können.

Mit einer Systematik und einer Zähigkeit sondergleichen setzten Wil-helm II., Tirpitz und Bülow daher seit 1897/98 den Plan zum Aufbau einer großen Schlachtflotte um. Über die Mo-tive und letztendlichen Ziele dieses Pla-nes, des „Tirpitz-Planes“, der den Be-stand der Flotte innerhalb weniger Jahre verdreifachte, ist immer wieder heftig gestritten worden. Ging es Tirpitz nur um Abschreckung oder wollte er am Ende mithilfe sei-ner „dagger-at-the throat“-Strategie (Paul M.Kennedy), die den „heißen Krieg“ letztlich nicht ausschloss, England doch im wahrsten Sinne des Wortes dazu zwingen, „S.M. das notwendige Maß an Weltgeltung“ zuzugestehen, um im „Kampf ums Dasein“ bestehen und Deutschlands Zukunft als „Weltmacht und großer Kulturstaat“ sichern zu können?11 Ausführliche Äußerun-gen Tirpitz’ über seine „Endziele“ fehlen, und selbst engste Mitarbeiter haben später eingestan-den, dass er auch ihnen gegenüber nie offen gelegt hat, was er tatsächlich wollte. Wollte er, wie es um 1900 hieß, nur eine „Risiko“-Flotte bauen, oder ging es ihm tatsächlich doch um mehr,

11 „Notizen des Staatssekretärs des Reichsmarineamts, Kontreadmiral Tirpitz, zum Immediatvortrag am 28. September 1899“, zitiert nach: Volker R. Berghahn/Wilhelm Deist: Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik. Grundlegende Dokumente 1890 – 1914, Düsseldorf 1988, S. 161.

Tirpitz in der Uniform eines Großadmirals (Foto: Tirpitz-Nachlass im Archiv des Deutschen Schiffahrtsmuseums, Bremerhaven)

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wie seine Äußerungen über eine Stärkerelation von 3:4 bzw. sogar 1:1 andeuten? Vieles spricht dafür, dass Tirpitz letztlich mehr wollte. So drängte er im Herbst 1911 bei der Vorbereitung der letzte Novelle darauf, den Risikogedanken auch offiziell fallen zu lassen und nunmehr offen davon zu sprechen, dass die Kaiserliche Marine einer „militärisch brauchbaren Chance gegen England“ bedürfe.12 Wenig später, im Herbst 1913, als er freilich seinen Zenit schon lange über-schritten hatte und er selbst das Gefühl nicht los wurde, die Reichsleitung wolle sein Lebens-werk torpedieren, erklärte er gegenüber den Offizieren aus seinem engsten Umfeld schließlich: „Die Frage, allgemein genommen, ob Deutschland seine Weltstellung wenn nötig England ge-genüber erkämpfen soll – mit dem großen Einsatz, den dieser Kampf in sich schließt – oder ob es sich auf die Stellung als europäische Kontinentalmacht zweiter Ordnung von vornherein beschränken soll, diese Frage ist letzten Endes Sache des politischen Glaubens. Schließlich“, so fuhr er fort, „scheine es einer großen Nation würdiger, um das höchste Ziel zu kämpfen und vielleicht ehrenvoll unterzugehen als ruhmlos auf die Zukunft zu verzichten.“13

Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass Tirpitz wenig später eingestehen musste, dass sein Gegenspieler, Winston Churchill, seit 1911 Erster Lord der Admiralität, ihn tot gerüs-tet hatte. „Die Lage bricht über der Marine zusammen“, so hieß es auf einem seiner berühmten „Grünzettel“ vom Mai 1914, denn „wir können die Schiffe nicht mehr bauen, die notwendig sind.“14 Anlass für diese pessimistische Einschätzung war der rasante Anstieg der Kosten des Baus und Unterhalt der Schiffe aller Schiffsklassen. Inzwischen waren diese vier bis fünfmal so hoch wie ursprünglich nicht nur angenommen, sondern dem Reichstag gegenüber auch ver-sprochen. Doch es waren nicht allein die Kosten, die ihm weggelaufen waren: Gleichermaßen fatal war die Veränderung der seestrategischen Ausgangslage. Das erhoffte Gefecht im nassen Dreieck vor Helgoland, das der Kaiserlichen Marine möglicher Weise günstigere Chancen ein-geräumt hätte als eine Schlacht in der offenen Nordsee, würde, dies schien seit 1913/14 sicher, nicht stattfinden. Die Royal Navy, dies hatte die Auswertung englischer Manöver gezeigt, wür-de sich im Ernstfall auf eine Fernblockade beschränken, die die Hochseeflotte nicht würde brechen können. Auf Tirpitz’ Frage, was werden Sie tun, wenn sie nicht kommen, konnte der Flottenchef im Mai nur mit einem ratlosen Schulterzucken antworten.15 Spätestens jetzt räch-te sich die Starrheit des eigenen Planes: die Systematik, die Verschränkung von durchdachter Baupolitik, – vermeintlich – präzise berechenbarer Rüstungs- und Finanzplanung, innen- und außenpolitischer Ziele sowie strategischer, taktischer und operativer Überlegungen, die einst nach Jahren des Chaos die Durchsetzung der Flottengesetze ermöglicht hatte, erwies sich nun als Bumerang. Jedes Eingeständnis, an dieser oder jener Stelle Fehler gemacht zu haben, konnte fatale Folgen für den Gesamtplan haben. „Geben wir jetzt nach“, so hatte Tirpitz bereits 1909 intern gewarnt, „dann wissen wir nicht, wohin die Reise geht.“16

Noch in seiner Zeit als Staatssekretär des Reichsmarineamtes und später in seinen Me-moiren hat Tirpitz stets abgestritten, dass der Flottenbau in irgendeiner Weise für den Aus-

12 Heeringen, Bethmann Hollweg, 7.10.1911, in: Alfred v. Tirpitz, politische Dokumente. Bd. 1: Der Aufbau der deutschen Weltmacht, Leipzig 1924, S. 221.

13 Aufzeichnung von Korvettenkapitän Schultz über eine Rede Tirpitz’ vor seinen Offizieren, 9.10.1913, in: Bundesarchiv-Militärarchiv, Nachlass Tirpitz N 253/423.

14 Undatierte Aufzeichnung Tirpitz, Mai 1914 (?), in: Epkenhans, Flottenrüstung (wie Anm. 1), S. 391.15 Albert Hopman: Das Logbuch eines deutschen Seeoffiziers, Berlin 1924, S. 393. 16 Tirpitz an Capelle, 19.9.1909, in: Epkenhans, Flottenrüstung (wie Anm. 1), S. 57.

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Großadmiral Alfred v. Tirpitz, um 1913 (Sammlung des Autors)

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bruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich gewesen sei. Im Gegenteil, so hat er argumen-tiert, sein festes Auftreten habe dazu geführt, dass es nach 1912 sogar zu einer „detente“ – so auch die Überschrift in einer seiner Publikationen, gekommen sei.17 Dabei hat er frei-lich übersehen, dass diese „detente“ maßgeblich auf einen Strategiewechsel in der deutschen und englischen Politik zurückzuführen war. Bethmann Hollwegs Konzept einer „Weltpoli-tik ohne Krieg“ korrelierte mit der Auffassung Greys, das deutsch-englische Verhältnis zu entkrampfen – vorausgesetzt – und davor warnte er immer wieder –, das Kaiserreich würde nicht noch weiter aufrüsten und damit den unübersehbaren englischen „Sieg“ im bisherigen Wettrüsten infrage stellen.

Spätestens jetzt war zudem deutlich, dass die deutschen Rüstungsplaner zu Beginn des Jahrhunderts in illusorischer Weise geglaubt hatten, das Kaiserreich könne im Windschat-ten der Weltpolitik zwanzig Jahre lang im Vorhof Großbritanniens rüsten, ohne dass die-ses davon etwas merken und darauf reagieren würde. Die erhalten gebliebenen englischen „Intelligence“-Berichte18 und internen Memoranda zeigen ganz deutlich, dass davon keine Rede sein konnte. Offen war nur, wann und wie die Royal Navy antworten würde.

Darüber hätten sich eigentlich auch die deutschen Flottenbauer im Klaren sein müssen. Die englischen Reaktionen auf französische und russische Flottenbaupläne in den 1860er- und 1880er-Jahren hatten unmissverständlich gezeigt, dass England bereit war, alle Ressour-cen zu mobilisieren, wenn es seinen Lebensnerv – die Verbindung über See – bedroht sah.19

Die Verlockung, diese Facetten der englischen Geschichte zu ignorieren, war um die Jahrhundertwende, als England aus deutscher Perspektive den Zenit seiner Macht überschrit-ten zu haben schien, einfach doch zu groß, um nüchternen Planungen Platz zu machen. Mit einer Entschlossenheit und einer Konsequenz, die ohne Beispiel war, mobilisierte das Kabi-nett in London daher seit 1908 alle Kräfte. Anstelle von ursprünglich geplanten vier capital ships legte es 1909 acht auf Stapel, und auch in den Folgejahren machte die englische Regie-rung deutlich, dass sie gewillt war, die Überlegenheit der Royal Navy gegenüber dem deut-schen Herausforderer zu behaupten.

Die Konsequenz, mit der die Reichsleitung im nahezu ungebrochenen Vertrauen auf die eigene Stärke wie auch die aus ihrer Sicht – günstige außenpolitische Konstellation ihren Plan umzusetzen versuchte bzw. mit der sie sich, nicht zuletzt aus innerpolitischen Gründen der Suche nach einem Kompromiss verweigerte, förderte das Misstrauen. Die Folge war eine Destabilisierung des alten multipolaren Mächtesystems und die Herausbildung zweier Blö-cke, die nach ganz eigenen Gesetzen funktionierten.

Auch wenn die kaiserliche Flotte 1914 über einen gesetzlich festgelegten Bestand von 41 Linienschiffen, 20 großen Kreuzern, 40 kleinen Kreuzern, 144 Torpedo- und 72 U-Booten verfügte, die Überlegenheit der Royal Navy war weiterhin in allen Schiffsklassen gegeben.

Obwohl das Wettrüsten zwischen der Kaiserlichen Marine und der Royal Navy, dieses jährliche Wechselspiel von drei oder vier Schiffen auf der einen Seite der Nordsee, vier, fünf oder gar acht auf der anderen Seite, das „Muster“ eines „klassischen“ Wettrüstens abgab, so

17 Ausführlich Epkenhans, Flottenrüstung (wie Anm. 1), S. 337 – 399.18 Seligmann, Matthew S. (Hrsg.): Naval Intelligence from Germany. The Reports of the British Naval Attachés

in Berlin, 1906 – 1914, Aldershot 2007. 19 Vgl. Arthur J. Marder: The Anatomy of British Sea Power. A History of British Naval Policy in the Pre-

Dreadnought Era, 1880 – 1905, Hamden 1964, S. 84 – 205.

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Cover von Viktor Laverrenz, Deutschlands Kriegsflotte, 1906 (Sammlung des Autors)

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William John Macquorn Rankin (1820 – 1872)

Es dauerte aber dennoch mehr als zehn Jahre bis 1871 dann der Chefkonstrukteur der briti-schen Marine Edward James Reed (1830 – 1906) genaue Berechnungen des Auftriebes und der Gewichtsverteilung von Schiffen der britischen Marine, die Voraussetzung waren, um durch Integration sowohl der Querkraft als auch der Biegemomente und ihre Verteilung über die Schiffslänge zu erhalten, publizierte10, 11. Die genaue Ermittlung der Verteilung des Auf-triebes und der Gewichte von Schiff und Ladung war schon seit 1746 von Pierre Bouguer (1698 – 1758) Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion, ist aber erst durch Edward James Reed in seiner heutigen Form durchgeführt worden12. Zunächst im ruhigen Wasser, dann aber auch die Querkräfte und Momente im Seegang13. So errechnete Reed für das 9800ts und 400ft lange Panzerschiff Minotaur ein max. Glattwassermoment von 44 545 ft-ts, sodass dieses mit

sich ergibt.

10 Murray, J. M.: Development of Basis of Longitudinal Strength Standards for Merchant Ships, Trans. of Royal Inst. of Nav. Arch., Vol. 108, London, 1966.

11 Reed, E. J.: The Strains of Ships in still water, Naval Science, Vol. I, London, 1872, S. 351.12 Ders.: The Distribution of Weight and Buoyancy in Ships, Naval Science, Vol. I, London, 1872.13 Ders.: The Strains of Ships at Sea, Naval Science, Vol. II, London, 1873, S. 12.

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Glattwasserbelastung (hellblau), Querkraftverteilung (rot) und Biegemomentverteilung (blau) des britischen Panzerschiffes MinotauR, Reed 1872.

Schiff im Wellenberg und Wellental, Reed 1873.

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Die Glattwasserberechnung reicht natürlich nicht aus, um die Beanspruchung im Seegang zu beurteilen, zumal dieses bei Kriegschiffen der damaligen Zeit meist deutlich kleiner als bei üblichen Dampfern der Handelsmarine war. Daher wurde bereits 1873 von Reed eine solche Berechnung im Seegang durchgeführt.

Schiff im Wellental (sagging), Seegangsbelastung (hellblau), Querkraftverteilung (rot) und Biegemomentverteilung (blau) des britischen Panzerschiffes MinotauR, Reed 1873.

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Man akzeptierte schnell Rankins Annahme, dass eine Sinuswelle gleich der Schiffslänge zu der größten Beanspruchung führt. Welche Wellenhöhe zu nehmen ist war aber mehr eine willkürliche Annahme. Reed rechnete mit einer Wellenhöhe von was bei einer Schiffslänge von 400 ft 25 ft bedeutet.

Für den Fall „Schiff auf Wellenberg“ errechnete er ein Gesamtmoment von

und für den Fall „Schiff im Wellental“ ein Moment von

Rechnet man das Glattwassermoment mit

heraus, so erhält man für den Fall „Schiff auf Wellenberg“

und für den Fall „Schiff im Wellental“

D. h. schon Reed ermittelte die Tatsache, dass die Beanspruchung eines Schiffes durch den Seegang im Fall, dass das „Schiff im Wellental“ befindet, wesentlich größer ist, als wenn dieses sich auf dem Wellenberg befindet. Die Nachrechnung verschiedener sich im Einsatz bewährter Schiffe durch den Chief Surveyor von Lloyds Register, der damals führenden Klassifikationsgesellschaft, Willliam John, führte dann dazu, das man 1874 übereinkam, dass ein normales Handelsschiff in dem ungünstigsten Fall „Schiff auf Wellenberg“ ein max. Gesamtbiegemoment von

ohne Schäden ertragen muss14. Das konnte man deshalb so festlegen, weil die hierin Betracht kommenden Frachtschiffe in voll abgeladenen Fall ein „hogging“ Glattwasserbiegemoment besaßen und somit der ungünstigste Fall abgedeckt war.

Die Erkenntnisse über das Biegemoment im Seegang wurden dann am Ende des 19. Jahr-hunderts durch die Arbeiten von W. E. Smith 1883, der die nichtlineare Druckverteilung in einer

14 John, W.: On the Strength of Iron Ships, Trans. of Royal Inst. of Nav. Arch., Vol. XV, London, 1874.

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Welle, die heute als Smith- Effekt bezeichnet wird, erstmalig beschrieben hat15, sowie durch T. C. Read 1890, der den dynamischen Effekt einer Welle auf das Biegemoment erstmalig in einer Größenordung von 40 % ab schätzte16, und durch Alexander Kryloff 189617, der den Einfluss von Tauchen und Stampfen auf das Biegemoment im Seegang untersuchte, erweitert. Auch der Effekt der Form des Schiffskörpers auf die Längsfestigkeit ist schon 1905 ausführlich von F. H. Alexan-der beschrieben worden18. Er hat dabei für den Formeinfluss der Völligkeitsgrad der Schwimm-wasserlinie verwendet. Heute benutzt man hierfür etwas präziser den Völligkeitsgrad des Schiffskörpers. Trotz dieser schon am Ende des 19. Jahrhunderts vorhandenen theoretischen Er-kenntnisse der Bemessung der Schiffe, wurden Handelsschiffe ohne solche direkten Festigkeits-berechnungen ausschließlich nach den Erfahrungen gebauter Schiffe bemessen. In Abhängigkeit von mehr oder weniger plausiblen Leitzahlen wurden Plattendicken und Profilgrößen in Form von Tabellen und entsprechenden Anweisungen in Bauvorschriften der Klassifikationsgesell-schaften zusammengefasst. Bewährte sich die eine oder andere Festlegung nicht, dann wurden diese Tabellen entsprechend geändert. Dieses System war praktisch, sodass man ohne vertiefte Kenntnisse der Festigkeit und Statik zuverlässige Schiffe bauen konnte. Zuverlässig, weil die Schiffsgrößen sich über viele Jahrzehnte, mit Ausnahme der großen transatlantischen Schnell-dampfer, nur sehr langsam veränderten. So wundert es nicht, dass diese Bemessungspraxis bis in die 60er Jahre des vorherigen Jahrhunderts allgemein als ausreichend angesehen wurde.

Selbst Georg Schnadel, der sich in beispiellosem Umfang um die Schiffsfestigkeit ver-dient gemacht hatte und als Vorstand des Germanischen Lloyd die besten Voraussetzungen besaß, die Bemessung der Schiffe mit den Methoden der technischen Balkentheorie durch-zusetzen, gelang dieses nicht. Erst mehrere Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Germa-nischen Lloyd 1959, begann man um 1964 die direkte Berechnung der Längsfestigkeit in die Bauvorschriften aufzunehmen.

Die heute übliche Aufteilung der Berechnung des Biegemomentes in eines bei Glattwasser und eines, welches die zusätzliche Beanspruchung im Seegang berücksichtigt, hat einen sehr prakti-schen, aber auch formalen Grund. Einen praktischen, weil ein besonderes Sicherheitsinteresse be-steht genau zu überprüfen, wieweit man ein Schiff im Hafen, also bei Glattwasser, beladen, damit es sicher über das Meer fahren kann, und einen methodischen Grund. Die Glattwasserbeanspruchung ist eine deterministische Aufgabe und vor dem Verlassen aus einem Hafen direkt zu überprüfen. Bei der Seegangsbeanspruchung, die ihrer Natur nach probabilistisch ist, ist dieses schon wesentlich schwieriger und auch interpretationsfähig, denn die alles entscheidende Frage, in welche Wellenhö-hen eigentlich in der letztlich doch deterministischen Berechnung der Biegemomente anzunehmen sind, bleibt eine Frage der Vereinbarung und Bewertung des Seegangs (siehe Wellenkoeffizient).

Um die Frage der Beanspruchung eines Schiffes im natürlichen Seegang am realen Schiff zu untersuchen, wurde daher unter Leitung von Georg Schnadel, unter Mitwirkung von Otto

15 Smith, W. E. : Hogging and Sagging Strains in a Seaway as Influenced by Wave Structure, Trans. of Inst. of Nav. Arch., Vol. XXIV, London, 1883.

16 Read, T. C.: On the Variation of the Stresses an Vessels at Sea due to Wave Motion, Trans. of Inst. of Nav. Arch., Vol. XXXI, London, 1890.

17 Kryloff, A.: A new Theory of the pitching Motion of Ships on Waves, and of the Stresses produced by this Motion, Nav. Arch., Vol. XXXVII, London, 1896.

18 Alexander, F. H.: The influence of the proportions and form of Ships upon their longitudinal bending Mo-ments among Waves, Trans. of Inst. of Nav. Arch., Vol. XLVII, London, 1905.

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Lienau, Fritz Horn, Georg Weinblum, Georg Weiß u. a. eine Hochseemessfahrt mit dem Mo-torschiff san FRanCisCo im Herbst 1934 von Hamburg aus an die Westküste der USA und zu-rück durchgeführt. Diese Messfahrt, die die wissenschaftlichen Fachvertreter des damaligen Schiffbaus in Deutschland erstmalig in einem Großforschungsvorhaben zur Schiffsfestigkeit zusammen gebracht hat, erlebte eine ungewöhnlich große Beachtung19, 20, 21, 22.

Der Erfolg der Messfahrt begründet sich neben der sorgfältigen Vorbereitung durch den Einsatz der verschiedenen Messeinrichtungen der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, zu der Schnadel in Berlin eine enge Zusammenarbeit betrieb. Wesentliche Ergebnisse waren:

- Dass die Bemessungswelle zwar eine Länge gleich der Schiffslänge besitzen sollte, die angetroffenen Wellenhöhen und Steilheiten aber deutlich höher, als bisher angenom-men, beobachtet wurden.

- Die aus den Längsfestigkeitsmessungen sich ergebenen rechnerischen Wellenhöhen waren nur etwa halb so hoch, wie die gemessenen Wellenhöhen.

- Der bekannte Smith- Effekt diese Diskrepanz aber nicht voll erklärt. - Weiterhin zeigte sich, dass für den Fall „Schiff auf Wellenberg“ (hogging) kleinere Bie-

gemomente als im Fall „Schiff im Wellental“ (sagging) auftreten. Was bedeutet, dass für den Fall „Schiff im Wellental“ höhere Wellen anzunehmen sind, als auf dem Wel-lenberg. Letztere Erkenntnis, die Edward Reeds Überlegungen aus dem Jahr 1873 be-stätigten und auch heute noch in den Bauvorschriften, der Klassifikationsgesellschaften zur Berechnung des vertikalen Wellenzusatzmomentes, Berücksichtigung findet.

19 Schnadel, G.: Die Beanspruchung des Schiffes im Seegang. Dehnungs- und Durchbiegungsmessungen an Bord des MS san FRanCisCo der Hamburg- Amerika Linie, J. STG, 37. Bd., Springer Verlag, Berlin 1936.

20 Horn, F.: Hochseemessfahrt, Schwingungs- und Beschleunigungsmessungen, J. STG, 37. Bd., Springer Ver-lag, Berlin 1936

21 Weinblum, G., Block, W.: Stereophotografische Wellenaufnahmen, J. STG, 37. Bd., Springer Verlag, Berlin 1936

22 Lienau, O.: Messungen über das Arbeiten des Schiffsboden und der Deckbeplattung während der Hochsee-messfahrt 1934, J. STG, 36. Bd., Springer Verlag, Berlin 1937.

Frachtmotorschiff san FRanCisCo, gebaut 1928 von der Deutschen Werft für die HAPAG (Lpp 136,80 m, Breite 18, m, Seitenhöhe 9,06 m, Verdrängung 13 070 t), Foto 50 Jahre Deutsche Werft

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Die heutige Bemessung erfolgt nach internationalen Vereinbarungen eines Mindest-widerstands- und Trägheitsmomentes des Hauptspantquerschnittes. Da die zulässige max. Spannung ebenfalls festliegt und das vertikale Wellenbiegemoment mit dieser Entwurfs-welle über eine Formel ebenfalls festgeschrieben ist, besitzt die Entwurfsformel für übliche Handelsschiffe nur wenige Möglichkeiten der Optimierung.

Hier ist die zulässige Spannung von 175 N/mm2 bei Verwendung des normalen Schiff-baustahles, das Glattwasser- bzw. vertikale Wellenzusatzbiegemoment und

das minimale Hauptspantwiderstandsmoment.

Das vertikale Wellenbiegemoment wird heute einheitlich mit

berechnet, wobei hier nicht wichtige Faktoren fortgelassen sind. Die Schiffslänge und Breite B werden in m eingesetzt. Der unscheinbare Koeffizient berücksichtigt die besondere Natur des natürlichen Seegangs und ist mit

festgelegt. Dieser sog. Wellenkoeffizient ist das Resultat der seit dem Ende der sechziger Jahre gebräuchlichen Seegangsberechnungen unter zu Grundlegung einer Langzeitstatistik der Seegangsbeobachtung, die der Natur des natürlichen Seegangs Rechnung trägt. Man geht dabei von dem Seegang des Nordatlantiks aus. Der Erwartungswert des bei 108 Lastwechseln einmal auftretenden max. Biegemomentes, innerhalb einer Betriebszeit eines Schiffes von etwa 30 Jahren, ist dabei mehr oder weniger willkürlich festgelegt. Mit Hilfe des Betrages der quadratischen Übertragungsfunktion des Biegemomentes wird das Seegangsspektrum in das Spektrum der Biegemomente übertragen, dessen Mittelwert zu obigem Wellenkoeffizi-enten führt.

Die Tatsache, dass das Biegemoment im Fall Schiff auf Wellenberg kleiner als Schiff im Wellental ist, wird durch den Faktor berücksichtigt der für den ersteren Fall (hogging) mit und den zweiten Fall (sagging) mit fest-geschrieben ist.

Hinter der eigentümlichen Festlegung eines Mindestwiderstandsmomentes liegt die Über-legung, dass man grundsätzlich von einem Glattwasserbiegmoment ausgeht welches mindes-tens ca. 60 % des vertikalen Wellenbiegemomentes des Falles „Schiff im Wellental“ (sagging), beträgt.

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Da neben der zulässigen Spannung auch das Mindestwiderstandsmoment verbindlich in-ternational festgelegt ist, kann man eigentlich heute nur versuchen, das Glattwasserbiegemo-ment durch geschickte Anordnung von Brennstoff- und Ballasttanks so zu gestalten, dass die Entwurfsformel mit dem Gleichheitszeichen erfüllt wird. Anderen Falles ist das Wider-standsmoment W über Wmin hinaus zu erhöhen, was natürlich mehr Stahl und Kosten be-deutet.

Gegen diese Minimumregel, des Mindestwiderstandsmomentes wird gelegentlich Sturm gelaufen. Wieso erlaubt man dem Konstrukteur nicht, Schiffe mit einem Glattwasserbiege-moment zu entwerfen, welches nahezu null ist?

Muss man eigentlich die Längsfestigkeit, die die Überfahrt nach Amerika über den stür-mischen Nordatlantik sicher ermöglicht, auch vorhalten, wenn man durch die vergleichswei-se ruhige Ostsee fährt?

Kann man nicht durch Satelliteninformationen dem schweren Wetter aus dem Weg ge-hen? Kann man in solchen Fällen nicht ein Teil dieser Seegangsreserve für eine Überziehung des zulässigen Glattwasserbiegemoments verwenden, was erheblichen wirtschaftlichen Vor-teil haben kann?

So oder ähnlich versuchen die Reeder die Wirtschaftlichkeit ihrer Schiffe zu erhöhen, was eine legitime Idee sein kann, denn machbar wäre es schon. Man ist sich aber bei den Klassifikationsgesellschaften einig, dass im Interesse gleicher Standards der Schiffe der in-ternationalen Fahrt und aus der Erfahrung, dass im Lauf der Lebenszeit von Schiffen die Einsatzmissionen sich sehr ändern können, bei dieser Festlegung geblieben.

Die eigentlichen Festigkeitsprobleme, die einer wissenschaftlichen Durchdringung be-durften, waren am Ende des 19. Jahrhunderts bei Fahrzeugen der Marinen aufgetreten. So war der Untergang des Torpedobootes HMS CobRa der britischen Marine 1901 die Veran-lassung für die erste Messung an einem Originalschiff überhaupt.

HMS CobRa