240
Plenarprotokoll 17/105 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 105. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 Inhalt: Wahl des Abgeordneten Reiner Deutschmann als Mitglied und des Abgeord- neten Patrick Kurth (Kyffhäuser) als stell- vertretendes Mitglied in das Kuratorium des Deutschen Historischen Museums . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober, Johannes Singhammer, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Kathrin Vogler und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik (Drucksache 17/5450) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdia- gnostik (Präimplantationsdiagnostikge- setz – PräimpG) (Drucksache 17/5452) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Prä- implantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) (Drucksache 17/5451) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Hintze (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU) . . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11943 A 11943 B 11945 A 11945 A 11945 B 11945 C 11946 D 11948 A 11948 D 11949 D 11950 B 11951 B 11952 B 11952 D 11953 D 11954 D 11955 B 11956 B 11957 A 11958 A 11959 A 11960 A 11961 A 11961 D 11962 D 11963 D 11964 C 11965 B 11966 B 11967 B

Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Plenarprotokoll 17/105

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

I n h a l t :

Wahl des Abgeordneten ReinerDeutschmann als Mitglied und des Abgeord-neten Patrick Kurth (Kyffhäuser) als stell-vertretendes Mitglied in das Kuratorium desDeutschen Historischen Museums . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenKatrin Göring-Eckardt, Volker Kauder,Pascal Kober, Johannes Singhammer,Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Kathrin Voglerund weiteren Abgeordneten eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zum Verbot derPräimplantationsdiagnostik(Drucksache 17/5450) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von den AbgeordnetenRené Röspel, Priska Hinz (Herborn),Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammertund weiteren Abgeordneten eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur begrenztenZulassung der Präimplantationsdia-gnostik (Präimplantationsdiagnostikge-setz – PräimpG)(Drucksache 17/5452) . . . . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von den AbgeordnetenUlrike Flach, Peter Hintze, Dr. CarolaReimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montagund weiteren Abgeordneten eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Regelungder Präimplantationsdiagnostik (Prä-implantationsdiagnostikgesetz – PräimpG)(Drucksache 17/5451) . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

11943 A

11943 B

11945 A

11945 A

11945 B

11945 C11946 D

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Hintze (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . .

Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . .

Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11948 A

11948 D

11949 D

11950 B

11951 B

11952 B

11952 D

11953 D

11954 D

11955 B

11956 B

11957 A

11958 A

11959 A

11960 A

11961 A

11961 D

11962 D

11963 D

11964 C

11965 B

11966 B

11967 B

Page 2: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Helge Braun (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . .

Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog,Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPD: Für ei-nen neuen Infrastrukturkonsens – Schutzder Menschen vor Straßen- und Schienen-lärm nachdrücklich verbessern(Drucksache 17/5461) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . .

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . .

Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

a) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Arbeit und Soziales zudem Antrag der Abgeordneten JuttaKrellmann, Sabine Zimmermann, KlausErnst, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Gute Arbeit in Eu-ropa stärken – Den gesetzlichen Min-destlohn in Deutschland am 1. Mai 2011einführen(Drucksachen 17/4038, 17/5499) . . . . . . .

b) Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Brigitte Pothmer, BeateMüller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiterenAbgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes für die Einführungflächendeckender Mindestlöhne imVorfeld der Einführung der Arbeitneh-

11968 B

11969 A

11970 A

11971 A

11972 B

11973 A

11973 A

11974 D

11976 D

11978 A

11979 B

11981 A

11981 D

11983 C

11983 D

11985 A

11986 C

11987 C

11988 C

11989 D

merfreizügigkeit (Mindestlohngesetz)(Drucksachen 17/4435, 17/5499) . . . . . . .

c) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Arbeit und Soziales zudem Antrag der Abgeordneten AnetteKramme, Gabriele Hiller-Ohm, IrisGleicke, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Gesetzlichen Mindest-lohn einführen – Armutslöhne verhin-dern(Drucksachen 17/1408, 17/5101) . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . .

Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . .

Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . .

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . .

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 28:

a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter,Ralph Lenkert, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion DIE LINKE eingebrach-ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-rung des Atomgesetzes – Keine Über-tragbarkeit von Reststrommengen(Drucksache 17/5472) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Europäische Forschungsförde-

11990 A

11990 A

11990 B

11991 C

11992 B

11993 B

11993 D

11995 B

11996 D

11997 B

11998 A

11999 D

12001 A

12002 A

12002 D

12003 D

12005 B

12005 D

12006 C

12007 A

12008 B

12009 B

12010 D

12011 B

12012 B

Page 3: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 III

rung in den Dienst der sozialen undökologischen Erneuerung stellen(Drucksache 17/5386) . . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter undder Fraktion SPD sowie der AbgeordnetenKrista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, BirgittBender, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Stärkung des Europäischen For-schungsraums – Die Vorbereitung fürdas 8. Forschungsrahmenprogramm indie richtigen Bahnen lenken(Drucksache 17/5449) . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Fraktion der SPD: Evaluie-rung befristeter Sicherheitsgesetze(Drucksache 17/5483) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Antrag der Fraktion der SPD: Die Chancezur Stärkung des UN-Menschenrechts-rates nutzen(Drucksache 17/5482) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) Antrag der Abgeordneten Dirk Becker,Marco Bülow, Gerd Bollmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD:Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zurWertstofferfassung im Rahmen desPlanspiels zur Fortentwicklung derVerpackungsverordnung(Drucksache 17/5484) . . . . . . . . . . . . . . . .

g) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Wissenschaftliche Urheberin-nen und Urheber stärken – Unabding-bares Zweitveröffentlichungsrecht ein-führen(Drucksache 17/5479) . . . . . . . . . . . . . . . .

h) Antrag der Abgeordneten DorotheeMenzner, Eva Bulling-Schröter, RalphLenkert, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Sofortige Stillle-gung der sieben ältesten Atomkraft-werke und des AtomkraftwerkesKrümmel (Drucksache 17/5478) . . . . . . . . . . . . . . . .

i) Antrag der Abgeordneten DorotheeMenzner, Eva Bulling-Schröter, RalphLenkert, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Überführung derRückstellungen der AKW-Betreiber ineinen öffentlich-rechtlichen Fonds(Drucksache 17/5480) . . . . . . . . . . . . . . . .

j) Antrag der Abgeordneten Claudia Roth(Augsburg), Agnes Krumwiede, RenateKünast, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

12012 B

12012 C

12012 C

12012 D

12012 D

12012 D

12013 A

12013 A

Öffentlichen Diskurs zum geplantenFreiheits- und Einheitsdenkmal in Ber-lin ermöglichen(Drucksache 17/5469) . . . . . . . . . . . . . . .

k) Antrag der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Undine Kurth (Quedlinburg),Cornelia Behm, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Tierschutz bei Tiertranspor-ten verbessern(Drucksache 17/5491) . . . . . . . . . . . . . . .

l) Antrag des Präsidenten des Bundesrech-nungshofes: Rechnung des Bundesrech-nungshofes für das Haushaltsjahr 2010– Einzelplan 20 –(Drucksache 17/5385) . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 3:

a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Gedenkort für die Opfer der NS-„Eu-thanasie“-Morde(Drucksache 17/5493) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Dr. StefanKaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, AlbertRupprecht (Weiden), weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU sowieder Abgeordneten Dr. Martin Neumann(Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. PeterRöhlinger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Gestaltung der zu-künftigen europäischen Forschungsför-derung der EU (2014–2020)(Drucksache 17/5492) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,Elvira Drobinski-Weiß, Dr. WilhelmPriesmeier, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Klonen von Tierenzur Lebensmittelproduktion verbieten(Drucksache 17/5485) . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten Dr. MarliesVolkmer, Karin Roth (Esslingen), PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD: Gesundheit ist einglobales öffentliches Gut – Rolle derWeltgesundheitsorganisation WHO inder „Global Health Governance“ stär-ken(Drucksache 17/5486) . . . . . . . . . . . . . . .

e) Antrag der Abgeordneten Dr. AntonHofreiter, Dr. Konstantin von Notz,Winfried Hermann, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Transparenz in Public PrivatPartnerships im Verkehrswesen(Drucksache 17/5258) . . . . . . . . . . . . . . .

12013 B

12013 B

12013 B

12013 C

12013 C

12013 D

12013 D

12014 A

Page 4: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Tagesordnungspunkt 29:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Sechsten Gesetzes zur Änderungvon Verbrauchsteuergesetzen(Drucksachen 17/5127, 17/5201, 17/5510)

b) – Zweite Beratung und Schlussabstim-mung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 9. April2010 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Common-wealth der Bahamas über dieUnterstützung in Steuer- und Steu-erstrafsachen durch Informations-austausch(Drucksachen 17/5128, 17/5467) . . . .

– Zweite Beratung und Schlussabstim-mung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 27. Juli2010 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem FürstentumMonaco über die Unterstützung inSteuer- und Steuerstrafsachen durchInformationsaustausch(Drucksachen 17/5129, 17/5467) . . . .

– Zweite Beratung und Schlussabstim-mung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 27. Mai2010 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Regierung derKaimaninseln über die Unterstüt-zung in Steuer- und Steuerstrafsa-chen durch Informationsaustausch(Drucksachen 17/5130, 17/5467) . . . .

c) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung zu der Unterrichtung durchdie Bundesregierung: Bericht über dieWohnungs- und Immobilienwirtschaftin Deutschland(Drucksachen 16/13325, 17/5314) . . . . . .

d) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit zu der Verordnung derBundesregierung: Erste Verordnung zurÄnderung der Deponieverordnung(Drucksachen 17/5112, 17/5269 Nr. 2,17/5462) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit zu der Verordnung derBundesregierung: Verordnung zurAnpassung chemikalienrechtlicher Vor-schriften an die Verordnung (EG)Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Ab-bau der Ozonschicht führen, sowie zur

12014 A

12014 B

12014 C

12014 C

12014 D

12015 A

Anpassung des Gesetzes über die Um-weltverträglichkeitsprüfung an Ände-rungen der Gefahrstoffverordnung(Drucksachen 17/5333, 17/5423 Nr. 2,17/5497) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

f)–j)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 249, 250, 251,252 und 253 zu Petitionen(Drucksachen 17/5393, 17/5394, 17/5395,17/5396, 17/5397) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 4:

a)–h)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 254, 255, 256,257, 258, 259, 260 und 261 zu Petitionen(Drucksachen 17/5501, 17/5502, 17/5503,17/5504, 17/5505, 17/5506, 17/5507, 17/5508)

Zusatztagesordnungspunkt 1:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP: Pläne der EU-Kommission zur stärkeren Besteuerungvon Diesel-Kraftstoffen . . . . . . . . . . . . . . . .

Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . .

Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 6:

Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär,Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Miriam Gruß, NicoleBracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Neue Perspektiven für Jungen und Männer(Drucksache 17/5494) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Kristina Schröder, BundesministerinBMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12015 B

12015 C

12015 D

12016 C

12016 D

12018 A

12019 A

12020 A

12021 A

12022 B

12023 B

12024 B

12025 B

12026 B

12027 D

12028 D

12029 D

12030 A

Page 5: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 V

Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

Antrag der Abgeordneten Petra Crone,Angelika Graf (Rosenheim), PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Potenziale des Alters unddes Alterns stärken – Die Teilhabe der älte-ren Generation durch bürgerschaftlichesEngagement und Bildung fördern(Drucksache 17/2145) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurFörderung der Mediation und andererVerfahren der außergerichtlichen Kon-fliktbeilegung(Drucksachen 17/5335, 17/5496) . . . . . . . . . .

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . .

Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

12031 A

12033 A

12034 B

12036 A

12038 B

12039 D

12041 A

12042 A

12043 C

12044 C

12044 D

12045 D

12047 A

12048 A

12049 A

12050 A

12050 D

12051 D

12053 A

12053 A

12054 A

12055 C

12057 A

12058 A

12059 A

Tagesordnungspunkt 9:

Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour,Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck(Bremen), weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Prüf-kriterien für Auslandseinsätze der Bundes-wehr entwickeln – Unterrichtung und Eva-luation verbessern(Drucksache 17/5099) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . .

Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Vor-mundschafts- und Betreuungsrechts(Drucksachen 17/3617, 17/5512) . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desRechtsausschusses zu dem Antrag der Ab-geordneten Sonja Steffen, ChristineLambrecht, Dr. Peter Danckert, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD:Änderung des Vormundschaftsrechtsund weitere familienrechtliche Maß-nahmen(Drucksachen 17/2411, 17/5512) . . . . . . .

Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

Antrag der Abgeordneten Günter Gloser,Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPD: Für ei-nen Neubeginn der deutschen und europäi-schen Mittelmeerpolitik(Drucksache 17/5487) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

12060 C

12060 D

12061 C

12063 A

12063 D

12064 D

12065 C

12066 C

12067 D

12067 D

12068 A

12069 A

12070 B

12072 C

12073 B

12074 C

12074 C

12076 C12077 D

Page 6: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 5:

Antrag der Abgeordneten Karl Holmeier,Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz,Michael Link (Heilbronn), Heinz Golombeck,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Strategie der Europäischen Union fürden Donauraum effizient gestalten(Drucksache 17/5495) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 13:

a) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung zu dem An-trag der Abgeordneten Burkhard Lischka,Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD: Stärkung der humanitärenLage in Afghanistan und der partner-schaftlichen Kooperation mit Nichtre-gierungsorganisationen(Drucksachen 17/1965, 17/4628) . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAuswärtigen Ausschusses zu dem Antragder Abgeordneten Tom Koenigs, UteKoczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Für einen nach-haltigen Ausbau des Bildungs- undHochschulsystems in Afghanistan(Drucksachen 17/3866, 17/4629) . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes gegen den Handel mit illegal ein-geschlagenem Holz (Holzhandels-Siche-rungs-Gesetz – HolzSiG)(Drucksachen 17/5261, 17/5498) . . . . . . . . . .

12078 D

12080 B

12081 D

12082 D

12083 A

12084 B

12085 C

12086 C

12087 B

12088 B

12089 B

12089 B

12089 C

Tagesordnungspunkt 15:

Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hoch-schulzulassung bundesgesetzlich regeln –Sozialen Zugang und Durchlässigkeit inMasterstudiengängen sichern(Drucksache 17/5475) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

a) Antrag der Abgeordneten HelmutHeiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. ChristianRuck, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der Abge-ordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau,Harald Leibrecht, Helga Daub, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Illegale Landnahme verhindern, Eigen-tumsfreiheit schützen, Ernährungs-grundlage in Entwicklungsländern si-chern (Drucksache 17/5488) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten NiemaMovassat, Sahra Wagenknecht, Dr. AxelTroost, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Hunger bekämp-fen – Spekulation mit Nahrungsmittelnbeenden(Drucksache 17/4533) . . . . . . . . . . . . . . . .

Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . .

Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales

– zu dem Antrag der Abgeordneten SabineZimmermann, Diana Golze, AgnesAlpers, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Fachkräftepoten-zial nutzen – Gute Arbeit schaffen, bes-sere Bildung ermöglichen, vorhandeneQualifikationen anerkennen

– zu dem Antrag der Abgeordneten BrigittePothmer, Priska Hinz (Herborn), FritzKuhn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Strategie statt Streit – Fachkräfteman-gel beseitigen

(Drucksachen 17/4615, 17/3198, 17/5100) . .

12090 A

12090 B

12090 B

12090 C

12091 D

12092 D

12094 C

12095 D

12096 D

12097 D

Page 7: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 VII

Tagesordnungspunkt 16:

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Koordinierung derSysteme der sozialen Sicherheit in Eu-ropa und zur Änderung anderer Ge-setzeDrucksachen 17/4978, 17/5509) . . . . . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses gemäߧ 96 der Geschäftsordnung(Drucksache 17/5513) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . .

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 18:

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Stein-kohlefinanzierungsgesetzes(Drucksachen 17/4805, 17/5511) . . . . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses gemäߧ 96 der Geschäftsordnung(Drucksache 17/5514) . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

a) Antrag der Fraktionen der SPD, DIELINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Deutschland im UN-Sicherheits-rat – Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen(Drucksache 17/5044) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAuswärtigen Ausschusses

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD:10 Jahre UN-Resolution 1325„Frauen, Frieden und Sicherheit“

– zu dem Antrag der AbgeordnetenCornelia Möhring, Jan van Aken,Agnes Alpers, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKE: Ver-pflichtung zur UN-Resolution 1325„Frauen, Frieden und Sicherheit“einhalten – Auf Gewalt in interna-tionalen Konflikten verzichten

– zu dem Antrag der AbgeordnetenKerstin Müller (Köln), Katja Keul, UteKoczy, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: 10 Jahre UN-Resolution 1325

12098 B

12098 B

12098 C

12100 C

12101 C

12102 A

12102 C

12103 C

12103 D

12104 A

– Frauen, Frieden und Sicherheit –Nationaler Aktionsplan für eine ge-zielte Umsetzung

(Drucksachen 17/3176, 17/3205, 17/2484,17/5092) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzeszur Änderung des Abgeordnetengesetzes –Einführung eines Ordnungsgeldes(Drucksache 17/5471) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 22:

Antrag der Abgeordneten Annette Groth,Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Neinzur Todesstrafe – Hinrichtung von TroyDavis verhindernDrucksache 17/5476) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . .

Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:

Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts-rechtlicher Richtlinien der EuropäischenUnion und zur Anpassung nationalerRechtsvorschriften an den EU-Visakodex(Drucksache 17/5470) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmungüber den Entwurf eines Gesetzes zur Ände-rung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes(Tagesordnungspunkt 18)

Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

12104 A

12104 D

12105 A

12105 A

12106 B

12107 B

12108 A

12108 D

12109 C

12109 D

12111 A

12111 D

12112 B

Page 8: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zum Verbot derPräimplantationsdiagnostik (PID)

– Entwurf eines Gesetzes zur begrenztenZulassung der Päimplantationsdiagnostik(Präimplantationsdiagnostikgesetz –PräimpG)

– Entwurf eines Gesetzes zur Regelung derPräimplantationsdiagnostik (Präimplanta-tionsdiagnostikgesetz – PräimpG)

(Tagesordnungspunkt 3 a bis c)

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . .

Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Beschlussempfehlung und Bericht: Stär-kung der humanitären Lage in Afghanis-tan und der partnerschaftlichen Koopera-tion mit Nichtregierungsorganisationen

– Beschlussempfehlung und Bericht: Für ei-nen nachhaltigen Ausbau des Bildungs-und Hochschulsystems in Afghanistan

(Tagesordnungspunkt 13 a und b)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12113 B

12114 A

12115 B

12116 C

12117 B

12118 A

12118 D

12119 D

12120 C

12121 B

12121 D

12122 B

12123 B

12123 D

12124 D

12125 D

12126 D

12127 D

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes gegen den Han-del mit illegal eingeschlagenem Holz (Holz-handels-Sicherungs-Gesetz – HolzSiG) (Ta-gesordnungspunkt 12)

Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . .

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . .

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Hochschulzulassung bundesge-setzlich regeln – Sozialen Zugang und Durch-lässigkeit in Masterstudiengängen sichern(Tagesordnungspunkt 15)

Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . .

Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts zuden Anträgen:

– Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeitschaffen, bessere Bildung ermöglichen,vorhandene Qualifikationen anerkennen

– Strategie statt Streit – Fachkräftemangelbeseitigen

(Tagesordnungspunkt 17)

Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . .

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . .

Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12128 D

12130 A

12131 A

12132 A

12133 A

12133 C

12135 B

12137 A

12137 D

12139 D

12140 B

12140 D

12142 A

12144 C

12145 D

12146 D

12147 D

Page 9: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 IX

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Steinkohlefinanzierungsgesetzes (Tages-ordnungspunkt 18)

Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Antrag: Deutschland im UN-Sicherheits-rat – Nationalen Aktionsplan zur UN-Re-solution 1325 jetzt erstellen

– Beschlussempfehlung und Bericht zu denAnträgen:

– 10 Jahre UN-Resolution 1325 „Frauen,Frieden und Sicherheit“

– Verpflichtung zur UN-Resolution 1325„Frauen, Frieden und Sicherheit“ ein-halten – Auf Gewalt in internationalenKonflikten verzichten

– 10 Jahre UN-Resolution – „1325Frauen, Frieden, Sicherheit“ – Natio-naler Aktionsplan für eine gezielteUmsetzung

(Tagesordnungspunkt 20 a und b)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . .

12148 D

12149 C

12150 D

12151 D

12152 C

12153 A

12154 C

12155 D

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Neunundzwanzigsten Ge-setzes zur Änderung des Abgeordnetengeset-zes – Einführung eines Ordnungsgeldes (Ta-gesordnungspunkt 19)

Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . .

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzungaufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Euro-päischen Union und zur Anpassung nationalerRechtsvorschriften an den EU-Visakodex (Ta-gesordnungspunkt 21)

Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12156 D

12157 D

12158 B

12159 B

12160 C

12161 C

12162 A

12162 C

12163 B

12164 A

12165 C

12167 B

12168 C

12169 C

Page 10: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
Page 11: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
Page 12: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
Page 13: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11943

(A) (C)

(D)(B)

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich.

Wir haben einige Mitteilungen, bevor wir in unsereTagesordnung eintreten. Die FDP-Fraktion hat mitge-teilt, dass der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt aus demKuratorium des Deutschen Historischen Museumsausscheidet. Als sein Nachfolger wird der Kollege Rei-ner Deutschmann vorgeschlagen. Neues stellvertreten-des Mitglied soll der Kollege Patrick Kurth werden.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall. Dann sind die genannten Kollegen gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5Nr. 1 Buchstabe b GO-BT

zu den Antworten der Bundesregierung auf diedringliche Frage Nr. 5 auf Drucksache 17/5468(siehe 104. Sitzung)

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 28

a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthana-sie“-Morde

– Drucksache 17/5493 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Al-bert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-ordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), PatrickMeinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP

Gestaltung der zukünftigen europäischen For-schungsförderung der EU (2014–2020)

– Drucksache 17/5492 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinTack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Pries-meier, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduk-tion verbieten

– Drucksache 17/5485 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Redetext

Page 14: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert

(A) (C)

(D)(B)

d) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Pe-tra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut –Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHOin der „Global Health Governance“ stärken

– Drucksache 17/5486 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

e) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz,Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz in Public Privat Partnerships imVerkehrswesen

– Drucksache 17/5258 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 29

a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 254 zu Petitionen

– Drucksache 17/5501 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 255 zu Petitionen

– Drucksache 17/5502 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 256 zu Petitionen

– Drucksache 17/5503 –

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 257 zu Petitionen

– Drucksache 17/5504 –

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 258 zu Petitionen

– Drucksache 17/5505 –

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 259 zu Petitionen

– Drucksache 17/5506 –

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 260 zu Petitionen

– Drucksache 17/5507 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 261 zu Petitionen

– Drucksache 17/5508 –

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und der FDP:

Pläne der EU-Kommission zur stärkerenBesteuerung von Dieselkraftstoffen

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlHolmeier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten JoachimSpatz, Michael Link (Heilbronn), HeinzGolombeck, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Strategie der Europäischen Union für denDonauraum effizient gestalten

– Drucksache 17/5495 –

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfHempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil(Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Programm für eine nachhaltige, bezahlbareund sichere Energieversorgung

– Drucksache 17/5481 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:

Aktuelle Äußerungen des Bundesfinanzminis-ters zur Umschuldung von EU-Ländern, dieden bis 2013 geltenden „Rettungsschirm“ inAnspruch genommen haben

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 12 und die weiteren Tages-ordnungspunkte verschieben sich um jeweils einen Platznach hinten.

Page 15: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11945

Präsident Dr. Norbert Lammert

(A) (C)

(D)(B)

Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan-den? – Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten KatrinGöring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober,Johannes Singhammer, Dr. h. c. Wolfgang Thierse,Kathrin Vogler und weiteren Abgeordneten ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbotder Präimplantationsdiagnostik

– Drucksache 17/5450 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten RenéRöspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Mein-hardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abge-ordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur begrenzten Zulassung der Prä-implantationsdiagnostik (Präimplantations-diagnostikgesetz – PräimpG)

– Drucksache 17/5452 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten UlrikeFlach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann,Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abge-ordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Regelung der Präimplantationsdiagnostik(Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG)

– Drucksache 17/5451 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. DieseZeit soll im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis derUnterzeichner dieser drei Gesetzentwürfe verteilt wer-den, weil wir hier – ich sage das insbesondere für dieZuhörer und Zuschauer – keine Gesetzentwürfe der Re-gierung oder der Fraktionen, sondern überfraktionelleGesetzentwürfe beraten werden.

Es wird vorgeschlagen, dass die Reden der Kollegin-nen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berück-sichtigt werden kann, in einem der Redezeit von fünfMinuten entsprechenden Umfang zu Protokoll gegebenwerden können.1)

1) Anlage 3

Ich hoffe, Sie sind auch damit einverstanden. – Dassieht so aus. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Ulrike Flach.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Ulrike Flach (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ziel unseres Gesetzentwurfes, getragen von 215 Kolle-gen aus allen Fraktionen des Bundestages, ist es, Paarenmit genetischer Disposition für schwere Krankheiten zuhelfen. Die PID ist dabei ein Instrument im Rahmen derkünstlichen Befruchtung, das Wissen über Erkrankungender befruchteten Eizelle vermittelt, bevor sie in die Ge-bärmutter eingepflanzt wird.

Mit dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli2010 ist die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID ge-nannt, in Deutschland legalisiert worden. Der Bundesge-richtshof hat drei Argumente für seine Entscheidung an-geführt:

Erstens. Das Embryonenschutzgesetz wird durch diePID nicht verletzt; denn auch der Arzt, der eine PIDdurchführt, strebt die Herbeiführung einer Schwanger-schaft an.

Zweitens. Die Zellentnahme zu Testzwecken stelltkein Verwenden dar, das dem Embryonenschutzgesetzzuwiderläuft.

Drittens. Die PID verfolgt denselben Zweck, den§ 218 a StGB als Indikation zum Schwangerschaftsab-bruch anerkennt. Danach ist der Abbruch nicht rechtswid-rig, wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigenund zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangerenangezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder eineBeeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Ge-sundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden.

Die PID verfolgt genau diesen Zweck, liebe Kolle-gen, und zwar – weil der Embryo noch in der Petrischaleist – auf weniger belastende Weise, als es sonst der Fallist. Deshalb, so der Bundesgerichtshof, wäre es ein Wer-tungswiderspruch, sie bei Strafe zu verbieten, währendder spätere und physisch und psychisch natürlich belas-tendere Abbruch zum gleichen Zweck erlaubt ist.

Ein Verbot würde die Betroffene von Gesetz wegenzwingen, zur Abwendung einer Gefahr – Fehl- oder Tot-geburt – eine weitaus gefährlichere Maßnahme, nämlichden Schwangerschaftsabbruch nach der Einpflanzung,über sich ergehen zu lassen, als es die Verwerfung desEmbryos in der Petrischale wäre.

Wenn es aber, liebe Kollegen, eine mildere Abwehrdes Notstandes gibt, dann darf der Gesetzgeber die Be-troffene nicht in eine noch schwerere Notlage bringen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Die Argumentation des Bundesgerichtshofes ist nichtnur rechtlich nicht von der Hand zu weisen. Sie ist auchethisch begründbar. Es ist ethisch nicht verantwortbar,

Page 16: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ulrike Flach

(A) (C)

(D)(B)

der Frau ein Wissen – sogar unter Strafe – vorzuenthal-ten, das sie in die Lage versetzen würde, eine selbstbe-stimmte Entscheidung über die Einpflanzung zu treffen.Alles andere wäre eine Schwangerschaft auf Probe.

Bei der Entscheidung über die PID geht es aber nichtnur um die richtige Anwendung von Recht. Es geht vorallem – das ist wichtig für uns – um Menschen in großerNot. Vor einigen Wochen erhielt ich eine Mail, die ichgern im Auszug zitieren möchte:

Meine Frau und ich haben bereits ein gesundesKind, aber leider haben wir beide einen Gendefekt.Die letzten zwei Schwangerschaftseinleitungenmussten getätigt werden, da unser Kind nicht le-bensfähig war (großer Wasserkopf und leider garkein Gehirn). Sie wissen gar nicht, wie schmerzhaftes ist, eine Schwangerschaftseinleitung oder Fehl-geburt zu haben. … Wir hätten kein Problem, wennwir ein behindertes Kind hätten, aber bei unsererErbkrankheit gibt es für das Überleben nur eine ge-ringe Chance.

Liebe Kollegen, ich lese Ihnen das deshalb vor, weiles deutlich macht, für wen diejenigen, die für eine be-grenzte Zulassung der PID sind, eintreten: für Men-schen, die sehr oft am Rande der Verzweiflung stehen,die sich sehnlichst ein Kind wünschen, die Hoffnung ineine Zulassung der PID setzen und die sehr wohl – oftauch aus tiefer christlicher Überzeugung – verantwor-tungsbewusst mit dieser ethischen Frage umgehen.

Was aber wollen wir, die für eine begrenzte Zulassungsind? Auch wir öffnen nicht alle Türen für die PID. Esgibt kein Recht auf PID, liebe Kolleginnen und Kolle-gen. Sie bleibt grundsätzlich verboten, aber es soll Aus-nahmen geben.

Die erste Ausnahme soll gelten, wenn bei Eltern oderbei einem Elternteil aufgrund genetischer Veranlagungeine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegendeErbkrankheit besteht, die zu einer Tot- oder Fehlgeburtführt. Als hohe Wahrscheinlichkeit gelten international25 bis 50 Prozent.

Zweite Ausnahme: wenn eine hohe Wahrscheinlich-keit für eine schwere Erbkrankheit besteht, die sich abererst später manifestiert, also erst später ausbricht. Hiergrenzen wir uns von anderen ab, die sagen, eine spätma-nifestierende Krankheit soll nur dann eine PID legitimie-ren, wenn sie innerhalb des ersten Lebensjahres des Kin-des ausbricht. Das halten wir für eine willkürlicheGrenzziehung, die in der Realität nicht umzusetzen ist,weil es unterschiedliche Krankheitsverläufe ein und der-selben Krankheit gibt.

Eine begrenzte Zulassung der PID bedeutet keinenethischen und quantitativen Dammbruch. Das belegendie Erfahrungen aus vielen anderen Ländern, die unsumgeben. In Großbritannien gab es im Jahre 2008 ganze214 Fälle, in denen PID angewandt wurde. Das sind0,42 Prozent aller künstlichen Befruchtungen im Jahr. InFrankreich waren es 320 Fälle. Der Deutsche Ethikrathat zu Recht in seiner Stellungnahme darauf hingewie-sen, dass eine Entscheidung für die PID nicht automa-tisch zu einer Ausweitung führt. Neue Erkenntnisse kön-

nen – das hat Frankreich gezeigt – sogar zu einerEinschränkung führen. Es ist eben nicht die Rutschbahn,die wir, wie immer prophezeit wird, anstreben, sondernes ist ein rechtlich sicherer und verlässlicher Weg für dieFamilien in Not.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

In unserem Gesetzentwurf gibt es keinen Automatis-mus für eine Zulassung der PID. Wir haben bewusst aufeine Liste von Krankheitsbildern verzichtet. Vielmehrwollen wir jede einzelne Entscheidung einer Ethikkom-mission überlassen, die an eigens dafür lizenzierten Zen-tren eingerichtet werden soll. Damit kann die Ethikkom-mission individuell – das ist für uns wichtig – auf jedesPaar und seine Not eingehen. Auch medizinische Fort-schritte in Therapie und Behandlung können berücksich-tigt werden. Wir wollen keine zentrale Kommission,sondern entsprechend der föderalen Tradition unseresLandes mehrere eigens lizenzierte Zentren. Damit wirdauch die Gruppe derjenigen Fachleute, die in die Ent-scheidung eingebunden werden, verbreitert.

Wir sehen mit Freude, dass sich sowohl der Ethikrat– in einer zwar knappen Mehrheit – als auch die Akade-mie der Wissenschaften für eine begrenzte Zulassungausgesprochen haben. Auch der Wissenschaftliche Bei-rat der Bundesärztekammer stützt diese Auffassung,wenn Professor Hepp schreibt, die Zulassung der PID seiethisch weniger problematisch als eine Schwangerschaftauf Probe. Selbst in der evangelischen Kirche gibt esdeutliche Stimmen, die sich für eine begrenzte Zulas-sung aussprechen.

Liebe Kollegen, ich bitte Sie, sich für unseren Ent-wurf zu entscheiden, weil er Menschen wie dem Paar,dessen E-Mail ich eben vorgelesen habe, hilft, weil ereine konsistente Rechtslage schafft und nicht dazu führt,dass wir erneut eine Diskussion über den § 218 führenmüssen, und weil er nicht zu einem Dammbruch führt,weder von der Fallzahl her noch hinsichtlich einer Auf-weichung ethischer Standards. Es ist eine Entscheidungzugunsten der Frauen und ihrer Familien, es ist eine Ent-scheidung gegen die Qual der Abtreibung, und es er-leichtert die Entscheidung genetisch belasteter Eltern fürein Kind.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Dr. Günter Krings ist der nächste Redner.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich werbe heute für ein konsequentes Verbot derPräimplantationsdiagnostik. Die Befürworter, die sichsicherlich ebenso wenig wie wir, die Antragsteller einesVerbotes, die Entscheidung leicht gemacht haben – im-merhin haben sich über 400 Abgeordnete des DeutschenBundestages bereits heute für einen der drei Anträge ent-

Page 17: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11947

Dr. Günter Krings

(A) (C)

(D)(B)

schieden –, begeben sich nach meiner, nach unsererÜberzeugung auf ein sehr abschüssiges Terrain. Das be-legen aus unserer Sicht Erfahrungen in den allermeisteneuropäischen und außereuropäischen Ländern. Das, waseinmal als eingegrenzte Zulassung der PID begonnenhat, ist in vielen Ländern ein Stück weit zulasten derEmbryonen gegangen, weil die Grenzen verschobenworden sind.

Frankreich galt in der Tat bis vor einiger Zeit noch alsBeispiel für eine restriktive Zulassung, bis wir vor weni-gen Wochen zur Kenntnis nehmen mussten, dass inFrankreich bereits die Erzeugung eines Rettungsge-schwisterkindes speziell zum Zwecke der Stammzell-spende für sein Geschwisterkind zugelassen worden ist.

Deshalb wollen wir die Rechtslage wiederherstellen,wie sie aufgrund der Überzeugung der allermeisten Ju-risten sowie der allermeisten Abgeordneten dieses Hau-ses bis in den Juli 2010, also vor der Entscheidung desBundesgerichtshofes, gegolten hat: das Verbot der PID.Das schlagen wir vor, weil wir der Überzeugung sind,dass weder der Gesetzgeber noch eine Kommission oderKammer noch der einzelne Arzt über lebenswertes odernicht lebenswertes Leben entscheiden darf.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Wir sind der festen Überzeugung, dass derjenige, dermeint, PID eingrenzen zu können, dann auch klar sagenmuss, wen er ganz konkret ausgrenzen will. Wer PIDeingegrenzt zulassen will, muss dann auch offenlegen,welche Formen der Erkrankung und welche Behinderun-gen in Zukunft aussortiert werden sollen.

Für uns ist der Embryo keine verfügbare Sache, dieman nach der Feststellung von Mängeln einfach verwer-fen darf. Wir halten es mit dem Bundesverfassungsge-richt, das sehr klar festgestellt hat: „Wo menschlichesLeben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“ Ent-scheidend dabei ist der Zeitpunkt des Beginns desmenschlichen Lebens. Nach unserer Überzeugung, nachmeiner persönlichen Überzeugung, ist die Verschmel-zung von Ei und Samenzelle immer noch die größte Zä-sur in dem Entwicklungsprozess des menschlichen Le-bens. Wir dürfen bei der Festlegung des Beginns vonmenschlichem Leben kein Risiko eingehen. Es ist sozu-sagen eine ethische Klugheitsregel, im Zweifelsfall fürdas Leben – in dubio pro vita – zu entscheiden, und nichteinen späteren Zeitpunkt anzunehmen, nur weil er be-quemer ist, um bestimmte medizinische Maßnahmen zu-lassen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Dieser Satz „in dubio pro vita“ gilt, wie ich finde, in be-sonderer Weise für den Embryo in der Petrischale. Er istvon Natur aus, anders als der Embryo im Mutterleib, be-sonders schutzlos. Deswegen ist der Gesetzgeber, des-wegen sind gerade wir besonders gefordert, ihm Schutzzu gewähren.

Meine Damen und Herren, mit allen Kollegen in die-sem Hause sehen wir auch die schwierige Situation der

Eltern, die, etwa nach einer Fehlgeburt, den Wunschnach einem gesunden Kind haben. Diesen Wunsch kön-nen wir natürlich verstehen. Das ist übrigens auch derGrund, warum wir von Anfang an klar gesagt haben,dass wir in Bezug auf die Eltern keine Strafandrohungvorsehen wollen. Es gilt aber: Das Leid dieser Elternentspringt nicht einer existenziellen Konfliktsituation,wie sie bei manchen Schwangerschaften vorliegt. DiePID ist ein im Labor vorgenommener, von Medizinerngeplanter und gesteuerter Vorgang. Wer das mit denKonfliktsituationen vergleicht, die Schwangere viel-leicht auch bei ungeplanten Schwangerschaften erleben,der geht an deren Situation voll vorbei.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Ebenfalls gilt: So verständlich der Wunsch nach einemgesunden Kind ist – Wünsche gehen nicht vor Rechte.Der Wunsch nach einem Kind kann nicht das Lebens-recht des Embryos überspielen.

Lassen Sie mich noch ein letztes Argument vortragen:Das Embryonenschutzgesetz sieht aus gutem Grund vor,dass in jedem Zyklus einer Schwangeren maximal dreiEizellen befruchtet werden können. Alle Experten sagenallerdings: Wenn man überhaupt die Chance haben will,in den Fällen der PID erfolgreiche Einpflanzungen vor-zunehmen, um später ein Kind gebären zu können,müsste diese Zahl verdreifacht werden, also von drei aufneun gehen.

Der Antrag des Kollegen Röspel sieht das in aller Of-fenheit vor. Das ist an dieser Stelle zumindest ein ehrli-cher Ansatz. Ich befürchte allerdings Folgendes: Wennwir diesen Weg gehen, führt das dazu, dass wir dieMenge der sogenannten überschüssigen befruchteten Ei-zellen deutlich vermehren und dass die Begehrlichkeitenaus der wissenschaftlichen Forschung, ja selbst aus derWirtschaft, stark anwachsen werden. Dem müssen wireinen Riegel vorschieben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Lassen Sie uns gemeinsam verhindern, dass Men-

schen zu Richtern werden über lebenswertes und nichtlebenswertes Leben. Deswegen bitte ich Sie: Unterstüt-zen Sie unseren Antrag auf ein Verbot der PID.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Page 18: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

René Röspel (SPD):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Uns wurden bisher zwei Gesetzentwürfe vorge-stellt. Die ihnen zugrunde liegenden Positionen sind,glaube ich, jede für sich sehr gut begründbar und nach-vollziehbar. Diese Positionen stellen in dieser Debatteaber auch zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Poledar. Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich hinzufügen:Diese beiden Positionen spiegeln das Dilemma wider, indem ich mich seit vielen Jahren bewege.

Auf der einen Seite kann ich die Sorgen, die Nöte, dieÄngste und das Leid derjenigen sehr gut verstehen, diebereits ein Kind wegen einer Behinderung oder einerschweren Erkrankung verloren haben. Ich kann auchverstehen, wenn diejenigen, die all ihre Kraft und Liebefür das Leben mit einem behinderten Kind aufbringenmüssen und wollen, sagen: Wir haben keine Kraft für einzweites Kind mit einer Behinderung, aber wir wünschenuns, noch ein gesundes Kind zu bekommen. Wie vieleandere habe auch ich lange mit mir gerungen, welcheLösung wir diesen Menschen anbieten können. Das indi-viduelle Leid ist nachvollziehbar.

Dieses Thema haben wir im Rahmen einer Enquete-Kommission bereits vor einem Jahrzehnt behandelt. Wirhaben überlegt, wie wir Menschen mit bestimmtenschwerwiegenden Erkrankungen oder Erbkrankheitenhelfen können, ohne Grenzen zu überschreiten. Wir ha-ben damals Betroffene gefragt. Einige haben gesagt: Ja,wir haben eine schwerwiegende Erbkrankheit oderKrankheit, aber das ist für uns kein Grund, die Prä-implantationsdiagnostik zuzulassen. Vielleicht ist daseine der zentralen Fragen: Aus wessen Sicht ist eine Er-krankung schwerwiegend? Aus der Sicht des Betroffe-nen, der mit dieser Krankheit zurechtkommen muss,oder aus Sicht desjenigen bzw. derjenigen, der bzw. diemit einem Betroffenen leben wird? Diese unterschied-lichen Sichtweisen führen zu einer großen Differenz beider Beurteilung der Frage, was schwerwiegend ist.

Ich finde nicht, dass der Gesetzentwurf von FrauFlach und weiteren Kolleginnen und Kollegen eine Lö-sung des Problems darstellt. Auch die Enquete-Kommis-sion hat dieses Problem nicht lösen können. Ich glaube,dass die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in in-dividuellen, nachvollziehbaren Fällen insgesamt zu einerAusweitung des Kataloges der Fälle führen wird, in de-nen eine Anwendung erlaubt ist. Ich glaube, dass das zueiner Grenzüberschreitung führen wird, und ich versteheauch nicht, warum in § 3 a Abs. 2 Satz 2 des Gesetzent-wurfs der Gruppe Flach eine quantitative Ausweitungvorgesehen ist. Demzufolge wollen Sie ohne jede Vorbe-dingung eine Präimplantationsdiagnostik bei dem Ver-dacht zulassen, dass eine Schädigung zu einer Fehl- oderTotgeburt führen kann. Diese Regelung würde dazu füh-ren, dass künftig bei jeder künstlichen Befruchtung diePID anwendbar wäre. Allein deshalb halte ich Ihren Ent-wurf für ethisch nicht vertretbar.

Auf der anderen Seite bedeutet ein komplettes Verbotder Präimplantationsdiagnostik, dass Menschen, bei de-nen aufgrund ihrer Veranlagung ein höheres Risiko be-steht, eine Fehl- oder Totgeburt zu erleiden, keine Lö-

sung angeboten werden kann. Insbesondere dieseGruppe haben wir bei unserem Gesetzentwurf im Blick.Wir vertreten keine mittlere Position. Vielleicht ist daseher eine vermittelnde Position zwischen den beiden an-deren Entwürfen. Uns geht es darum, dass Frauen, dieaufgrund ihrer genetischen Veranlagung ein höheres Ri-siko einer Fehl- oder Totgeburt in sich tragen, weil derEmbryo mit hoher Wahrscheinlichkeit geschädigt ist, dieMöglichkeit erhalten, ein lebensfähiges Kind auszutra-gen. Wir stellen nicht die Frage, ob ein Leben gelebtwerden darf, sondern wir stellen die Frage, ob ein Lebengelebt werden kann. Nur in diesen und in keinen anderenFällen wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass derFrau nicht der Embryo eingepflanzt wird, in dem unwi-derruflich festgelegt ist, dass er nicht lebensfähig ist. Wirwollen, dass der Embryo ausgesucht werden kann, dereine Überlebenschance hat. Das bedeutet, dass nicht ent-schieden wird über die Frage „Lebenswert oder le-bensunwert?“, sondern wir stellen die Frage der Lebens-fähigkeit ins Zentrum.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Wir wollen mit unserem Entwurf Menschen, die vonNatur aus keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, einenlebensfähigen Embryo zu bekommen, in die Lage ver-setzen, Eltern zu werden. Ich finde, das ist ethisch recht-fertigbar. Das ist eine begrenzte Anwendung der Prä-implantationsdiagnostik, die wir als zulässig ansehen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze.

Peter Hintze (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Es gibt Grenzbereiche des menschlichen Lebens,wo der Gesetzgeber zu äußerster Behutsamkeit aufgefor-dert ist. Ich glaube, unser Thema ist so ein Grenzbereich.Wie viel Tragik, wie viele Tränen, wie viel Leid stehenhinter dieser Debatte? Für uns, die Unterstützer des Ent-wurfs der Kolleginnen und Kollegen Flach, Reimann,Hintze, Montag und Sitte, ist jedes Leben gleich wert-voll, egal ob es von sehr kurzer Dauer ist oder ob eslange dauert, egal ob es durch schwerwiegende Behinde-rung beeinträchtigt ist oder ob ihm Gesundheit ge-schenkt ist.

Die Frage, die sich uns stellt, ist eine andere. Wir rin-gen um die Frage: Wie nehmen wir uns der Not vonFrauen an, die sich sehnlich ein Kind wünschen, aberüber denen das Verhängnis einer schweren erblichenVorbelastung schwebt, zum Beispiel der Not einer Frau,die erlebt hat, wie ihr Bruder an einer genetisch beding-ten Erstickungskrankheit gestorben ist, und die nungroße Angst vor einer Schwangerschaft hat? DieseAngst bedrückt sie und macht ihren Konflikt aus. Wie

Page 19: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11949

Peter Hintze

(A) (C)

(D)(B)

lösen wir diesen Konflikt auf? Der Deutsche Ethikrat hatlange darüber beraten. Auch die Nationale Akademie derWissenschaften, die Juristen, die Biologen, die Medizi-ner und die Embryologen, haben lange darüber beraten.Sie raten uns – der Ethikrat mit Mehrheit, die NationaleAkademie der Wissenschaften einheitlich –: Lasst fürdiesen Personenkreis diese wichtige medizinische Hilfezu. Ich sage uns im Deutschen Bundestag: Lassen Sieuns diesem Rat folgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich bin der festen Überzeugung, unser Grundgesetz,das Gebot der Nächstenliebe und unsere Verantwortunggebieten es, die Chancen der Medizin zu erlauben unddiesen Frauen das Ja zum Kind zu erleichtern. Wir lebenin einem freiheitlichen Rechtsstaat; darauf sind wir stolz.Ich meine, in einem freiheitlichen Rechtsstaat ist es einGebot der Menschenwürde, dass es Frauen erlaubt ist,verfügbares Wissen, das ihre seelische und körperlicheGesundheit betrifft, zu erhalten. Stellen Sie sich vor, Siewären der verantwortliche Arzt und Sie wüssten, dassder zu transferierende Embryo zur Totgeburt führenwürde. Ich glaube, Ihr eigenes Gewissen und das ärzt-liche Standesrecht würden es Ihnen verbieten, diesenEmbryo zu transferieren.

Was schließen die Befürworter des Totalverbotes dar-aus? Sie sagen: Wir müssen ihnen das Wissen verbieten.Allen, die sich mit Geschichte beschäftigt haben, ist klar:Verbot von Wissen ist in der Geschichte der Menschheitoft versucht worden, und es ist immer gescheitert. Ichfinde es moralisch, ein Wissen, das für die körperlicheund seelische Gesundheit von Bedeutung ist, zuzulassen.Ich finde, es steht einem Rechtsstaat gut an, etwas mehrVertrauen in die Selbstverantwortung der betroffenenFrauen und Ärzte zu haben, als es bei den Verbotsbefür-wortern der Fall ist.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Was sind das für Frauen? Das sind Frauen, die sichsehnlich ein Kind wünschen. Das sind Frauen, die oftschon eine oder zwei Totgeburten hinter sich haben. Dassind Frauen, die den schweren Weg einer künstlichenBefruchtung gehen. Manches in der Debatte klingt so,als gäbe es in Zukunft überhaupt keine natürliche Zeu-gung mehr – das wäre ja ein Drama –, aber dazu kommtes nicht. Es wird immer einen sehr kleinen Personen-kreis betreffen. Auch bei all den Versuchen, Negativbei-spiele zu finden – wir finden für alle Lebensbereiche Ne-gativbeispiele, selbst für solche, die uns wichtig undheilig sind –, muss man doch feststellen, dass nach zweiJahrzehnten dieser medizinischen Hilfe in den zivilisier-ten Ländern, in denen sie zugelassen ist, der Nutzenüberwiegt.

Es ist eben juristisch argumentiert worden, dasGrundgesetz unseres Rechtsstaates lege uns das Abwä-gungsverbot ans Herz. Dies ist eine Argumentation, diemich geradezu erschreckt. Wir können doch nicht zulas-sen, zu sagen: Es gibt ja noch gar keinen Konflikt in derPetrischale. – Natürlich gibt es ihn. Wir finden es nurbesser, dass dieser Konflikt aufgelöst wird, wenn er nochaufzulösen ist. Wir wollen ihn gar nicht erst im Mutter-

leib entstehen und dann auf dem Rücken der Frauen unddes werdenden Kindes austragen lassen. Wir als Gesetz-geber haben, so denke ich, die Pflicht, den betroffenenFrauen und Eltern diese Konfliktauflösung zum frühest-möglichen Zeitpunkt zu gestatten, und dürfen nicht dasDrama einer Abtreibung abwarten.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ein letzter Gedanke. Man muss natürlich eine Ent-scheidung treffen; Kollege Krings hat das angesprochen.Man muss die Entscheidung treffen, ob man einen Un-terschied zwischen einem Menschen wie dir und mir undeiner entwicklungsfähigen Zelle macht. Wer diesen Un-terschied nicht macht und sagt: „Eine entwicklungs-fähige Zelle ist wie ein Mensch“, der muss sofort ent-sprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringenund die Spirale verbieten. Da werden nämlich jährlichentwicklungsfähige Menschen zu Hunderttausenden ausdem Körper gespült. Wer diesen Unterschied abermacht, den übrigens auch die Biologie, die Medizin undunser ethisches Empfinden machen,

(René Röspel [SPD]: Nein!)

der muss sagen: Das Gebot der Menschenwürde – um derbetroffenen Eltern und der betroffenen Frauen willen –lässt uns zu einem verantwortlichen Umgang mit derPID Ja sagen. – Dazu möchte ich Sie einladen, liebeKolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Birgitt Bender ist die nächste Rednerin.

(Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP])

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche

wundern sich, dass ich für ein Verbot der PID eintrete.Denn ich bin bekannt als eine Frau, die immer dafür ge-kämpft hat, dass der Staat auf den Zwang verzichtet, auseiner unerwünschten Schwangerschaft ein unerwünsch-tes Kind werden zu lassen, die also für das Entschei-dungsrecht der Frau eingetreten ist. Inzwischen ist es so-wohl Gesetz als auch gesellschaftlicher Konsens, dassder Staat unter gewissen Rahmenbedingungen in denersten drei Monaten einer Schwangerschaft eine Abtrei-bung nicht kriminalisiert. Gleichzeitig bin ich für einVerbot des Genchecks im Reagenzglas. Ich sehe darinkeinen Widerspruch. Das eine ist die geduldete Entschei-dung gegen unbekanntes Leben im eigenen Körper, weileiner Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt das Lebenmit einem Kind nicht zumutbar erscheint. Das andere istdie bewusste und gewollte, nämlich künstliche Erzeu-gung von mindestens acht Embryonen zu dem Zweckdes Aussortierens. Diejenigen Embryonen, die nicht ge-sund genug erscheinen, um dem Kinderwunsch zu genü-gen, werden verworfen, wie es heißt.

Ja, es geht dabei um den individuell durchaus nach-vollziehbaren Wunsch nach einem gesunden Kind.Aber das Verfahren der PID ist letztlich eine Entschei-dung – darum sollte sich niemand herumdrücken – über

Page 20: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Birgitt Bender

(A) (C)

(D)(B)

den Wert von jeweils mindestens achtfachem Leben.Herr Hintze, es geht dabei nicht um das Wissen. Wirwollen nicht die genetische Beratung, die potenzielle El-tern um ihr Risiko wissen lässt, verbieten. Worum es unsgeht, ist die Option auf Selektion. Diese würde unsereGesellschaft verändern. Deswegen wollen wir sie ver-hindern.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, wir sollten näher hin-schauen, was das Versprechen eines gesunden Kindesfür die betroffenen Frauen bedeutet. Die Hormonbe-handlung ist mit hohen Risiken verbunden. Außerdemist sie intensiver als bei einer normalen Reagenzglasbe-fruchtung, weil man für dieses Verfahren mehr Eizellenbraucht. Höchstens zwei von zehn Frauen haben nachherüberhaupt ein Kind. Die wenigen Schwangerschaften,die entstehen, sind häufig Mehrlingsschwangerschaften.Das Risiko von Frühgeburten ist hoch. Machen wir unsdoch nichts vor: Es findet bei solchen Schwangerschaf-ten eine engmaschige pränataldiagnostische Überwa-chung statt, und späte Abtreibungen sind mitnichten aus-geschlossen. Das sehen wir in anderen Ländern.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Wieso, frage ich die Befürworter der PID, soll eine Frauin Zukunft eigentlich den Mut finden, sich für ein abseh-bar behindertes Kind zu entscheiden, wenn sie Anwürfefürchten muss, die da lauten: Das hätte doch nicht pas-sieren müssen?

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Einige hier im Haus mögen in der PID einen Zuge-winn an Freiheit für die Frauen erkennen. Ich sehe inerster Linie die Gefahr hohen sozialen Drucks fürFrauen, sich einem solchen Verfahren zu unterziehen,und für die Gesellschaft als Ganzes den drohenden Ver-lust der Bereitschaft zum Miteinander, egal wie gesund,krank oder behindert wir sind. Beide Tendenzen möchteich gerne verhindern.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält die Kollegin Priska Hinz.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und derFDP)

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PIDist seit dem Gerichtsurteil im letzten Jahr erlaubt und da-mit völlig ungeregelt. Jetzt stellt sich die Frage: Wennman eine Regelung trifft, soll man dann wieder zu demVerbot zurückkehren, von dem wir alle annahmen, dasses galt, oder soll man die PID zulassen? Ich tue michschwer, die PID wieder vollständig zu verbieten, weilich sehe, dass es durchaus einzelne Fälle von Paarengibt, denen man den medizinischen Fortschritt, den esmit der PID gibt, nicht vorenthalten sollte. Es ist abereine schwierige Gratwanderung.

Ich möchte nicht, dass Frauen begründen müssen, wa-rum sie ein behindertes Kind zur Welt bringen, obwohldie PID erlaubt ist. Außerdem möchte ich nicht, dass dieAuffassung bei uns gesellschaftsfähig wird, dass manmit dieser Krankheit leben kann, mit jener nicht. Ichmöchte auch nicht, dass sich Behinderte in unserer Ge-sellschaft ausgegrenzt fühlen. Deswegen geht es in unse-rem Gesetzentwurf nicht um die Frage, ob das Leben miteiner Krankheit oder Behinderung lebenswert ist, son-dern um die Frage, ob ein Leben lebensfähig, überle-bensfähig ist. Damit wollen wir Paaren die Möglichkeiteröffnen, überhaupt Kinder zu bekommen, die sonst auf-grund einer genetischen Vorbelastung nur Fehl- oderTotgeburten zu erleiden hätten.

Frau Flach, ich fand es interessant, dass Sie aus derE-Mail, die auch wir bekommen haben, zitiert haben. DieFrau, die da geschrieben hat, plädiert für die Variante un-seres Gesetzentwurfs; denn sie hat eine genetische Vor-belastung, die zu Tot- und Fehlgeburten führt. Genau dasberücksichtigen wir in unserem Gesetzentwurf. Die be-troffene Frau plädiert nicht für die PID, um generellschwere Behinderungen auszuschließen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Mit unserem Gesetz wären ihr die entsprechenden Mög-lichkeiten gegeben.

Ich finde, dass Ihr Gesetzentwurf, Frau Flach undHerr Hintze – ich habe länger mit Ihnen darüber disku-tiert –, deshalb zu weit geht, weil ich die Formulierung„schwere Behinderungen zu erkennen“ für allzu dehnbarhalte. Was ist eine schwere Behinderung? In Großbritan-nien ist das inzwischen die erbliche Veranlagung für eineDarmkrebserkrankung, die aber heilbar ist. Es kann dochnicht in unserem Sinne sein, dass die PID bei solchenFällen angewendet wird.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Sie sollte auch nicht bei spätmanifestierenden Krankhei-ten angewendet werden, wie es in Ihrem Gesetzentwurfsteht. Das ist bei uns im Gendiagnostikgesetz aus gutenGründen verboten. Wir hätten dann zwei Rechtssysteme,die sich diametral gegenüberstünden. Es kann doch nichtim Sinne des Gesetzgebers sein, dass die Diagnose einerspätmanifestierenden Krankheit im Rahmen der Prä-nataldiagnostik ausgeschlossen wird – man kennt denmedizinischen Fortschritt gar nicht; wir wissen nicht, obdiese Krankheit in 20 oder 30 Jahren therapierbar ist –,während wir bei der PID Embryonen verwerfen. Dashalten wir für grundfalsch.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSUund der SPD)

Ich möchte noch zu dem Argument kommen, dassdurch die Präimplantationsdiagnostik Abtreibungen ver-hindert werden. Wenn wir ins Ausland sehen, dann er-kennen wir: Dem ist mitnichten so. Wir wissen aufgrundentsprechender Daten, dass in 52 Prozent der Fälle, indenen die PID durchgeführt wird, hinterher auch die Prä-nataldiagnostik durchgeführt wird und dass in Ländern

Page 21: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11951

Priska Hinz (Herborn)

(A) (C)

(D)(B)

wie Frankreich die Abbruchrate steigt, obwohl dort diePID eingeführt wurde. Das heißt: Es ist nicht so, dassAbbrüche dadurch vermieden werden.

In Deutschland erfolgten 2010 3 Prozent aller Abbrü-che als Spätabbrüche aufgrund medizinischer Indikatio-nen. Das heißt doch, dass – und das wissen wir auch –sehr oft erst im Verlauf der Schwangerschaft spontaneFehlbildungen entstehen. Diese kann man in der Petri-schale überhaupt nicht erkennen. Von daher würde auchin Deutschland, wenn die PID umfassend eingeführtwürde, hinterher eine Pränataldiagnostik stattfinden, undSpätabbrüche wären trotzdem Alltag und Wirklichkeit.Von daher ist die PID hier kein geeignetes Mittel.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSUund der SPD)

Aus all dem folgt für mich: In einzelnen Fällen, dann,wenn wir abgrenzen können – das ist medizinisch mög-lich –, dann, wenn Fehl- und Totgeburten entstehen wür-den, können wir aufgrund des medizinischen Fortschrittshelfen, und hier sollten wir Hilfe auch nicht verweigern.Wir sollten aber keine Ausdehnung zulassen, und wirsollten nicht entscheiden, was lebenswert oder nicht le-benswert ist. Vielmehr sollten wir uns für die Embryo-nen entscheiden, die lebensfähig sind. Ich glaube, einesolche Entscheidung könnten wir als Gesetzgeber in derGesellschaft auch gut vertreten.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Carola Rei-

mann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Carola Reimann (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Thema Präimplantationsdiagnostik begleitet mich seitBeginn meiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete.Meine allererste Rede habe ich im Oktober 2000 genauzu diesem Thema gehalten, allerdings zu nachtschlafen-der Zeit und vor relativ leerem Haus. Seitdem hat sicheiniges in der Medizin, aber noch mehr in der Rechtspre-chung getan. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofesvom Juli letzten Jahres ist in Deutschland in Sachen PIDderzeit alles erlaubt. Genau das wollen wir alle hier imHause nicht. Deswegen plädiert meine Gruppe für einebegrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Zudiesem Zweck möchten wir das Embryonenschutzgesetzändern.

Unser Entwurf sieht Folgendes vor: Die PID wird imEmbryonenschutzgesetz grundsätzlich verboten. Davonkann aber in zwei Ausnahmesituationen abgewichenwerden, und zwar erstens wenn aufgrund einer erblichenVorbelastung eines Elternteils eine hohe Wahrscheinlich-keit besteht, dass das Kind ebenfalls diese schwerwie-gende Erberkrankung aufweisen wird, oder zweitenswenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Totgeburt oder

Fehlgeburt aufgrund einer schwerwiegenden geneti-schen Schädigung des Embryos droht. Dann soll dieMöglichkeit einer PID im Einzelfall gegeben werden,wenn eine Ethikkommission nach Beratung des indivi-duellen Falles zu einem positiven Votum kommt, unddann auch nur unter restriktiven Bedingungen und natür-lich nur in lizenzierten Zentren. Eine Präimplantations-diagnostik darf nur nach einer medizinischen undpsychosozialen Beratung und natürlich nur durch ent-sprechend spezialisiertes Fachpersonal durchgeführtwerden.

Kolleginnen und Kollegen, ich bin für eine begrenzteZulassung der PID, weil ich es schon immer unangemes-sen und schwer erträglich fand, den betroffenen Paarenkeinerlei Hilfe anbieten zu können, auch dann nicht,wenn sich die Frau auf die zusätzlich belastende künst-liche Befruchtung einlässt. Das ist, Kollege Krings, keinbequemer Weg. Denn es handelt sich um Paare, bei de-nen die Frauen auch auf „normalem“ Weg schwangerwerden könnten. Bisher lässt man diese Paare sehendenAuges, was ihr Risiko angeht, in einen Schwanger-schaftskonflikt laufen. Gerade solche Schwangerschaf-ten werden dann intensiv mit Diagnostik begleitet, wasbei einem positiven Befund zu einem schwerwiegendenKonflikt führt. Das ist nicht wegzudiskutieren. Ich finde,eine Schwangerschaft auf Probe ist Frauen nicht zuzu-muten. Das halte ich für frauenverachtend.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das ist vermeidbares Leid.

Die Kollegen Röspel und Hinz wollen die Präimplan-tationsdiagnostik noch stärker als wir begrenzen. DieseBegrenzung halte ich jedoch für höchst problematisch.Mit dieser Meinung bin ich nicht alleine. Die DeutscheGesellschaft für Humangenetik beurteilt den Gesetzent-wurf der Kollegen folgendermaßen – ich zitiere –:

Ein solcher Entwurf geht leider an der Realität dergenetischen Beratung und gänzlich an der Lebens-situation betroffener Familien vorbei. Es ist nichtrichtig, dass nur in seltensten Fällen zu erwarten ist,dass eine genetische Disposition zum Tod des Kin-des nach etwa zehn oder elf Monaten führt.

Das hätte nach Meinung der Humangenetiker eine nichtvertretbare Ausgrenzung von hochbelasteten Familienzur Folge. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, we-der eine Liste von Erkrankungen zu erstellen noch Aus-grenzungen einzelner Erkrankungen – das gilt auch fürspätmanifestierende Erkrankungen – vorzunehmen. EineBegrenzung auf ein bestimmtes Lebensstadium ist mei-ner Meinung nach medizinisch unrealistisch und ethischoft problematisch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU])

Kolleginnen und Kollegen, es gibt kein Recht auf eingesundes Kind; das ist klar. Es gibt aber auch die medizi-

Page 22: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Carola Reimann

(A) (C)

(D)(B)

nischen Möglichkeiten. Für mich steht die Frage imRaum, mit welchem Recht wir als Gesetzgeber die Nut-zung medizinischer Möglichkeiten und Hilfe nicht nurverweigern, sondern Ärzten und Paaren unter Strafe ver-bieten wollen. Ich meine, in diesem Fall haben wir alsGesetzgeber dieses Recht nicht. Viele der Betroffenenhaben eine unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich.Deswegen wollen wir Eltern mit genetischer Disposi-tion, die einen Kinderwunsch haben und bereit sind, einezusätzlich belastende künstliche Befruchtung auf sich zunehmen, im Einzelfall die Nutzung der Präimplanta-tionsdiagnostik ermöglichen.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Schmidt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ulla Schmidt (Aachen) (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

heutige Debatte gehört zu den Debatten, die am schwie-rigsten zu führen sind und in denen es sehr schwierig ist,eine Entscheidung zu treffen. Denn keine einzige Ent-scheidung kann allen gerecht werden. Auf der einenSeite steht das Leid der betroffenen Eltern, die genetischvorbelastet sind und den Wunsch nach einem gesundenKind haben. Auf der anderen Seite steht die Angst, dasswir Grenzen überschreiten. Ich glaube, die Zerrissenheitin der Debatte und auch die Breite dieser Debatte spie-geln sich in allen drei Gesetzentwürfen, die heute zurDiskussion stehen, wider. Denn auch diejenigen, die fürdie Zulassung der Präimplantationsdiagnostik sind, wol-len keine unbegrenzte Zulassung; sie ringen vielmehrum die Grenzen. Das bewegt alle in der Debatte. Es zeigtsich, dass es sehr schwierig ist, die Entwürfe – auch die,die eine begrenzte Zulassung vorsehen – mit dem gelten-den Embryonenschutzgesetz in Einklang zu bringen.

1990 hat der Bundestag sich in der Debatte und mitder Entscheidung über das Embryonenschutzgesetz ge-nauso schwergetan wie in der heutigen Debatte. Aberüber 20 Jahre hat getragen, dass wir mit dieser Entschei-dung den Beginn der Würde und der Schutzwürdigkeitdes menschlichen Lebens von Anfang an festgelegt ha-ben. Das halte ich für richtig. Wenn man mich fragt, obvon einer Entscheidung zur begrenzten Zulassung derPräimplantationsdiagnostik auch die Würde des einzel-nen Embryos und damit des menschlichen Lebens, dasschließlich ein Prozess ist – es ist nicht einfach da, son-dern es entwickelt sich –, betroffen ist, dann sage ich ein-deutig Ja. Es ist die Würde der Embryonen betroffen, dienach einer Untersuchung verworfen werden, weil sie einhohes Risiko von schweren Erkrankungen oder Behinde-rungen aufweisen. Aber es ist auch die Würde desjenigenEmbryos betroffen, der sich nach einer PID weiterentwi-ckeln darf; denn er darf sich nur weiterentwickeln, weil

er keine genetischen Vorbelastungen und Einschränkun-gen aufweist. Für mich ist damit das Prinzip einge-schränkt, dass jedes Leben sich um seiner selbst willenentwickeln darf.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich weiß, dass es schwierig ist, zu argumentieren – auchdie Kollegin Reimann hat das gesagt –, dass es keinRecht auf ein gesundes Kind gibt. Die Eltern, die betrof-fen sind, wollen das nicht hören. Aber ich weiß wohl,dass es ein Recht des Kindes gibt, um seiner selbst wil-len geliebt zu werden und um seiner selbst willen zurWelt gekommen zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Deshalb bedeutet ein Abgehen von dem, was in den letz-ten 20 Jahren für uns gegolten hat, für mich einen Para-digmenwechsel in unserem Wertekanon. Ich negiere da-bei überhaupt nicht die Wünsche von Eltern, die durchdiese Methode die Hoffnung haben, vielleicht ein erblichnicht belastetes Kind zur Welt zu bringen.

Ich persönlich habe auch viele Briefe bekommen undGespräche mit Eltern behinderter Kinder geführt und de-ren Sorge und Furcht erfahren, ob denn ihr behindertesKind das gleiche Recht hat, zu leben wie andere, ob ihrbehindertes Kind die gleiche Wertigkeit hat, zu lebenwie andere. Ich habe auch schwerbehinderte und schwerkranke Menschen getroffen, die sagen: Werden wir nichtdurch eine solche Diskussion auf unsere Defizite be-schränkt? Haben wir nicht das Recht, genauso teilzuha-ben? Wir betrachten unser Leben auch mit seinen Behin-derungen und Einschränkungen als lebenswert. Wirwollen leben, wir wollen teilhaben, und wir wollen mit-machen. – Ich gestehe Ihnen, Herr Hintze, zu und weiß,dass auch Sie das nicht anders sehen. Wenn wir aber diePräimplantationsdiagnostik nach Abwägung aller Argu-mente zulassen, dann ist für mich ganz eindeutig, dassbei der Präimplantationsdiagnostik die Selektion am An-fang steht. Der Wunsch, ein gesundes Kind zur Welt zubringen, setzt voraus, dass dem Leben, das nicht die ent-sprechenden Eigenschaften hat, das Recht genommenwird, sich weiterzuentwickeln. Das ist für mich derHauptgrund, warum ich für ein generelles Verbot binund warum ich dafür bin, dass die bisherige Rechtspre-chung weiterentwickelt wird, und zwar in dem Geist, indem der Deutsche Bundestag 1990 das Embryonen-schutzgesetz auf den Weg gebracht hat.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Der Kollege Patrick Meinhardt erhält nun das Wort.

Patrick Meinhardt (FDP):Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Die Frage der Präimplantationsdiagnostikist ein ethisch hochsensibles Thema. Deswegen ist esauch gut, dass wir uns im Deutschen Bundestag Zeit füreine ausführliche, inhaltstiefe Debatte nehmen. Jedervon uns ist bei dieser ganz schwierigen Entscheidungs-

Page 23: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11953

Patrick Meinhardt

(A) (C)

(D)(B)

findung ein Suchender und ringt um eine Lösung, dieden Lebensschutz des Embryos als Grundlage seinerethischen Entscheidungsfindung sieht. Zugleich bringtes aber auch der Präses der Evangelischen Kirche inDeutschland, Nikolaus Schneider, auf den Punkt, wenner formuliert – ich zitiere –:

Ich habe viel Sympathie für das Bestreben, die PIDunter eng gefassten Bedingungen zuzulassen, siealso nur dann zu erlauben, wenn die Eltern die An-lage zu schwersten Erbkrankheiten in sich tragenund die stark begründete Gefahr besteht, dass siediese Krankheiten an ihr Kind weitergeben.

Berechtigterweise formuliert er dann weiter:

Natürlich besteht die Gefahr, dass jede gesetzlicheEingrenzung nach und nach ausgehöhlt wird, des-halb muss ein Gesetz in Sachen PID sehr sorgsambedacht werden.

Genau daran orientiert sich der Gesetzentwurf zur äu-ßerst eng begrenzten Zulassung der Präimplantations-diagnostik; denn es ist ein Gebot der Menschlichkeit,auch das harte Schicksal der Eltern zu berücksichtigen,die die Anlagen schwerster Erbkrankheiten in sich tra-gen.

Vor diesem Hintergrund haben wir, die Initiatorendieses Gesetzentwurfs – René Röspel, Priska Hinz, Nor-bert Lammert und ich –, uns dafür entschieden, bei unse-rem Gesetzentwurf die Lebensfähigkeit des Embryos inden Mittelpunkt zu stellen. Bei Paaren, die die geneti-sche Veranlagung dafür haben, dass die Gefahr einerTotgeburt oder eines frühen Todes des Kindes besteht,soll eine Präimplantationsdiagnostik ausnahmsweise,unter strengen Auflagen, mit Beratungspflicht in einemlizenzierten Zentrum und unter Beteiligung einer Ethik-kommission ermöglicht werden.

Gerade für mich als Christ ist es bei dieser Frage zen-tral wichtig, die Balance zwischen der Ethik des Lebensund der Ethik des Helfens zu finden. Genau deswegengilt: Es darf keine Büchse der Pandora geöffnet werden,es geht nicht um Designerbabys, und es darf deswegenauch keine Krankheitenkataloge geben. Für mich müssenzwei Sachverhalte klar ausgeschlossen sein. Erstens. Esdarf keine Durchführung einer Präimplantationsdiagnos-tik geben, wenn die Krankheit, die gesucht wird, erst imspäteren Lebensverlauf auftreten wird, sogenannte spät-manifestierende Krankheiten. Zweitens. Bei unseremEntwurf ist die genetische Disposition der Eltern dieGrundvoraussetzung für die Durchführung einer Präim-plantationsdiagnostik. Deswegen schließen wir in unse-rem Gesetzentwurf aus, aktiv nach Trisomien oder Mo-nosomien zu suchen. Mit unserem Gesetzentwurfwollen wir Ihnen allen einen dritten Weg für eine ver-antwortungsbewusste Anwendung der Präimplanta-tionsdiagnostik in einem eng begrenzten Rahmen anbie-ten.

Schon bei meiner Rede zur Stammzellendebatte habeich auf Professor Klaus Tanner von der UniversitätHalle-Wittenberg verwiesen, der in einer solch ethischsensiblen Debatte formuliert hat:

Parlamentarische Kompromissbildung ist in solcheiner Situation kein schwächliches Kapitulieren,sondern Ausdruck des Ethos der parlamentarischenDemokratie …

Wir alle haben auf diese Fragen keine Antworten, dieuns zu 100 Prozent zufriedenstellen. Vielmehr steht je-der von uns vor dem Dilemma, eine Wertung vornehmenzu müssen. Nicht zuletzt die Debatte im Ethikrat, die voninnerer Tiefe getragen worden ist, hat deutlich gemacht,wie schwer eine solche Entscheidungsfindung ist. Umsodankbarer bin ich als Abgeordneter für die große Sach-kenntnis, den gegenseitigen Respekt und das hohe Maßan ethischer Sensibilität, mit dem wir heute die Debatteführen. Es zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag dertiefen gesellschaftlichen Dimension dieses Themas äu-ßerst bewusst ist. Eine solche Debattenkultur – nicht anFraktionsgrenzen gebunden – bringt uns wieder zu demKern unseres demokratischen Parlamentarismus, als freigewählte Abgeordnete um den bestmöglichen Weg zuringen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat nun das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Ulrike Flach [FDP])

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der

Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom Juli 2010 diePID als zulässig bewertet hat, sind in diesem Land bewe-gende Diskussionen dazu geführt worden. Bisweilenentdecke ich dabei auch fehlerhafte Annahmen und feh-lerhafte Bewertungen. Es ist nach wie vor viel aufzuklä-ren. Mich trifft allerdings bis heute ins Mark, wenn Be-fürworter der PID-Zulassung in eine Traditionslinie mitEuthanasieverbrechen der Nationalsozialisten gestelltwerden.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wer hat das denn getan?)

Ich habe mich mit dieser Problematik intensiv auseinan-dergesetzt; viele andere in diesem Haus haben das auchgetan. Daher weiß ich, dass dieser Vorwurf jeglicher dif-ferenzierter Diskussion die Grundlage entzieht. Und wie,frage ich mich, muss das erst auf Menschen bzw. Paarewirken, die eine PID erwägen?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Schließlich fällen sie doch eine höchst individuelle Ent-scheidung, der keinerlei populationsgenetische Motiveunterstellt werden können.

Meine Damen und Herren, ich glaube, Politikerinnenund Politiker sollten nicht allein nach ihrer persönlichenHaltung zur PID entscheiden. Vielmehr muss das von

Page 24: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Petra Sitte

(A) (C)

(D)(B)

uns zu beschließende Gesetz die Breite verschiedenerethischer Positionen spiegeln, und diese reichen nun ein-mal von einem Verbot über eine begrenzte bis zur gänzli-chen Freigabe der PID. Diese Positionen sind glaubens-gebunden oder basieren auf naturphilosophischen oderatheistischen Auffassungen von Natur und menschli-chem Leben. So gibt es in diesem Haus gänzlich ver-schiedene Antworten auf die Fragen: Wann beginntmenschliches Leben? Hat ein Embryo im Reagenzglaseinen höheren Lebensschutz als nach der Einnistung indie Gebärmutter?

In all diesen Wertvorstellungen sind Menschlichkeit,Freiheit, Toleranz und Respekt vor anderen MenschenEckpunkte sittlichen Handelns. Aber kein Wertekonzeptkann allein beanspruchen, Staat und Menschen allge-meinverbindliche Vorgaben zu machen. StaatlichesRecht hat nach meiner Auffassung insofern universelleMenschenrechte und Menschenwürde als gemeinsamenNenner zu wählen.

Diese vielfältigen ethischen Vorstellungen finden sichdabei auch bei den Paaren, die die PID für sich in Be-tracht ziehen. Für mich sind deren Schicksale bewegend;wir haben hier schon einige Beispiele gehört. Ein Teilder Eltern hat bereits erblich bedingt mehrfach Früh- undTotgeburten ertragen müssen. Zwei Drittel der Betroffe-nen haben bereits Kinder mit schwersten erblichen Er-krankungen. Diese Eltern lieben ihre Kinder bedin-gungslos und unternehmen alles Menschenmögliche, umihnen ein glückliches Leben mit möglichst wenig Ein-schränkungen und wenig Leid zu geben. Sie wünschenaber auch weitere Kinder. Allerdings möchten sie diesenKindern, wie ich es immer wieder von Betroffenen ge-hört habe, die Folgen bzw. das Leid einer von ihnen ver-erbten Krankheit ersparen. Warum sollen wir das nichtrespektieren?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Es ist ihr grundgesetzlich geschütztes Recht. DasRecht auf Fortpflanzung ist ein Menschenrecht. Die Ge-sellschaft respektiert doch längst verschiedene Wege undMittel der Geburtenkontrolle, und sie respektiert insbe-sondere das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Paare, diedie PID ablehnen, werden vermutlich eben auch keinePränataldiagnostik anstreben, wie sie überhaupt skep-tisch gegenüber künstlicher Befruchtung sein dürften.Diese Paare werden in ihren Rechten durch unseren Ge-setzentwurf allerdings nicht eingeschränkt. Wer dagegendie PID vor dem eigenen Gewissen für verantwortbarhält – diese Entscheidung hat jeweils eine lange Vorge-schichte; sie ist reflektiert; sie wird von den Paaren ganzgenau bedacht –, kann bei einem Verbot der PID seineEntscheidungsrechte nicht mehr verwirklichen. Dashalte ich für höchst problematisch.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN sowie der Abg. Ewa Klamt [CDU/CSU])

Meine Damen und Herren, ich unterstütze die Be-grenzung der PID auf erbliche Chromosomenstörungenund auf monogenetische Erbkrankheiten. Hierbei ist dieSicherheit der Prognose vergleichsweise hoch. Andereschwere und schwerste Krankheiten können durchausauch erblicher Natur sein. Bei ihnen ist aber erstens un-klar, wie viele und welche Gene tatsächlich den Aus-bruch verursachen. Zweitens gibt es zahlreiche weitereäußere Einflussfaktoren wie Umwelt und Lebensweiseder Menschen.

Das menschliche Genom besteht aus über 3 Milliar-den Bausteinen. Insofern werden wir wohl noch Jahr-zehnte nicht in der Lage sein, sichere Prognosen zuKrankheiten oder gar zu menschlichen Eigenschaftenabzugeben. Ebenso unzuverlässig sind Chromosomen-Screenings für nichterbliche Krankheiten. Vor diesemHintergrund eignen sich beide, die PID und die Chromo-somen-Screenings, anders als derzeit in der Diskussionbehauptet, eben nicht dazu, Designerbabys zu schaffen.

Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, all diese Ar-gumente bei Ihrer Entscheidung ebenfalls zu bedenken.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN sowie der Abg. Ewa Klamt [CDU/CSU])

Präsident Dr. Norbert Lammert:Der Kollege Johannes Singhammer erhält nun das

Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Johannes Singhammer (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wenn man eine PID zulässt, ob mit vielen Ausnah-men, mit wenigen oder nur mit einer einzigen, kommtman an einer grundsätzlichen Entscheidung nicht vorbei:an der Bewertung, welches Leben gelebt werden darfund welches nicht.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Qualitätskon-trolle menschlichen Lebens, zu welchem Zeitpunkt auchimmer, gerade als Embryo, gelingen kann, weil es denMenschen überfordert, vorgeburtliche Lebenseignungs-tests zu entwerfen und gesetzlich festzulegen. WelchesGremium, welche Kommission, welche Einzelpersön-lichkeit kann sich das letztlich zutrauen und verantwor-ten? Welche Institution hat das Recht, vorgeburtlicheQualitätskontrollen festzusetzen?

Kann die Prognose, ein Kind würde möglicherweisenur ein Jahr oder zwei Jahre leben, eine Verwerfung desEmbryos rechtfertigen? Wie ist es – das ist hier schonangesprochen worden – mit einer Lebensspanne, dievielleicht 10, 20, 30 oder auch 40 Jahre reicht, wenn esdann mit Sicherheit zu einer schrecklichen tödlichenKrankheit kommt, beispielsweise dem sogenanntenVeitstanz, Chorea Huntington? Zählt nur das schreckli-che Ende, das sichere Ende? Was ist mit den 40 Jahren

Page 25: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11955

Johannes Singhammer

(A) (C)

(D)(B)

Leben, die vorher stattfinden? Welcher Wert wird die-sem Leben zugemessen?

Ich meine, menschliches Leben entsteht mit der Ver-schmelzung von Ei und Samenzelle. Eine Differenzie-rung nach Lebenserwartung, eine Unterscheidung nachmöglichen oder tatsächlich eintretenden Krankheiten istwenig geeignet, vorhandenes Leid zu lösen, sondernschafft das Risiko neuer Diskriminierungen, die nie-mand hier im Hause will.

Paare, die auf ein gesundes Kind hoffen, die Wechsel-bäder von Hoffnung und Enttäuschung erlebt haben, dieeinem hohen Leidensdruck ausgesetzt sind, verdienenRespekt, Beratung und Hilfe. Aber ich denke auch andiejenigen Menschen, die mit einer Behinderung leben.Ich denke an die Menschen, die eine Behinderung haben,die in dem möglichen Katalog von Krankheiten enthal-ten ist, die zu einer Verwerfung des Embryos führen.Wie muss sich ein Mensch fühlen, der eine der Krank-heiten hat, die möglicherweise zu einer Verwerfung desEmbryos führen?

Ich möchte nicht, dass Eltern von behinderten Kin-dern einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind. Ichbin mir auch nicht sicher, wie sich bei einer Zulassungder PID dann möglicherweise ein Kind später fühlt,wenn es erfährt, dass es im Zusammenhang mit einerAuswahl geboren worden ist und die Geschwister nichtgeboren worden sind?

Viele fragen sich: Gibt es bei diesen schwierigen,schwierigsten Entscheidungen die Möglichkeit, einenKompromiss zu finden? Viele denken darüber nach: Wiekönnte ein solcher Kompromiss aussehen? Ich fürchte,es wird schwierig, es ist nicht möglich; denn die Ent-scheidung darüber, Embryonen – das ist menschlichesLeben – in den Mutterleib einzupflanzen oder zu verwer-fen, ist endgültig, ist nicht korrigierbar. Deshalb werbeich für die Vermeidung jeglicher Art der Bewertungmenschlichen Lebens, für ein klares Verbot der PID.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In

den letzten Tagen haben wir alle zur Einstimmung aufdie heutige Debatte vom Kollegen Norbert Geis eineStreitschrift des katholischen Moraltheologen Spiekererhalten. Ich habe sie sorgfältig gelesen. Danach – so dieQuintessenz – widersprächen die künstliche Befruchtungund die PID – ich zitiere – den Grundlagen jeder freiheit-lichen Gesellschaft und jeder rechtsstaatlichen Demo-kratie und gefährdeten das friedliche Zusammenleben inder Gesellschaft. – Ich widerspreche diesen Schlussfol-gerungen. Aber ich widerstehe auch der Versuchung,darauf in gleicher Weise zu antworten. Stattdessen willich Ihnen zu Beginn von einem Menschen erzählen, vonFrau Regina Streilein, Mutter von vier Kindern.

Als Frau Streilein elf Jahre alt war, starb ihr Bruder.Er wurde neun Jahre alt. Er litt an einer schrecklichen

Erbkrankheit, einer genetisch bedingten Stoffwechsel-krankheit, die unaufhaltsam und qualvoll das Nervensys-tem im Gehirn zerstört. Frau Streilein trägt in ihren Ge-nen die Anlage zu dieser Krankheit; bei Frauen bricht sieallerdings nicht aus. Frau Streilein wollte nicht, dass ihreeigenen Kinder so qualvoll sterben wie ihr Bruder. Des-halb hat sie sich für eine extrakorporale Befruchtung undeine PID entschieden und ist zu diesem Zweck nach Bel-gien gefahren. Heute ist sie Mutter von vier Kindern,und sie ist froh, dass in Belgien für solche Fälle die le-gale Möglichkeit einer PID besteht.

Belgien ist ein christliches Land, nicht weniger alsDeutschland. Auch in Belgien werden menschliches Le-ben und die menschliche Würde geschützt, nicht weni-ger als in Deutschland.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten mitunserem Gesetzentwurf Menschen wie Frau Streileinhelfen. Wir wollen sie nicht auf Möglichkeiten im Aus-land verweisen. Wir wollen unter strengen Vorgaben dieNutzung der PID in Deutschland erlauben, erstens, umverzweifelten Paaren zu helfen, die nach Fehlgeburtenund Totgeburten keine Kraft mehr haben, diese Risikenweiterhin zu tragen, und zweitens, um Paaren, Eltern,Frauen zu helfen, die um in ihnen schlummerndeschwere vererbliche Krankheiten wissen und diese nichtauf ihre Kinder übertragen wollen.

Wir schlagen vor, die PID zu verbieten: zur Auswahljeglicher krankheitsunabhängigen Eigenschaften – diesogenannten Designerbabys –, zur krankheitsunabhängi-gen Auswahl eines Geschlechts, zur Auswahl von Kin-dern zum Nutzen Dritter – die sogenannten Rettungskin-der – und schließlich auch zu Forschungszwecken. Diestun wir, weil – hier sind wir uns alle einig; das glaube ichjedenfalls – extrakorporal erzeugte Embryonen begin-nendes menschliches Leben sind, welches nach seinerEntstehung im Reagenzglas rechtlichen Schutz verdient.Aber Embryonen im Reagenzglas sind aus sich herausund in der Umgebung, in der sie sich befinden, nicht le-bensfähig. Ihr Schutz ist ohne Mitwirkung eines anderenMenschen, der möglichen zukünftigen Mutter, nicht denk-bar. Wenn sie sich verweigert, entsteht ein Problem – einProblem, das wir als Gesetzgeber lösen müssen. Dabeimüssen wir die Rechte aller Seiten, aber auch die medi-zinisch-technische Entwicklung und Regelungen in an-deren Staaten mit bedenken.

Welche Möglichkeiten gibt es? Man kann eine Frau,die sich ein Ei hat entnehmen lassen und einer Befruch-tung des Eis im Reagenzglas zugestimmt hat, zu zwin-gen versuchen, einer Einpflanzung des Embryos in ihreGebärmutter zuzustimmen. Das fordert niemand; daswäre auch eklatant verfassungswidrig. Niemand bestrei-tet, dass eine Frau es zu jeder Zeit und mit jeder Begrün-dung und selbstverständlich auch ohne jegliche Begrün-dung ablehnen kann, den von ihr und ihrem Partnerstammenden lebenden Embryo am Leben zu erhalten.Die Rechtsordnung kann den Schutz des Lebens des Em-bryos gegen den Willen der Mutter nicht durchsetzen.

Ich glaube, dass niemand von Ihnen dem widerspre-chen wird. Das Leben des extrakorporal erzeugten Em-bryos ist nur mit der Frau gemeinsam schützbar.

Page 26: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Jerzy Montag

(A) (C)

(D)(B)

An dieser Stelle müssen wir eine politische Entschei-dung treffen. Entweder wir sagen den betroffenenFrauen: Du darfst dich dafür oder dagegen entscheiden,dass dein Embryo weiterlebt; aber du darfst dich vor die-ser Entscheidung nicht vergewissern, dass dein Embryokeine Gendefekte hat, die zu seinem Tod oder einerschweren Krankheit führen. Das ist der Gesetzentwurf,der die PID ausnahmslos verbieten will. Dann sagen wir:Ihr dürft euch entscheiden, aber es muss eine uninfor-mierte Entscheidung sein. – Oder wir sagen den betrof-fenen Frauen: Wenn ihr euch vor der grundlegendenEntscheidung, ob euer Embryo leben soll oder nicht, dar-über informieren wollt, welche Eigenschaften derEmbryo hat, dann akzeptieren wir einige wenige Fragenund andere akzeptieren wir nicht. – Das ist unser Vor-schlag für eine PID-Untersuchung, für ein PID-Verbotmit zwei gewichtigen Ausnahmen. Wir ermöglichen indiesen Fällen eine informierte Entscheidung.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege!

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Meine letzte Bemerkung, Herr Präsident.

Ich bin davon überzeugt, dass Menschen wie FrauStreilein ein Recht darauf haben, sich informiert für einlebensfähiges und gesundes Kind zu entscheiden. Das istkein Recht auf ein gesundes Kind, aber ein Recht vonFrauen, in Selbstverantwortung eine Entscheidung zutreffen, die für ihr zukünftiges Leben von existenziellerBedeutung ist.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Der Kollege Pascal Kober erhält nun das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Pascal Kober (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch als liberaler Politiker und auch aus einer liberalenGrundhaltung heraus kann man sich aus guten Gründenfür eine Nichtzulassung der Präimplantationsdiagnostikaussprechen. Denn Ausgangspunkt liberaler politischerPhilosophie ist die Überzeugung, dass dem Menschenindividuelle Freiheit unveräußerlich gegeben ist,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

dass der Staat die individuelle Freiheit der Menschenachten muss.

Ausgangspunkt des liberalen Staatsverständnisses istdie Überzeugung, dass der Mensch dem Staat das Rechtauf Einschränkung seiner eigenen Freiheit zugesteht undnicht etwa der Staat den Menschen seine Freiheit zubil-ligt. Zugespitzt heißt das: Der Mensch definiert denStaat und nicht der Staat den Menschen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Prä-implantationsdiagnostik zulassen, droht dieser Grund-satz aber verloren zu gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und derCDU/CSU sowie der Abg. Katrin Göring-Eck-ardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Denn Präimplantationsdiagnostik bedeutet, dass derStaat, der Gesetzgeber, sich selbst oder andere, beispiels-weise ein Expertengremium oder einen Ethikrat, dazuermächtigt, anhand von Wesensmerkmalen, die im Men-schen selbst liegen, zu definieren, welchem Menschen erzu welchem Maß an Schutz verpflichtet ist. Das würdeaber bedeuten, dass der Grundsatz, dass der Mensch denStaat definiert und nicht der Staat den Menschen, nichtmehr eindeutig gelten würde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus liberaler Über-zeugung sage ich, dass der Staat kein Recht hat, sichselbst oder andere dazu zu ermächtigen, wertende – seienes auf- oder abwertende – Entscheidungen über denMenschen zu treffen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Der Staat muss jeden Menschen, und zwar so wie er ist,achten und sein Leben und damit seine Freiheit grund-sätzlich und über die gesamte Lebenszeit hinweg schüt-zen. Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu er-mächtigen, zu entscheiden, ab wann ein menschlichesLeben zu achten ist und wann nicht. Es gilt das, was derKollege Dr. Krings vorhin schon gesagt hat: Wenn ir-gendein Zweifel besteht, dann kann nur gelten: im Zwei-fel für das Leben und für den weiter gehenden Schutz.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu er-mächtigen, zu entscheiden, welches menschliche Lebenlebenswerter und damit schützenswerter ist als ein ande-res.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage ist berech-tigt, ob diese Grenze nicht schon in der Frage desSchwangerschaftsabbruches überschritten ist. Die Grenzeist beim Schwangerschaftsabbruch dann nicht über-schritten, wenn wir unterstellen, dass es sich bei Schwan-gerschaftskonflikten um eine zutiefst existenzielle Situa-tion handelt, in der das Leben der Mutter – auch unterpsychisch-sozialen Aspekten – gegen das Leben desKindes steht und der Staat sich in dieser Frage eben nichtanmaßt, strafrechtlich zu entscheiden, welchem Leben erin seiner Schutzpflicht den Vorzug geben muss. Die Prä-implantationsdiagnostik bedeutet demgegenüber aber,dass auf der Basis von Wesensmerkmalen Lebensrechtzuerkannt oder eben nur abgestuft zuerkannt wird. Dasist etwas anderes.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne Zweifel: Wirmüssen die Not der Eltern, die sich ein Kind wünschenund für die die Technik der Präimplantationsdiagnostikhier gegenwärtig die einzige Möglichkeit zu seinscheint, ernst nehmen. Wir haben aber auch eine Verant-

Page 27: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11957

Pascal Kober

(A) (C)

(D)(B)

wortung gegenüber den Grundfesten und Grundsätzenunseres freiheitlichen Staatsverständnisses. Auch wennes im Angesicht der individuellen und persönlichen Be-troffenheit und des Leids so schwierig erscheint, dass esuns die Sprache zu verschlagen droht: Die Grundsätzeund die Grundfesten unseres freiheitlichen Staatsver-ständnisses müssen nach wie vor Geltung haben. Das be-deutet, dass der Mensch den Staat definiert, nicht derStaat aufgrund von Wesensmerkmalen seine Menschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. René Röspel[SPD])

Präsident Dr. Norbert Lammert:Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Gabriele Moli-

tor.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Gabriele Molitor (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Für mich alsbehindertenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestags-fraktion ist die Entscheidung über die Zulassung der PIDaus mehreren Gründen schwierig. Ich sehe die Sorgenvieler Menschen mit Behinderung und natürlich auch dieBefürchtungen der Behindertenverbände. Es gibt keineeinfache Entscheidung zur PID, nicht für uns hier in die-sem Hohen Haus, auch nicht für die Betroffenen selbst.

Bei meiner Entscheidungsfindung war die vom Ratder Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichtePosition zur Präimplantationsdiagnostik sehr hilfreich.Hier wird festgestellt:

Unter den Mitgliedern des Rates gibt es unter-schiedliche Meinungen zur Bewertung von Kon-stellationen, bei denen die Anwendung der PIDnicht die Funktion hätte, zwischen behinderten undnicht behinderten Embryonen zu unterscheiden,sondern die Aufgabe, lebensfähige Embryonen zuidentifizieren. Die hier angesprochenen Fälle unter-scheiden sich von anderen dadurch prinzipiell, dasses nicht um die Frage von Krankheit und Gesund-heit, von behindert und nicht behindert, von „le-benswert“ und „nicht lebenswert“ geht, sondern umLebensfähigkeit und Lebensunfähigkeit.

Nach Auffassung des Rates der EKD würde die In-vi-tro-Fertilisation in Verbindung mit der PID in diesen Fäl-len „allein dem Ziel dienen, Leben zu ermöglichen“. Ge-nau diese Präzisierung ist es, die mir bei meinerpersönlichen Entscheidung geholfen hat, den Antrag füreine begrenzte Zulassung zu unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Wir müssen scharf trennen, worum genau es heutegeht: Eine Entscheidung für die PID hätte nicht zurFolge, dass Menschen mit Behinderung an den Rand derGesellschaft gedrängt würden oder Behinderungen künf-tig vermieden werden könnten. Nur wenige Behinderun-

gen sind genetischer Art. Die meisten Kinder werdengesund geboren. Lediglich 3 bis 5 Prozent der Neugebo-renen sind nach Angaben von Pro Familia behindert oderkrank. Die Ursachen hierfür sind komplizierte Entbin-dungen, Frühgeburten oder Krankheiten der Mutter. Einwiederum noch geringerer Anteil ist durch genetischeDefekte verursacht. Dieser geringe Prozentsatz, gepaartmit der strengen Begrenzung der PID und einem sehrkleinen Kreis von Paaren, die sich überhaupt testen las-sen könnten, bedeutet nichts anderes, als dass Menschenmit Behinderung auch in Zukunft zu unserer Gesell-schaft gehören und unter uns leben werden; denn jederMensch ist einmalig und unverwechselbar.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der LINKEN)

Er ist mit seinen Stärken und Schwächen als Ganzes zuwürdigen und muss in allen Lebensbereichen selbstver-ständlicher Teil unserer Gesellschaft sein.

Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind inder überwältigenden Mehrheit offen und aufgeschlossengegenüber Menschen mit Behinderung. Auch in unsereneuropäischen Nachbarländern, in denen die PID zumTeil seit Jahrzehnten erlaubt ist, gab und gibt es keineStigmatisierung von Behinderten aufgrund der PID.

Entscheidend ist daher auch nicht die potenzielle Un-tersuchung von einigen wenigen Hundert künstlich be-fruchteten Embryonen pro Jahr, sondern einzig und al-lein der Umgang unserer Gesellschaft mit Menschen mitBehinderung. Wir alle sind es, die mit unserem täglichenHandeln über den Grad der Teilhabe von Menschen mitBehinderung entscheiden. Die PID gibt Eltern mitschweren Erbschäden lediglich die Sicherheit, dass ihrKind lebensfähig sein wird, und erspart den Paaren trau-matisierende Erfahrungen einer Spätabtreibung.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der LINKEN)

Letztlich entscheidend für mich ist eine ganz einfacheFrage. Wenn jetzt hier vor mir ein Paar sitzen würde, dasden Kriterien entspräche, die dieser Gesetzentwurf vor-sieht, und mich fragen würde, ob es eine PID vornehmenlassen dürfe oder nicht, dann muss ich mir die Frage stel-len: Habe ich das Recht dazu, diesem Paar diese Mög-lichkeit abzusprechen?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derLINKEN)

Ich bin zu dem Schluss gekommen: Nein, das darf ichnicht tun. Deshalb werde ich für das Gesetz zur Rege-lung der PID stimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Der Kollege Dr. Ilja Seifert erhält nun das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD)

Page 28: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Ob wir es wollen oder nicht: Jede Debatte über diePräimplantationsdiagnostik stellt die Frage nach demWert – oder eben auch nach dem Unwert – menschlichenLebens. Ich weiß, dass viele der Befürworterinnen undBefürworter das weit von sich weisen. Ich unterstelle ih-nen sogar subjektive Aufrichtigkeit. Aber das ändertnichts an der objektiven Wirkung.

Insofern bin ich mir gar nicht sicher, ob wir heute imHohen Hause alle über das Gleiche reden. Drei Gesetz-entwürfe liegen uns vor. Alle drei behaupten, die PIDverbieten zu wollen, und führen dafür gute Gründe an:vorwiegend ethische, einige rechtliche. Dann aber öff-nen sich zwei der Gesetzentwürfe für Ausnahmeregelun-gen. Diese begründen sie vornehmlich – das war auchhier in der Debatte so – mit dem Leid, das sie denjenigenpotenziellen Eltern ersparen wollen, die bereits schwer-behinderte Kinder haben und/oder bei denen aufgrunderblicher Anlagen mit einer hohen Wahrscheinlichkeitdavon ausgegangen werden kann, dass sie keine gene-tisch eigenen Kinder haben können, die länger als einJahr lebensfähig sind.

Was also tun wir hier eigentlich? Rechnen wir Leidgegeneinander auf? Suchen wir einen Erträglichkeits-oder einen Unerträglichkeitskoeffizienten? Welchen Stel-lenwert hätte dabei die tief in das Bewusstsein und dasUnterbewusstsein vieler Menschen mit Behinderung ein-gegrabene tödliche Erfahrung der Euthanasie-Vergan-genheit?

Der Deutsche Behindertenrat, DBR, das Aktions-bündnis aller bundesweiten Behindertenorganisationen,wandte sich dieser Tage an jede und jeden von Ihnen,meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Die Vorsit-zende des DBR-Sprecherrates, Barbara Vieweg, betont:

Wir berücksichtigen die Konfliktlage einzelnerPaare, welche die Nutzung der PID aus einer indivi-duell schwierigen Situation erwägen. Jedoch hältnicht alles, was medizinisch-technisch möglich istoder erscheint, ethischen Kriterien stand.

Auch ich achte den Kinderwunsch jedes Paares. Undich kenne die Aussage, dass sich diese Untersuchungs-methodik keineswegs gegen bereits lebende Menschenmit Behinderung richte. Jedoch kenne ich Dutzende vonFrauen und Männern unterschiedlichen Alters, die ange-sichts der aktuellen Debatten und der damit verbundenenErwartungen nichts anderes denken und sagen könnenals: Hätte es diese Möglichkeiten schon vor meiner Ge-burt gegeben, gäbe es mich einfach nicht. – Sie nehmendie PID – übrigens auch viele Auswirkungen der Prä-nataldiagnostik, PND – sehr persönlich. Sie habenschlicht Angst, Angst, per Gesetz abgewertet zu werden.

Niemand bestreitet, dass ein Leben mit schweren Be-einträchtigungen nicht sonderlich wünschens- oder garerstrebenswert ist. Aber wer ein solches Leben hat, fürdie- oder denjenigen gibt es nichts Wichtigeres: Es istnämlich das einzige.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Es hat gute und weniger gute Tage, traurige und wenigertraurige Momente, Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse.So verwundert es nicht, dass es auch in dieser Personen-gruppe Einzelne gibt, denen ihr So-Sein und ihr Da-Seinlästig ist, die sogar sagen, dass es besser wäre, wenn sienicht geboren worden wären. Ja, das sind tragische Situ-ationen. Aber worin unterscheiden sich diese Menschenvon all den anderen, den nicht sichtbar – bzw. nicht aner-kannt – behinderten Menschen, die sich, aus welchenGründen auch immer, selbst nicht leiden können, dieständig mit sich hadern, die gegebenenfalls Selbstmordbegehen? Mir ist nicht bekannt, dass der Anteil solcher-art unglücklicher Menschen unter denen mit Behinde-rungen größer wäre als unter Nichtbehinderten.

Ich argumentiere nicht mit der großen Anzahl vonMenschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen.Ich argumentiere auch nicht mit dem Verhältnis vonglücklichen Eltern mit gesunden Kindern und der Müh-sal von Familien, denen die erforderliche Unterstützungbeim bedarfsgerechten Ausgleich behinderungsbeding-ter Nachteile nach wie vor vorenthalten wird. Ich argu-mentiere mit dem Menschenbild, das unserem Gemein-wesen zugrunde liegen sollte. Egal ob jemand GottesSchöpfung verehrt oder die Evolution als wundersamesGlück bzw. glückbringendes Wunder genießt: Die jedemMenschen unnehmbar innewohnende Würde, die Ein-zigartigkeit des Individuums, die Unausschöpfbarkeitder Persönlichkeitsentfaltung sollten uns Achtung vorder Fülle des Seienden gebieten, vor dem So-Seiendenund dem So-Werdenden.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich argumentiere mit diesem Menschenbild und der dar-auf fußenden Gesellschaftskonzeption des solidarischenMiteinanders. Jede und jeder von uns ist einmalig, unddeshalb gehören wir zusammen. Erst die Vielfalt, die ausuns allen besteht, macht die Menschheit aus. Das magpathetisch klingen. Aber darunter ist diese Debatte nichtzu führen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Es geht um unser humanes Selbstverständnis: Nehmenwir uns an, oder sortieren wir einander aus?

Selbstverständlich gibt es noch eine Reihe weitererguter Argumente für das uneingeschränkte Verbot derPID. Durchaus auch einige, die die künstliche Befruch-tung generell infrage stellen. Beispielsweise wegen derenormen psychischen und physischen Belastung auf-grund der hormonellen Stimulierung und der keineswegsgefahrlosen Eientnahme, denen sich die Frauen unterzie-hen müssen. Oder beispielsweise wegen der nach wievor geringen „Erfolgsquote“. Sie werden von anderenRednerinnen und Rednern vorgetragen und ausführlichbegründet.

Im Mittelpunkt meiner Argumentation steht das Men-schenbild; das sagte ich bereits.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege, darf ich auch Sie an die Redezeit erin-

nern?

Page 29: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11959

(A) (C)

(D)(B)

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin gleich fertig. –

Welche Erwartungen werden denn geweckt, wenn auchnur der Anschein entsteht, man könne die Geburt einesgesunden Kindes garantieren? Ich sagte bereits, dass ichjeden Kinderwunsch verstehe. Aber es gibt kein Rechtauf ein Kind, erst recht nicht auf ein makelloses Kind.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich meine, es gibt auch kein Recht auf ein genetisch „ei-genes“ Kind, allenfalls den Anspruch auf Elternschaft.Paaren, die Kinder wirklich lieben, muss ich sagen dür-fen: Adoptionen sind alles andere als „zweite Wahl“. InHeimen warten, ja hoffen viele Kinder auf liebevolle El-tern.

Leider muss ich meine Rede beenden, weil der Präsi-dent mich schon gemahnt hat. Aber ich denke, vielleichthabe ich einige Argumente genannt, die Sie berücksich-tigen können.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter Stein-

meier.

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

dieser Debatte ist spürbar, dass sich niemand die Ent-scheidung leicht macht. Ich finde, das gehört sich so.Wenn ein Parlament Entscheidungen treffen will, die dieletzten Grenzfragen des Lebens berühren und die ihmSelbstvergewisserung über die ethischen Grundhaltun-gen abverlangen, dann muss hier im Bundestag mit gro-ßer Ernsthaftigkeit gerungen werden.

Gerungen habe ich auch mit mir selbst. Wenn meinName auf dem Gruppenantrag von Frau Flach, HerrnHintze und Frau Reimann steht, dann sieht das nach gro-ßer Selbstverständlichkeit aus – selbstverständlicher, alses tatsächlich für mich war. In Wahrheit habe ich überJahre gezweifelt. Ich habe das strikte PID-Verbot sogar alsdie scheinbar klarere, jedenfalls viel leichter in der Öf-fentlichkeit zu vermittelnde Haltung angesehen. Gleich-wohl bin ich heute anderer Meinung. Aus meiner heuti-gen Sicht – und das nach vielen Gesprächen mitbetroffenen Familien, Ärzten, Medizinern und Ethikern –ist das strikte Verbot nicht die höherwertige ethischeHaltung.

Was vielleicht noch wichtiger ist: Das strikte Verbotlöst keine der Fragen, die in der Realität für die Familienbestehen – über die ist heute viel geredet worden – unddie wir uns nicht einfach hinwegwünschen können. Ichwill gleichwohl nicht verhehlen, dass die Argumentederer, die am Ende zu einem anderen Ergebnis kommen– auch die haben hier gesprochen –, schwer wiegen undnicht einfach vom Tisch gewischt werden können.

Wenn ich also nach einem langen Entscheidungs- undfür mich auch Erfahrungsprozess zu einer anderen Hal-tung als zu dem strikten Verbot komme, wenn ich bei

meiner persönlichen Abwägung zu einer anderen Ge-wichtung als diejenigen komme, die das strikte Verbotbefürworten, dann folgt das einem Grundsatz, der ein-fach klingt. Dieser Grundsatz lautet für mich, dass wirdenjenigen, die in äußerster Seelennot auf Hilfe ange-wiesen sind – und um die geht es –, diese Hilfe nicht ein-fach mit Hinweis auf konkurrierende Grundsätze ver-weigern können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden ebennicht über das Alltägliche, sondern wir reden über Fami-lien, in denen Eltern oder andere Angehörige eine eigeneschwerste Krankheit haben. Wir reden über Frauen, diebereits eine oder mehrere Tot- oder Fehlgeburten hatten.Wir reden über Menschen in verzweifelter Lage. Vielevon denen – das ist zuzugeben – meistern ihr persön-liches Schicksal irgendwie, manchmal jenseits ihrer ei-genen Kräfte. Es geht um diese Menschen, die das Ri-siko weiteren Leids vermindern wollen. Ich bin mir ganzsicher – nach den Gesprächen, die ich geführt habe, erstrecht –: Gerade diesen Menschen geht es nicht darum, zuselektieren oder gar zu töten – ganz im Gegenteil. Geradeihnen sollten wir glauben, dass es ihnen um Leben undum ein lebensfähiges Kind geht. Das ist mein Plädoyer indiesem Hause.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die entscheidende Frage, die wir beantworten müs-sen, lautet doch: Haben diese Familien nicht das Recht,das medizinisch Mögliche für sich in Anspruch zu neh-men? Gebietet uns nicht gerade der Respekt vor dem Le-ben, auch deren Lebens- und Leidensgeschichte mit inden Blick zu nehmen? Ist es nicht gerade unsere Auf-gabe, hier als verantwortliche Politiker den gesetzlichenRahmen dafür zu schaffen? Ich jedenfalls bin davonüberzeugt, dass wir einen solchen verlässlichen gesetz-lichen Rahmen brauchen.

Der Abgeordnete Meinhardt hat vorhin gesagt: Wirdürfen die Büchse der Pandora nicht öffnen. – Es istdoch genau umgekehrt: Die Büchse der Pandora ist auf-grund der Rechtsprechung sperrangelweit offen. Wirsind jetzt aufgerufen, den gesetzlichen Rahmen wieder-herzustellen, und dafür ist niemand anders verantwort-lich als dieses Haus, als genau dieses Parlament.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Verweigern wir uns der Aufgabe, diesen Rahmen zuschaffen, dann verweigern wir – das wird klar, wennman genau hinschaut – nicht nur die mögliche Hilfe inabsoluten Notlagen, über die ich vorhin gesprochenhabe, sondern dann verweisen wir Menschen auch aufWege, sich die Hilfe dort zu suchen, wo es an einemstrengen gesetzlichen Rahmen, den ich mir für uns wün-sche, fehlt.

Ein Wort zum Verweis auf die Gefahren des Miss-brauchs. Darauf ist in vielen Redebeiträgen heute einge-

Page 30: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier

(A) (C)

(D)(B)

gangen worden. Ich sehe die Gefahren des Missbrauchs;nur, auch das entlässt uns Parlamentarier nicht aus derVerantwortung, im Gegenteil. Ich würde sogar umge-kehrt sagen: Verantwortung von Staat und Politik ist esgeradezu, den Missbrauch von Möglichkeiten, die derGesetzgeber schafft, zu verhindern. Das gelingt uns dochauch tagtäglich im Umgang mit anderen medizinischenGrenzfragen. Vielleicht gelingt uns das hier bei uns inDeutschland sogar besser als anderswo.

Der Gesetzentwurf der Gruppe, der ich mich ange-schlossen habe, steht für dieses Verantwortungsbewusst-sein. Er formuliert ein generelles Verbot der Präimplan-tationsdiagnostik, definiert dennoch in sehr begrenztenund sehr besonderen Einzelfällen Ausnahmen von die-sem Verbot. Das geschieht nicht leichtfertig und nicht inVerkennung unserer Verantwortung für den Lebens-schutz, vielmehr in Verantwortung für die Menschen.

Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Julia Klöckner ist die nächste Rednerin.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Julia Klöckner (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, Sie sagten eben,es bedarf einer klaren gesetzlichen Regelung. Da sindwir uns alle einig. Es gibt allerdings unterschiedlicheVorschläge für eine klare gesetzliche Regelung. DieFrage ist: Wie soll die Regel aussehen?

Hauptsache gesund! Das ist wohl der normalsteWunsch der Welt, den Eltern haben, wenn sie ein Kinderwarten. Auch der Wunsch, die Politik möge Leid undTränen verhindern, ist ein hoher Wunsch. Die Politikwird ihn aber niemals vollends erfüllen können; dennzum Leben gehören auch Schattenseiten, gehört Leid.

Natürlich tun Eltern alles, damit ihr Kind gesundbleibt. Wenn es krank wird, tun sie alles, damit es wiedergesund wird, damit es geheilt wird. Wenn Heilung nichtmöglich ist, muss der Staat alles Mögliche tun, um El-tern mit beeinträchtigten Kindern so zu unterstützen,dass Leben angenommen werden und gelingen kann.

Mich hat das Gespräch mit Vertretern der Behinder-tenverbände sehr berührt. Sie sagten: Frau Klöckner,wenn es zu unseren Anfängen schon die PID gegebenhätte, dann würden ganz viele von uns heute nicht vorIhnen sitzen. Wir wollen nicht die Krankheiten, die wirhaben, auf irgendwelchen Listen finden, die es erlauben,dass unser Leben nicht gelebt werden darf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich finde, es ist ein sehr wichtiges und richtiges Zei-chen, dass heute der Behindertenbeauftragte der Bundes-regierung, Hubert Hüppe, anwesend ist; denn auch indiesen Bereich müssen wir den Blick wenden. Es gehtum Menschen mit Beeinträchtigungen, für die es einer

Lobby bedarf, die sich einsetzt; sie dürfen eben nicht in-frage gestellt werden.

Ist die Tür erst einmal geöffnet, ist der Damm ersteinmal gebrochen, dann wird es sehr, sehr schwer sein.Der Druck, der auf Frauen lastet, ein gesundes Kind zurWelt zu bringen, wird steigen. Es wird sehr häufig vonder Entlastung der Frauen durch die PID gesprochen,aber allzu selten hat man im Blick, was es für Frauenheißt, wenn sie sich gegen eine PID entscheiden. Auchdann könnten plötzlich Rechtfertigungen notwendigwerden. Wenn sich Eltern rechtfertigen müssen, warumein Kind geboren wird, das vermeintlich nicht perfekt ist– was auch immer in unserer Gesellschaft „perfekt“ hei-ßen soll –, dann macht mir das Sorge.

Die Frage danach, welches Leben glücklicher ist, dasLeben aus den Augen eines Kindes, das behindert ist, ei-nes Kindes, das schwerwiegend beeinträchtigt ist, oderaus den Augen eines Kindes, das nicht behindert ist,kann ich und können wir alle nicht beantworten. Ich be-zweifle auch, dass der Deutsche Bundestag eine Listevon Krankheiten festlegen kann, die dann der Grund da-für sind, ob ein Leben gelebt werden darf oder nicht ge-lebt werden darf.

Bedenke das Ende! Wenn man den ersten Schritt geht,sollte man auch im Auge haben, was daraus werdenkönnte. Es gibt Krankheiten wie zum Beispiel Mukovis-zidose. In früheren Zeiten haben Kinder mit dieserKrankheit gerade einmal das Grundschulalter erreicht.Heute gibt es Erwachsenenselbsthilfegruppen von Mu-koviszidosekranken. Ich selbst stehe einer solchenGruppe als Schirmfrau vor. Man kann auch feststellen,ob ein Mädchen, ob eine Tochter, die noch nicht geborenist, die genetische Veranlagung zu Brustkrebs hat. Aberwer sagt denn, dass dieser Brustkrebs überhaupt ausbre-chen wird oder ob man in 50 Jahren nicht eine Therapiedagegen hat? Klar ist: Wenn man bei der PID, bei demAussuchen und Aussortieren, Ja zu einem Kind sagt,dann sagt man gleichzeitig Nein zu einem anderen Kind,das nicht geboren werden soll. Das will ich nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derFDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Ich möchte den Blick auch auf das, was Leben aus-macht, wenden. Mir sagen mein Glaube und meine Lo-gik, dass das Leben ein Geschenk ist, ein Geschenk, dasnicht immer wieder neu gepackt werden darf, sonderndas angenommen werden sollte und angenommen wer-den muss. Da das Leben ein Geschenk ist, liegt auchdort, wo es vermeintlich nicht so perfekt ist, eine großeChance darin, dass wir Menschen begleiten und dass wirdas Antlitz der Gesellschaft so gestalten, dass sich Hu-manität im Nächsten zeigt und nicht im vermeintlichPerfekten. Deshalb trete ich klar für ein Verbot der PIDein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Page 31: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11961

(A) (C)

(D)(B)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun die Kollegin Ursula Heinen-

Esser.

Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibtPaare, die um ihre erbliche Vorbelastung wissen und sichdennoch von ganzem Herzen ein Kind wünschen. Viel-leicht haben sie keine andere Möglichkeit als die künst-liche Befruchtung. Vielleicht haben sie schon eine Fehl-geburt erlebt, vielleicht haben sie schon eine Totgeburterlebt. Vielleicht haben sie schon ein oder sogar zweischwerstbehinderte Kinder, um die sie sich liebevollkümmern. Diese Eltern verstehen nicht, dass eine Unter-suchung an einer befruchteten Eizelle, die außerhalb desMutterleibs nicht lebensfähig ist, verboten sein soll. Sieverstehen nicht, dass aber die Untersuchung des Kindesim Mutterleib trotz der etwaigen lebensbedrohlichenFolgen für das Kind, etwa bei der Fruchtwasseruntersu-chung, erlaubt, ja manchmal sogar notwendig ist. DieseEltern verstehen nicht, warum die Präimplantationsdia-gnostik verboten werden soll, während die Abtreibung,die Tötung des Kindes bis zur zwölften Schwanger-schaftswoche, gegebenenfalls sogar die Spätabtreibung,erlaubt ist. Hier erleben wir doch einen ganz klaren Wer-tungswiderspruch unseres Rechtssystems, sollte sich einPID-Verbot durchsetzen. Die Untersuchung der befruch-teten Eizelle nein, PND und Abtreibung ja – diesen Wi-derspruch empfinde ich als nicht akzeptabel, als men-schenunwürdig.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Bei der Abtreibung

– so schreibt ein führender Befürworter des Totalverbotsin einem Namensartikel für den Tagesspiegel; dieses Ar-gument klang auch hier immer wieder durch –

geht es … um die seelische Belastung der Mutter,die sich in einem schweren Konflikt befindet.

Deshalb sei die Abtreibung unter bestimmten Umstän-den erlaubt, und deshalb seien PID und Abtreibung nichtmiteinander vergleichbar.

Lassen Sie mich dazu aber festhalten: Die seelischeBelastung der Mutter beginnt und endet doch nicht miteiner Abtreibung. Die seelische Belastung der Mutterund des Vaters, die erblich vorbelastet sind, beginnt vielfrüher; Frau Flach hat vorhin ein sehr nahegehendes Bei-spiel genannt. Es geht um die seelische Belastung derMutter und des Vaters, die Sorge, ein nicht lebensfähigesKind wachsen zu sehen, die Angst, der Belastung durchein schwerstbehindertes Kind nicht gewachsen zu sein.Diese Eltern wünschen sich ein Kind – sehnlichst –, daseine Chance zum Leben bekommt. Sie wünschen sichnicht blaue Augen, auch nicht, ob es dick, dünn, großoder klein sein wird.

Es geht darum, dass ein Kind eine Chance zum Lebenbekommt. Dafür unterziehen sich die Mütter enormenkörperlichen Belastungen, einer oft schmerzhaften, auf-wendigen Behandlung, einer künstlichen Befruchtung.

Sie tun dies immer mit der Angst, das Kind zu verlieren.Die seelische Belastung einer Mutter, die Fehl- oder Tot-geburten erlebt hat, ist ebenso hoch wie die seelische Be-lastung einer Mutter, die eine Abtreibung durchführenlassen muss.

Aber es gibt einen enormen Unterschied: Die PND,verbunden mit einer Abtreibung, kann zu einem schwe-ren Trauma führen. Die PID hilft, diesen Konflikt abzu-wenden. Der Ethikrat hat in seinem Votum für eine be-grenzte Zulassung der PID geschrieben – ich zitiere –:

Die PID eröffnet einen Weg, das Trauma einesSchwangerschaftsabbruchs zu vermeiden …

Die Entscheidung steht für mich fest: Die PID ist einklares Ja zum Leben. Deshalb werbe ich für den Antragvon Ulrike Flach, Peter Hintze, Carola Reimann und vie-len weiteren Kolleginnen und Kollegen aus allen Frakti-onen.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt erhält nun das

Wort.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU undder SPD)

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Die Mutter eines behinderten Kindes fragt in Christ &Welt: Was empfinden Menschen wie mein Sohn ange-sichts solcher Debatten – sie, die sich besonders mühenmüssen, in dieser Welt zurechtzukommen, gerade weilsie etwas anders ticken, als es die Norm erfordert, diesich enorm anstrengen, dazuzugehören, und dabei dochimmer wissen, dass sie Sonderfälle sind, gnädigerweisealimentiert von der Gesellschaft? Mein Sohn muss zurKenntnis nehmen, dass er als Risiko definiert wird, dasses als Fortschritt gilt, wenn möglichst wenige seiner Artgeboren werden. – Und gleichzeitig der Satz eines Paa-res, das schon zwei Kinder mit einer schweren Behinde-rung hat: Ein weiteres, das schaffen wir einfach nicht,gerade weil wir die beiden so lieb haben.

Wer wollte heute schon entscheiden, was schwererwiegt? Kann das irgendjemand von uns denn wirklich?Suchen wir also nach Objektivem.

Vielleicht hilft ein Blick auf die Zahlen. Noch geht es,jedenfalls bis heute, um wenige Fälle. Auch dies kannfür beides sprechen. Als Argument für eine Zulassungkönnte man anführen: Die paar Fälle führen nicht zu ei-nem Dammbruch; die PID hilft den wenigen Betroffe-nen, die es schwer haben. – Man könnte aber auch dieFrage stellen: Sollten wir für die wenigen Betroffenen inunserer Gesellschaft so viel riskieren? Ich sage „so vielriskieren“, weil es, lieber Frank-Walter Steinmeier, nichtum einige wenige Grenzfälle geht, sondern um das, was

Page 32: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Katrin Göring-Eckardt

(A) (C)

(D)(B)

wir in der Mitte der Gesellschaft wollen bzw. zulassenwollen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Es geht auch nicht um die Frage, was öffentlich zu ver-mitteln wäre. Ich glaube, diese Frage wird hier keinerdiskutieren wollen. Warum also bin ich für ein Verbot?Ja, ich bin überzeugt, hier möchte niemand ein Designer-baby, hier möchte keiner eine auseinanderfallende Ge-sellschaft oder eine diskriminierende. Also suchen wirnach Anhaltspunkten!

Nein, die PID garantiert eben kein gesundes Kind. Siegarantiert noch nicht einmal eine Schwangerschaft.Nein, die PID ist nicht eine einfache Untersuchung, dieman halt über sich ergehen lassen muss, im Gegenteil:Sie ist für Frauen extrem belastend. Sie bedeutet immerwieder einen Eingriff, immer mehr Hormonbehandlung.Und sie bedeutet natürlich auch dann, wenn aussortiertwird, eine schwere seelische Belastung. Das, wasscheinbar unsichtbar in der Petrischale ist, ist eben fürdie Seele des Menschen im Zweifelsfall doch nicht we-niger als das, was bei einer Schwangerschaft geschieht.

Nein, Behinderung oder Krankheit werden nicht aus-geschlossen. Es kann auf einige wenige monogenetischeErkrankungen und Chromosomenanomalien untersuchtwerden. Allerdings weiß kein Mensch, ob sie jemals aus-brechen werden und, wenn ja, wie schwer sich dieKrankheit dann wirklich zeigt. Nein, PID wendet nichtLeid von Eltern und Kind ab; PID wendet das Kindselbst ab. Es wird aussortiert, weil es nicht der Normentspricht.

Und wichtig: Nein, die PID verhindert eben keineSpätabbrüche. Natürlich habe ich Verständnis für diePaare – sie begegnen uns zumindest in Berichten ganzhäufig –, die sagen: In dieses Risiko will ich mich nichtbegeben. – Aber gleichzeitig muss man sagen: Die aller-meisten werden sich später einer Pränataldiagnostik un-terziehen. Das ist übrigens eine Untersuchung, von derwir, als sie eingeführt wurde, gesagt haben: Das ist nurfür ganz, ganz wenige Ausnahmefälle. – Heute ist daseine Standarduntersuchung. Ich fürchte, dass es sich mitder PID ganz ähnlich entwickelt.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Es gibt keine Garantie, dass nicht andere schwere, aucherbliche Erkrankungen, eintreten. Und es gibt übrigensauch keine Garantie, dass Schädigungen am Embryodurch die PID selbst ausgeschlossen sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nein, es wird nichtbei wenigen Fällen bleiben – übrigens auch deswegennicht, weil wir diesen Unterschied gar nicht machenkönnen. Warum sollen die einen dann eigentlich dasRecht auf PID haben, und den anderen sprechen wir esab?

Und nein, ich halte auch die Grenzziehung bei der Le-benserwartung von einem Jahr nicht für möglich – übri-gens auch deswegen nicht, weil ich es zu schwierigfinde, zu entscheiden: Ist denn ein Tag Leben, sind fünfTage Leben oder neun Monate Leben weniger wert als

eineinhalb Jahre oder 2 Jahre oder 20 Jahre oder40 Jahre?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss darüber ge-sprochen werden, worum es tatsächlich geht, wie belas-tend die Untersuchungen sind, wie belastend die Ent-scheidung ist. Es darf nicht darüber geschwiegenwerden, was alles tatsächlich im Zweifelsfall untersuchtwerden kann – eben auch die Krebserkrankung. Warumsoll man eigentlich dann das nicht wissen wollen?

Und zuletzt, ja, natürlich wird es Druck geben – sowie es bei der PND Druck auf Frauen bzw. auf Paaregibt, diese Untersuchung durchführen zu lassen. Mit die-sem Druck wird ein Heilsversprechen verbunden, beidem wir abzuwägen haben. Wir haben abzuwägen, waswir damit auf der anderen Seite belasten, zerstören, ge-fährden.

Verbieten wir die PID, die letztlich alles verspricht,aber höchstens die Möglichkeit bietet, ein wenig dieChancen auf ein Kind zu erhöhen! Verbieten wir die PIDund machen wir sehr deutlich, worum es eigentlich inunserer Gesellschaft geht: die zu integrieren und dabei-haben zu wollen, die anders sind, oft glücklich sind, oftein gelingendes Leben haben und uns übrigens wissenlassen, dass auch wir nicht vollkommen sind, sonderndarauf angewiesen sind, dass ein anderer uns anschautund sagt: Ja, du bist ein Mensch, und es ist gut, dass duda bist.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Kollegin Krista Sager ist die nächste Rednerin.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte für den Gruppenantrag werben, für den auchFrank-Walter Steinmeier heute geworben hat, nämlichfür die begrenzte Zulassung der PID bei einer künstli-chen Befruchtung. Ich will ausdrücklich sagen: Vor eini-gen Jahren war ich gegen die Zulassung der PID, aberich habe meine Meinung geändert. Das möchte ich Ihnengerne erklären.

Bei meiner damaligen Ablehnung haben die Befürch-tungen eine große Rolle gespielt, die auch heute hier vonvielen geäußert worden sind. Es ging um die Angst voreinem moralischen Dammbruch, davor, dass man ir-gendwie auf eine schiefe Ebene kommt. Viele tun so, alswüssten sie ganz genau, was passiert, wenn wir die PIDbegrenzt zulassen würden. Nun leben wir ja nicht auf ei-ner Insel, und wir können feststellen, was in den Ländernpassiert ist, in denen es seit Jahrzehnten Erfahrungen miteiner begrenzten Zulassung gibt, was in fast allen ande-ren europäischen Ländern der Fall ist. Ob in Frankreich,in Großbritannien oder in den skandinavischen Ländern:Der befürchtete Werteverlust, vor dem ich selber Angstgehabt habe, ist da nicht eingetreten. Das können wir se-hen.

Page 33: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11963

Krista Sager

(A) (C)

(D)(B)

Herr Dr. Seifert, ich nehme das, was Sie hier gesagthaben, sehr ernst. Aber die Teilhabechancen von behin-derten Menschen sind in Deutschland nicht besser als inDänemark. Der Druck auf behinderte Menschen, ihr Da-sein zu rechtfertigen, ist in den skandinavischen Nach-barländern nicht größer als in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP undder LINKEN)

Wir müssen doch einmal feststellen, dass es keinenGrund gibt, einen deutschen Sonderweg des Totalver-bots der PID aufgrund von Befürchtungen zu gehen, diein unseren Nachbarländern offensichtlich schon wider-legt sind.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Wir können aufgrund der Erfahrungen in den Nach-barländern auch sehen: Es sind wenige Fälle, und es ste-hen ganz schwere persönliche Schicksale dahinter. Dasheißt, wir können davon ausgehen, dass es in Deutsch-land bei vielleicht 200 bis 300 Fällen bleiben wird. Jetztstellt sich doch die Frage: Wollen wir einen deutschenSonderweg gehen, um 200 bis 300 Frauen und ihrenPartnern die Möglichkeit zu verbieten, selbstbestimmtzu entscheiden, ob sie einen Antrag stellen, dass bei ih-nen aufgrund einer schweren erblichen Vorbelastungeine PID durchgeführt wird? Wollen wir gleichzeitig inKauf nehmen, dass bei einzelnen der gleichen Frauennach der 22. Schwangerschaftswoche möglicherweiseeine Situation eintritt, in der sie dann selbstbestimmt ent-scheiden sollen, ob es eine Spätabtreibung gibt? Ich sageIhnen: Das ist nicht verhältnismäßig und – gesetzlich ge-dacht – auch nicht konsistent. Das müssen wir doch ein-mal zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Wenn ich eine ganz persönliche moralische Bewertungabgebe, dann muss das nicht verhältnismäßig und viel-leicht auch nicht konsistent zu dem sein, was in den Ge-setzen steht. Aber als Gesetzgeber muss ich anders vor-gehen. Hier muss das Handeln konsistent sein. EineSpätabtreibung nach einer PND und ein Totalverbot derPID stehen nicht in einem angemessenen Verhältnis.

Noch etwas: Eine Religionsgemeinschaft kann vonihren Anhängern verlangen, dass sie entweder ganz aufKinder verzichten oder das Risiko eingehen, weitereTotgeburten oder weitere Fehlgeburten zu erleiden odereben ein mit einer schwersten Erbkrankheit belastetesKind auf die Welt zu bringen. Das kann eine Religions-gemeinschaft ihren Anhängern abverlangen. Ich bin aberder Meinung, der Gesetzgeber sollte dies nicht tun.

Es geht um eine ganz persönliche Gewissensentschei-dung von betroffenen Menschen in einer ganz schwieri-gen Konfliktsituation. Herr Dr. Krings, das kann manden Leuten nicht ausreden; das ist für die Menschen so.Herr Dr. Seifert, diese Menschen haben zum Teil schonschwerstkranke Kinder, die sozusagen dem Tod geweihtsind. Sie haben zum Teil schon durch eine schwere Erb-

krankheit Angehörige verloren. Glauben Sie, HerrDr. Seifert, dass diese Menschen, wenn sie gerne dieMöglichkeit zur PID hätten, damit ein Werturteil darüberabgeben, dass zum Beispiel das Leben ihres Brudersoder ihres eigenen geliebten Kindes bis zu seinem Todnichts wert war?

Es ist keine Wertentscheidung über behindertes oderLeben mit schweren Krankheiten. Es ist vielmehr dieMöglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung auseiner tiefen Konfliktsituation heraus. Ich bin der Mei-nung, es gibt hierbei nicht nur eine einzige wahre Moralfür jeden Einzelfall, die der Gesetzgeber durch ein Ver-bot wenigen Betroffenen aufoktroyieren muss.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP undder LINKEN)

Das ist meine persönliche Überzeugung in diesem Fall.Nach meiner Überzeugung sollten wir diesen wenigenBetroffenen mit guter Beratung, guter Information undmedizinischer Begleitung in kompetenten und lizensier-ten Zentren so gut es irgend geht zur Seite stehen, aberauch einen kleinen Türöffner für die Selbstbestimmungerhalten. Ich finde, sie haben das verdient.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler.

Kathrin Vogler (DIE LINKE):Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Frau Sager, diejenigen in diesemHause, die die Präimplantationsdiagnostik zulassen wol-len, argumentieren häufig mit dem Selbstbestimmungs-recht der Frau. Das treibt auch mich um, und ich finde,es ist ein Wert, den wir hier verteidigen sollten. Sie mei-nen, ein Verbot würde unverhältnismäßig stark in dasSelbstbestimmungsrecht der Frau über die eigene Fort-pflanzung eingreifen. Dieser Auffassung bin ich nicht.Das möchte ich erklären.

Wir reden doch hier über ein medizinisch-technischesVerfahren, in dem letzten Endes Medizinerinnen undMediziner und Ethikkommissionen die Entscheidungentreffen. Ich bin davon überzeugt: Je mehr Macht die Re-produktionstechnologie über den Körper der Frau erhält,desto geringer wird ihre Selbstbestimmung. Ich emp-fehle, die Erfahrungsberichte betroffener Frauen zu le-sen. Dann kann man nur schlucken.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Oft wird auch argumentiert, dass die PID Frauen vorSchwangerschaftsabbrüchen bewahren könnte. Dafürgibt es aber keinen Beleg. Schwangerschaften nach PID– das haben wir schon mehrfach gehört – gelten grund-sätzlich als Risikoschwangerschaften. Etwa die Hälfteder Frauen wird einer invasiven Pränataldiagnostik un-terzogen, zum Beispiel einer Fruchtwasserpunktion. AmEnde bekommt nur eine von fünf Frauen nach einer PIDtatsächlich ein Kind, und das nach all diesen Torturen.

Page 34: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Kathrin Vogler

(A) (C)

(D)(B)

Auch unterstellen Sie damit, dass Ärztinnen undÄrzte in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche aus-schließlich wegen einer möglichen Behinderung desKindes durchführen würden. Das wäre aber rechtswid-rig. Vor dieser Unterstellung muss ich die Ärztinnen undÄrzte in Schutz nehmen. Das tun sie nicht leichtfertig.

In der Stellungnahme des Ethikrates, die heute schonmehrfach zitiert worden ist, wird viel differenzierter ar-gumentiert, als es hier teilweise dargestellt wird. DerEthikrat hinterfragt nämlich sehr genau, ob die Fort-pflanzungsentscheidungen der einzelnen Frau tatsäch-lich als selbstbestimmt gelten können bzw. inwieweitdies der Fall ist. Denn schon bei der Frage, ob eine Frauüberhaupt ein Kind will, spielen gesellschaftliche Stan-dards, ökonomische Zwänge und Erwartungen des Um-felds eine entscheidende Rolle. Die von außen auf dieFrau einwirkenden Erwartungen und Zwänge beein-trächtigen die Selbstbestimmung. Mit den Möglichkei-ten der Präimplantationsdiagnostik werden meiner Auf-fassung nach diese fremdbestimmenden Elemente nocherweitert. Auch kritische Feministinnen warnen vorwachsendem Druck auf Frauen. Immer mehr würde ih-nen sogar so etwas wie eine Schuld zugeschrieben, wennsie trotz medizinischen Fortschritts beispielsweise einKind mit Downsyndrom geboren haben.

Wir alle kennen Beispiele für diesen Druck. So etwassei doch heute nicht mehr nötig, hat beispielsweise einVater aus meinem Wahlkreis zu hören bekommen. Mit„so etwas“ war sein Kind gemeint. Seiner Frau war wäh-rend der Schwangerschaft ein schwerstbehindertes Kindvorhergesagt worden. Wohl niemals werde es laufenkönnen, und vermutlich werde es die ersten Jahre nichtüberleben. Dieses Kind ist heute sieben Jahre alt undläuft mitsamt seiner Behinderung munter durchs Leben.Eine andere Mutter erzählte mir von ihrer Tochter, dieheute 28 Jahre ist und alleine selbstständig in einer Woh-nung lebt – mit Trisomie 18, einer Chromosomenstö-rung, die als klassisches Beispiel für eine früh zum Todeführende genetische Veränderung gilt.

Diese Beispiele zeigen doch, dass wir uns bei dieserganzen Debatte nicht auf Medizin oder Biologie als ex-akte Wissenschaften verlassen können, sondern dass wirdie gesellschaftliche Dimension dieser Technik in denMittelpunkt der Diskussion stellen müssen. Eine Zulas-sung der Präimplantationsdiagnostik bedeutet eben nichtnur eine weitere Wahlmöglichkeit für Frauen, sondernsie verändert auch unser gesellschaftliches Umfeld. Sieverändert unsere ganze Haltung gegenüber Schwanger-schaft, Geburt und Elternschaft. Sie weckt hohe Erwar-tungen und Hoffnungen, die in den meisten Fällen bitterenttäuscht werden. Sie verschärft die gesellschaftlicheErwartungshaltung gegenüber den Frauen, wirklich allesfür ein biologisch eigenes, gesundes Kind zu tun. Das istaus meiner Sicht ein überholtes Frauen- und Familien-bild.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Statt nun die Verantwortung für die Herstellung glei-cher Rechte und Teilhabechancen zu übernehmen undeine gerechtere und vor allem geschlechtergerechtere

Verteilung von unbezahlter Reproduktions-, Erziehungs-und Pflegearbeit sowie die Abwehr von Diskriminierungals gemeinschaftliche sozialstaatliche Aufgabe zu be-trachten, bürden wir diese Aufgabe den betroffenenFrauen individuell auf. Dazu muss ich sagen: Selbstbe-stimmung sieht für mich anders aus. Deshalb möchte ichSie bitten, den Gesetzentwurf für ein uneingeschränktesVerbot der Präimplantationsdiagnostik zu unterstützen.

Danke sehr.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, derCDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. PascalKober [FDP])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Christine Aschenberg-Dugnus hat das Wort.

Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

menschliche Dasein ist bestimmt durch körperlicheExistenzbedürfnisse wie Atmung, Schlaf, Nahrung undWärme, auch durch das Streben nach Sicherheit, Familieund Anerkennung und durch das Streben nach Realisie-rung eigener Wünsche und Sehnsüchte. In diesem Kon-text spielt das Streben nach Erkenntnis eine extremgroße Rolle. Das steckt in jedem von uns. Ein Verbotdieses Erkenntnisstrebens kann nur scheitern, genausowie man damit scheitern würde, den Wunsch nach Fort-pflanzung, den Wunsch nach Kindern zu unterdrücken.

Bereits Erkanntes kann man nicht unerkannt machen;denn das Rad der Erkenntnis kann man nicht zurückdre-hen. Nun sind wir seit geraumer Zeit an einem Punkt an-gelangt, an dem es die Wissenschaft möglich macht, einePID durchzuführen. Wir können jetzt nicht einfach auf„Löschen“ drücken und dieses Wissenschaftskapitel ver-schwinden lassen, schon gar nicht, wenn das Verfahrender PID in fast allen europäischen Ländern etabliert undzugelassen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Vielmehr ist es jetzt geboten, mit den möglichen Unter-suchungsmethoden verantwortungsvoll umzugehen –verantwortungsvoll und in engen Grenzen; denn nicht al-les, was möglich ist, ist ethisch vertretbar. Nur deshalbführen wir heute diese Debatte.

Müssen wir uns dem Wunsch einer Frau mit einer ge-netischen Vorbelastung verweigern, die weiß, dass siemithilfe eines Arztes herausfinden kann, ob bei demkünstlich erzeugten Embryo eine solche schwere geneti-sche Erkrankung vorliegt? Müssen wir das wirklich tun?Können wir einer Frau verwehren, den Embryo zu unter-suchen, wenn sie in der Vergangenheit bereits eine Tot-geburt in der 26. Schwangerschaftswoche hatte und auchschon ein Kind aufgrund einer schweren genetischen Er-krankung im Alter von drei Jahren verloren hat? Dassind ganz konkrete Beispiele. Alle, die wir hier sitzen,haben in den letzten Wochen und Monaten sehr vieledieser Beispiele gesehen, darüber gelesen und mit Be-troffenen gesprochen.

Page 35: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11965

Christine Aschenberg-Dugnus

(C)

(D)(B)

Muss man als Arzt wissentlich und absichtlich einenEmbryo einpflanzen, wenn man nicht ausschließen kann,dass es bei der Frau erneut zu einer körperlich wie see-lisch qualvollen Totgeburt kommt, obwohl es die PIDgibt? Ich denke, nein. Ein Untersuchungsverbot würdeeinen Wertewiderspruch bewirken; denn eine pränataleDiagnostik mit anschließender Spätabtreibung ist so-wohl ethisch als auch rechtlich erlaubt. Ein PID-Verbotwäre eine Verschiebung des ethisch-moralischen Kon-flikts, den jede Frau erlebt, auf die Zeit der Schwanger-schaft. Im Mutterleib wird dieser Konflikt dann zu lösenversucht, allerdings zulasten der Frau, die dann gezwun-gen ist, eine mögliche Totgeburt hinzunehmen oder eineSpätabtreibung vornehmen zu lassen. Denn das ist recht-lich und ethisch erlaubt, aber eben für die Frau erheblichbelastender. Deshalb sieht unser Entwurf vor, die PID inganz engen Grenzen zuzulassen.

Wenn von Teilen der Gesellschaft vorgebracht wird,man würde mit der PID Selektion betreiben, dann wirddie konkrete Situation der betroffenen Frauen verkannt;denn diese Frauen haben in den meisten Fällen schon ei-nen sehr langen Leidensweg hinter sich. Denken Sie andas Beispiel, das ich Ihnen eben genannt habe. Nein, mitder PID verfolgen wir ganz andere Ziele. Es geht einzigund allein darum, schweres Leid von Frauen abzuwendenund ihnen Totgeburt und Spätabtreibung zu ersparen. Esgeht gerade nicht darum, vollends gesunde Kinder zuschaffen, bei denen ausgeschlossen ist, dass sie – zu wel-chem Zeitpunkt auch immer – an irgendeinem Leiden er-kranken werden. Es geht einzig und allein darum, ganzbestimmte schwere Erbkrankheiten des Kindes zu erken-nen, Erbkrankheiten, die in der jeweiligen Familie mög-licherweise bereits aufgetreten sind. Es geht darum, un-sägliches Leid, seelische und körperliche Belastung vonden Frauen abzuwenden. Das ist meines Erachtensethisch vertretbar und im Sinne der Nächstenliebe ver-nünftig und human. Ich möchte Sie herzlich bitten, unse-ren Entwurf zu unterstützen.

Danke.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke.

Rudolf Henke (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Es sind viele Argumentevorgetragen, es sind viele juristische Aspekte beleuchtet,es sind viele medizinische Sachverhalte genannt worden.Ich will auf drei Punkte zu sprechen kommen, von denenich glaube, dass sie für jeden, der später in diesem Hausdie Entscheidung treffen muss, zentral sein werden.

Der erste Punkt betrifft die Frage der Würde. DieFrage, die wir uns stellen müssen, ist, ob Würde teilbarist, ob sie abstufbar ist, ob unser Grundgesetz vorsieht,dass Würde dadurch erworben werden muss, dass manbestimmte Qualitäten, Merkmale oder Eigenschaftenaufweist. Professor Klaus Diedrich, der Direktor der

Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Uni-versität Lübeck, einer der Befürworter der Präimplanta-tionsdiagnostik, hat in dieser Woche in einem Zeitungs-interview im Südkurier klar gesagt:

Das menschliche Leben fängt für mich durchausmit der Befruchtung an. Deshalb hat auch ein Em-bryo Würde. Aber es gibt Situationen, in denen dieWürde des Embryos zurücktritt hinter die Würdeder Mutter.

Ist das nicht die Aufforderung, zwischen unterschiedli-chen Graden von Würde abzuwägen, die dem Menschenzukommt? – Ich möchte das nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENund der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])

Nun sagen die Befürworter des Gesetzentwurfs zurZulassung der PID – das war auch in der Rede, die ge-rade gehalten worden ist, deutliches Votum –: Wir wol-len die Zulassung der PID in ganz engen Grenzen. Ichfrage: Wird es möglich sein, den Anspruch auf Zulas-sung „in ganz engen Grenzen“ in Einklang zu bringenmit der Selbstbestimmung der Mutter, mit der Selbstbe-stimmung des Vaters? Wie geht es Eltern, wenn sie ge-fragt werden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kindohne Downsyndrom? Wie geht es Eltern, die gefragtwerden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kind ohneMukoviszidose? Willst du lieber ein Kind, das mit hoherWahrscheinlichkeit später an die Dialyse muss, weil eseine polyzystische Nierenerkrankung erbt, oder willst dulieber, dass das Kind das nicht erbt? Willst du lieber einKind, das mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit Brust-krebs bekommt, oder lieber ein Kind, bei dem dieseWahrscheinlichkeit nicht gegeben ist? – Das sind dochdie Fragen, die, wenn das Wissen nicht ausgeschaltetwerden kann, zu beantworten sind.

Ich glaube – zweiter Punkt –, Eltern können immernur die besten Chancen für das Kind wollen, und siekönnen die beste Chance nicht nur in einer spezifischenSituation wollen. Deswegen glaube ich nicht, dass esmöglich ist, diese „ganz engen Grenzen“ so zu definie-ren, dass sie wirklich greifen und wirksam sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dritter Punkt: Ich weise darauf hin, dass zwar der Ge-setzentwurf, den Frau Flach uns vorgestellt hat, dafürwirbt, dass wir eine hohe Wahrscheinlichkeit für eineschwerwiegende Erbkrankheit als Voraussetzung habenmüssen. Aber was ist eine schwerwiegende Erbkrank-heit? Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass in dem zu-stimmend zitierten Text des Wissenschaftlichen Beiratsder Bundesärztekammer steht:

Die Bundesärztekammer wird in einer „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der Präimplantations-diagnostik“ Regelungen zum Indikationsspektrum

– und zu Weiterem –

treffen.

(A)

Page 36: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Rudolf Henke

(A) (C)

(D)(B)

Das heißt, es wird dann Festlegungen über das Indika-tionsspektrum geben. Sie werden auch nötig sein, weiles doch nicht zu tolerieren sein wird, dass in dem einenBundesland eine Ethikkommission sagt: „Du darfst le-ben“, und in einem anderen Bundesland eine Ethikkom-mission sagt: Du darfst nicht leben, obwohl du die glei-che Diagnose, die gleiche Lebenserwartung hast. – Wirwerden Indikationslisten bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Diese Indikationslisten werden sich darauf zurückführenlassen, dass wir hier diese Frage offengelassen haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie für eine Be-grenzung eintreten: Vielleicht ist diese Diskussion nochnicht weit genug geführt. Vielleicht ist es wirklich not-wendig, noch nach einem Weg zu dieser Begrenzung zusuchen; ich weiß das nicht. Vielleicht ist man in zehnJahren bei einer Begrenzung, die im Konsens gefundenwerden kann. Aber jetzt, in dieser Situation – der Bun-desgerichtshof hat jedes Handeln zugelassen –, musseine Entscheidung getroffen werden, die die Möglichkeitder Präimplantationsdiagnostik ausschließt. Das, meineich, müsste auch diejenigen überzeugen, die im Prinzipfür enge Grenzen eintreten, solange kein Weg beschrie-ben ist, wie diese ganz engen Grenzen wirklich zustandekommen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Hubertus Heil hat das Wort.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Ich finde, dass diese Debatte unse-rem Hause gut ansteht. Man kann hier zu unterschied-lichen Überzeugungen kommen. Es ist ein gutes Signal,auch für unsere parlamentarische Demokratie, dass wirheute gemäß Art. 38 unseres Grundgesetzes diskutieren.Das macht uns, den Abgeordneten, in unserer Verant-wortung deutlich, dass wir nicht an Aufträge und Wei-sungen gebunden sind, sondern Gewissensentscheidun-gen zu treffen haben.

Es ist gut, dass wir eine Debatte führen, wie ich finde,mit durchaus hohem Niveau, die deutlich macht, um waswir ringen und um welche Abwägung es geht. Ich willan dieser Stelle das, was mich umtreibt und was dazu ge-führt hat, dass ich die Meinung, die ich zu diesemThema hatte, revidiert habe, darlegen. Ohne vertiefteKenntnis, vor allen Dingen aber ohne persönliche Be-rührung hatte ich in der Vergangenheit das Gefühl, dassdas Verbot der Präimplantationsdiagnostik, das durch dieEntscheidung des Bundesgerichtshofs aufgehobenwurde, richtig und nachvollziehbar ist. Was mich bewo-gen hat, umzudenken, ist nicht das Urteil gewesen, son-dern was mich bewogen hat, umzudenken, ist eine per-

sönliche Erfahrung gewesen. Ich weiß, dass Politik nichtimmer nur aus Einzelschicksalen und persönlicher Er-fahrung Schlussfolgerungen ziehen kann, aber sie sindeben manchmal Anlass zum Umdenken.

In diesem Fall geht es um ein befreundetes Paar, dasich vor einigen Jahren begleiten musste. Die beiden, dienach wie vor meine Freunde sind, hatten und habensehnlichst einen Kinderwunsch, waren hocherfreut, alssich dieser Kinderwunsch erfüllte, wussten aber nicht,dass das Kind eine Erbkrankheit hatte, erblich vorbelas-tet war, und mussten miterleben, dass dieses Kind auf-grund einer fortschreitenden unheilbaren Muskelerkran-kung wenige Wochen nach der Geburt qualvoll sterbenmusste. Ich war bei der Beerdigung, und das war etwas,was mich tief erschüttert hat.

Ich habe erlebt, wie es diesem Paar im Weiteren er-gangen ist und ergeht. Die beiden haben nach wie vor ei-nen Kinderwunsch. Sie haben aufgrund dessen, was sieerlebt haben, feststellen müssen, dass sie beide unglück-licherweise eine genetische Disposition haben, nach derdie Wahrscheinlichkeit, dass das wieder passiert, unge-fähr 80 : 20 beträgt. In der Realität des Lebens haben sienun drei Optionen: Erstens können sie es noch einmalversuchen – mit der Wahrscheinlichkeit von 80 : 20 undübrigens unter Inkaufnahme dessen, dass man es in die-sem Wissen im Zweifelsfall auf eine Spätabtreibung an-kommen lassen muss. Die zweite Möglichkeit ist – dashat etwas mit Lebensrealität zu tun; das wäre bei unsrechtswidrig und bliebe nach den Gesetzesvorschlägen,die vorliegen, rechtswidrig –, mit dem entsprechendenGeld nach Belgien oder nach Israel zu gehen, wie es – re-den wir offen darüber! – viele Paare in Deutschland inder Vergangenheit getan haben. Die dritte Möglichkeitist, sich den Wunsch nach einem eigenen Kind zu versa-gen.

Meine Damen und Herren, ich bin für eine begrenzteZulassung der Präimplantationsdiagnostik genau ausdieser Lebensrealität heraus. Ich finde, dass man zu un-terschiedlichen Überzeugungen kommen kann. Michlässt nicht unberührt, was Behindertenverbände an Be-fürchtungen und Erwägungen genannt haben – vieleKolleginnen und Kollegen haben es zitiert –; ich bin nurder festen Überzeugung, dass wir als deutsches Parla-ment diesen Befürchtungen nicht entgegentreten, indemwir das, was in der begrenzten Zahl solcher Fälle an Hil-fen notwendig und menschlich vertretbar ist, verwei-gern.

Es ist etwas anderes, was notwendig ist, um Men-schen mit Behinderungen in diesem Land eine diskrimi-nierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zuermöglichen. Der Blick in Länder, in denen die PID zu-gelassen ist – ich glaube, die Kollegin Sager hat es vor-hin zitiert –, macht deutlich, dass es nicht die PID ist, dieDruck auf behinderte Menschen macht. Es gibt darunterLänder, in denen Menschen mit Behinderungen besserleben können und weniger Diskriminierung ausgesetztsind als in unserer deutschen Gesellschaft. Vielleichtgeht es um ein paar andere Themen der Teilhabe, um diewir uns miteinander kümmern müssen – von der Antidis-kriminierungsgesetzgebung bis hin zur Teilhabe am

Page 37: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11967

Hubertus Heil (Peine)

(A) (C)

(D)(B)

schulischen und beruflichen Leben. Das ist eine Verant-wortung. Ich bitte alle, die dieses Argument nennen, ausberechtigten Erwägungen, sich mit uns gemeinsam die-sen anderen Themen zuzuwenden.

Für mich ist entscheidend, dass wir in der Präambelunseres Grundgesetzes gemahnt werden, uns unsererVerantwortung vor Gott und den Menschen bewusst zusein. Nun geht es hier um sehr persönliche Überzeugun-gen. Ich weiß, dass hier auch viele Christen gesprochenhaben – auch ich bin evangelischer Christ –, die auf derGrundlage ihres gemeinsamen Glaubens zu unterschied-lichen Schlüssen in dieser Frage kommen. Das ist zu ak-zeptieren. Meine Bitte ist nur, dass wir in diesem Parla-ment weiterhin die Fairness wahren und uns nichtgegenseitig die Argumente absprechen.

Ich bedanke mich ganz herzlich bei Frau Flach, FrauReimann, Herrn Hintze und anderen, die diesen Gesetz-entwurf zustande gebracht haben.

Zum Schluss habe ich einen Appell. Heute ist dieerste Lesung der Gesetzentwürfe, dann folgen die Aus-schussberatungen, und am Ende werden wir im Plenumzu einer Entscheidung kommen müssen. Meine Bitte andie Kollegen Hinz und Röspel ist, darüber nachzuden-ken, ob die Unterzeichner beider Gesetzentwürfe nichtnoch einmal miteinander ins Gespräch kommen können.Der Fall, den ich genannt habe, wäre von dem Gesetz-entwurf von Röspel und Hinz übrigens abgedeckt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege!

Hubertus Heil (Peine) (SPD):Ich habe aus anderen Gründen dem anderen Gesetz-

entwurf zugestimmt. Aber bevor es zu einem absolutenVerbot der PID in Deutschland kommt, bitte ich, dasswir noch einmal miteinander sprechen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Markus Kurth hat jetzt das Wort.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben gerade in der Rede von Herrn Heil wie auchin einigen anderen Beiträgen von Befürwortern einerFreigabe der PID die Schilderung eines tragischen indi-viduellen Elternschicksals gehört, das – so will ich hierganz deutlich sagen – auch mich nicht unberührt lässt.Ich war in den letzten Wochen und Monaten bei mehre-ren Diskussionsveranstaltungen und Versammlungen,wo ich mit Eltern zusammengetroffen bin, die eine erbli-che Vorbelastung und gleichzeitig einen starken Kinder-wunsch haben. Ich habe diesen Eltern auch gesagt, dassich als Teil des Gesetzgebers ihre Perspektive nicht un-hinterfragt komplett übernehmen kann, sondern dass icheine Abwägung vornehmen muss: zwischen ihremWunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, und der – ichführe das noch aus – Infragestellung der Menschen-

würde durch die Entscheidung, ob ein Leben lebenswertist oder nicht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Im Verlauf dieser Debatte ist diese Abwägung vonden Befürwortern einer begrenzten Freigabe der PID ausmeiner Sicht nicht vorgenommen worden, obwohl HerrHintze eingangs davon gesprochen hat. Sie blieben viel-fach bei der rhetorischen Frage stehen, mit welchemRecht man den Eltern verbieten könne, die medizini-schen und wissenschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen.Man hätte auf diese rhetorische Frage durchaus eineAntwort finden können, und zwar in Art. 1 Abs. 1 desGrundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantast-bar.

Die Frage ist, ob die Würde des Menschen teilbar istoder nicht. Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand indieser Debatte gesagt hätte, ein Embryo, auch wenn ersich extrakorporal in der Petrischale befindet, habe keineMenschenwürde. Jerzy Montag hat ausgeführt, dieMenschwerdung sei abhängig von dem Zusammenwir-ken der Frau und des Embryos; aber er hat nicht gesagt,dass dem Embryo keine Menschenwürde zuerkannt wer-den würde. Wenn es so ist, dass wir auch diesem Embryodie Menschenwürde zuerkennen, dann müssen wir fra-gen: Welche Folgen hat es, wenn wir gegenüber einemmenschlichen Leben, das die Menschenwürde genießt,Lebenszustände beschreiben, die wir als lebenswert odernichtlebenswert definieren? Aus meiner Sicht wird hierder Rubikon überschritten und eine noch gar nicht abzu-sehende, bahnbrechende Wertentscheidung vorgenom-men, die nicht nur das Leben an seinem Anfang betrifft,sondern auch Folgen haben wird für das Ende des Le-bens.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, derSPD und der LINKEN)

Wenn wir uns erst einmal anmaßen, Lebenszuständeals lebenswert oder nichtlebenswert zu definieren, dannwerden wir – das ist meine Überzeugung und auch Be-fürchtung – die Folgen nicht eingrenzen können. Durchkeine Ethikkommission und keine Beschreibung vonEinzelfallentscheidungen wird das in den Griff zu be-kommen sein.

Frau Sitte, ich nehme Ihnen ja ab, dass die betroffe-nen Eltern, wie Sie es sagten, keine populationsgeneti-schen Überlegungen anstellen. Ich will Ihnen natürlichauch nicht unterstellen, dass Sie der Euthanasie oder der-gleichen nahestünden. Aber die Frage ist doch, ob sichnicht ein gesellschaftliches Bild vom menschlichen Le-ben Bahn bricht, auf dessen Grundlage am Ende Nütz-lichkeitsentscheidungen getroffen werden.

(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] –Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist dochschon lange so!)

Der Druck auf das Gesundheitssystem – Stichwort„knappe Ressourcen“ – wird möglicherweise ein Übri-ges tun. Dies ist schon jetzt bei der PND der Fall, wo,

Page 38: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Markus Kurth

(A) (C)

(D)(B)

mehr oder minder unausgesprochen, bestimmte Fragenvon Ärztinnen und Ärzten gestellt werden. Wenn wireinmal die Menschenwürde infrage gestellt haben, danngibt es gegenüber denjenigen, die aus gesundheitsökono-mischen Überlegungen die PID vorantreiben wollen,keine Haltelinie mehr.

In Bezug auf Menschen mit Behinderung befürchteich eine Perspektivverschiebung. Frau Molitor hat völligzu Recht gesagt, dass nur ein Bruchteil der Behinderun-gen von genetischen Defekten abhängig ist. Die Frageist, wie wir mit dem Thema Behinderungen in der gesell-schaftlichen Diskussion zukünftig umgehen wollen,wenn wir die PID als Möglichkeit haben. Behinderungenwerden dann als vermeidbares Leid thematisiert, als et-was Defizitäres, Mangelhaftes und Auszusortierendes.Ich befürchte, dass dieser Perspektivwechsel, was Men-schen mit Behinderungen angeht, eine Gesellschaft be-wirkt, die den Begriff der Menschenwürde nicht mehrvorbehaltlos trägt und die uns dann allen möglicherweisenicht mehr die Lebensqualität und die Würde bietet, diewir eigentlich von ihr verlangen.

Ich bitte um Unterstützung für ein vollständiges Ver-bot der PID.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, derSPD und der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat Dr. Helge Braun.

Dr. Helge Braun (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist keine einfache Debatte, auch nicht für mich; dennin meinem beruflichen Leben als Narkosearzt habe iches stets abgelehnt, an Abtreibungen teilzunehmen.

Das Lebensrecht von Menschen hat selbstverständ-lich auch für mich eine hohe Bedeutung. Vieles, was hierüber Menschen mit Behinderungen und über deren Le-bensfreude und Lebensrecht gesagt worden ist, teile ichuneingeschränkt. Ich sehe auch den Rechtfertigungs-druck von Eltern, die ein Kind mit Behinderung ange-nommen haben.

Wir müssen natürlich zunächst vom Embryo ausge-hen und über sein Lebensrecht sprechen. Die Rechtslagein Deutschland ist heute so – das ist der Grund, warumes ein entsprechendes Urteil gegeben hat –, dass es einAbtreibungsrecht, das eine Fristenregelung und eine so-ziale Indikation vorsieht, gibt. Das bedeutet: Das Le-bensrecht eines Embryos, den wir im Rahmen der PIDnicht untersucht haben, aber dann im Rahmen einer Prä-nataldiagnostik untersucht haben, kann beschnitten wer-den und eine Abtreibung zur Folge haben. Diese Abtrei-bung gilt es zu vermeiden. Es gilt auch, eine hohe Zahlvon Tot- und Fehlgeburten zu vermeiden. Für diese gel-ten in Deutschland zwar keine absolut gesehen hohenZahlen; sie kommen aber besonders häufig bei Elternmit einem spezifischen erblichen Vorbelastungsprofilvor.

Es ist natürlich nicht so, dass die PID heilsbringendist. Sie wird sich auch aufgrund der geringen Zahl derBetroffenen nicht positiv auf die Gesamtstatistik inDeutschland auswirken. Sie bedeutet eine ganz individu-elle Verbesserung und Linderung von Leid aufgrund vonFehl- und Totgeburten und bewirkt die Vermeidung vonAbtreibungen in einem ganz konkreten Indikationskon-zept.

Einige sprechen hier von einem Dammbruch. Im Ver-hältnis zur Abtreibung muss man sagen: Der Damm-bruch ist garantiert nicht die PID; denn die PID wird indem Gesetzentwurf deutlich schärfer reguliert, als diesim allgemeinen Recht der Fall ist. Dies gilt in dreifacherHinsicht: Erstens. Der im Gesetzentwurf genannte Per-sonenkreis ist im Vergleich zum Abtreibungsrecht deut-lich stärker eingegrenzt. Zweitens. Die Gründe, die zurNichteinpflanzung führen könnten, sind im Gesetzent-wurf deutlich strenger geregelt als die Gründe, nach de-nen eine Abtreibung möglich wäre. Drittens. Das Sta-dium, in dem die PID durchgeführt wird, ist dasVorembryonalstadium, nicht das Embryonalstadium.Das sind drei Punkte, die zeigen, dass die vorgelegte Re-gelung zur PID aus ethischer Sicht ein weniger starkerEingriff ist als die Regelungen zur Abtreibung.

Meine Damen und Herren, deshalb muss man sich nurnoch mit der Frage beschäftigen: Wird die Anwendungder PID irgendwann ausgeweitet, kommt es irgendwanndazu, dass sie in einem deutlich breiteren Spektrum an-gewendet wird? Wer sich die Zahlen anschaut und sieht,welche Beschwernisse mit einer künstlichen Befruch-tung – mit der Gewinnung der Eizellen, der Befruchtungund der Implantation – verbunden sind, der weiß, dass eshier überhaupt nicht darum geht, ein gesundes Kind zugarantieren. Vielmehr ist es der Versuch, eine höhereWahrscheinlichkeit zu erzielen, ein lebensfähiges Kindzu bekommen. Auch mit der PID – das ist hier gesagtworden – liegt die Wahrscheinlichkeit, dass betroffenePaare ein lebensfähiges Kind bekommen, nur bei einemDrittel bis 50 Prozent. Das heißt, die befürchtete schöneneue Welt, in der Kinder in wundervoller Weise gezeugtwerden, ist mit der Technologie der PID nicht umsetzbar.Schon deshalb gibt es eine Begrenzung.

Wir haben heute viele Argumente zu diesem Themagehört. Mir ist wichtig, eine weitere Frage in den Mittel-punkt zu stellen: Ist es die Aufgabe des Deutschen Bun-destages, diese Gewissensentscheidung für die Bevölke-rung insgesamt zu treffen, oder steht hier eineindividuelle Gewissensentscheidung im Vordergrund?

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause –Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es ist einRecht, ein Lebensrecht!)

Ich sage: Es ist eine individuelle Gewissensentschei-dung. Sie korrespondiert mit dem bestehenden Abtrei-bungsrecht.

Eine Fristenregelung, die Ärzte in die Verantwortungbringt, über Studien Erkenntnisse zur Lebenserwartungzu ermitteln, die quasi rechtsetzenden Charakter erhal-ten, halte ich für falsch. Deshalb ist eine Einjahresfristnicht geeignet. Vielmehr muss es, selbstverständlich auf

Page 39: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11969

Dr. Helge Braun

(A) (C)

(D)(B)

der Grundlage von Leitlinien der Ärztekammer, zu einerindividuellen Beratung, einem individuellen Gesprächund einer individuellen Gewissensentscheidung kom-men. Deshalb bitte ich um Zustimmung zum Gesetzent-wurf von Frau Flach und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Elke Ferner hat das Wort.

Elke Ferner (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Auch wenn man wie ich für ein sehr weit gehendesSelbstbestimmungsrecht der Frau ist – da geht es mirganz ähnlich wie Biggi Bender –, kann man für ein Ver-bot der Präimplantationsdiagnostik eintreten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Es wurde auf die Praxis in anderen Ländern und diesicherlich unbestreitbar schwierige Situation der Frauenverwiesen, die bereits mehrere Fehlgeburten hatten undsich trotz ihrer eigenen genetischen Disposition oder derdes Partners ein gesundes Kind wünschen. Die PID istaber nur scheinbar geeignet, dieses individuelle Leid zuvermeiden. Durch die In-vitro-Befruchtung besteht dieMöglichkeit, die künstlich erzeugten Embryonen zuerstauf mögliche genetische Schäden zu untersuchen, umdann der Frau nur gesunde Embryonen zu implantieren.Die Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnostik istdie In-vitro-Befruchtung. Die Indikation hierfür ist zu-mindest bisher die Unfruchtbarkeit der Frau, in besonde-ren, eingeschränkten Fällen auch die Unfruchtbarkeitdes Mannes; die genetische Disposition müsste erst hin-zutreten.

Die nächste Frage, die zu beantworten ist: Käme dieseMethode dann für alle Frauen mit einer entsprechendengenetischen Disposition in Betracht? Das ist nicht derFall; denn unverheiratete Frauen haben derzeit, zumin-dest wenn sie in der gesetzlichen Krankenversicherungversichert sind, keinen Zugang zur In-vitro-Befruchtung.

(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn man die Präimplantationsdiagnostik befürwortet,darf man aus meiner Sicht keinen Unterschied machenzwischen Frauen, die verheiratet sind, und Frauen, dienicht verheiratet sind;

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leid von un-verheirateten Frauen, ihr Kinderwunsch und ihr Wunsch,ein gesundes Kind zu bekommen, sind doch nicht da-durch geringer, dass sie keinen Trauschein haben.

Das Nächste, was man sich fragen muss: Was passiertdenn, wenn die drei Versuche, die bisher von den Kassenbezahlt werden, ausgeschöpft sind, ohne dass es zu einerSchwangerschaft oder einem Kind, das gesund geboren

worden ist, gekommen ist? Was ist denn mit den Paaren,die nicht den entsprechenden finanziellen Hintergrundhaben? Auch die werden die PID nicht in Anspruch neh-men können.

Die Behandlung – das ist eben schon gesagt worden –ist für die Frauen eine sehr, sehr große psychische undphysische Belastung, und sie ist auch nicht frei vonKomplikationen. Wie einer Stellungnahme des Gemein-samen Bundesausschusses zu entnehmen ist, haben Kin-der, die mit der In-vitro-Befruchtung gezeugt werden,statistisch ein signifikant höheres Fehlbildungsrisiko alsKinder, die auf normalem Wege gezeugt worden sind.Insofern, glaube ich, ist das auch ein Punkt, der zu dieserDebatte gehört.

Die Frage ist aber auch: Wie wird es weitergehen? Ichbin der festen Überzeugung, dass Paare mit einer ent-sprechenden genetischen Disposition genauso wieFrauen, die heute ein gewisses Lebensalter überschrittenhaben, dann quasi mehr oder weniger in die PID hinein-gedrängt werden, so wie Frauen, die älter als 30 sind,heute in vielen Fällen in die Pränataldiagnostik hineinge-drängt werden, ob sie das nun wollen nicht.

(Zuruf von der FDP: Quatsch!)

Eines sage ich Ihnen auch voraus: Schon allein ausGründen des Haftungsrechts bei den Ärzten wird nachder PID, wenn es zu einer Schwangerschaft gekommenist, die PND als Kontrollmethode, als Kontrolldiagnoseweiterhin stattfinden.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau! Eben!)

Insofern werden mit dieser Diagnostik auch keine Spät-abbrüche vermieden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Deshalb sollten diejenigen, die das befürworten, sichnoch einmal überlegen, was da passiert. Nicht alleFrauen in Deutschland werden den Zugang zu der Diag-nostik haben, also zum Beispiel Nichtverheiratete,Frauen, die drei Versuche ausgeschöpft haben. Nicht alleBehinderungen können ausgeschlossen werden, nichtalle sogenannten Spätabbrüche vermieden werden. DerTourismus wird nicht ausgeschlossen werden können,und es ist auch keine selbstbestimmte Entscheidung derFrau. Es ist keine selbstbestimmte Entscheidung, wennam Ende eine Kommission darüber entscheidet, ob eineFrau diese Diagnostik in Anspruch nehmen darf.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Nicht die Frau entscheidet darüber, sondern eine Kom-mission entscheidet darüber, unter welchen Bedingun-gen die Diagnostik angewandt werden darf.

Das viel Schwierigere aus meiner Sicht sind Fragenwie: Wie stehen wir zu Menschen mit Behinderung inunserem Land? Das ist für mich am Ende der ausschlag-gebende Punkt. Ich sage: Zu der Vielfalt in unserer Ge-sellschaft gehört eben auch menschliches Leid. Es gehö-ren auch Menschen mit Behinderung dazu. Ich möchte

Page 40: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Elke Ferner

(A) (C)

(D)(B)

nicht, dass sich Eltern, die sich bewusst für ein Kind mitBehinderung entscheiden, dafür rechtfertigen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte nicht, dass Menschen mit Behinderung, dieTeil unserer Gesellschaft sein wollen oder es sind, oderihre Eltern sich rechtfertigen müssen und ihnen vorge-halten wird, dass das alles unter Anwendung der PIDnicht hätte sein müssen. Das gehört mit dazu, auch wenndamit menschliches Leid verbunden ist. Das gehört ausmeiner Sicht zur Vielfalt unserer Gesellschaft dazu. Wirsind keine perfekte Gesellschaft. Ich finde, wir solltenauch nicht eine Gesellschaft wollen, die nur aus perfek-ten Menschen besteht.

Schönen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

(Beifall bei der FDP)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Fast am Ende der Debatte scheinen zur Zulässig-keit der Präimplantationsdiagnostik fast alle Argumentevorgetragen zu sein. Ich stehe hier auch, um den Antragvon Frau Flach und vielen anderen zu unterstützen. Fasstman die Vielfalt der Meinungen zusammen, mag mandem Deutschen Ethikrat in seiner einhelligen Feststel-lung zustimmen, dass der verfassungsrechtliche Statusdes Embryos in vitro, auf den es bei der Problematik derPID ankommt, derzeit nicht streitfrei bestimmt werdenkann. Oder anders ausgedrückt: Die Problematik derPID ist nicht durch Rückgriff auf einen eindeutigen ver-fassungsrechtlichen Status des Embryos zu klären.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Zu sehr ist der Diskurs zur PID und zum Rechtsstatusdes Embryos in vitro von vorrechtlichen, metaphysi-schen, ja religiösen Festlegungen, Erwägungen und Vor-stellungen durchsetzt, als dass er derzeit einem breitengesellschaftlichen Konsens zugänglich wäre.

Wenn auch nicht ganz unerwartet, so erstaunt dieseUneinigkeit insofern, als gerade wir, der deutsche Ge-setzgeber, im Rahmen der letzten Neufassung des § 218des Strafgesetzbuches den Schutzbedarf und den Schutz-umfang des Embryos in vivo in einer Weise zur rechtli-chen Geltung gebracht hatten, die ausweislich des ent-sprechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts mitden Forderungen des Grundgesetzes in Einklang steht.Auch das 1991 und zuletzt 2001 geänderte Embryonen-schutzgesetz folgt dieser offensichtlich verfassungskon-formen Linie. Genau auf dieser Linie liegt auch die Ent-scheidung des Bundesgerichtshofs vom Juli 2010.Obgleich, wie der Bundesgerichtshof darlegt, dem Wort-

laut des geltenden Rechts weder eine eindeutige Ableh-nung noch eine eindeutige Billigung der PID zu entneh-men ist, schließt der Bundesgerichtshof – das möchte ichnoch einmal betonen; nach meiner Ansicht zu Recht –aus der in § 3 Abs. 2 des Embryonenschutzgesetzes nor-mierten Ausnahme vom Verbot der Geschlechterauswahldurch Verwendung ausgewählter Samenzellen, dass derGesetzgeber sehr wohl den aus den Risiken von Erb-krankheiten resultierenden Konfliktlagen der ElternRechnung tragen wollte.

Damals formulierten wir, der Gesetzgeber, unmiss-verständlich, es könne einem Ehepaar nicht zugemutetwerden, sehenden Auges das Risiko einzugehen, einkrankes Kind zu bekommen, wenn künftig die Möglich-keit bestehen sollte, durch Spermienselektion ein gesun-des Kind zur Welt zu bringen. Der urteilende Senat desBundesgerichtshofs konnte wegen der insoweit vom Ge-setzgeber schon damals getroffenen Werteentscheidungund dazu gegebenen Begründungen eben nicht anneh-men, dass der Gesetzgeber, der die extrakorporale Be-fruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft imEmbryonenschutzgesetz ohne weitere Voraussetzungenerlaubt hat, die zur Verminderung gravierender Gesund-heitsrisiken geeignete PID an pluripotenten Zellen ver-boten hätte, wenn sie seinerzeit schon zur Verfügung ge-standen hätte.

Es ist ein weiterer Blick notwendig auf § 15 Abs. 1Satz 1 des im Wesentlichen am 1. Februar 2010 in Kraftgetretenen Gendiagnostikgesetzes, wonach vorgeburtli-che genetische Untersuchungen während der Schwan-gerschaft ausdrücklich erlaubt sind. Auch daraus war derBundesgerichtshof ein gesetzliches Verbot der PID her-zuleiten nicht in der Lage; denn sonst hätte es der Ge-setzgeber auch damals, 2010, ausdrücklich gesagt.

Nach diesen einschlägigen Entscheidungen folgt mei-ner Auffassung nach, dass das der bestehenden Rechts-lage zugrunde liegende Embryonenschutzkonzept undder Rechtsstatus des Embryos auf die zur Herbeiführungeiner Schwangerschaft strikt begrenzte und deshalb zu-lässige PID übertragbar ist. Aus meiner Sicht kann einPID-Gesetz nur den Sinn haben, auf der Basis des vomgeltenden Recht umfassten Schutzkonzeptes die Voraus-setzungen und Bedingungen, unter denen die PID recht-mäßig zur Anwendung kommen darf, zu präzisieren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Mein letzter Satz: Ein Verbot der PID würde die be-stehende Rechtslage gravierend ändern, würde unerklär-bare, höchst problematische Wertungswidersprüche imFortpflanzungsrecht erzeugen und würde genau das tun,was der deutsche Gesetzgeber doch eigentlich als unzu-mutbar ausschließen wollte,

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind aber heute der Gesetzgeber!)

nämlich hartherzig die Augen vor dem unsäglichen Leidder Eltern zu verschließen, die dann ihren legitimenKinderwunsch aufgeben oder nur durch künstliche Be-fruchtung unter dem Risiko schwerer und schwerster,

Page 41: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11971

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

(A) (C)

(D)(B)

zuweilen tödlicher Erbkrankheiten des Kindes erfüllenkönnten.

Deshalb unterstütze ich den Gesetzentwurf von FrauFlach und vielen anderen aus tiefster Überzeugung.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am Ende einer langen und sehr ernsthaften Debattemöchte ich noch einmal ein paar zentrale Fragen aufgrei-fen.

Erstens. Wann ist der Mensch ein Mensch? Jeder vonuns, die wir hier sitzen, war einmal ein Zellhaufen, auchwenn der uns, so wie wir jetzt aussehen, völlig unähnlichist. Aber: Wie ähnlich werde ich eigentlich als 90-jährigeGreisin dem neugeborenen Säugling sein, der ich einmalwar? Deshalb: Das Leben des Menschen beginnt mit derVerschmelzung von Ei und Samenzelle.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Daher kommt dieser ersten und frühesten Lebensphaseder uneingeschränkte Schutz des Grundgesetzes zu.

Zweitens. Kann PID Paaren mit genetischer Vorbelas-tung wirklich und sicher dabei helfen, ein gesundes Kindzu bekommen? Die Antwort lautet ganz klar: Nein. DasVerfahren hat eine sehr geringe Erfolgsquote, das habenwir schon gehört. Die sogenannte Baby-take-home-Ratebeträgt 15 bis 20 Prozent; das heißt, nur jedes fünfte Paarbekommt nach dieser sehr belastenden Prozedur über-haupt ein Kind.

Herr Kollege Braun, wenn Sie sagen: Überlassen wirdiese Entscheidung doch dem Gewissen der Eltern – jenachdem und individuell –, dann widerspricht das zumeinen der Forderung in Ihrem Antrag, eine Ethikkom-mission einzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt: entweder Ethikkommission oder individuelleEntscheidung. Zum anderen bin ich zutiefst davon über-zeugt, dass es um eine grundsätzliche Angelegenheit desLebensschutzes geht. Die gehört in dieses Haus, in die-ses Parlament. Wir können uns vor dieser Verantwortungnicht drücken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Ist die PID tatsächlich auf wenige bestimmteFälle eingrenzbar? Meine ganz bestimmte Antwort ist

auch hier: Nein. Was passiert denn, wenn der Arzt Auf-fälligkeiten sieht, die nicht untersucht werden sollen, wiezum Beispiel leichte Behinderungen oder leicht behan-delbare Krankheiten? Die Bundesärztekammer will inihrem jüngsten Richtlinienentwurf sogar die Untersu-chung auf spätmanifestierende Krankheiten zulassen.Glauben Sie denn wirklich, dass solche Embryonen dannimplantiert werden würden?

Bei den Untersuchungskits gibt es derzeit den Trendzu Genchips, die nicht nur einzelne Gene, sondern ganzeGensequenzen untersuchen. Das ist nämlich deutlichkostengünstiger. Es wird keine Testkits geben, die an dieindividuelle genetische Situation einzelner Paare ange-passt wären. Das ist schlicht zu teuer. Es werden Stan-dardkits sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erst im Januar ist ein neuer Test von Kingsmore et al.publiziert worden, der sage und schreibe 448 Anlagenfür Erbkrankheiten auf einmal testet. Deshalb bin ich mirganz sicher: Wenn wir PID auch nur für wenige Einzel-fälle zulassen, wird letztlich eine Tür geöffnet, die wirniemals wieder schließen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zudem: Wie ist denn unsere Erfahrung mit engen In-dikationen? In den 90er-Jahren hat der Deutsche Bun-destag – auch das ist hier schon angesprochen worden –die embryopathische Indikation abgeschafft, weil Behin-derung kein Grund dafür sein darf, nicht leben zu dürfen.Aber wir haben Abtreibungen bis in die späte Schwan-gerschaft straffrei gestellt für die wenigen Fälle, indenen der Mutter durch die Behinderung des Kindes Ge-fahr für Leben oder die körperliche oder seelische Ge-sundheit droht, die nur durch einen Schwangerschaftsab-bruch abgewendet werden kann.

Was aber ist die traurige Realität der pränatalen Diag-nostik? Die Fruchtwasseruntersuchung – eine Kassen-leistung, gedacht für wenige Einzelfälle – wird heutepraktisch jeder schwangeren Frau ab dem 35. Lebensjahrgeraten. Wir müssen davon ausgehen, dass ungefähr dieHälfte aller Kinder mit Trisomie 21, also dem Downsyn-drom, abgetrieben werden.

Wer kann eine ähnliche Entwicklung bei der PID aus-schließen? Wer glaubt daran, dass Eltern sich dafür ent-scheiden, dass ein Embryo mit einem diagnostiziertenweniger schwerwiegenden Chromosomendefekt implan-tiert wird? Ganz zu schweigen von den haftungsrechtli-chen Konsequenzen, die wir in der sogenannten Kind-als-Schaden-Rechtsprechung in aller Radikalität kennen-gelernt haben.

Deshalb: Der Staat ist durch das Grundgesetz zumSchutz des Lebens verpflichtet; danach ist unsere Ge-setzgebung auszurichten. PID bedeutet immer, dass wireine Entscheidung darüber treffen, dass Leben in seinerfrühesten Form nur unter der Bedingung weitergelebtwerden darf, dass es keine genetischen Auffälligkeiten

Page 42: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Maria Flachsbarth

(A) (C)

(D)(B)

aufweist. Das dürfen wir nicht zulassen. Behinderungdarf niemals Grund für weniger Lebensschutz sein.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Der Verfassungsrechtler Professor Hillgruber schriebin einem Artikel in der FAZ in der letzten Woche – ichzitiere –:

Kein Mensch ist allein aufgrund seiner Existenz,mag sie noch so defizitär sein, für einen anderenMenschen unzumutbar.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Genau das – das darf ich hier vielleicht zum Ab-schluss sagen – trifft eine Grundüberzeugung für michals Christin. Ich glaube daran, dass jeder Mensch zu je-dem Zeitpunkt seines Lebens von Gott angenommen ist,und zwar unabhängig davon, wie klein, wie verletzlichoder wie fehlerhaft er auch sein mag. Deshalb ist meineEntscheidung ganz klar: Gegen die PID.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Die Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat jetzt das Wort.

Dr. Marlies Volkmer (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor gut 20 Jahren habe ich als Ärztin in der BeratungPaare erlebt, bei denen ein sehr hohes, genetisch beding-tes Erkrankungsrisiko für zukünftige Kinder bestand.Nicht selten hatten diese Paare bereits schwer erkrankteKinder, oder sie mussten den Tod ihrer betroffenen Kin-der erleben, und das war häufig im Schulalter der Fall.Die Eltern haben über lange Zeit das Leiden ihrer Kindermit durchlitten. Diese Eltern befanden sich immer dannin einer außerordentlich belastenden Konfliktsituation,wenn sie sich mit dem Gedanken trugen, doch noch einKind haben zu wollen. Sollten sie sich auf eine erneuteSchwangerschaft einlassen mit der Gefahr, dass die Mut-ter erneut ein Kind zur Welt bringt, das schwer erkran-ken wird, oder sollten sie auf eine Schwangerschaft ganzverzichten? Eine andere Möglichkeit bestand damalsnicht.

1989 wurde im Ausland erstmals eine PID durchge-führt. Viele Länder haben die PID danach zugelassen. InDeutschland wurde sie als mit dem Embryonenschutzge-setz nicht vereinbar angesehen. Nun hat der Bundesge-richtshof in zwei konkreten Fällen anders entschiedenund damit die Diskussion über die PID befördert. VieleMenschen erhoffen sich jetzt vom Bundestag, also vonuns, eine rechtliche Regelung, die ihre belastende Situa-tion verbessert.

Die derzeitige Situation bedeutet für Paare mit einemschwerwiegenden genetischen Risiko, die sich dennochfür eine Schwangerschaft entscheiden, Folgendes: Diewerdende Mutter unterzieht sich der inzwischen übli-

chen vorgeburtlichen Diagnostik mit der möglichen, ein-kalkulierten Folge eines Schwangerschaftsabbruchs,auch eines Spätabbruchs; es sei denn, das Paar geht miteinem schlechten Gewissen ins Ausland – das könnennur diejenigen, die sich das leisten können –, um dorteine PID durchführen zu lassen.

Beides ist meines Erachtens inhuman, weil mit derPID eine Methode zur Verfügung steht, die auch in unse-rem Land angewendet werden könnte und mit der dasTrauma eines Schwangerschaftsabbruchs verhindertwerden könnte. Dieses Trauma ist natürlich umso grö-ßer, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist.Eine Pränataldiagnostik mit nachfolgendem Schwanger-schaftsabbruch wird in unserer Gesellschaft ethisch tole-riert und ist rechtlich zugelassen. Es kann einer Fraunicht zugemutet werden, bei schwerwiegender familiärergenetischer Belastung als Alternative zur PID eine Prä-nataldiagnostik durchführen zu lassen. Hier schließe ichmich ganz klar dem Memorandum der Bundesärztekam-mer zur PID vom Februar dieses Jahres an.

Nun ist auch heute wieder die Sorge vorgetragen wor-den, mit der von uns vorgeschlagenen Begrenzung derPID sei die Tür für eine grenzenlose Ausweitung derPID geöffnet, und dies könne sogar die Gefahr bergen, inletzter Konsequenz zum Designerbaby zu führen.

(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Nein! Das sagt keiner! Von Designerbaby spricht keiner!)

Wir stellen heute einen Gesetzentwurf vor, der die PIDunter strengen Rahmenbedingungen ermöglicht. DiePID wird nur für wenige Paare infrage kommen, auchdeswegen, weil vor einer PID eine In-vitro-Fertilisationnotwendig ist und keine Frau eine solche leichtfertigüber sich ergehen lässt.

Ich bin der Meinung, dass sich die PID auch zukünf-tig begrenzen und kontrollieren lässt. Natürlich sindzahlreiche wissenschaftlich-technische Entwicklungenund auch die PID zu missbrauchen. Ein möglicher Miss-brauch rechtfertigt aber ihr kategorisches Verbot nicht.Vielmehr ist einem eventuellen Missbrauch der PIDdurch den Gesetzgeber Einhalt zu gebieten. Wir tun dasdadurch, dass wir die PID in Deutschland nur in lizen-zierten Zentren und nach umfassender Aufklärung undpsychosozialer Beratung in eng indizierten Fällen zulas-sen wollen. Die PID kann sich damit – im Gegensatz zurschon erlaubten und ethisch tolerierten Pränataldiagnos-tik – nicht zu einem Standardverfahren der vorgeburtli-chen Diagnostik entwickeln, wie es manche befürchten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf Drucksachen 17/5450, 17/5452 und 17/5451 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Damit sind Sie einverstanden? – Dann ist dasso beschlossen.

Page 43: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11973

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

(A) (C)

(D)(B)

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten GustavHerzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Für einen neuen Infrastrukturkonsens –Schutz der Menschen vor Straßen- und Schie-nenlärm nachdrücklich verbessern

– Drucksache 17/5461 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu ein-einviertel Stunden zu debattieren. – Dazu sehe und höreich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich gebe das Wort dem Kollegen Gustav Herzog fürdie SDP-Fraktion.

Gustav Herzog (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich bringe für die SPD-Fraktion den Antrag „Für einenneuen Infrastrukturkonsens – Schutz der Menschen vorStraßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern“ein. Ich glaube, es wäre gut – ohne das jetzt als Kritikanzubringen –, wenn an der Anzeigetafel auch der ersteTeil des Titels unseres Antrags stehen würde. Ich glaubenämlich, der Infrastrukturkonsens ist die viel tiefer ge-hende Frage, die wir in diesem Zusammenhang beratenmüssen.

Ich will, auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer, sa-gen: Wir haben uns in den letzten Sitzungswochen schonöfter mit dem Thema Verkehrslärm beschäftigt; ich darfnur an die Debatte in der letzten Sitzungswoche zumMittelrheintal erinnern. Dieses Thema hat bei uns alsoeinen hohen Stellenwert. Dass meine Fraktion diesenAntrag in der Kernzeit einbringt, mit über einer StundeDebattenzeit, zeigt, wie ich glaube, auch, welch hohenStellenwert dieses Thema bei uns, der SPD-Fraktion,hat.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich mehr mitdiesem Thema beschäftigt und sich die Zahlen anschaut,wie groß die empfundene Belastung durch Verkehrslärmfür die Menschen ist, der wird feststellen: Dies ist einflächendeckendes Thema mit großen Schwerpunkten.Über 20 Prozent der Menschen fühlen sich durch Schie-nenlärm erheblich beeinträchtigt. Das UBA nennt dieZahl von über 13 Millionen Menschen, die sich insbe-sondere im städtischen Bereich durch Straßenlärm be-einträchtigt fühlen. Allein 12 Milliarden Euro sollendurch den Straßenlärm an gesellschaftlichen, insbeson-dere gesundheitlichen Schäden entstehen. Das ist alsoein Thema ersten Ranges.

Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Frageder Mobilität und der Belastungen, die daraus erwach-

sen, nicht mehr nur eine Frage der Technik im Hinblickauf Fahrweg und Fahrzeug oder einfach nur eine Fragevon Grenzwerten, sondern auch eine existenzielle Frageder Lebensqualität und der Gesundheit. Die rheinland-pfälzische Messstation im Mittelrheintal, in Oberwesel,hat für September 2010 folgende Werte ermittelt: über50 Fahrten von Güterzügen in der Nacht, ein Mittelungs-pegel von 75 Dezibel (A) und in der Spitze ein Pegel vonüber 103 Dezibel (A). Ich habe mir die Lärmkartierungdes EBA ausgedruckt.

(Der Redner hält ein Schaubild hoch)

Wie Sie wissen, habe ich die Farbe Rot sehr gern. Aberin diesem Falle bedeutet sie für die Menschen wirklicheine Riesenbelastung. Sie werden jede Nacht durchLärm und Erschütterungen gestört.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme auf den Begriff „Infrastrukturkonsens“zurück. Was heißt es denn, wenn die Menschen sagen:„Wir sind zwar für die Schiene, wir wollen auch Autofahren; aber wir wollen keine Trasse, sondern ein Nacht-fahrverbot“? Es stellt sich die Frage: Wie schaffen wirhier einen neuen Konsens, der notwendig ist, weil wir inunserer arbeitsteiligen Industriegesellschaft in hohemMaße darauf angewiesen sind, dass Personen und Gütertransportiert werden, dass Energie- und Datenströmefließen? Dabei macht uns insbesondere der GüterverkehrSorgen.

Gegenüber Prognosen bin ich sehr skeptisch. Dies giltinsbesondere im Hinblick auf die Verflechtungsprognose2025, weil sie davon ausgeht: Der Energiepreis wird sichnicht erhöhen. Wir werden in den nächsten 15 Jahrenalle Projekte des vordringlichen Bedarfs realisieren. –Das sind eher Spekulationen als Prognosen.

Trotzdem: Sollen wir vor die Menschen im Mittel-rheintal und in anderen hochbelasteten Brennpunktentreten und ihnen sagen: „Das, was ihr heute erleidenmüsst, ist nur ein Teil dessen, was in den nächsten Jahrenauf euch zukommt“? Ich glaube, dies macht deutlich,wie wichtig es ist, dass wir einen neuen Konsens für diePlanung, den Bau und den Betrieb von Infrastruktur her-beiführen.

(Beifall bei der SPD)

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich erlebe inmeinem Wahlkreis, dass die Leute selbst bei kleinenBauvorhaben wie dem Bau einer Biogasanlage anfan-gen, zu berechnen, wie viele zusätzliche Traktoren imFall der Realisierung des Vorhabens durch die Gemeindefahren würden, mit dem Ergebnis, dass sie eine Anlage,die eigentlich alle wollen, aus diesem Grund ablehnen.Wir erleben ein ähnliches Phänomen auch im Rheintal.Die Menschen dort sind für den Gütertransport. Aber siewollen ihn nicht in der Form, in der wir ihn in den letz-ten Jahrzehnten organisiert haben. Ich glaube, unsereHerausforderung besteht darin, neue Konzepte, einenneuen Konsens bei der Infrastruktur zu organisieren.

Wir sollten auch einmal daran denken, welche Kostenes verursacht, wenn wir in diesem Bereich nicht voran-kommen. Wir müssen die Beteiligungsrechte der Men-

Page 44: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Gustav Herzog

(A) (C)

(D)(B)

schen verbessern; denn es wird nicht – wie aus den Rei-hen der Koalitionsfraktionen zu hören ist – reichen,Beschleunigungsgesetze zu machen und pro forma dieBürgerbeteiligung auszuweiten. Wir müssen die Men-schen im wahrsten Sinne des Wortes bei der Absicht, derPlanung, dem Bau und dem Betrieb mitnehmen. Nurdann haben wir eine Chance, dass es nicht zu Aufstän-den in diesem Land kommt.

(Beifall bei der SPD)

Dabei haben wir schon viel geleistet. Ich blicke so-wohl auf die rot-grüne Regierung als auch auf das zu-rück, was wir in der Großen Koalition gemacht haben.Ich blicke aber auch auf das zurück, was Sie im letztenJahr geleistet haben, und zitiere aus dem Investitionsbe-richt der Bundesregierung: Im Lärmschutz bei den Bun-desfernstraßen sind im Jahr 2009 133 Millionen Euroauf dem Gebiet der Vorsorge und 43 Millionen Euro beider Sanierung verbaut worden. – Bei den Schienenwe-gen haben wir 1999, um es einmal deutlich zu sagen, mitder Lärmsanierung angefangen. Davon betroffen waren550 Ortsdurchfahrten, 800 Kilometer Streckenlänge, 280 Ki-lometer Schallschutzwände und über 40 000 Wohnun-gen.

Trotzdem, Kolleginnen und Kollegen, empfinden dieMenschen immer noch: Es ist mehr geworden, es istschlimmer geworden. All das viele Geld – ich bemerkedas nur am Rande –, das in hohem Maße in Planung undnicht in wirksamen Lärmschutz geflossen ist, hat wohlnicht gereicht. Deswegen müssen wir verstärkt und en-gagiert da herangehen. Mich würde deswegen zum Bei-spiel, Herr Bundesminister, auch interessieren, wann Siedie Aktualisierung der Gesamtkonzeption zur Lärmsa-nierung an bestehenden Schienenwegen vorlegen wol-len. So haben Sie es im Investitionsbericht geschrieben.Wird diese neue Gesamtkonzeption dieses Jahr kom-men? Können wir damit zu den Menschen an den Schie-nenwegen gehen?

Ich glaube, es gibt eine Reihe von weiteren Punkten,wo wir gemeinsam anpacken können, beispielsweise beider Lärmwirkungsforschung, die uns das Handwerks-zeug geliefert hat, den Schienenbonus abzuschaffen.Und es gibt eine Reihe von technischen Fortschritten,die wir umsetzen müssen.

In der letzten Sitzungswoche hatte ich die gute Gele-genheit, bei der Havelländischen Eisenbahn zu erleben,wie eine richtig große, schwere Lokomotive, die bei derAnschaffung etwa 2 bis 3,5 Millionen Euro kostet, fürganze 40 000 Euro von einer lauten, dröhnenden Ma-schine zu einer leisen Lokomotive umgebaut wurde, diedie neuesten europäischen Lärmanforderungen erfüllt.Solche Dinge müssen wir mit Nachdruck verfolgen undden Betreibern mit auf den Weg geben. Da reicht esnicht, wenn Staatssekretär Scheurle mit dem LL-Zugdurch die Republik unterwegs ist und die Leute auf 2012und später vertröstet. Das muss alles viel früher passie-ren.

(Beifall bei der SPD)

Ich will noch einmal das Thema Schienenbonus an-sprechen; denn in allem, was Sie bisher gesagt haben,

kommt immer wieder vor, dass Sie die Abschaffungschrittweise einführen wollen. Auch in der Ausschussbe-ratung ist gesagt worden, dass es insbesondere um finan-zielle Gründe geht.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Wir wollen ihn abschaffen!)

Überlegen Sie einmal, was es heißt, wenn wir eineStrecke planen, sie in verschiedene Abschnitte einteilenund Sie dann den Schienenbonus schrittweise abschaf-fen. Wir haben dann drei oder vier verschiedene Werte.Wie wollen Sie das den Menschen vermitteln? Deswe-gen nehmen Sie einmal ein bisschen Mut und Kraft zu-sammen und sagen Sie: Wir setzen ein Datum und schaf-fen ihn auf einmal ab. Ich glaube, das wäre das richtigeSignal, das wir gemeinsam zu den Menschen sendenkönnten.

(Beifall bei der SPD)

Es wäre sicherlich hilfreich für die ganze Debatte,wenn Sie – vielleicht können Sie das auch schon in die-ser Aussprache leisten – jetzt präzisieren würden, wanndenn endlich der lärmabhängige Trassenpreis kommt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Im nächsten Jahr!)

Nach der Antwort des Staatssekretärs Scheuer in derletzten Fragestunde und nach Informationen der DBNetz wird er für 2012 der Bundesnetzagentur vorgelegt.Herr Minister, vielleicht sagen Sie Ihren Kolleginnenund Kollegen in der Koalition einmal ein festes Datum.Sie können sich dann hier hinstellen und sagen: Wir ga-rantieren, dass es zu diesem bestimmten Zeitpunkt kom-men wird. Ich glaube, das wäre ein gutes Signal für dieMenschen. Geben Sie sich einen Ruck! Helfen Sie mit,dass unsere Botschaft für die Mobilität der Zukunftheißt: So leise wie möglich und maximal so laut, wie wires erlauben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Ludwig für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Bravo!)

Daniela Ludwig (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich denke, wir sind uns in einem in diesem Haus einig:Mobilität ist uns allen wichtig und gehört untrennbar zuunser aller alltäglichem Leben, sowohl privat wie auchbei der Arbeit. Sie umfasst sowohl die Fortbewegung zuFuß und per Rad – hier müssen wir uns über Lärm jetztnicht allzu viele Gedanken machen – als auch natürlichden Schiffsverkehr genauso wie das Auto, die Bahn, vonder Sie jetzt hauptsächlich gesprochen haben, und dasFlugzeug.

Für dieses allzu natürliche Bedürfnis der Menschenbrauchen wir eine Infrastruktur, die es vorzuhalten gilt.

Page 45: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11975

Daniela Ludwig

(A) (C)

(D)(B)

Dieser Vorhalt wird von uns auch berechtigterweise er-wartet. Es gilt, diese Infrastruktur da, wo es notwendigist, auszubauen, zu verbessern oder eben auch neu zu er-stellen. Dies alles muss immer unter der Prämisse ge-schehen, dass dabei auch andere wichtige Aspekte be-rücksichtigt werden. Der Schutz der Umwelt ist dabeinur ein Thema; es geht eben auch um den Lärm und denSchutz vor Lärm, was wir heute debattieren.

Auch das hat natürlich mit der Gesundheit des Men-schen zu tun. Herr Kollege, Sie haben durchaus richtigausgeführt, wie subjektiv Lärm empfunden wird undwelche gesundheitlichen Auswirkungen er unbestrittenhat. Ich glaube, in diesem Haus herrscht auch kein Dis-sens darüber. Wir müssen eben versuchen, bei jedemProjekt immer wieder von neuem die Notwendigkeit derMobilität und der Erschließung all unserer Regionen mitdem Schutz vor Lärm zusammenbringen.

Natürlich ist klar: Je höher der Lärmschutz, je höher-wertiger und besser er ist, umso stärker ist die Akzeptanzfür die Sanierung alter oder bestehender Projekte undumso stärker ist auch die Akzeptanz für neue Projekte.Ich kann Ihnen eines sagen – das haben Sie schon er-wähnt –: Hier ist in der Großen Koalition einiges voran-gegangen, und ich glaube, wir haben auch im Ausschussdurchaus überzeugend darüber gesprochen, dass auchvon der jetzigen Bundesregierung bei diesem Thema ei-niges getan wird.

Ich verstehe natürlich, dass man immer noch sehr vielmehr fordern kann und dass man sich immer noch sehrviel mehr wünschen kann. Wir haben uns nun vorersteinmal zum Ziel gesetzt, das Nationale Verkehrslärm-schutzpaket II weiterzuführen, das auf dem NationalenVerkehrslärmschutzpaket aus dem Jahr 2007 aufbaut.Darin werden laufende und neue Maßnahmen zur Ver-meidung von und zum Schutz vor Verkehrslärm gebün-delt und weitere Maßnahmen aus unserem Koalitions-vertrag mit unserem Partner aufgeführt. Es geht hier zumBeispiel um die lärmabhängigen Trassenpreise – das istein ganz, ganz wichtiges Thema bei der Bahn – genausowie um die Revision der entsprechenden dazugehörigenEU-Richtlinie für ein solches Trassenpreissystem.

Dieses Nationale Verkehrslärmschutzpaket II enthälterstmals auch quantitative Lärmminderungsziele undnicht nur hehre Ankündigungen. So soll die Belästigungdurch Verkehrslärm bezogen auf Lärmbrennpunkte inbesiedelten Bereichen bis 2020 im Vergleich zu 2008deutlich abnehmen. Hierbei hat man sich sehr hohe Zielegesetzt: Beim Lärm im Flugverkehr, der bei Ihnen an-scheinend gar nicht vorkommt

(Gustav Herzog [SPD]: Was?)

– das finde ich in Ihrem Antrag nirgends –, wollen wireine Reduzierung um 20 Prozent, im Straßenverkehr undin der Binnenschifffahrt um 30 Prozent und im Schie-nenverkehr um 50 Prozent.

Die Umsetzung genau dieser Ziele befindet sich aufeinem exzellenten Weg. Ich bedanke mich hier aus-drücklich bei unserem Haus, bei unserem Verkehrs-minister und beim Koalitionspartner. Ich glaube, wir zie-hen hier sehr erfolgreich an einem Strang.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wünsche kann man gut aufschreiben, Ihr Papier undIhr Antrag sind auch geduldig, finanziert werden mussdas aber halt auch. Hier befinden wir uns sicherlich aneinem sensiblen Punkt, zu dem ich später noch komme.

Konkret zum Lärmschutz an der Schiene. Wir kennendas alle: Aus einem freiwilligen Programm des Bundesstehen jährlich 100 Millionen Euro für die Lärmsanie-rung zur Verfügung. Diese Mittel wollen wir zumindestkonstant halten. Darauf haben wir uns im Koalitionsver-trag verständigt.

Im Rahmen des Konjunkturpakets II wurden weitereinnovative Maßnahmen auf den Weg gebracht, umLärmreduzierung zu erproben und neue Wege zu be-schreiten. Hierfür stehen ebenfalls 100 Millionen Eurozusätzlich zur Verfügung.

Die neuen Techniken sollen unser Maßnahmenportfo-lio zum Lärmschutz erweitern. Hierfür sind bundesweit91 Einzelmaßnahmen verortet worden.

Die Nutzung innovativer Techniken und die Einfüh-rung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems als wei-tere Mittel zur Lärmreduzierung wurden bereits erwähnt.Wir wollen damit den Wagenhaltern den Anreiz bieten,ihre Bestandsgüterwagen möglichst schnell auf lärm-mindernde Beläge umzurüsten. Wir setzen auch weiter-hin auf unser Pilot- und Innovationsprogramm „LeiserGüterverkehr“. Ich glaube, hier geht einiges. Wir müssenuns auch auf europäischer Ebene – denn Verkehr ist im-mer international – für die entsprechenden analogenMaßnahmen einsetzen. Aber wir gehen mit gutem Bei-spiel voran.

Sie fordern in Ihrem Antrag völlig zu Recht die Ab-schaffung des Schienenbonus. Darin sind wir uns einig.Selbstverständlich wollen auch wir die Abschaffung desSchienenbonus; denn Schienenlärm ist nicht besser alsanderer Lärm und rechtfertigt deswegen keine andereund privilegiertere Behandlung. Wir sagen aber: Dasmuss wohlüberlegt sein. Eine Abschaffung von heuteauf morgen ist nach unserer Einschätzung nicht möglich.Wir müssen darauf achten, in welchem Projektstadiumwir den Schnitt machen. Wir müssen uns auch fragen,wie sich das auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei künf-tigen Projekten auswirkt. Das will wohlüberlegt und gutdurchgerechnet sein.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wie lange brauchen Sie dafür?)

– Wenn wir hier einen Schnellschuss machen, lieberHerr Beckmeyer, nutzt das weder den Bürgern, die vonLärm geplagt sind, noch uns, wenn wir darauf setzen,immer mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern.Hier müssen wir glaubwürdig bleiben – deswegen andieser Stelle keine ruckartigen Schnellschüsse, sondernwohlüberlegtes Vorgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Beim Straßenlärm gelingt uns derzeit Ähnliches. Mirist es sehr wichtig, dass wir auch auf diese Lärmquelleeingehen. Es gibt schließlich nicht nur die Schiene alsLärmerzeuger, sondern auch die Straße.

Page 46: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Daniela Ludwig

(A) (C)

(D)(B)

Die Bundesregierung hat die Mittel für die Lärmsa-nierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen verdoppeltund somit eine Steigerung der Ausgaben im Jahr 2010auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Ich denke, dasist ein richtiger Weg.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Ludwig, der Kollege Hartmann hat sich zu einer

Zwischenfrage gemeldet.

Daniela Ludwig (CDU/CSU):Ich würde gerne weitermachen. – Wir greifen dabei in

der Regel auf aktive und passive Lärmschutzmaßnah-men zurück. Sie kennen das alles. Es funktioniert in derPraxis durchaus gut.

Für einen ausgesprochen wichtigen Schritt – daraufkönnen wir ein Stück weit stolz sein – halte ich, dass wirdie sogenannten Auslösewerte für die Lärmsanierung imletzten Jahr um 3 dB(A) gesenkt haben. Das wirkt sichbei jedem direkt persönlich aus, der an einer Bundes-straße wohnt.

(Gustav Herzog [SPD]: Aber nur, wenn Sie in-vestieren! Bislang ist es nur Papier!)

– Bislang ist es nur Papier? Das gilt eher für Ihren An-trag als für unser Handeln. Aber ich komme noch daraufzu sprechen, keine Sorge. – Die Absenkung um 3 dB(A)merkt jeder, der an einer Straße wohnt, direkt undhöchstpersönlich.

Auf den öffentlichen Personennahverkehr und Ähnli-ches will ich nicht weiter eingehen. Das geht auch IhremAntrag leider ein Stück weit ab. Wir sind bereit, mit demBundesverkehrsministerium neue Wege zu gehen, insbe-sondere was den Einsatz von Photovoltaik in Kombina-tion mit Lärmschutzanlagen an Bundesstraßen angeht.Hier bringen wir zwei hehre Ziele zusammen: Ökologieund die Gesundheit der Menschen mit dem Schutz vorLärm.

Jetzt komme ich zu den Punkten, die mich an IhremAntrag stören. Sie haben gerade gesagt, das alles sei bis-lang nur Papier. Das gilt, wie gesagt, überwiegend fürIhren Antrag. Fluglärm kommt bei Ihnen nicht.

(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:Wer will denn das Nachtflugverbot fallen las-sen? Was machen Sie denn gegen Fluglärm?)

Die SPD sieht also nur Schutz gegen Straßenlärm undSchienenlärm vor. Fluglärm kommt nicht vor. Wie ge-stalten Sie denn in diesem Punkt Ihren sogenanntenneuen Infrastrukturkonsens aus? Diese Frage müssen Sieerst einmal beantworten, wenn Sie einen Antrag vorle-gen.

Des Weiteren: Papier ist geduldig. Sie können wün-schen, fordern, anprangern und dieses oder jedes wollen.Es gibt aber auch die Frage der Finanzierbarkeit. Die hatdie Sozialdemokraten bisher immer am allerwenigsteninteressiert.

(Gustav Herzog [SPD]: Sie haben 1 MilliardeEuro für die Hoteliers zum Fenster hinausge-worfen!)

Zur Finanzierung Ihrer wunderbaren Wünsche und Vor-schläge schreiben Sie in Ihrem Antrag nichts, aber auchgar nichts. Sie machen keinerlei Vorschläge zur alterna-tiven Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur. Sie haltenschöne Sonntagsreden darüber, dass wir die Menschenvor Lärm schützen wollen. Das ist eine Selbstverständ-lichkeit.

(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:Dann machen Sie doch etwas! Sie sind doch inder Regierung!)

Dafür muss ich keinen fünfseitigen Forderungskatalogaufstellen. Es ist selbstverständlich, dass die Menschenvor Lärm geschützt werden sollen. Ich muss aber dieFrage beantworten, wie das zu finanzieren ist.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das Netz finanziert sich selber!)

Beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf, bei Ih-nen offensichtlich auch die guten Ideen. Das finde ichbrutal schwach.

(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:Sie sind doch in der Regierung! Warum ma-chen Sie es nicht?)

– Sie waren es auch schon lange genug.

Wer sich als verantwortungsvolle Oppositionsparteibegreift, macht sich nicht so leicht vom Acker, indem ernur gute Wünsche und schöne Worte äußert;

(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:Wir haben damals 100 Millionen Euro einge-setzt!)

er stellt sich vielmehr seiner politischen Verantwortungund beantwortet die Frage nach der Finanzierbarkeitgleich mit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wenn Sie sie nicht beantworten können, was ich aus Ih-rem Antrag schließe, dann – das tut mir leid für Sie – istder Antrag nicht das Papier wert, auf dem er steht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Herbert Behrens erhält das Wort für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Herbert Behrens (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Lärm nervt uns, Lärm stört, Lärm macht aber auchkrank. Das wissen wir. Wir müssen alles tun, damit dasvermieden wird, wo immer es geht.

Page 47: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11977

Herbert Behrens

(A) (C)

(D)(B)

Die SPD-Fraktion fordert einen neuen Infrastruktur-konsens, damit die Lärmbelästigung sinkt. Das ist eingutes Unterfangen. Aber gleich vorne im Antrag kapitu-liert sie schon ein Stück: „In den nächsten Jahren werdendie Verkehre in Deutschland massiv zunehmen“, heißt esgleich zu Beginn. Wenn wir das so akzeptieren, dann ha-ben wir, wie ich meine, schon verloren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir kommen doch wohl nur weiter, wenn wir auch dasVerkehrswachstum infrage stellen. Das gehört in einensolchen Antrag hinein. Lastwagen dürfen nicht mehr dierollenden Lager der großen Industrie sein; der Klima-wandel muss der Maßstab für unsere Verkehrspolitikwerden.

(Beifall bei der LINKEN – Thomas Jarzombek[CDU/CSU]: Jetzt kommen endlich die Paro-len!)

Ja, das wird sicherlich manchem wehtun. Das wissenwir. Aber ich bleibe dabei: Lärmvermeidung ist Ver-kehrsvermeidung. Für mich muss das der Grundgedankeeines Antrags sein, der so weitgehend ist wie der derSPD.

Um das Ziel „Weniger Lärm durch weniger Verkehr“zu erreichen, müssen wir allerdings schon heute handeln.Das ist klar.

(Judith Skudelny [FDP]: Autos abschaffen?)

Deshalb brauchen wir mehr Geld für den Lärmschutz imSchienenverkehr. Wir wollen die Einbeziehung der Be-völkerung in die Planung großer Verkehrsinfrastruktur-projekte. Wir brauchen Beteiligung auch bei der Stadt-planung. Es gibt viele Maßnahmen, die wir schon heuteumsetzen können. In der Umgebungslärmrichtlinie derEuropäischen Union werden beispielsweise Aktions-pläne gegen den Lärm gefordert. Würden wir diese For-derung ernst nehmen und umsetzen, dann könnte Lärmschon heute effektiv bekämpft werden, und zwar überallin Deutschland.

(Beifall bei der LINKEN)

In Darmstadt zum Beispiel gibt es eine Lärmminde-rungsplanung und eine Lärmaktionsplanung für den Be-zirk einschließlich der Ballungsräume Frankfurt undWiesbaden. Bei der Erarbeitung der Planungen war dieBevölkerung maßgeblich beteiligt. Sie arbeitete an denLärmkarten mit und machte viele Vorschläge, wie derLärm in ihrer Stadt vermieden werden kann. Viele Vor-schläge von dieser Seite sind nicht grundlegend neu: Esgeht um Tempolimit, um Verkehrsverlagerung, umNachtfahrtverbot für Lkws oder Durchfahrtsverbote.Aber die Bevölkerung will wirksame Maßnahmen, dieihr Lärm und Dreck vom Halse halten. Es werden auchviele Vorschläge gemacht, wie man das mit baulichenMaßnahmen erreichen kann. Bürgerinnen und Bürgerwissen am besten, was bei ihnen um die Ecke los ist, woes Handlungsbedarf gibt und wo etwas verändert werdenmuss. Das müssen wir ernst nehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Bürgerideen kosten Geld. Die Kommunen sind ge-fragt, wenn sie die Baulast haben und für die Finanzie-rung zuständig sind. Aber ihnen sind die Hände gebun-den, wenn Schuldenbremse und Finanznot um sichgreifen. So werden viele gute Vorschläge vom Tisch ge-fegt. Fest steht: Zukunftsinvestitionen lassen sich nichtaus laufenden Einnahmen finanzieren; für sie brauchtman einen besonderen Topf. Bürgerideen können dannnicht umgesetzt werden, wenn die Schuldenbremsedroht. Was würde passieren, wenn Bürgerideen nichtmehr nachgefragt werden? Dann melden sich die Bürgernicht mehr zu Wort; denn sie wissen: Solange kein Geldda ist, um ihre Pläne zu verwirklichen, laufen sie vor dieFinanzwand, die aufgestellt worden ist. Es beschädigtdie Demokratie, wenn wir Bürgerinnen und Bürger vordiese Wand laufen lassen. Das können wir nicht zulas-sen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wo liegt die Verantwortung auf der Bundesebene?Die Linke fordert: Vorrang für die Bahn! Dieser Vorrangwird aber nur akzeptiert, wenn der zusätzliche Verkehrnicht zu zusätzlichem Lärm führt. Deshalb brauchen wiraus meiner Sicht viel mehr Geld für das VerkehrssystemSchiene. Die Trassenpreise für leise Züge müssen güns-tiger werden – das wurde schon angesprochen –;

(Werner Simmling [FDP]: Wer zahlt das?)

sie müssen günstiger sein als für laute. Die Waggonsmüssen zügig umgerüstet werden. Dazu ist es unter Um-ständen nötig, ein effektiveres Förderprogramm auf denWeg zu bringen, als wir es jetzt haben.

(Beifall bei der LINKEN – Werner Simmling [FDP]: Wer bezahlt das wiederum?)

Beim Straßenverkehr muss die unsinnige Trennungzwischen dem Lärmschutz bei Neubaustrecken und dembei bestehenden Straßen aufgehoben werden. Heute gel-ten für Neubaustrecken höhere Anforderungen als fürStraßen im Bestand. Das geht nicht.

Viele Forderungen im SPD-Antrag sind nicht neu. ImGegenteil, sie sind uns seit Jahren bekannt.

Für den Erfolg eines neuen Infrastrukturkonsensesbrauchen wir eigentlich einen Konsens bei der Finanzie-rung. Verantwortlich dafür ist die Bundesregierung –ohne Wenn und Aber.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber das wird nur schwer erreichbar sein, solange bei-spielsweise die FDP alles der Regulierung des freienMarktes überlassen will. Das geht so nicht.

(Patrick Döring [FDP]: Der Schienenmarkt ist ein regulierter Markt!)

Die CDU widerspricht an der Stelle auch nicht laut undeindeutig.

Die Linke dagegen sagt: Verkehr vermeiden, ein-schränken, umlenken. Wir brauchen mehr Geld für densozial-ökologischen Umbau des Verkehrssystems.

(Beifall bei der LINKEN)

Page 48: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Herbert Behrens

(A) (C)

(D)(B)

Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, und nichtdie Interessen derjenigen, die auf Teufel komm raus dieGewinne einstreichen wollen. Das wird Streit geben. Wirwerden wie immer Widerstand von denen erfahren, dieden Nutzen für sich haben und die Belastung auf die Ge-sellschaft abwälzen wollen. Das wissen wir doch alle. Sostehen wir auf jeden Fall immer eng an der Seite vonBürgerinitiativen, die mit ihren Kenntnissen und ihremKnow-how in die Planung eingreifen wollen und ambesten wissen, wie man Lärm in der Zukunft vermeidenkann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Werner Simmling hat das Wort für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Werner Simmling (FDP):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeBehrens, bei allem Respekt: Mit den Verboten, die Siehier genannt haben, lösen wir das Problem sicher nicht.Dafür ist es einfach zu ernst.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

„Herzinfarkt durch Verkehrsinfarkt“ – zu diesemSchluss kommt Auto Bild in einem Artikel, in dem auseiner aktuellen Studie der WHO zum Verkehrslärm zi-tiert wird. Daran sehen Sie den Ernst des Themas. Ver-kehrslärm ist nämlich rechnerisch für 50 000 Herz-infarkte in Europa verantwortlich. Das ist in der Tatalarmierend. Es muss unser aller Ziel sein, den Verkehrs-infarkt und damit den Herzinfarkt zu verhindern. Dieserreichen wir nur mit dem gezielten Ausbau der Ver-kehrsinfrastruktur, und nicht mit einer Infragestellung,wie Sie sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, in Ihrem Antrag formulieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Dannhaben Sie etwas anderes gelesen!)

Es ist doch in Wirklichkeit so, dass wir durch eine in-telligente Verkehrsinfrastruktur Verkehrslärm vermin-dern. Nehmen Sie doch zum Beispiel Ortsumfahrungen:Gerade der Bau von Ortsumgehungsstraßen schafft eineEntlastung von Verkehrslärm, von Abgasemissionen undvon Verkehrsunfällen.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Der verschiebt ihn nur!)

– Nein. – Ortsumgehungen machen viele Ortschaftenerst wieder bewohnbar.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das Gleiche gilt für die Schiene. Hier ist exempla-risch die Rheintalbahn zu nennen. Wir wollen die Güter-verkehrstrassen weitestgehend aus den Ortschaften

herausnehmen und dadurch eine wirksame Lärmreduzie-rung erreichen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem Koaliti-onsvertrag haben wir uns darauf verständigt, den Lärm-schutz zu verbessern und auszuweiten. Diese Absicht istauch von der Erkenntnis geleitet, dass die Akzeptanz füreinen weiteren und notwendigen Ausbau der Verkehrs-infrastruktur zur Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisseentscheidend davon abhängt. Wir haben die entsprechen-den Maßnahmen im Koalitionsvertrag festgelegt, die Siealle kennen und die ich jetzt nicht zu wiederholen brau-che.

Zum Stichwort Schienenlärm bzw. Schienenbonus:Wir sind in den vergangenen Wochen in dieser Frage ei-nen entscheidenden Schritt weitergekommen. So habenwir am 18. März 2011 in unserem Antrag zum anwoh-nerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn die Bundes-regierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetz-entwurf zur Abschaffung des Schienenbonus zügigvorzulegen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Undwann kommt er?)

Das BMVBS hat die Prüfung und Überarbeitung derrechtlichen Regelungen zum Schienenbonus auf Arbeits-ebene bereits aufgenommen.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Die nehmen Siedoch gar nicht ernst! – Florian Pronold [SPD]:Wann sind Sie so weit? 2015, 2016?)

Eine Reduzierung des Schienenbonus setzt aber auch vo-raus, dass die Verkehrslärmschutzverordnung geändertwird; und diese Änderung ist im Bundesrat zustim-mungspflichtig.

(Patrick Döring [FDP]: Mal sehen, wie die SPD-Länder sich verhalten!)

Ebenso haben wir die Einführung lärmabhängigerTrassenpreise beschlossen.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Und?)

Damit sind wichtige Punkte zum Schutz vor Schienen-lärm, die Sie in Ihrem Antrag fordern, bereits beschlos-sen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Abernoch lange nicht umgesetzt! Bei dieser Regie-rung! – Gegenruf des Abg. Patrick Döring[FDP]: Ihr habt aber auch keinen Gesetzent-wurf gemacht!)

– Herr Herzog, eins nach dem anderen.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirdürfen aber auch nicht vergessen, dass Schienenlärm-schutz nicht zum Nulltarif zu bekommen ist; das wurdeschon ausgeführt. Die Erfolge werden sich auch nichtvon heute auf morgen einstellen. Besonders deutlich

Page 49: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11979

Werner Simmling

(A) (C)

(D)(B)

wird dies bei der Umrüstung der Güterwagen. Hier ist inder EU von bis zu 600 000 Wagen die Rede.

Stichwort Straßenlärm: Bezüglich Straßenverkehrs-lärm zitieren Sie im Wesentlichen aus dem NationalenVerkehrslärmschutzpaket II. Wie Sie wissen, hat der Par-lamentarische Staatssekretär Ferlemann bereits im Ja-nuar im Ausschuss über den Stand der Umsetzung desNVLP II informiert. Viele Ihrer Forderungen sind alsoschon Bestandteil des Regierungshandelns oder bereitsumgesetzt.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das haben die nur noch nicht gemerkt!)

Herausgreifen möchte ich dabei die Mittel für Lärm-sanierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen; auch dar-auf wurde vorhin schon hingewiesen. Die Verdoppelungdes Mittelansatzes für Lärmsanierungsmaßnahmen anBundesfernstraßen hat eine Steigerung der Ausgaben imJahr 2010 auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Durchden Vorrang von aktiven gegenüber passiven Schutz-maßnahmen und die Senkung der Auslösewerte für dieLärmsanierung um 3 dB(A) im Jahr 2010 werden Bürge-rinnen und Bürger besser als bisher vor Lärm geschützt.

Zum Schluss holen Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD, noch eine alte Kamelle, nämlich dieForderung, Tempo-30-Zonen einzurichten, wieder ausder Schublade. Da bin ich wirklich sehr enttäuscht; dennich hatte von Ihnen eigentlich etwas Intelligenteres er-wartet. Das Tempolimit von 50 km/h in geschlossenenOrtschaften hat sich bewährt. Es gibt daher keine Not-wendigkeit zu einer Änderung. Bereits heute gibt es ge-nügend Möglichkeiten zu Ausnahmen und zur Einfüh-rung von Tempo-30-Zonen, zum Beispiel an sensiblenStellen wie Kindergärten und Krankenhäusern. DerSpielraum für bürgernahe Lösungen ist also schon jetztvorhanden. Durch intelligente Verkehrsleitsysteme kön-nen deutlich größere Verbesserungen für die Verkehrs-sicherheit und die Umwelt erzielt werden als durch einTempolimit von 30 km/h in Ortschaften. Das lehnen wirab.

Ihr Antrag ist also – ich möchte meine Kollegin Lud-wig zitieren – nicht das Papier wert, auf dem er steht.

(Gustav Herzog [SPD]: Herr Kollege, das war aber jetzt böse von Ihnen!)

Ich danke Ihnen sehr herzlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nichts zudanken!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Vorwurf vonseiten der Koalitionsfraktio-nen gegenüber der Opposition, dass der Antrag das Pa-pier nicht wert sei, auf dem er stehe, ist natürlich wohl-

feil. Es gibt eine ganz einfache Maßnahme, wie man ausden Anträgen der Opposition Handeln entstehen lassenkann: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! In diesem Fallwürde gelten – der vorliegende Antrag ist auch unsererMeinung nach wirklich gut –: Stimmen Sie dem Antragder SPD zu!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Tun Sie dies, und schon wird aus diesem Antrag, der imMoment selbstverständlich nicht viel mehr als Papier ist,Regierungshandeln.

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Große Teile sind beschlossen worden!)

Wenn Sie zustimmen, muss die Regierung nur noch dievom Bundestag beschlossenen Anträge umsetzen.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wir sind dem Wohl des Landes verpflichtet!)

Zu den Anmerkungen von Herrn Simmling, dass mitdem Verkehrsinfarkt Herzinfarkte einhergehen: Selbst-verständlich ist Verkehrslärm eine große gesundheitlicheGefahr. Aber diese gesundheitliche Gefahr tritt im Stra-ßenverkehr nicht nur auf, wenn Stau ist, sondern insbe-sondere auch dann, wenn mit hohen Geschwindigkeitengefahren wird. Sie haben da also etwas missverstanden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht beim Schutz der Menschen vor Verkehrslärmnicht darum, möglichst viele Autobahnen und Straßen zubauen, damit möglichst schnell gefahren werden kann,sondern darum, diejenigen, die an besonders belasteterVerkehrsinfrastruktur leben, vor Verkehrslärm zu schüt-zen. Das ist ein großer Unterschied.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Warum ist es von großer Bedeutung, dass wir das Pro-blem des Verkehrslärms in den Griff bekommen? Es isteinmal von ganz großer Bedeutung für die Gesundheitder Betroffenen. Das ist aber nicht nur eine Gesundheits-frage, sondern auch – das stellt man fest, wenn man sichdas in den Städten einmal in aller Ruhe anschaut – eineeminent soziale Frage.

(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!)

Wer wohnt denn insbesondere an den Verkehrsinfra-strukturen und ist meist nicht nur von Lärm, sondernauch von schlechterer Luft und Feinstaubpartikeln be-troffen? Selbstverständlich wohnen da die Menschen,die ein niedrigeres Einkommen haben, die sich vielleichtschlechter in Bürgerinitiativen organisieren können, weilsie keine Rechtsanwälte in ihren Reihen haben, die esnicht so gewohnt sind, zu reden und ihre Interessendurchzusetzen. Deshalb ist es auch eine soziale Frage,dafür zu sorgen, dass die negativen Auswirkungen derMobilität begrenzt werden:

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Page 50: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Anton Hofreiter

(A) (C)

(D)(B)

Den Nutzen der Mobilität hat unsere gesamte Gesell-schaft, aber die Lasten sind eindeutig unterschiedlichverteilt. Die Lasten tragen insbesondere die Menschen,die an der Verkehrsinfrastruktur leben, und das sind ins-besondere ärmere Menschen, Menschen mit niedrigeremEinkommen, die sich noch dazu in der Regel schlechterwehren können.

Es gibt noch einen weiteren ganz entscheidendenGrund dafür, dass wir die Problematik des Ver-kehrslärms in den Griff bekommen müssen. Das betrifftinsbesondere die Schiene. Warum haben wir im Momentso heftige Auseinandersetzungen über den Schienenver-kehrslärm? Weil der Schienengüterverkehr eine Renais-sance erlebt und eine Rückverlagerung von Verkehrenauf die Schiene stattfindet. Das finden wir positiv, dasschätzen wir, das begrüßen wir. Das brauchen wir ausKlimaschutzgründen, wir brauchen es aber auch, um dieChancen unseres Wirtschaftsstandorts in Zukunft zuwahren; denn die Schiene ist vom knapper und teurerwerdenden Rohöl viel einfacher unabhängig zu machenals der Lkw.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das alles wird für unsere Gesellschaft aber nichtfunktionieren, wenn es nicht gelingt, an den bestehendenSchienenverkehrstrassen die Lärmbelastung stark zuvermindern. Da reicht es nicht, wenn wir immer nur aufpassiven Lärmschutz setzen. Da reicht es nicht, wennwir immer nur auf höhere Lärmschutzwände setzen.

(Patrick Döring [FDP]: Das tun wir auch nicht!)

Es gibt inzwischen in vielen Kommunen Proteste unterdem Motto: Wenn die Wände 7 oder 8 Meter hoch seinmüssen, dann verzichten wir lieber auf den passivenLärmschutz und hoffen, dass vielleicht die Politik ir-gendwann handelt und das Problem an der Quelle be-kämpft wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Was ist dafür notwendig? Dringend notwendig ist dieUmrüstung der Güterwagen. Das ist natürlich kein ganztriviales Problem; denn die Güterwagen sind internatio-nal unterwegs; die Güterwagen werden ausgetauscht.Aber es gibt Ansätze, zum Beispiel den lärmabhängigenTrassenpreis, zum Beispiel die Abschaffung des Schie-nenbonus, zum Beispiel eine Förderung zur Einführungvon lärmärmeren Bremsen.

Andere Bremsen hätten auch erhebliche Vorteile fürdie Infrastruktur. Wie sieht hier nämlich die Situation beider Schiene aus? Die Bremssysteme sind unendlich alt.Sie funktionieren seit bald über 100 Jahren so, dass einGrauklotz auf den Radreifen gedrückt wird, um zu brem-sen. Das verursacht nicht nur erheblichen Lärm, sondernes zerstört auch die Lauffläche des Rades. Durch kaputteLaufflächen wird wiederum die Gleisinfrastruktur zer-stört. Das führt nicht nur zu weiterem Lärm, sondern das

führt auch zu erheblichen Kosten für den Gleisunterhalt.Das kostet uns Geld, das uns im Bundeshaushalt dann ananderer Stelle fehlt. Wenn man da schnell und zügig um-steuern würde, würde das nicht nur den Menschen hel-fen, sondern mittel- und langfristig im Haushalt erheb-liche Mittel für den Unterhalt des Schienennetzesfreisetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Diese erheblichen Mittel benötigen wir auch; denn esmuss uns gelingen, den Güterverkehr stärker von derStraße auf die Schiene zu verlagern. Das muss uns nichtnur aus Umweltschutzgründen gelingen, das muss unsnicht nur aus Klimaschutzgründen gelingen, sondern da-ran müssen wir auch ein ureigenes Interesse haben; dennunser Wohlstand hängt ganz erheblich davon ab, dassunsere Verkehrsinfrastruktur zukünftig weiter gut funkti-oniert. Wir können nicht einfach darauf setzen, dass esschon irgendwie klappen wird und irgendjemand eineIdee entwickelt, wie man die Lkw auf Agrotreibstoffeoder auch auf Batteriebetrieb – manche träumen ja da-von – umstellen kann. All das, sagt die Wissenschaft,mag beim Pkw, wo man vielleicht 1,5 bis 2 Tonnen be-wegen muss, noch funktionieren; beim Lkw mit 40 Ton-nen wird das schon weitaus komplizierter. Deshalb ist eseminent wichtig für unseren Wohlstand, dass es gelingt,die Schiene für mehr Güterverkehr zu ertüchtigen. Dassdie Schiene zum Rückgrat eines modernen Güterver-kehrs wird, ist für einen modernen Wirtschaftsstandortwie die Bundesrepublik dringend notwendig.

Da genügt es nicht, wenn Sie sich das bloß wünschenund davon träumen. Wir haben die Bundesregierung jaschon einmal aufgefordert, das umzusetzen. So kompli-ziert ist die Abschaffung des Schienenbonus eigentlichnicht. Die Abschaffung dieser Privilegierung derSchiene ließe sich sehr schnell umsetzen. Es ist auchkeine große intellektuelle Herausforderung, diesen Bo-nus zu streichen.

(Patrick Döring [FDP]: Dann mach du doch den Gesetzentwurf, du Schlauschnacker!)

Deswegen: Tun Sie es einfach! Sorgen Sie dafür, dassdie Regierung das umsetzt!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Da Sie gerade schreien, mache ich einmal einen ganzeinfachen Vorschlag: Wenn Sie das in den nächsten vierWochen nicht hinbekommen haben, dann schreiben wirIhnen einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Schie-nenbonus, und Sie stimmen diesem Gesetzentwurf zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Abgemacht? – Nein. Jetzt machen Sie wieder einenRückzieher; das kennen wir schon.

Page 51: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11981

Dr. Anton Hofreiter

(A) (C)

(D)(B)

(Patrick Döring [FDP]: Ich will deinen Gesetz-entwurf mal sehen! Schreib du den Gesetzent-wurf! Lächerlich!)

Sorgen Sie dafür, dass den Ankündigungen endlichTaten folgen. Dann werden wir Sie unterstützen. Dennvergessen Sie eines nie: Sie sind die Parteien, die die Re-gierung stellen, und wir sind die Opposition. Wenn Siewollen, dass unseren Worten Taten folgen, dann stim-men Sie unseren Anträgen zu.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Thomas Jarzombek hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Thomas Jarzombek (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Möglicherweise hat mich meine Fraktion heute als Red-ner benannt, weil ich bei diesem Thema eine gewisseKompetenz habe.

(Florian Pronold [SPD]: Sie machen Lärm, oder was?)

Denn vor meinem Wohnzimmerfenster donnert die ge-rade aus dem Untergrund kommende Stadtbahn entlang,von meinem Schlafzimmerfenster blicke ich auf denAusläufer einer Autobahnbrücke, und außerdem kannich alle Starts und Landungen auf dem DüsseldorferFlughafen von meiner Wohnung aus beobachten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Düsseldorf ist der Nabel derWelt!)

Aber Ihr Antrag hat mich aufgeschreckt; das kann ichnicht anders sagen. Sie schreiben nämlich Folgendes:

Lärm hat … eine schwerwiegende soziale Kompo-nente. Verlärmte Orte werden von wohlhabendenBevölkerungsgruppen gemieden.

Sie haben „gesundheitlich negative Auswirkungen“, lö-sen eine „Negativspirale“ aus und sind der „Nährbodenfür die Bildung sozialer Brennpunkte“. – Mein Gott, ichkann heute Nacht nicht mehr schlafen, nachdem ich dasgelesen habe! Ich scheine in einem Getto zu wohnen.

(Gustav Herzog [SPD]: Nach Ihrer Rede so-wieso nicht! – Christian Lange [Backnang][SPD]: Das stand doch schon vorher fest!)

Meine Damen und Herren, bereits der Anfang IhresAntrages zeigt den ersten Grund, warum Ihr Antragnicht seriös ist: Sie verallgemeinern.

Mein lieber Kollege Herzog, ich habe Ihnen gut zuge-hört. Sie haben in Ihrem Antrag das Gutachten vonInfras zitiert: 12,3 Milliarden Euro an volkswirtschaftli-chen Kosten durch Verkehrslärm. – Sie haben allerdingsvergessen, dazuzuschreiben, dass dieselbe Studie zu demSchluss kommt, dass von diesen 12,3 Milliarden Euronur 0,83 Milliarden Euro auf Schienenlärm entfallen. Siehaben aber 100 Prozent Ihrer Rede dem Schienenlärmgewidmet. Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen in mei-nem Wahlkreis mit dem drittgrößten Flughafen inDeutschland haben von Ihrem Papier – sieben Seiten,kein Wort zum Fluglärm – vielleicht den Eindruck, dassden Sozialdemokraten der Fluglärm egal ist.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist ja Landver-kehr! Sie müssen einmal die Überschrift lesen!Das ist doch unglaublich!)

Ich kann Ihnen weiterhin sagen, was Ihr Parteifreund,der Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, HerrVoigtsberger, am 8. April dieses Jahres in der WAZ er-klärt hat: Er hat da nämlich gesagt, dass er die Flug-bewegungen dort ausweiten möchte. Das ist der zweiteGrund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Was Sie hierpredigen, halten Sie dort, wo Sie in der Regierung sind,nicht ein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Herzog zulassen wollen?

Thomas Jarzombek (CDU/CSU):Bitte.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Bitte schön.

Gustav Herzog (SPD):Herr Kollege, bevor Sie sich weiter darüber aufregen,

dass wir in unserem Antrag keine Aussage zum Flug-lärm getroffen haben, möchte ich Ihnen Folgendes sa-gen: Das hängt damit zusammen, dass die Verantwor-tung des Bundes insbesondere dort greift, wo der BundEigentümer ist, was nun einmal auf die Bundesfernstra-ßen und die Bundesschienenwege zutrifft, und dass dieKompetenz bezüglich des Lärms der Flughäfen insbe-sondere bei den Ländern liegt. Wir haben gedacht,

(Miriam Gruß [FDP]: Wo ist denn die Frage? –Gegenruf des Abg. Christian Lange [Back-nang] [SPD]: Lesen Sie mal die Geschäftsord-nung!)

wir helfen der Regierung, indem wir den Finger in dieWunde legen und insbesondere die Probleme an denStellen aufzeigen, wo die Verantwortung beim Bund undnicht bei den Ländern liegt. Ich glaube, das ist intellek-tuell durchaus nachvollziehbar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Page 52: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Thomas Jarzombek (CDU/CSU):Ich danke Ihnen für Ihre Belehrung in intellektuellen

Dingen. Aber, Herr Kollege, wenn Sie einen Antrag miteinem Umfang von sieben Seiten schreiben und eine De-battendauer von anderthalb Stunden während der Kern-zeit beantragen, aber nicht ein Wort über den Fluglärmverlieren, obwohl der Bund an Flughäfen beteiligt ist,dann zeigt dies ganz klar, dass für Sie der Fluglärm hierund heute keine Rolle spielt. Das nehmen die betroffe-nen Menschen durchaus zur Kenntnis.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Was ist denn das für eine Logik? Landverkehr!)

Als ich Ihren Antrag das erste Mal gelesen habe, habeich mich gefragt, wie alt denn das NationaleVerkehrslärmschutzpaket II sein mag. Sie benennen inIhrem Antrag 32 Punkte, bei denen Nachholbedarf be-steht. Doch Überraschung: Das Nationale Verkehrslärm-schutzpaket II wurde während der Amtszeit Ihres letztenVerkehrsministers, Herrn Tiefensee, vier Wochen vor derBundestagswahl im Herbst 2009 beschlossen. Jetzt füh-ren Sie nach etwas über einem Jahr 32 Mängel auf. Jetztfrage ich mich: War Ihr eigenes Konzept mangelhaft?

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Nein, die Diskussion geht weiter!)

Oder ist es so – das ist der dritte Grund, warum der An-trag nicht seriös ist –, dass Ihre Forderungen in der Op-position ganz andere sind als in Zeiten des Regierungs-handelns?

(Gustav Herzog [SPD]: Wir haben gedacht, Sie träumen von den Taten!)

Oder war das NVP II nur mit heißer Nadel gestrickt unddem Wahlkampf geschuldet?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Gustav Herzog [SPD]: Wir wollen es umset-zen!)

Was steht nun in Ihrem heutigen Antrag? Sie fordernDinge, die schon längst beschlossen sind. Ich nenne bei-spielsweise die um 3 dB reduzierten Geräuschgrenz-werte für Reifen und die Kennzeichnung umweltrelevan-ter Eigenschaften. Das ist alles schon beschlossen.

(Gustav Herzog [SPD]: Sie sind die Be-schlussvorlagenkoalition! Werden Sie die Ta-tenkoalition!)

Sie haben dazu auch eine Vorlage der Bundesregierungbekommen. Das ist der vierte Grund, warum Ihr Antragnicht seriös ist: Sie fordern Dinge ein, die es schonlängst gibt.

Es gibt weitere Dinge, die Sie einfordern, die aberschon längst im wahrsten Sinne des Wortes auf dieSchiene gesetzt worden sind; sie wurden hier schon ver-schiedentlich besprochen. Wir haben am 18. März imPlenum einen Antrag verabschiedet, in dem gefordertwird, den Schienenbonus abzuschaffen und lärmabhän-gige Trassenentgelte einzuführen. Insofern sind dieDinge auf den Weg gebracht. Sie stehen ebenfalls imKoalitionsvertrag. Das ist der fünfte Grund, warum IhrAntrag nicht seriös ist: Sie reiten auf Dingen herum, die

schon längst beschlossen und auf den Weg gebracht wor-den sind.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Aber nicht umge-setzt sind, lieber Herr Kollege!)

Was ich aber, lieber Kollege Beckmeyer, an IhremAntrag besonders spannend finde – das hat mir wirklichzu denken gegeben – und was sich hier wundervoll beo-bachten lässt, ist: Mit jedem weiteren Jahr in der Opposi-tion wächst die Entfernung zur Wirklichkeit massiv.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vielleicht kommen Sie uns heute deshalb mit Ihren32 Punkten – Sie haben sie kurz vor der Wahl offenbarvergessen –, weil deren Umsetzung nur durch massiveKürzungen an anderen Stellen zu finanzieren ist. Siewollen die Ausgaben des Bundes für Lärmschutzmaß-nahmen erhöhen, 155 000 Güterwaggons umrüsten, diepersonelle und finanzielle Ausstattung des EBA erhö-hen, Elektrofahrzeuge noch mehr steuerlich begünstigen,die Lärmsanierungsmittel für den Schienenverkehr erhö-hen und die Beteiligung des Bundes an der kommunalenLärmkartierung erhöhen. Das ist nur eine Auswahl.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wir brauchen einmaleinen Verkehrsminister, der auch um Geldkämpft!)

Liebe Freunde von der SPD, wer hier das Geld mitvollen Händen aus dem Fenster werfen möchte, dermuss an anderer Stelle sparen. Wir haben doch gemein-sam die Schuldenbremse beschlossen.

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!)

Auch Sie haben dafür in namentlicher Abstimmung vo-tiert. Wo wollen Sie also sparen? Ich habe Ihren Antragimmer und immer wieder gelesen, aber eines habe ichnicht gefunden, nämlich das Wort „sparen“; das stehtnirgendwo.

(Gustav Herzog [SPD]: Machen Sie doch dieMehrwertsteuersenkung für Hotelübernach-tungen rückgängig! 1 Milliarde Euro!)

Ich fordere Sie also auf: Sagen Sie uns einmal konkret,wo Sie zur Finanzierung des vorliegenden Antrags kür-zen wollen!

(Gustav Herzog [SPD]: Ich sagte es Ihnendoch: 1 Milliarde Euro Mehrwertsteuerabsen-kung für Hotelübernachtungen rückgängigmachen!)

Welche Ortsumgehung wollen Sie konkret streichen?Dann müssen Sie die betreffenden Orte, wo die Ver-kehrslawine mittendurch geht, besuchen und mit denMenschen vor Ort über Lärmschutz reden. Das ist dersechste Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Er istüberhaupt nicht finanzierbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – UweBeckmeyer [SPD]: Sie bedienen Ihre Klientelmit Milliardenbeträgen und reden vom Spa-ren!)

Page 53: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11983

Thomas Jarzombek

(A) (C)

(D)

Am Ende will ich versöhnlich sein und bemerken,dass Sie den Lesern Ihres Antrags auch Freude bereiten.Es gibt dort nämlich ganz herrliche Stilblüten. AufSeite 6 findet sich meine Lieblingsstelle. Sie fordern dortden Ausbau der Elektromobilität. Das tun wir übrigensauch, da wir das sehr gut finden. Sie schreiben, dass dieAntriebsgeräusche vor allen Dingen innerorts im Ge-schwindigkeitsbereich bis 30 km/h reduziert werden.Keine zehn Zeilen weiter fordern Sie aber: Es müsstenauch „akustische Warnsignale zur besseren Erkennbar-keit der geräuscharmen Elektrofahrzeuge“ eingeführtwerden – wunderbar! –,

(Zuruf von der FDP: SPD ist für mehr Lärm! –Zuruf von der SPD: Das ist doch kein Wider-spruch!)

„um die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer aufdas neue Hören im Straßenverkehr zu schärfen“.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wohl nicht auf dem Stand der Dinge!)

Das soll aber nicht nur ein bisschen geschehen. Dennweiter heißt es: Die Signale sollten bitte so laut sein,dass „insbesondere Hörgeschädigten“ Rechnung getra-gen wird.

Meine Damen und Herren, auf diese Fahrzeuge freueich mich.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Gustav Her-zog [SPD]: So kompliziert ist die Materie!Machen Sie sich über das Thema nicht lustig!)

Ich kann nur sagen: Ich finde es lustig. – Das ist dersiebte Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Sie wi-dersprechen sich selbst.

Liebe Kollegen von den Sozialdemokraten, Sie habenuns mit Ihrem Antrag zwar Freude bereitet; aber dasThema Lärm ist ein ernstes Thema, und zwar in derBreite; es geht nicht nur um den Lärm an der Schieneund auf der Straße, sondern auch um den Fluglärm. Wirhaben doch in der Großen Koalition gemeinsam zwei na-tionale Verkehrslärmschutzkonzepte beschlossen. Siesind gut; daran gibt es keinen Zweifel.

Die Kollegin Ludwig hat es sehr ausführlich darge-stellt: Bis 2020 soll die Belästigung durch Verkehrslärmbezogen auf Lärmbrennpunkte in besiedelten Bereichenabnehmen: im Flugverkehr um 20 Prozent, im Straßen-verkehr und in der Binnenschifffahrt um 30 Prozent, imSchienenverkehr sogar um 50 Prozent. Ich würde michfreuen, wenn wir das konstruktiv und gemeinsam umset-zen könnten. Denn den Betroffenen vor Ort ist nicht da-durch geholfen, dass hier Schaufensteranträge gestelltwerden; sie erwarten von uns konkretes Handeln undLösungen für die Probleme vor Ort. Lassen Sie uns dasgemeinsam tun! Wir laden Sie gerne dazu ein. Ich freuemich auf die weitere Diskussion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von

der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Florian Pronold (SPD):Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr

Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn hierjemand eine Schaufensterrede gehalten hat und sich vonder Realität der Menschen, die von Lärm betroffen sind,entfernt hat, dann war es mein Vorredner.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Wir reden über ein Problem, das Hunderttausende Men-schen in Deutschland betrifft. Herr Kollege, selbst wennSie die Ausnahme sind, geht es hier tatsächlich auch umeine soziale Frage. Wer lebt denn an den stark belastetenStraßen in den Großstädten? Führen diese Straßen durchdie Villenviertel?

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ja! – Weite-rer Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Siemal in meinen Wahlkreis!)

– Das möchte ich einmal sehen.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Fahren Sie mal in meinen Wahlkreis rein!)

– Wer ist denn wirklich von Lärm betroffen? NehmenSie doch einmal die Realität zur Kenntnis.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Egal, wie lange Sie schon an der Regierung sind: Siekönnen sich nicht noch weiter von der Realität entfernenals Sie es mit dem, was Sie gerade von sich gegeben ha-ben, bereits getan haben. Sie verspotten Menschen, diejeden Tag unter Lärm leiden; das war der Inhalt IhrerRede.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Jarzombek?

Florian Pronold (SPD):Immer.

Thomas Jarzombek (CDU/CSU):Herr Kollege, Sie haben gerade behauptet, dass laute

Straßen in Villenvierteln die absolute Ausnahme seienund Lärm eigentlich immer dazu führe, dass Viertel ab-steigen, aber Villenviertel davon nicht betroffen seien.Ich hörte im Hintergrund den Zuruf: „Kommen Sie malin meinen Wahlkreis!“ Auch ich lade Sie ein. Geradedort, wo Verkehrsflughäfen sind – Sie haben sich offen-bar nicht mit dem Thema auseinandergesetzt –, liegenhäufig Villenviertel.

(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP])

In Düsseldorf ist das so: In der Nähe des Flughafens gibtes allein stehende Häuser und große Grundstücke; denn

(B)

Page 54: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Thomas Jarzombek

(A) (C)

(D)(B)

die Tatsache, dass dort der Flughafen ist, hat dazu ge-führt, dass es keine Verdichtung der Bebauung gab.

(Zurufe von der SPD)

Das gibt es auch an anderen Stellen. Insofern sind alleSchichten der Gesellschaft von Lärm betroffen. Ichstelle Ihnen die Frage: Ist Ihnen das egal oder stimmenSie zu, dass Lärm alle betrifft? Ist es auch für einen Sozi-aldemokraten interessant, dort etwas gegen Lärm zu tun,wo Einfamilienhäuser stehen? Ist das für Sie auch eineZielgruppe?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Florian Pronold (SPD):Schauen Sie: Sie haben Ihre ganze Redezeit – zehn

Minuten – nur damit verbracht, sich über Leute lustig zumachen, die von Lärm betroffen sind, dies ins Lächerli-che zu ziehen.

(Judith Skudelny [FDP]: Nein!)

– Das haben Sie gemacht.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Nein, ich habe über Ihren Antrag gesprochen!)

Wir haben übrigens schon in unserer Regierungszeit da-mit angefangen: Das zweite Lärmschutzpaket, das vonFrau Ludwig angesprochen wurde, ist von WolfgangTiefensee auf den Weg gebracht worden. Wir kümmernuns um die Probleme.

Ich lade Sie gerne ein, mich bei all meinen Terminenvor Ort zu begleiten, bei denen es um Menschen geht,die an einer lauten Straße oder – überhaupt keine Frage –an einem Flughafen leben. Lärm ist ein Problem, das dieganze Gesellschaft betrifft; das ist überhaupt keineFrage.

(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP])

In den Innenstädten betrifft es aber überwiegend diejeni-gen, die sich die hohen Mieten nicht leisten können.

(Patrick Döring [FDP]: Quatsch! Richtiger Unsinn!)

– Ja, natürlich. Schauen Sie sich die Realitäten an.

(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn, den Sie da erzählen!)

– Ich habe gesagt: „überwiegend“. Man kann immer füralles ein Beispiel finden.

Ich spreche hier von der Mehrheit der Betroffenen.Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dassLärmbelastung auch eine soziale Frage ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Eines verstehe ich nicht. Auf der einen Seite be-schimpfen Sie uns dafür, dass wir zu viel aufschreiben.Auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, dass wir zuwenig aufschreiben, weil wir den Fluglärm in den An-trag nicht mit aufgenommen haben. Sie müssen sich ein-mal entscheiden.

Der Herr Kollege hat deutlich gemacht, warum wirdiesen Ansatz bzw. Schwerpunkt gewählt haben, näm-lich, weil er nicht primär in den Zuständigkeitsbereichder Länder, sondern in den des Bundes fällt.

(Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Reden Sienicht! Bauen Sie Ortsumfahrungen! – Zurufvon der CDU/CSU: Das ist schlichtwegfalsch! Lärmschutzgesetze werden hier imBundestag gemacht! Das wissen Sie auch! –Gegenruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Das ist doch Quatsch!)

Wie wir zukünftig mit den Lärmbelastungen für dieMenschen umgehen, hat sehr viel mit der zukünftigen Ent-wicklung unseres Wirtschaftsstandortes zu tun. Deutsch-land ist auf eine starke Infrastruktur angewiesen. Jetztseien wir doch einmal ehrlich: Infrastrukturplanung wirdheute von den meisten Menschen als Bedrohung aufge-fasst.

(Patrick Döring [FDP]: Reden Sie ihnen das nicht noch ein!)

Es geht nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Heiliger SanktFlorian, verschon mein Haus, zünd andre an!

(Zurufe von der CDU/CSU)

Und warum ist das so? Das ist deswegen so, weil dieMenschen der Politik insgesamt nicht mehr abnehmen,dass sie tatsächlich Lösungen für ihre Probleme bekom-men, selbst dann nicht, wenn sie vorher an Planungenstärker beteiligt werden. Die Hauptsorge von Menschenbezogen auf Infrastrukturmaßnahmen betrifft den Lärm,der daraus hervorgeht. Wenn Politik insgesamt daraufkeine glaubhafte Antwort findet, sondern sich – wie Sie –hier zehn Minuten hinstellt und versucht, ein bisschenKabarett zu machen, ist das ein Schlag ins Gesicht derMenschen,

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie habenin der Sache nichts gesagt, was Sie tun wol-len!)

die Hoffnung darauf haben, dass sich Lebensverhältnisseverbessern.

(Beifall bei der SPD)

Zur Verbesserung der Lebensverhältnisse gehört einevernünftige Infrastruktur, die den Lärmschutz der Men-schen entsprechend berücksichtigt.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie habenselber noch nicht eine Sache gesagt, die Sietun wollen! Sie reden auch nur allgemein!)

– Ich war ja so froh, dass Sie alles das, was wir machenwollen, aufgezeigt und entsprechend kommentiert ha-ben.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Jetzt habe ich also doch zur Sache geredet!)

Aber ich komme jetzt zu den Dingen, die entspre-chend zu machen sind.

Page 55: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11985

(A) (C)

(D)(B)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Pronold, wollen Sie auch noch eine

Frage des Kollegen Willsch beantworten?

Florian Pronold (SPD):Wenn mir meine Redezeit verlängert wird, Herr Kol-

lege, gern.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Da kann man nicht genug von Ihnen kriegen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön.

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich denke, wir

sind uns einig, dass es, wenn es um die Bürger und ihreBelastung geht, vor allen Dingen darauf ankommt, dassMaßnahmen, wenn sie denn beschlossen werden, auchumgesetzt werden. Ist Ihnen bekannt, dass das, was wirin der Großen Koalition gemeinsam angestoßen haben,nämlich die Förderung der Umrüstung von Bahn-waggons, die bei uns durch den schönen Rheingau rollenund eine wirklich unerträgliche Lärmkulisse verursa-chen, durch Bezuschussung aus dem Bundeshaushalt,zwei Jahre lang nicht in Kraft treten konnte, weil Ihr Mi-nister Tiefensee die Notifizierung nicht fertiggebrachthat? Ist Ihnen das bekannt?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-rufe von der CDU/CSU und der FDP: Hört!Hört!)

Florian Pronold (SPD):Ist Ihnen bekannt, dass wir – Gegenfrage – in der letz-

ten Sitzungswoche einen Antrag beschlossen haben, indem Sie als Koalitionsfraktionen Ihre eigene Bundesre-gierung auffordern, bei der Rheintalbahn endlich etwaszu tun?

(Zuruf von der CDU/CSU: Nichtantwort!)

Das ist auch eine spannende Frage. Wann kommt dennda etwas? Die Menschen haben diese Ankündigungendoch satt.

(Zuruf des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/CSU])

Wir haben europaweit 400 000 Waggons, die auf verän-derte Bremsen umrüstbar wären. Es fahren ja nicht nurdeutsche Waggons durchs Rheintal. Wir brauchen alsoerstens eine europäische Initiative. Zweitens weigern Siesich, endlich lärmabhängige Trassenpreise durchzuset-zen. Das wäre eine Lösung, die sehr schnell zu Verbesse-rungen führen würde.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Machen wirdoch! – Zuruf von der FDP: Der Bundesver-kehrsminister arbeitet daran!)

Es geht auch darum, dort für entsprechende finanzielleMittel zu sorgen.

(Patrick Döring [FDP]: Das schüttelt mannicht aus dem Ärmel! Was ist mit Ihrem An-trag in dem Zusammenhang?)

Aber was war denn in der letzten Sitzungswoche vorder Wahl in Baden-Württemberg die Botschaft des HerrnBundesverkehrsministers an die Menschen dort? Er hatdie Menschen damit beruhigt, dass er gesagt hat: Jawohl,es gibt für vernünftigen Lärmschutz auch entsprechendGeld. Der Herr Bundesverkehrsminister war in Brasi-lien, hat dort einen Caipirinha oder zwei getrunken undhat dann gleich nach Bekanntgabe der Wahlergebnisseemitgeteilt,

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es!)

dass es kein Geld mehr für Länder gibt, in denen falschgewählt wird. Dummerweise liegt ein großes Stück derRheintaltrasse in Baden-Württemberg. Die brauchen dasGeld für Lärmschutzmaßnahmen. Gibt es dafür jetzt zu-künftig nichts mehr? Wenn ich die Worte des Bundes-verkehrsministers ernst nehme, ist das so. Was ist in die-sem Zusammenhang mit Ihrem Antrag? Bitte geben Siedarauf eine Antwort.

Es geht darum, was wir tatsächlich tun können. Es be-steht hier im Haus Einigkeit darüber, was man tun kannund was man tun muss. Die Frage ist nun, wie man denAnkündigungen Taten folgen lassen kann. Das ist dieentscheidende Frage.

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das wird der Kollege Willsch dann wissen!)

Ich höre bisher nur Ankündigungen und sehe keine Ta-ten. Es stellt sich beispielsweise die spannende Frage,wie es bei der Rheintalbahn weitergehen soll. Auch FrauLudwig hat eine entsprechende Frage aufgeworfen.

Wir müssen über mehr Lärmschutz reden. Wenn wirzukünftig einen Konsens mit den Bürgerinnen und Bür-gern hinbekommen wollen, dass Verkehrsinfrastrukturauch zukünftig gebaut wird, dann brauchen wir einenspürbar höheren Lärmschutz, und der kostet Geld. Jederhöhere Lärmschutz wird Geld kosten. Deswegen mussman eine seriöse Antwort darauf geben, woher man dasnötige Geld bekommt.

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die Antwort geben Sie nicht!)

– Warten Sie einmal ab.

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die gibt Ihr Antrag aber nicht!)

– Es ist schön, dass Sie noch Hoffnung haben.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]:Die Hoffnung stirbt zuletzt!)

Frau Ludwig, die Regierungsparteien kritisieren uns da-für, dass wir Schnellschüsse machen. Sie regieren nunfast zwei Jahre und können in diesem Bereich nichts vor-weisen.

Page 56: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Florian Pronold

(A) (C)

(D)(B)

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Doch! – Tho-mas Jarzombek [CDU/CSU]: Die Nummer mitdem Kabarett geht mit Ihnen nach Hause!)

Es wäre gar nicht schlecht, zumindest einen kleinerenschnelleren Schuss zu machen und nicht nur hier im Par-lament Anforderungen an die Bundesregierung zu for-mulieren, sondern Gesetze zu ändern. Das ist beimSchienenbonus doch überhaupt nicht schwierig.

(Beifall bei der SPD)

Wo liegt denn da das Problem? Wenn Sie es wollen, tunSie es!

(Judith Skudelny [FDP]: Warum haben Sie es nicht gemacht?)

Warum machen Sie es denn nicht? Sie könnten schnellschießen, wenn Sie wollten.

Zur Infrastrukturfinanzierung. Sie behaupten, dieSPD macht keine Vorschläge, wie man höhere Infra-strukturausgaben finanzieren kann. Waren es nicht Sie,die den Hoteliers 1 Milliarde Euro in den Rachen gewor-fen hat?

(Widerspruch bei der CDU/CSU und derFDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Soist es!)

Waren es nicht Sie, die den reichen Erben Hunderte vonMillionen Euro hinterhergeworfen haben?

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Haben Sie Ihr Wahlprogramm vergessen, Herr Pronold?)

Verzichten nicht Sie auf eine Erhöhung der Lkw-Mautund auf eine vernünftige Ausweitung der Mautpflicht?

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stand dochauch im SPD-Wahlprogramm! – Thomas Jar-zombek [CDU/CSU]: Kabarett!)

Sie unterlassen alles, um mehr Geld in die Infrastruktur-maßnahmen zu geben, um den Menschen und ihren be-rechtigten Sorgen Rechnung zu tragen.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt noch eine andere Form von Lärm, die wirheute noch nicht behandelt haben – sie ist auch ziemlichgefährlich –,

(Judith Skudelny [FDP]: Kinderlärm!)

nämlich den Lärm um nichts. Ihre heutigen Reden warennichts anderes als Lärm um nichts. Sie verletzen damitdas Vertrauen, das die Politik in dieser Gesellschaft ins-gesamt braucht, um zukünftig Infrastrukturprojekte imKonsens durchzubekommen. Es wäre nicht nur bei derRheintalbahn und nicht nur beim Schienenbonus wich-tig, dass Sie anfangen, zu handeln, statt nur Ankündi-gungen zu machen. Die Menschen haben ein Recht dar-auf, dass sie weiterhin gut und sicher leben können.Dazu gehört es auch, dass wir nicht nur von Lärmver-meidung sprechen, sondern auch handeln.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Judith Skudelny (FDP):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Wenn das alles so furchtbar einfach wäre,wie es die SPD-Fraktion dargestellt hat, dann frage ichmich: Warum haben Sie die Vorhaben zum Lärmschutzwährend Ihrer Regierungszeit nicht einfach umgesetzt?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Gustav Herzog [SPD]: Wir haben Maßnahmengegen Schienenlärm eingeführt und die Mittelvon 50 auf 70 Millionen Euro erhöht!)

Wenn die Forderung so alt ist, wie Sie sagen, dann hättenSie die ersten Schritte eigentlich schon längst machenkönnen. Ich muss Ihnen sagen: Sie waren einfach nichtder Motor.

(Gustav Herzog [SPD]: Sie sind erst neu dabei! Ich verzeihe Ihnen!)

Sie haben 90 Prozent der Forderungen aus dem Koaliti-onsvertrag übernommen. Insofern nehme ich das alsWürdigung dessen, was wir, übrigens schon vor einemJahr, beschlossen und als richtig erkannt haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Cor-nelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sie reden nur und tun nichts!)

Infrastruktur ist wichtig für Wirtschaft, Wohlstandund Wachstum. Wachstum, Wirtschaft und Wohlstandbrauchen wir nicht als Selbstzweck, sondern um unserGesundheitssystem, unser Sozialsystem und unser Ren-tensystem am Laufen zu halten. Insofern ist die Infra-struktur wichtig für die sozial Schwachen, weil geradesie es sind, die von diesen Systemen profitieren.

Die Infrastruktur muss jedoch mit Rücksicht auf Um-welt und Menschen umgesetzt werden. Zur Umwelt:Rein theoretisch könnten wir natürlich alle Infrastruktur-projekte ins freie Feld planen, nur wohnen dort in allerRegel Hamster, Frosch und Fledermaus. Wenn wir dieseNaturschutzaspekte berücksichtigen und näher an dieWohnbebauung herangehen, dann belasten wir wie-derum Menschen. Wenn wir sagen, wir erhöhen die An-forderungen beispielsweise an den Lärmschutz – was jaauch gewollt ist –, dann werden Infrastrukturprojekteverzögert. Sie werden teurer.

Die Linke sagt: Klar, dann machen wir einfach mehrSchulden. – Das kann man wollen.

(Herbert Behrens [DIE LINKE]: VernünftigeBürgerbeteiligung! – Weitere Zurufe von derSPD und der LINKEN)

– Ihre Aussage war: Bürgerideen werden von der Schul-denbremse bedroht. – Das heißt: Scheiß auf den Haus-halt – Entschuldigung.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Page 57: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11987

Judith Skudelny

(A) (C)

(D)(B)

Sie sagen also: Der Haushalt ist egal, wir machen mehrSchulden. – Wir sagen: Das geht nicht. Das belastet diezukünftigen Generationen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Flo-rian Pronold [SPD]: Wäre das ein Fall für dasneue Ordnungsgeld?)

Deswegen wird bereits seit einem Jahr hinter den Kulis-sen heftig darüber gestritten, wie wir die Umsetzungvornehmen wollen. Dass es den Regierungsfraktionen indem einen oder anderen Punkt vielleicht schneller gehenkönnte, ist, glaube ich, kein Geheimnis. Darum habenwir im März diesen Antrag gestellt.

Wenn wir allerdings Ihrem Antrag zustimmen wür-den, dann kämen wir wieder an den Punkt, an dem wirbereits vor einem Jahr waren, nämlich dorthin, wo imPrinzip nur heiße Luft erzeugt wird. Wir aber sind einenSchritt weiter. Wir wollen den Gesetzentwurf vorgelegthaben. Ich sage: Dieses Gesetz kommt trotz allen Streitsund unter Abwägung aller Aspekte bis Ende dieses Jah-res.

(Gustav Herzog [SPD]: Wir sprechen uns ineinem Jahr hier wieder! Mal sehen, was Siedann gemacht haben!)

Wir haben darüber gesprochen, dass die sozialSchwachen diejenigen sind, die sich am wenigsten weh-ren können. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Bürgermeinungzur Rheintalbahn tatsächlich so gut bekannt ist. Denn so-wohl bei Stuttgart 21 als auch insbesondere bei derRheintalbahn ist es die bürgerliche Mitte, die sich für dieSchiene, zugleich aber auch für eine Abwägung einsetzt.Sie bringen sich ein und fordern Lärmschutz.

(Gustav Herzog [SPD]: Ja, das habe ich auch vom Mittelrheintal erzählt!)

Hier sind nicht nur die sozial Schwachen, die von derLinken vertreten werden, sondern tatsächlich alle davonbetroffen.

(Karin Binder [DIE LINKE]: Das sind ein-kommensschwache Menschen!)

Deswegen setzen sich wirklich alle für eine vernünftigeUmsetzung ein. Deswegen sind die Regierungsparteien,die CDU, CSU und FDP, diejenigen, die auf diesem Ge-biet ganz stark geworden sind – als Motor die FDP; nichtdie SPD, sonst hätten wir es schon –,

(Gustav Herzog [SPD]: Das ist wahr! Sie ha-ben nichts hinbekommen!)

um die Umsetzung der Rheintalbahn möglichst zügighinzubekommen. Wir haben den Antrag im März ge-stellt, damit dort die Planungen auch unter Berücksichti-gung, dass der Schienenbonus nicht mehr existiert – üb-rigens erstmalig –, weitergeführt werden.

(Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein Prüf-auftrag!)

Auch das haben frühere Regierungskoalitionen in dieserForm nicht hinbekommen. Das möchte ich einmal sagen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/CSU])

Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind längst soweit, wie Sie es eigentlich sein wollten. Sie haben es nurnoch nicht gemerkt. Und wenn Sie meinen, die Koaliti-onsparteien vor sich hertreiben zu müssen oder zu kön-nen, müssten Sie etwas früher aufstehen.

(Gustav Herzog [SPD]: Ich bin heute schon um halb sechs aufgestanden!)

Mit diesem Antrag ist es Ihnen jedenfalls nicht gelun-gen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Flo-rian Pronold [SPD]: Das war ja ein originellerSchluss!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ralph

Lenkert von der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Ralph Lenkert (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Geld schützt vor Straßen- und Schienen-lärm. Wer genügend besitzt, baut sein Haus in ruhigenRegionen. Der Rest der Bevölkerung hat entwederGlück oder ist auf Lärmschutz angewiesen, der Geld er-fordert.

Die SPD stellt in ihrem Antrag treffend fest, dass dieHöhe der volkswirtschaftlichen Schäden durch Lärmmehr als 12 Milliarden Euro jährlich beträgt. Die durchden von Straße und Schienen verursachten Lärm ausge-lösten Krankheiten, die geringeren Arbeitsleistungennach gestörter Nachtruhe verursachen dies. 1,2 Millio-nen Bundesbürger müssen täglich bei mehr als 60 Dezi-bel schlafen. Umfangreiche Gesetze und Verordnungenin der EU und in der Bundesrepublik befassen sich fol-gerichtig mit Lärm. Ausreichend sind sie nicht.

Wieso wird die Lärmbelastung der Bevölkerung zurPlanung des Lärmschutzes eigentlich nur rechnerisch er-mittelt und nicht zwingend mit Messungen überprüft?Ob vom Zug, vom Flugzeug oder vom Lkw verursacht,jede Lärmart wird einzeln bewertet. Dem Idealmodellfolgende Kalkulationen ignorieren die Situation vor Ort.Das führt zu Fehleinschätzungen und damit zu fehlen-den, nicht ausreichenden, mitunter aber überdimensio-nierten Lärmschutzbauten. Deshalb fordert die Linke alseinen Schritt zu effektiverem Lärmschutz, die Lärmkar-tierung durch zwingende Lärmmessungen zu verbessern.

(Beifall bei der LINKEN)

Was stört einen erholsamen Schlaf eigentlich mehr:das gleichmäßige Rauschen rollenden Verkehrs oder dasScheppern eines Tiefladers im Schlagloch? Nicht derdurchschnittliche Lärm allein ist entscheidend, sondernauch die Höhe und die Häufigkeit von Lärmspitzen.

Daraus folgt unser nächster Schritt: Lärmspitzen müs-sen in die Lärmbetrachtung einfließen. Das größte Pro-blem bei der Lärmbekämpfung ist unsere Art und Weise,

Page 58: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ralph Lenkert

(A) (C)

(D)(B)

zu wirtschaften. Das Motto „Höher, schneller, weiter!“führt zu immer mehr Verkehr. Da sind unnötige Trans-porte. Muss man Joghurt von Flensburg nach Münchentransportieren und umgekehrt? Muss man allein aus Pro-fitgründen Nordseekrabben in Marokko puhlen lassen?Aus betriebswirtschaftlichen Gründen vielleicht, ausvolkswirtschaftlichen jedoch nicht, weil die Folgen, zumBeispiel die Lärmprobleme, zulasten der Gemeinschaftgehen. Deshalb setzt die Linke auf Verkehrsvermeidungund regionale Wirtschaftskreisläufe.

(Beifall bei der LINKEN)

Der unvermeidbare Verkehr muss leiser werden. Dazubrauchen die Kommunen Aktionspläne und Geld. WoLkws über die Straße poltern, muss das Tempo reduziertwerden. Das ist billiger und hilft etwas. Besser wäre abereine Straße ohne Schlaglöcher und ohne Querschläge,verursacht durch mangelnde Instandhaltung, durch Auf-hacken und Verschließen der Straßendecke aus verschie-denen Gründen.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Oft werden Baumaßnahmen unzureichend geplant unddurchgeführt. Daher schlagen wir vor, Lärmmessungenin die Abnahmeprüfung und Garantiebewertung nach je-der Baumaßnahme aufzunehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das zwingt Baufirmen zu mehr Qualität, und Quali-tätsarbeit erfordert Facharbeiter.

(Judith Skudelny [FDP]: Die fehlen!)

So kann die Abnahmeprüfung dazu führen, dass prekäreArbeitsverhältnisse in gute Arbeitsverhältnisse umge-wandelt werden. Das ist linke Politik.

(Beifall bei der LINKEN)

Ob Schiene oder Straße, ohne Lärmschutzwälle wer-den wir nicht immer auskommen. Wegen Geldmangel istvorbeugender Lärmschutz aber nur bei Neubauten vor-gesehen. Wir fordern, dass auch die deutliche Zunahmedes Verkehrs eine wesentliche Änderung darstellt undzwingend vorbeugende Lärmschutzmaßnahmen erfolgenmüssen.

Wie man mit weniger Geld mehr Lärmschutz errei-chen kann, können Sie in Brandenburg sehen. Da regiertübrigens die Linke.

(Gustav Herzog [SPD]: Die regiert mit!)

Bei Michendorf ist im Zusammenhang mit dem Ausbauder A 10 die Anbringung von Photovoltaikanlagen vor-gesehen. Würde man alle Lärmschutzbauten in der Bun-desrepublik mit Photovoltaikanlagen ausstatten, könntedadurch der gesamte Strombedarf der Deutschen Bahngedeckt werden. Die dadurch frei werdenden Geldermüssten zweckgebunden in den Lärmschutz fließen. Dasist Umweltschutz.

Der Antrag der SPD ist unserer Ansicht nach richtig.Er ist zwar etwas zu allgemein, aber wir stimmen ihmtrotzdem zu, weil er der Umsetzung unserer Ziele dient.

Zum Abschluss ein Wort an die Koalitionsfraktionen:Nehmen Sie nicht immer nur die Anträge der anderenauseinander, sondern legen Sie selbst etwas vor.

(Judith Skudelny [FDP]: Haben wir doch!)

– Ich habe nur Ankündigungen gehört. Ich habe gehört,was Sie bis 2020 alles machen wollen.

(Judith Skudelny [FDP]: Nein! 2012!)

Handeln Sie! Übernehmen Sie die konkreten Vorschlägeder Oppositionsparteien! Dann können wir etwas für denLärmschutz, für unser Land und für die Demokratie er-reichen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Flo-rian Pronold [SPD])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

das Wort der Kollege Patrick Schnieder.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Patrick Schnieder (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir befassen uns heute in der Tat mit einem sehr ernstenThema. Wenn man genau hinhört, stellt man fest, dasswir uns hinsichtlich der großen Richtung, hinsichtlichder Analyse dessen, was schon getan worden ist, undhinsichtlich der Frage, was noch zu tun ist, eigentlich ei-nig sind. Wir sind uns einig, dass Lärm die mit amstärksten empfundene Umweltbeeinträchtigung ist. MitAusnahme der Linken sind wir uns einig, dass wir aufMobilität angewiesen sind und, sofern wir nicht unterRealitätsverlust leiden, den Ausbau von Mobilität voran-treiben müssen.

Es gibt immer ein Spannungsverhältnis zwischen demAusbau der Verkehrsinfrastruktur und dem Lärm. Des-halb hat diese Bundesregierung den Lärmschutz zu ei-nem zentralen Anliegen ihrer Verkehrspolitik gemacht,und zwar sowohl, was den Aspekt des Gesundheits-schutzes angeht, als auch, was die Akzeptanz der Folgenvon Mobilität angeht. Auch an dieser Stelle sind wir unsim Grunde einig, lieber Kollege Herzog.

Mich verwundert nur, dass Sie einen neuen Konsensin der Verkehrsinfrastruktur- bzw. Lärmschutzpolitik su-chen. Das klingt, als hätte es in der Vergangenheit keineGroße Koalition gegeben, als wäre die Verkehrspolitiknicht elf Jahre lang auch durch die Sozialdemokraten ge-prägt worden. Ich habe den Eindruck, dass Sie sich mitdiesem Antrag ein Stück weit von der eigenen Politikverabschieden, die Sie elf Jahre lang gemacht haben.

(Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein falscher Eindruck!)

– Es ist ein Eindruck, der sich hier allerdings aufdrängt;denn das, was Sie als Antrag stellen, ist in weiten Teilenbereits Beschlusslage, ist in weiten Teilen auf den Weggebracht und wird von dieser Koalition und der Bundes-

Page 59: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11989

Patrick Schnieder

(A) (C)

(B)

regierung umgesetzt. Sie haben manches davon mit aufden Weg gebracht.

(Gustav Herzog [SPD]: Da haben wir Zweifel!)

– Sie zweifeln an sich selbst.

(Gustav Herzog [SPD]: Nein, ich habe Zweifel an Ihrer Umsetzung!)

Ich bin dankbar für das Eingeständnis Ihrer gescheitertenVerkehrspolitik der letzten Jahre.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich bin auch sehr erstaunt über Ihr Verständnis vonder Zuständigkeit des Bundes in Bezug auf Fluglärm.

(Gustav Herzog [SPD]: Wir haben das Flug-lärmgesetz gemacht!)

Gerade ist geleugnet worden, dass wir auf BundesebeneEinwirkungsmöglichkeiten in diesem Bereich haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Nein!)

Ich nenne als Beispiele das Bundes-Immissionsschutz-gesetz und die Lärmschutzverordnung. Dies sind Bun-desgesetze. Sie ignorieren eine der ganz wichtigenLärmquellen, die wir ebenso in den Griff bekommenmüssen, nämlich den Fluglärm. Auch dazu hätten wiruns einige Vorschläge von Ihnen erwünscht.

(Gustav Herzog [SPD]: Kommt noch! – Ge-genruf der Abg. Daniela Ludwig [CDU/CSU]:Kommt noch? Noch so eine Debatte!)

Das sind die Ankündigungen, die Sie vorher in denMund genommen haben. Der Unterschied zwischen unsin dieser Politik ist: Wir handeln, unser Minister handelt,die Koalition handelt,

(Gustav Herzog [SPD]: Sie fassen Beschlüsse!)

und Sie kündigen an, dass es Ankündigungen gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Unser Ziel ist klar formuliert, und wir haben die ers-ten Schritte unternommen. Wir wollen die Lärmbelas-tung bezogen auf Lärmbrennpunkte in Deutschland re-duzieren. Wir leugnen auch nicht das, was wir mit demNationalen Verkehrslärmschutzpaket II aus dem Jahre2009 gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Es bildetdie Grundlage für Maßnahmen zur Vermeidung von undzum Schutz vor Verkehrslärm. Wir haben das Ganze mitMaßnahmen aus dem Koalitionsvertrag ergänzt, vor al-lem mit der Einführung lärmabhängiger Trassenpreis-gestaltungen bei der Bahn. Auch da verstehe ich IhreAufregung nicht. Alles wurde auf den Weg gebracht, al-les wird kommen. Dies gilt auch für die stufenweise Ab-schaffung des Schienenbonus.

Die Koalition hat eindeutig Schwerpunkte gesetzt,und einer der Schwerpunkte, den wir gesetzt haben, be-trifft die Lärmemissionen im Schienenverkehr. Wir müs-

sen feststellen, dass man dies nicht durch eine einzelneMaßnahme in den Griff bekommen kann. Vielmehr sindwir auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen angewiesen.Dieses beinhaltet die Reduzierung und Abschaffung desSchienenbonus, das Lärmsanierungsprogramm, das übri-gens mit jährlich 100 Millionen Euro dotiert ist, undLärmreduzierung an der Quelle; dies ist übrigens diewirksamste und effizienteste Lärmvorsorge, die es imBereich der Schiene gibt. Deshalb sind die Maßnahmen,die zur Einführung der Flüsterbremse ergriffen wordensind, egal, ob es sich um die K-Sohle oder LL-Sohlehandelt, der richtige Weg, um Lärm zu vermeiden.

Ich habe wenig Verständnis dafür, wenn man nur sagt,dass man Mobilität möchte und dabei Verkehre, vor al-lem Güterverkehre, auf die Bahn verlagern möchte. Zu-nächst einmal ist das mit mehr Lärm verbunden. Wirmüssen uns ganz klar dazu bekennen, dass wir den soentstehenden Lärm in den Griff bekommen wollen. Des-halb müssen wir mit allem Nachdruck an der Lärmredu-zierung an der Quelle weiterarbeiten. Mit einem großenMaßnahmenpaket im Rheintal ist ein wichtiger Schrittgeschehen. Der Minister hat ein deutliches Zeichen ge-setzt. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen.

Das muss Hand in Hand mit einer Trassenpreisdiffe-renzierung gehen. Nur mit der lärmabhängigen Differen-zierung der Trassenpreise bei der Bahn schaffen wir denAnreiz, schnellstmöglich umzurüsten, und zwar im euro-päischen Maßstab. Wir haben natürlich Verkehre, diedurch ganz Europa gehen und von den verschiedenstenEigentümern gestellt werden. Daher müssen wir eine eu-ropäische Lösung finden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf zu-sammenfassend feststellen: Wir haben mit dem Nationa-len Verkehrslärmschutzpaket II und den Festlegungenim Koalitionsvertrag die richtigen Instrumente in derHand. Wir haben eine gute Grundlage für die notwendi-gen weiteren Schritte beim Verkehrslärmschutz. Wir do-kumentieren auch mit unseren Handlungen, mit denMaßnahmen, die wir ergreifen, und mit dem Geld, daswir in die Hand nehmen, dass Verkehrslärmschutz fürdiese Koalition ein wesentlicher Bestandteil einer nach-haltigen Verkehrspolitik ist. Ich darf feststellen: Wir sindbei der Umsetzung der Maßnahmen auf einem gutenWeg.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5461 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungbeschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

(D)

Page 60: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

(A) (C)

(D)(B)

ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, KlausErnst, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE

Gute Arbeit in Europa stärken – Den gesetzli-chen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai2011 einführen

– Drucksachen 17/4038, 17/5499 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gitta Connemann

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke,Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes für die Einführungflächendeckender Mindestlöhne im Vorfeldder Einführung der Arbeitnehmerfreizügig-keit (Mindestlohngesetz)

– Drucksache 17/4435 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)

– Drucksache 17/5499 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gitta Connemann

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-ten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, IrisGleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Gesetzlichen Mindestlohn einführen – Ar-mutslöhne verhindern

– Drucksachen 17/1408, 17/5101 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gitta Connemann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibtes Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Gitta Connemann das Wort.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die ist unterwegs hierher! Der Peter Weiß beginnt für uns!)

– Gut. – Dann erteile ich dem Kollegen Peter Weiß dasWort, wenn er anwesend ist.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Das Thema „Gute Löhne für gute Arbeit“ beschäftigt zuRecht das Parlament und auch die Bürgerinnen und Bür-ger. Um es klar und deutlich zu sagen: Zu einer sozialenMarktwirtschaft, wie wir sie verstehen, gehört auch dasPrinzip „Gute Löhne für gute Arbeit“. Daran darf es kei-nen Zweifel geben. Die Frage ist nur: Wie?

In dieser Debatte beantragen die heutigen Oppositi-onsfraktionen, Mindestlohnregelungen für Deutschlandzu beschließen. Für die Öffentlichkeit sollte aber Fol-gendes gelten: Wichtig ist nicht, was man in den Zeiten,in denen man in der Opposition ist, beantragt, sondernwichtig ist, was man in den Zeiten, in denen man in Re-gierungsverantwortung ist bzw. gewesen ist, tut bzw. ge-tan hat.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja! Sehr gut!)

Es kommt auf das Tun und nicht auf das Reden an.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt! Anihren Taten sollt ihr sie erkennen!)

Nun zum Tun. Die Sozialdemokraten, die ihren Par-teivorsitzenden als Redner in diese Debatte schicken,und die Grünen haben sieben Jahre lang eine Koalitiongebildet und die Bundesregierung gestellt.

(Zurufe von der SPD: Ach! Bitte nicht schonwieder! Das macht langsam wirklich keinenSpaß mehr! – Oh! Das ist jetzt wirklich neu!)

In dieser Zeit ist gerade einmal ein branchenspezifischerMindestlohn in Kraft gesetzt worden. Alle anderen siebenbranchenbezogenen Mindestlöhne, die es in Deutschlandgibt, sind in Zeiten, in denen die Union den Bundeskanz-ler bzw. die Bundeskanzlerin gestellt hat, eingeführtworden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist schön, dass Sie in Zeiten, in denen Sie in der Op-position sind, solche Anträge stellen. Es kommt aber aufdas Handeln an. Beim Handeln ist eindeutig die Uniondiejenige politische Kraft, die durch ihre Gesetzgebungbranchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland ermög-licht und sie faktisch und praktisch eingeführt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Petzold[CDU/CSU]: Und zwar schon zu AdenauersZeiten!)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Christdemokratenund Sozialdemokraten haben sich in der Großen Koali-tion, in der die Sozialdemokraten in der Tat den Bundes-arbeitsminister gestellt haben, mit der Novellierung desArbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeits-bedingungengesetzes gemeinsam auf den Weg gemacht,branchenbezogene Mindestlöhne zu ermöglichen. Die Ta-rifpartner können – und wenn es keine Tarifverträgegibt, dann kann das auf der Grundlage des Mindest-arbeitsbedingungengesetzes in einer Kommission ge-schehen – für die jeweilige Branche Mindestlöhne bean-tragen. Ich finde, dass dieser Weg in der Tradition dertariflichen Autonomie steht, die wir grundgesetzlichschützen. Es ist richtig, dass wir Politiker, bevor wir et-was zum Thema Löhne sagen und entscheiden, zualler-erst diejenigen, die etwas von Löhnen verstehen, näm-lich Arbeitgeber und Gewerkschaften, etwas aushandelnlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ach, Sie

Page 61: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11991

Peter Weiß (Emmendingen)

(A) (C)

(D)(B)

verstehen nichts davon? Das war die Aus-sage?)

Deshalb betone ich den Vorrang von Tarifautonomie undbranchenbezogenen Mindestlöhnen. Das ist der Weg,den wir zusammen mit den Sozialdemokraten einge-schlagen haben, der nach wie vor richtig ist und den wirauch in der neuen Koalition verteidigen und weiterdurchsetzen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mein Wunsch ist, dass die Möglichkeiten, die das Ar-beitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbe-dingungengesetz bieten, besser genutzt werden. In derTat könnte ich mir vorstellen, dass in weiteren Branchenbranchenbezogene Mindestlöhne festgelegt werden, umArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndum-ping und – das ist genauso wichtig – Unternehmen vorSchmutzkonkurrenz mit niedrigen Löhnen zu schützen.

(Zuruf von der SPD: Was sagt denn Herr Brü-derle dazu?)

Viele Arbeitgeber – gerade auch im Handwerk – sagenuns: Es wäre gut, wenn wir beim Thema Löhne eineklare Regelung nach unten hätten, also eine untere Lohn-grenze,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

damit es bei der Konkurrenz darum geht, wer die besteArbeitsleistung erbringt, und nicht darum, wer seinenLeuten den geringsten Lohn zahlt. Darum darf es nichtgehen.

Unsere Politik hat zum Ziel – ich rufe Sie auf, dies zuunterstützen –, die Möglichkeiten für branchenbezogeneMindestlöhne in Deutschland noch mehr zu nutzen, alses bisher der Fall ist. Das ist der Weg, den wir einge-schlagen haben. Er ist besser als jedwede staatlicheLohnfestsetzung und besser als jeder per Gesetzgeberdekretierte Mindestlohn. Denn wir wollen nicht, dass diezum Teil sehr guten Mindestlohnregelungen in einigenBranchen – manchmal liegt der Stundenlohn über10 Euro – eines Tages einkassiert werden, weil Arbeitge-ber bzw. Unternehmen sagen: Da gibt es doch vom Staat,per Gesetz dekretiert, einen gesetzlichen Mindestlohn,an den wir die Löhne – auch nach unten – anpassen.

Es geht in der Debatte nicht nur um die Frage, ob esbei den Löhnen eine Bewegung von unten nach obengibt, sondern auch darum, ob möglicherweise dieSchleuse geöffnet wird, um Löhne zu senken, wie es lei-der in vielen Ländern geschieht, in denen Mindestlohn-regelungen existieren.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Beispiele nennen!)

Zur sozialen Marktwirtschaft gehört, dass gute Löhnefür gute Arbeit gezahlt werden. Wir treten für branchen-bezogene Mindestlöhne ein. Damit haben wir bisherschon Erfolg gehabt. Wir glauben, dass wir damit weiterErfolg haben werden und eine sinnvolle Alternative zueinem gesetzlich dekretierten Mindestlohn anbieten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der

SPD.

(Beifall bei der SPD)

Anette Kramme (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir freuen uns deshalb auf den 1. Mai, weilgerade die Herstellung der vollständigen Arbeitnehmer-freizügigkeit für die betreffenden Staaten so wichtig ist.Sie ist deshalb so wichtig, weil damit auch ein ganz kleinwenig vom Eisernen Vorhang weggeräumt wird. Des-halb ist es gut und richtig, was da kommt. Wir dürfen beidiesem Thema allerdings nicht völlig blauäugig sein unddie voraussichtlichen Arbeitsmarktprobleme ausblen-den. Halten wir uns vor Augen, was dort geschehenwird: Arbeitnehmer aus den sogenannten MOE-Staatenkönnen zuwandern. Sie können aus diesen Ländern zuuns einpendeln. Vor allen Dingen ist auch grenzüber-schreitende Leiharbeit möglich. Sämtliche Beschränkun-gen bei der sogenannten Dienstleistungsfreiheit fallenweg. Das heißt, Unternehmen aus den MOE-Staatenkönnen nunmehr ihre Leistungen bei uns vollständig er-bringen.

Es ist schwierig, die ökonomischen Folgen vollum-fänglich zu erfassen. Die Forschung stößt hier an ihreGrenzen. Wir haben sicherlich nicht mit einer Völker-wanderung zu rechnen. Trotzdem wird es keine unbe-achtliche Größenordnung von Arbeitnehmern sein, diewir hier zu erwarten haben. Das IAB geht davon aus,dass eine jährliche Zuwanderung von 130 000 Personenmöglich ist. Bis zum Jahr 2020 werden es möglicher-weise sogar 1,5 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitneh-merinnen sein. Der DGB geht davon aus, dass es vor al-len Dingen eine Zuwanderung in den Bereich derprekären Beschäftigung gibt, nachdem der Arbeitsmarktfür Akademiker durch den Wegfall der sogenannten Vor-rangprüfung im Prinzip schon vollständig geöffnet ist.Die Folgen der sogenannten Dienstleistungsfreiheit sindnoch weitaus schwieriger zu kalkulieren.

Deutschland ist auf die neuen Regelungen gänzlichunvollständig vorbereitet:

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Was sollen wir denn machen?)

Wir haben keinen generellen Mindestlohn, der für zuge-wanderte und entsandte Arbeitnehmer und Arbeitnehme-rinnen gleichermaßen gilt. Möglicherweise gilt nichteinmal die sogenannte Schranke der Sittenwidrigkeit.Herr Professor Bayreuther hat dies in der Sachverständi-genanhörung beleuchtet. Die Mindestlohnregelung fürdie Leiharbeit, die wir kürzlich erst in das Arbeitnehmer-überlassungsgesetz aufgenommen haben, wird durchDienst- und Werkverträge möglicherweise umgangenwerden. Für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen,die auf der Grundlage von Werk- und Dienstverträgenhierhin kommen, gelten nämlich die Entlohnungsbedin-gungen des Heimatlandes. Darüber hinaus besteht auchdie Gefahr, dass die beschränkten Mindestlohnregelun-gen in der Bundesrepublik Deutschland einerseits durch

Page 62: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Anette Kramme

(A) (C)

(D)(B)

Scheinselbstständigkeit und andererseits durch falscheTätigkeitsbezeichnungen umgangen werden.

Wir müssen registrieren: Seitens der Regierung istnichts unternommen worden. Wir haben im Zuge derVerhandlungen über die Regelsätze ernsthaft versucht,die Einführung eines generellen Mindestlohns zu errei-chen und das Prinzip des Equal Pay bei der Leiharbeit zuverankern.

Meines Erachtens benötigen wir hier zwingend vierRegelungen:

Zuerst benötigen wir einen generellen Mindestlohnund eine sogenannte Equal-Pay-Regelung für die Leih-arbeit.

Vor allen Dingen brauchen wir effektive Sanktions-regelungen zur Einhaltung des Mindestlohnes in derLeiharbeit. Hier stehen entsprechende Regelungen nochaus.

Zudem brauchen wir eine angemessene Ausstattungder Finanzkontrolle „Schwarzarbeit“. Die Aufgaben derFinanzkontrolle „Schwarzarbeit“ haben in den letztenJahren durch die Ausdehnung der Bedingungen für einenMindestlohn stark zugenommen. Aber eine entspre-chende Zunahme der Zahl der dort Beschäftigten hat esnicht gegeben. Es gab eine aktuelle Anfrage. Die Ant-wort war: Es besteht keinerlei Bereitschaft, dort mehrPersonal zur Verfügung zu stellen.

Zu guter Letzt brauchen wir eine Beratungstätigkeit.Wir werden es mit Arbeitnehmern zu tun haben, dieschlechte Sprachkenntnisse und schlechte Informationenüber das Rechtssystem in der Bundesrepublik Deutsch-land haben. Wir dürfen es nicht zulassen, dass dieseMenschen innerhalb der Bundesrepublik Deutschlandausgenutzt und ausgebeutet werden. Natürlich dürfenwir es auch nicht zulassen, dass sich der Niedriglohnsek-tor, der sich in der Bundesrepublik Deutschland so ver-heerend entwickelt hat, noch weiter ausdehnt.

Meine Damen und Herren der Regierung, deshalbkann ich nur sagen: Im Herbst wird es mit Sicherheit dieersten Missbrauchsfälle geben. Die Verantwortung dafürliegt ausschließlich bei Ihnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man jetzt im Frühling, kurz vor Ostern, durchStadt und Land streift, dann schärft sich unwillkürlichder Blick.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es wäre schön, wenn es so wäre!)

Man sucht nach Neuem, nach Überraschendem, nachVerborgenem. Stellen Sie sich vor: Ich habe ein Mindest-lohnnest mit drei Eiern – ein rotes, ein grünes und eindunkelrotes – entdeckt. Sie sahen zunächst einmal ziem-lich ähnlich aus. Bei näherer Untersuchung stellte ichfest: Sie waren ein bisschen hohl und teilweise ein biss-chen faul.

Rechtzeitig zum 1. Mai – früher hieß es „Hinaus zumKampfmai“; der Reflex scheint jedenfalls auf der linkenSeite dieses Hauses noch zu funktionieren – stellen Siedie Forderung nach einem gesetzlichen flächendecken-den Mindestlohn. Weil Sie anscheinend doch kein gutesGefühl dabei haben – ein flächendeckender Mindestlohnwirkt eben in allen Teilen des Landes und in allen Bran-chen sehr undifferenziert –, soll er auf eine Art undWeise festgelegt werden, dass sich die Politik möglichstheraushalten kann. Die Kommissionslösung feiert Ur-stände. Aber Sie alle haben Ihre Vorstellungen, was amEnde herauskommen soll. Die Grünen wollen einenMindestlohn von 7,50 Euro. Die SPD legt sich nicht fest,sondern fordert in ihrem Antrag „zum Beispiel8,50 Euro“. Die Linken gehen von mindestens 10 Eurobis 2013 aus.

(Beifall bei der LINKEN – Sigmar Gabriel[SPD]: Sie haben wenigstens die Anträge gele-sen!)

– Ich weiß nicht, ob das ein Grund zum Klatschen ist. –Ich habe unlängst von einem SPD-Landesminister ge-lernt: Löhne müssen der Wertschöpfung entsprechen.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Mein Gott!)

Wenn Sie, egal was die unabhängige Kommission emp-fehlen wird, schon heute wissen, dass auf jeden Fall einMindestlohn von 10 Euro herauskommen muss, dannfrage ich mich, ob die Wertschöpfung wirklich in allenBranchen und allen Teilen unseres Landes mithaltenkann und ob nicht letzten Endes Arbeitsplätze verlorengehen werden. Das würde ich bedauern. Das BeispielPostdienstleistungen hat gezeigt, dass Arbeitsplätze insehr kurzer Frist und großer Zahl – dort waren 8 000 bis10 000 Arbeitsplätze betroffen – verloren gehen können.

Ich glaube, wir sind besser beraten, wenn wir, wie esdie schwarz-gelbe Koalition getan hat, mit Branchen-mindestlöhnen operieren, die von Tarifpartnern festge-legt werden. Diese können einschätzen, welche Größen-ordnung in den jeweiligen Branchen richtig ist. Ichweise darauf hin, dass sich die Koalition in den letztenMonaten bewegt hat. Wir haben da, wo es sich anbot, innahezu allen Branchen, die im Arbeitnehmer-Entsende-gesetz aufgeführt sind, den Weg für eine Lohnunter-grenze freigemacht, auch im Bereich der Zeitarbeit. Hierhatten viele im Haus große Bedenken, obwohl alle nam-haften Forschungsinstitute einschließlich des IAB gesagthaben: So schlimm wird es nicht werden; es wird in ei-ner überschaubaren Größenordnung bleiben. Ich kannSie beruhigen, Frau Kramme: Wir werden auch rechtzei-tig die Kontrollinstrumente einführen. Daran wird esnicht scheitern.

Ich rate dazu, dass wir, nachdem wir jetzt einen derartvernünftigen Weg eingeschlagen haben, abwarten, was

Page 63: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11993

Dr. Heinrich L. Kolb

(A) (C)

(D)(B)

die Evaluierung bringt, die sich die Regierung für diezweite Hälfte dieses Jahres vorgenommen hat. Wir soll-ten in Ruhe und ohne Zorn und Eifer abwarten, wie sichMindestlöhne tatsächlich auswirken. Dann kann man se-hen, ob weiterer Handlungsbedarf besteht. Ich glaube,das ist ein Vorgehen mit Augenmaß.

Ich bin anscheinend im Gegensatz zu vielen von Ih-nen optimistisch, was den 1. Mai anbelangt. Ich glaube,dass in der Freizügigkeit eine große Chance für unserLand und unsere Wirtschaft besteht.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Daran zweifle ich!)

– Auch Sie sollten optimistisch sein, Kollegin Pothmer,und mit Freude diesen weiteren Schritt des Zusammen-wachsens in Europa gehen.

Was die Mindestlohnfrage anbelangt, glaube ich sa-gen zu können: Wir sind gut vorbereitet, und es bestehtkein Grund zur Sorge. Wenn Sie sich ein bisschen öffnenund lockerer geben, als es aus Ihren Anträgen spricht, er-leben Sie vielleicht mit der Freizügigkeit eine ange-nehme Überraschung.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Klaus Ernst (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kolb, es freut mich, dass Sie Osterspazier-gänge machen und Eier suchen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt auch gelb-rote Eier!)

Ich habe einen Tipp für Sie: Versuchen Sie es mit einemSpaziergang bei Ihrem Arbeitsminister Heiner Garg– Mitglied der FDP –, der Ihnen in dieser Frage einenRat gibt. Diesen Rat möchte ich Ihnen zur Kenntnis ge-ben, weil Sie ihn Ostern vielleicht nicht treffen. Er hatam 7. April dem Tagesspiegel gesagt:

Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit he-ranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es imNiedriglohnbereich ein „echtes Problem“ gebe …Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Men-schen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten undsich und ihre Familien davon nicht ernähren kön-nen. „Zwei Euro Stundenlohn sind weder sozialnoch liberal“, sagte Garg. Genauso wenig sei es füreinen liberalen Politiker hinnehmbar, dass der StaatUnternehmen dauerhaft subventioniere, die denWettbewerb mit Niedrigstlöhnen aushebelten.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Mast [SPD])

So weit Ihr Parteifreund, Herr Kolb. Wenn Sie meinenTipp für einen Spaziergang befolgten, würde das Ihre

Partei weiterbringen. Dann müssten Sie kein Personalauswechseln, sondern Sie müssten einfach den Kurswechseln. Dann kämen Sie einen Schritt weiter.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Realität in unserem Lande ist bedrückend. DasCallcenterunternehmen Teleperformance – offensicht-lich eines der Großen der Branche weltweit – hat Nieder-lassungen in Deutschland und zahlt Löhne zwischen5,61 Euro und 7,50 Euro. In den ostdeutschen Ländernverdient kaum jemand über 6 Euro, Herr Kolb. Gehalts-erhöhungen finden dort seit Jahren nicht mehr statt. DasUnternehmen – diese Information ist an Herrn Weiß ge-richtet – ist nicht tarifgebunden. Die Betreiber von Call-centern haben zwischen 1998 und 2009 ihre Renditenum mehr als 20 Prozent gesteigert. Sie werden übrigensmit 19 Millionen Euro subventioniert. Ich denke, es gibteinen engen Zusammenhang zwischen den niedrigenLöhnen in den Callcentern und den Extraprofiten, die of-fensichtlich in diesen Unternehmen üblich sind.

Mein nächstes Beispiel ist die Firma KiK, ein Textil-discounter. Diese Firma zahlt Aushilfen Stundenlöhnevon 5,20 Euro. Diese Löhne waren sogar dem Arbeitsge-richt zu niedrig. Es hat diese für sittenwidrig erklärt. DasProblem ist allerdings: Die Firma hätte mindestens7,80 Euro zahlen müssen. Hätten wir einen Mindestlohn,und zwar einen flächendeckenden, Herr Weiß, wäre dasRisiko, dass die Menschen mit einem solchen Lohn ab-gespeist werden, bei weitem geringer. Zu den Fragen derKontrollen komme ich noch. Aber Sie, Herr Weiß, ak-zeptieren offensichtlich – da Sie keine flächendeckendenMindestlöhne einführen wollen –, dass Niedriglöhne– wie gerade dargelegt – in der Bundesrepublik Deutsch-land üblich sind und üblich bleiben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Sie erlauben eine Zwischenfrage von Herrn Weiß?

Klaus Ernst (DIE LINKE):Mit großer Freude.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön, Herr Weiß. Herr Ernst erlaubt eine Zwi-

schenfrage.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Herr Kollege Ernst, Sie haben mich persönlich ange-

sprochen und die Branchen Callcenter und Einzelhandelerwähnt. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dassdie dbb tarifunion für Callcenter einen Mindestlohnan-trag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellthat, der dem Hauptausschuss vorliegt? Würden Siefreundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass im Be-reich des Einzelhandels die Arbeitgeberseite, der HDE,mit der Arbeitnehmerseite über einen Mindestlohntarif-vertrag verhandelt? Würden Sie schließlich zur Kenntnisnehmen, dass ich mich freuen würde, wenn in beidenBranchen Mindestlohnregelungen in Kraft treten wür-den?

Page 64: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Klaus Ernst (DIE LINKE):Herr Weiß, ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass

Sie offensichtlich das bestätigen, was ich sage; denn Siesind nicht bereit, gesetzgeberisch zu handeln. Sie akzep-tieren, dass Löhne in dieser Republik gezahlt werden,von denen man nicht leben kann.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was sind Sie für ein Gewerkschafter!)

Das ist der Skandal in diesem Land. Ihre Partei weigertsich zusammen mit der FDP hartnäckig, dafür zu sorgen,dass die Menschen einen Lohn erhalten, von dem sie le-ben können. Das nehme ich zur Kenntnis, Herr Weiß.

(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer[Göttingen] [CDU/CSU]: Und so was sagt einGewerkschafter!)

Wir können gern bei Ihrem Argument bleiben. Es istbekannt, dass der Einstiegslohn im Hotel- und Gaststät-tengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern bei 5,39 Euround in Sachsen-Anhalt bei 6,75 Euro liegt. Dort geltenTarifverträge, in denen offensichtlich so niedrige Löhnefestgelegt sind, dass man davon nicht leben kann. HerrWeiß, jetzt können wir so tun, als ob uns das nicht inter-essierte. Aber wir sind hier nicht nur zum Beobachtenund zum Appellieren da; Sie als Regierungspartei sindvielmehr zum Regieren da. Wenn Sie richtig regierenwürden, würden Sie solch niedrige Löhne verhindernund dazu beitragen, dass die Menschen Löhne beziehen,von denen sie leben können. Das aber tun Sie nicht, HerrWeiß.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sind mittlerweile relativ isoliert mit Ihrer Position.Am vergangenen Dienstag hat die Parlamentarische Ver-sammlung des Europarats eine Entschließung mit demTitel „Bekämpfung der Armut in Europa“ verabschiedet.In dieser Entschließung heißt es in Punkt 5.9: Die Mit-gliedstaaten werden aufgefordert, – ich zitiere wörtlich –,

durch die Gewährung eines angemessenen Min-destlohns das Recht auf faire Entlohnung zu sichernund das Recht der Arbeitnehmer auf einen Lohn,der ihnen und ihren Familien einen angemessenenLebensstandard ermöglicht, anzuerkennen.

Herr Weiß, diesem Antrag hat auch Ihre Partei, dieMitglied in der Europäischen Volkspartei ist, zuge-stimmt. – Ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich beidiesem Thema lieber mit Ihrem Nachbarn unterhalten,als sich die Argumente eines politischen Konkurrentenanzuhören.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Siegehen ja auf die Argumente nicht ein! Sie er-zählen etwas ganz anderes!)

Ich möchte hinzufügen: Sie sind offensichtlich mitder Position, die Sie einnehmen, auch in der Union voll-kommen alleine. Ihr Kollege im Europarat ist offensicht-lich schon deutlich weiter; denn Sie werden nicht ab-streiten können, Herr Weiß, dass man mit dem Lohn,über den Sie gerade diskutieren, keinesfalls das erreicht,

was hier gefordert wird, nämlich den Familien einen an-gemessenen Lebensstandard zu ermöglichen.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ihnen fehltdoch persönlich die Glaubwürdigkeit! – Weite-rer Zuruf von der CDU/CSU)

Das ist nur möglich, wenn wir Mindestlöhne in Höhevon mindestens 10 Euro einführen, Herr Weiß. Das istdie Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wissen, dass jeder Lohn unter 9,46 Euro im Er-gebnis dazu führt, dass ein Mensch, der diesen Lohn seinLeben lang erhält, eine Rente bezieht, die unter derGrundsicherung im Alter liegt. Bei 9,46 Euro ist dieGrenze. Wir wissen, dass – je nach Arbeitszeit – bei7,50 Euro oder 7,80 Euro die Grenze ist, unterhalb dererman einen Lohn bekommt, den man aufstocken muss.Die Löhne vieler Menschen in unserem Land liegen dar-unter. Sie akzeptieren, dass Arbeitgeber Löhne zulastenDritter vereinbaren können. Denn wenn die Löhne soniedrig sind, dass der Staat die Löhne zahlen muss, oderdie Löhne so niedrig sind, dass der Staat die Renten zah-len muss, handelt es sich um Löhne und Vereinbarungenzulasten Dritter, die aus meiner Sicht als sittenwidrig ab-gelehnt gehören. Das ist die Situation, in der wir uns be-finden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sig-mar Gabriel [SPD])

Meine Damen und Herren, ein Thema, das in diesemZusammenhang auch noch von Bedeutung ist, sind dieKontrollen. Ich möchte darauf hinweisen, dass das Land-gericht Magdeburg im Juni 2010 einen Reinigungsunter-nehmer zu nur 1 000 Euro – nur 1 000 Euro! – Geld-strafe verurteilt hat, weil er statt des Mindestlohns vondamals 7,68 Euro einen Stundenlohn von weniger als1 Euro gezahlt hat. Bei einer solch geringen Bestrafungvon Leuten, die Hungerlöhne offensichtlich für akzepta-bel halten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass sichder Niedriglohnsektor ausweitet und dass sich ein Teilunserer Bürger an Gesetze, die hier verabschiedet wer-den, nicht mehr hält. Wir brauchen drastische Strafen fürdie Menschen, die Hungerlöhne zahlen. Dafür treten wirLinken ein.

(Beifall bei der LINKEN)

Besonders betroffen sind Frauen. Sie sind deshalb be-sonders betroffen, weil sie nach wie vor die schlechterenJobs haben und nach wie vor schlechter bezahlt werden.Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro imMonat verdienen, sind Frauen. Ich wiederhole: Zwei vondrei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im Monat ver-dienen, sind Frauen. Frau von der Leyen, Sie machensich immer für die Frauenrechte stark; das begrüßen wir.Mit einem gesetzlichen Mindestlohn könnten Sie dazubeizutragen, dass einer Vielzahl von Frauen in diesemLand wenigstens ein anständiger Lohn gezahlt wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Page 65: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11995

Klaus Ernst

(A) (C)

(D)(B)

33 Prozent aller weiblichen Vollzeitkräfte sind Ge-ringverdienerinnen. 33 Prozent aller weiblichen Vollzeit-beschäftigten! Das ist eine unglaubliche Zahl. Ich kannüberhaupt nicht verstehen, dass man sich auf der einenSeite berechtigterweise für einen höheren Frauenanteilin den oberen Etagen unserer Wirtschaft starkmacht,aber gleichzeitig offensichtlich den Blick nach untenvollkommen vergisst. Dass insbesondere Frauen mitHungerlöhnen abgespeist werden, ist ein Skandal, ge-nauso wie die Tatsache, dass Sie das akzeptieren, Frauvon der Leyen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ein weiteres Argument. Wir haben 6,7 Millionen aty-pisch Beschäftigte in unserem Land. 74 Prozent davonsind Frauen. Frau von der Leyen, es ist nicht akzeptabel,dass Sie in diesem Bereich schlichtweg nur durch Zu-schauen glänzen. Ich möchte Ihnen sagen: Wir isolierenuns nicht nur in Europa – in Luxemburg gibt es einenMindestlohn von 10,16 Euro; in Frankreich liegt er bei9 Euro –, sondern auch weltweit. In Australien liegt derMindestlohn bei 10,40 Euro. Ich könnte die Liste belie-big fortsetzen. 70 Prozent der Bevölkerung in Deutsch-land befürworten die Einführung eines gesetzlichenMindestlohns, übrigens auch 61 Prozent der Selbststän-digen. Warum? Weil es inzwischen auch die Selbst-ständigen satthaben, von einer Schmutzkonkurrenz vonUnternehmen bedroht zu werden, die Niedrigst- und Bil-ligstlöhne zahlen. Tun Sie etwas dagegen!

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sind Regierungspartei, also appellieren Sie nicht,sondern regieren Sie. Es wird Zeit, dass wir endlich Er-gebnisse sehen.

(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder[CDU/CSU]: Also, die Rede hat Sie nicht ge-rettet!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von

Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon seit

vielen Jahren ist die Bevölkerung für einen gesetzlichenMindestlohn; das wissen wir alle. Ich gebe zu: Ich hattezeitweise wirklich die Illusion, wir könnten auch hier indiesem Hohen Hause eine parlamentarische Mehrheit fürden gesetzlichen Mindestlohn erreichen. Nach denLandtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz schien es mir so, als würde der Schock, den dieFDP dort erfahren hat, tatsächlich dazu führen, dass sieauch sozialpolitisch ein bisschen Vernunft annimmt. Eshieß nach diesen Landtagswahlen tatsächlich: Es ist jetztunsere Aufgabe, unser soziales Profil zu schärfen.

Als bekannt wurde, dass an die Spitze der Partei HerrRösler gesetzt werden soll, dachte ich: Vielleicht liegtdarin auch eine Chance für den Mindestlohn. Herr Rös-ler hatte nämlich, was den Mindestlohn in der Pflege an-

geht, die Kurve gekriegt und sich vom Saulus zum Pau-lus gewandelt. Als dann noch der Kieler Arbeitsministerpresseöffentlich gesagt hat – Herr Ernst hat es schon zi-tiert –: „Wir müssen uns für Lohnuntergrenzen öffnen“;„2 Euro Stundenlohn sind weder sozial noch liberal“, dadachte ich: Das findet vielleicht Gehör in der FDP-Bun-destagsfraktion.

Aber seit dem letzten Wochenende lässt es sich nichtleugnen: Das marktliberale Beharrungsvermögen hatsich in der FDP ganz offensichtlich durchgesetzt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was war dennam letzten Wochenende? Habe ich da was ver-passt?)

Die Erneuerung ist abgeblasen. Der Parteivorsitzendesagt nämlich: Der liberale Kompass stimmt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Bei uns ist Norden immer Norden!)

– Ich will Ihnen einmal etwas sagen, lieber Herr Kolb:Wenn Sie Ihren Kurs nicht ändern, dann ist es vollkom-men egal, wer bei Ihnen regelt oder segelt, dann wird dieFDP weiterhin Schiffbruch erleiden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sagen Sie doch einmal ganz im Ernst: Sie müsstenjetzt doch eigentlich ein bisschen spüren, was es heißt, ineiner prekären Lage zu sein.

(Lachen des Abg. Sigmar Gabriel [SPD] –Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das istdoch gut so!)

Ich dachte, dass die prekäre Lage, in der Sie sich befin-den, dazu führen könnte, dass Sie wenigstens ein biss-chen für die Situation derjenigen Menschen sensibilisiertwerden, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigtsind.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Diese Krokodils-tränen! Heuchlerisch!)

Aber nichts davon scheint der Fall zu sein. Nein, Sie ha-ben ein kaltes Herz, und Sie haben keinen sozialpoliti-schen Verstand.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Die Fakten sind lange bekannt: 6,6 Millionen Men-schen in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor,Tendenz steigend. 3,4 Millionen arbeiten für weniger als7 Euro die Stunde. Mehr als 1 Million arbeiten fürLöhne unter 5 Euro die Stunde brutto. Eine Friseurin inSachsen bekommt 3,06 Euro die Stunde. Dafür kannman sich nicht die Haare schneiden lassen; da kann mansich wirklich nur die Haare raufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mehr als 350 000 Menschen arbeiten Vollzeit und be-kommen trotzdem ergänzend Hartz IV. Ich finde, das istbeschämend für eine Regierung, das ist entwürdigendfür die Betroffenen, und das ist für die Steuerzahler ver-dammt teuer. Denn allein ein Mindestlohn von 7,50 Euro

Page 66: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Brigitte Pothmer

(A) (C)

(D)(B)

würde für den Staat Einsparungen in Höhe von 1,5 Milli-arden Euro bedeuten.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn alle Arbeitsplätze erhalten blieben!)

Diese 1,5 Milliarden Euro nehmen Sie, um skrupelloseUnternehmer zu subventionieren, die sich gegenüberdenjenigen Wettbewerbsvorteile verschaffen, die faireLöhne zahlen. Das ist Wettbewerb à la FDP. Dem gebenSie Ihren Segen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mit der Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeitwerden die Probleme zunehmen; das hat die Anhörungeindeutig ergeben. Es wird nicht zu einem allgemeinenProblem kommen, aber es wird Druck auf die unterenLöhne ausgeübt werden.

Liebe Kollegen von der FDP-Fraktion, Sie sind ein-mal angetreten mit dem Grundsatz: Arbeit muss sichwieder lohnen. – Jetzt müssen Sie uns hier im Parlamenterklären: Warum gilt das eigentlich nicht für die unters-ten Lohngruppen? Die Lohnspreizung hat in den letztenJahren immer weiter zugenommen. Im letzten Jahr hat esauf den Veranstaltungen zum 1. Mai schon viele Trans-parente gegeben, auf denen stand: Habe Arbeit, braucheGeld. – Es ist auch Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dassdie Menschen für ihre Arbeit einen vernünftigen Lohnbekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Arbeitsplatzvernichtungsargument ist seit Jahrenwiderlegt. Wenn Sie bei der Anhörung zugehört hätten,hätten Sie mitbekommen, dass das IAB noch einmaldeutlich darauf hingewiesen hat, dass ein klug einge-führter Mindestlohn positive Arbeitsplatzeffekte habenwürde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,könnte es vielleicht sein, dass Sie, nachdem Sie in derEnergiepolitik einen Scherbenhaufen produziert haben,gerade dabei sind, den nächsten Polterabend, jetzt in derArbeitsmarkt- und Sozialpolitik, zu organisieren?

(Jens Ackermann [FDP]: Ist das ein Antrag? –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer heiratetwen? – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Weilwir eurem Antrag nicht zustimmen?)

Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, deralle sozial- und arbeitsmarktpolitischen Anforderungenerfüllt. Sie wissen das im Prinzip genau. Herr Weiß, ichspreche Sie noch einmal an. Sie sind in Ihrer CDU-Ar-beitnehmerorganisation doch seit Jahren unterwegs imKampf für einen flächendeckenden gesetzlichen Min-destlohn –

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein, er ist schon überzeugt!)

bisher leider ohne Erfolg. Sie haben jetzt die Chance!Machen Sie den Rücken gerade und stimmen Sie unse-rem Gesetzentwurf zu!

Ich appelliere an Sie: Folgen Sie Ihrem sozialpoli-tischen Verstand und verstecken Sie sich nicht längerhinter branchenspezifischen Mindestlöhnen! Branchen-spezifische Mindestlöhne sind eine sinnvolle Ergänzung– das will ich gar nicht bestreiten –, wenn sie oberhalbder allgemeinen Mindestlohngrenze liegen, aber sie tau-gen wirklich nicht als Ersatz. Selbst wenn sich Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber in ei-ner Branche auf einen Mindestlohn verständigt haben,zelebrieren sofort die Hohepriester um Rainer Brüderleihr Hochamt der Ideologie und blockieren die Einfüh-rung dieses Mindestlohns. Das haben wir nun wirklichhinlänglich erfahren müssen.

Meine Damen und Herren von Union und FDP, derMindestlohn wird kommen. Vielleicht können Sie diesehistorische Gewissheit noch für eine bestimmte Zeit ver-drängen. Vielleicht können Sie diesen Prozess noch et-was verzögern. Eines ist sicher: Aufhalten können Sieihn nicht.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/

CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ulrich Lange (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte vorab dem Kollegen Markus Kurth von denGrünen zum heutigen Geburtstag ganz herzlich auch inunserem Namen gratulieren.

(Beifall)

Herzlich willkommen zur Mobilmachung für den1. Mai! Diese Debatte scheint mir dazu zu dienen, dieleeren Säle bei DGB, Linken und SPD vielleicht wiederein bisschen zu füllen. Der 1. Mai ist ein Sonntag. Ichfreue mich auf Sonne und Bayern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, mit Ihrem Antrag planenSie in erster Linie eines: Sie wollen in die Tarifautono-mie eingreifen,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So sieht es aus!)

die die Väter des Grundgesetzes aus gutem Grund so de-finiert und aufgeschrieben haben. Wir sind mit dieser Ta-rifautonomie in den vergangenen über 60 Jahren inDeutschland sehr gut gefahren, wie ich glaube. Überalldort, wo es soziale Ungleichgewichte gab, wo es einstrukturelles Funktionsdefizit der Tarifautonomie gab,haben wir – in verschiedenen Konstellationen – gehan-delt, zuletzt bei der Zeitarbeitsbranche – wie ich finde,sehr schlüssig –, aber auch bei der Pflege.

Page 67: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11997

Ulrich Lange

(A) (C)

(B)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Liebe Kollegin Pothmer, Sie haben zu Recht den zu-künftigen FDP-Vorsitzenden gelobt. Sie sehen also: Dieschwarz-gelbe Koalition weiß sehr wohl, was Sozial-,Lohn- und Arbeitsmarktpolitik ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen werden wir beim Prinzip der branchenbe-zogenen Mindestlöhne bleiben. Mindestlöhne gibt esderzeit in acht Branchen. Fünf davon sind unterSchwarz-Gelb aufgenommen worden, nur eine einzigeunter Rot-Grün. Deswegen bitte ich, das Ganze in dieserRelation zu sehen.

Lieber Kollege Ernst, Sie kommen ja aus der Gewerk-schaft. Ich bin immer davon ausgegangen, dass es inDeutschland zwei starke Pole, zwei starke Blöcke gibt:zum einen die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, zum anderen die Ar-beitgeberverbände. Genau das macht Tarifpolitik aus.Jetzt muss ich fast annehmen, dass Sie der eigenen Ge-werkschaft nicht mehr vertrauen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau so ist es!)

Oder ist der Vertrauensverlust schon so weit fortgeschrit-ten, wie es bei Ihrer Partei in Bezug auf Ihre Person derFall ist?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zueiner Zwischenfrage)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Lange – –

Ulrich Lange (CDU/CSU):Ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen, dann

gerne; meine Redezeit ist sehr knapp.

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sitzen aneinem Tisch. Sie wissen um die Probleme der Betriebeund der Branche, sie kennen die Sichtweisen und tau-schen sich auf Augenhöhe aus. Wir befinden uns ebennicht in einer Planwirtschaft, wo der Staat losgelöst vonProduktivität und Realität die Löhne in den Betriebenfestsetzt. Genau das macht das Wesen der Tarifautono-mie aus.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Peinlich ist das!)

Jetzt bitte ich um die Verlängerung der Redezeit.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön, Herr Ernst.

Klaus Ernst (DIE LINKE):Ich habe folgende Fragen. Erstens. Ist Ihnen bekannt,

dass der Deutsche Gewerkschaftsbund, die IG Metall,

Verdi, NGG und andere Gewerkschaften den Mindest-lohn fordern und sogar Kampagnen dafür veranstalten?Es steht also durchaus nicht im Widerspruch zu meinerGewerkschaft, wenn ich hier den Mindestlohn fordere.

Zweitens. Ist Ihnen bekannt, dass es insbesondere imNiedriglohnbereich Unternehmen gibt, in denen es ausunterschiedlichen Gründen, die nicht bei den Arbeitneh-mern zu suchen sind, kaum gewerkschaftlich organi-sierte Mitarbeiter gibt, dass also von den beiden erwähn-ten Polen einer fehlt, sodass Tarifergebnisse, wie Sie siefordern, nicht zustande kommen können? Könnte dasvielleicht der Grund sein, warum die Gewerkschaften,obwohl sie an der Tarifautonomie festhalten, gesetzlicheMindestlöhne fordern?

(Beifall bei der LINKEN)

Ulrich Lange (CDU/CSU):Lieber Kollege Ernst, könnte es sein, dass die Men-

schen das Vertrauen in die Gewerkschaften so sehr ver-loren haben, dass sie nicht mehr glauben, dass diese inder Lage sind, den einen Pol darzustellen und dieseLöhne durchzusetzen? Ich glaube, dass meine Argumen-tation insoweit sehr schlüssig ist.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Was Sie letztlich wollen und machen, ist, den Tarifpar-teien ihr Recht zu beschneiden und staatlichen Einflussauf die Löhne zu fordern. Das wird am Ende, auch wennSie es nicht glauben, Arbeitsplätze kosten. Denn ein flä-chendeckender gesetzlicher Mindestlohn wird regiona-len Unterschieden nicht gerecht. Das müssten Sie eigent-lich selber erkennen. In einer Region wie derjenigen, ausder ich komme, mit weniger als 3 Prozent Arbeitslosen,ist die Situation völlig anders als beispielsweise inMecklenburg-Vorpommern.

Ich glaube, dass wir mit branchenspezifischen Min-destlöhnen und mit den vorhandenen gesetzlichen Rege-lungen, mit denen soziale Unwuchten ausgeglichenwerden können, den richtigen Weg gehen. Mit dem Ar-beitnehmer-Entsendegesetz – es wurde schon genannt –und mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Ta-rifverträgen verhindern wir Lohndumping. Wir habenauch – Sie glauben nicht daran, aber ich setze auf unsereGerichte – die Rechtsprechung zu sittenwidrigen Löh-nen, und wir haben noch andere Instrumentarien wie dasTariftreuegesetz und vieles andere mehr.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Welches Tarif-treuegesetz denn?)

Setzen wir weiter auf die Systemstimmigkeit undÜbersichtlichkeit gesetzlicher Vergütungsregulierungendort, wo wir sie brauchen! Setzen wir aber auch auf dasKoalitionsgrundrecht, auf die Tarifautonomie und aufdas Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft gegen Plan-wirtschaft und staatlichen Eingriff.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)

(D)

Page 68: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

11998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Sigmar Gabriel von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sigmar Gabriel (SPD):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wer-

den uns an den letzten Beitrag gern erinnern und einmaleinen Gesetzentwurf über Tariftreue in den DeutschenBundestag einbringen. Der Kollege Lange wird dannerstens erstaunt feststellen, dass es dieses Gesetz bishernicht gibt.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Auf Länderebene!)

Zweitens wird er ihm, nachdem er es gerade angespro-chen hat, bestimmt zustimmen. Dieses Gesetz ist alsoeine gute Idee.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege, man muss schon eine Menge Humorhaben – die Menschen, die es betrifft, können diesen Hu-mor aber nicht mehr aufbringen, weil sie in Verhältnis-sen leben, in denen ihnen der Spaß am Leben genommenwird –, um das zu ertragen, was Sie gerade vorgetragenhaben. Die rechte Seite des Hauses hat sich 20 Jahre langMühe gegeben, der Öffentlichkeit zu erklären, warumFlächentarifverträge abgeschafft werden müssen undwarum betriebliche Bündnisse besser sind.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!)

– Was? Ihre Arbeitsministerin ist doch eine der Protago-nistinnen gewesen für die Abschaffung des Flächentarif-vertrages. Die CDU hat auf ihrem Leipziger Parteitagbeschlossen, dass es betriebliche Bündnisse geben soll.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn Sie in dieVergangenheit gucken, dann schauen wir mal,was Sie gemacht haben!)

Diejenigen, die uns in das letzte Jahrhundert zurückfüh-ren wollen, die die Gewerkschaften in Deutschland ge-schwächt haben und die Ostdeutschland, wo kaum nochein Arbeitsplatz der Tarifbindung unterliegt, zum Nied-riglohnland gemacht haben – das sind Sie und Ihre Kol-legen von der FDP –, sagen jetzt: Das sollen doch bittedie Gewerkschaften klären. – Dabei sind Sie es doch, diedie Tarifvertragsfreiheit in Deutschland aufs Spiel ge-setzt haben. Sie haben zu verantworten, was hier passiertist. Das ist ein Ding aus dem Tollhaus.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sorgen durch Ihr Handeln dafür, dass es keine Ta-rifverträge gibt.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

– Dann schauen wir uns doch einmal an, was in denBundesländern los ist, in denen Sie den Ministerpräsi-denten stellen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben in Bayern die Tarifbindung!)

Deren Zahl wird Gott sei Dank – der Ausgang der letztenWahlen war da ganz erfreulich – geringer.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)

– Ich verstehe ja, dass Sie jetzt nervös werden. Aber ichsage Ihnen eines: Ihre Arbeitsministerin und Ihre Kolle-gen von CDU/CSU und FDP haben dafür gesorgt, dassausgehandelte Mindestlöhne in vielen Teilen Deutsch-lands eben nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind.

Ihre Leute waren übrigens schon einmal klüger. HerrKollege Lange, die CDU/CSU hat einmal einem Gesetz-entwurf der SPD-Bundestagsfraktion zugestimmt, ob-wohl Ihre Fraktion die Mehrheit hatte. Das war aller-dings – das will ich zugeben – zu Konrad AdenauersZeiten, aber Konrad Adenauer loben Sie so gerne. WennSie das nachlesen, dann werden Sie wissen, dass es Be-reiche gibt, in denen Tarifverträge nicht existieren und indenen die Gewerkschaften nicht stark genug sind. HerrKollege Lange, in dem Gesetz steht, dass sich in diesemFall der Staat einmischen muss. Denn wir müssen dafürsorgen, dass die Menschen in Deutschland von ihrer Ar-beit leben können, egal ob es einen Tarifvertrag gibt odernicht.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Weiß, ich kann Ihnen Ihre Parteitagsbeschlüssezur Tarifvertragsfreiheit gerne zusenden, wenn Sie sienicht kennen.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ichkenne aber auch die anderen! – Dr. Heinrich L.Kolb [FDP]: Was ist mit der Agenda 2010?)

– Da haben wir die Tarifvertragsfreiheit verteidigt.

Herr Kollege Weiß, Sie verweisen darauf, dass Sie beider Einführung der Branchenmindestlöhne mitgemachthaben. Sie gestatten mir hoffentlich, dass ich sage: Ja,auch wir sind stolz darauf, dass wir in der Großen Koali-tion mit Ihnen einen Mindestlohn für 2,5 MillionenMenschen einführen konnten. Übrigens erhalten durchunsere Anträge bei den Verhandlungen zu Hartz IV jetztwieder 1,2 Millionen Menschen mehr einen Mindest-lohn.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ja, gell!)

– Ich war dabei; ich weiß, dass wir das erst beantragenmussten. Sie hatten das zuvor nicht vorgesehen. – Viel-leicht verstehen Sie, dass der Beschluss in der GroßenKoalition ein Kompromiss war – Sie können auch IhreArbeitsministerin fragen, die damals in einem anderenAufgabenbereich tätig war –, weil die CDU/CSU nichtbereit war, unseren Anträgen auf Einführung eines ge-setzlichen Mindestlohns zu folgen.

Page 69: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11999

Sigmar Gabriel

(A) (C)

(D)(B)

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Da hatten wir auch mehr Arbeitslose!)

Ich würde Ihnen jetzt gerne einmal zeigen, wo dieSchwachstellen der Branchenmindestlöhne liegen. Wirhaben zum Beispiel – Frau von der Leyen hat das großangekündigt – einen Branchenmindestlohn im Pflegebe-reich. Ihre Arbeitsministerin hat gesagt, das sei etwasrichtig Gutes. In Osnabrück gibt es einen jungen Unter-nehmer, der gerade mit häuslicher Pflege zum Billigtarifwirbt: Pflege für 1 490 Euro brutto im Monat; das sindungefähr 1 000 Euro netto. Sie können jetzt einmal aus-rechnen – es geht hier um 24-Stunden-Pflege –, ob manso auf den Mindestlohn im Pflegebereich kommt. Natür-lich nicht! Der Unternehmer unterläuft den Mindestlohn;ich erkläre Ihnen gleich, wie er das macht.

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Dann kriegter den Zoll an den Hals! Der Zoll wird sich dasanschauen!)

Die Caritas wirbt mit einer 24-Stunden-Pflege für1 850 Euro im Monat; davon bleiben gut 1 000 Euronetto übrig. Natürlich werben beide mit polnischen Pfle-gekräften, nicht etwa mit deutschen;

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Für die gilt das auch!)

das Angebot gilt ab dem 1. Mai.

Warum können sie das machen? Weil ein großer Teilder 24-Stunden-Pflege Bereitschaftsdienst oder Haus-wirtschaftshilfe umfasst. Deshalb treffen die Bedingun-gen des Mindestlohns in der Pflege nicht zu; sie geltennicht. Diese Unternehmen unterlaufen also den Mindest-lohn. Diejenigen, die sich bei uns zur Altenpflegerin aus-bilden lassen, werden demnächst arbeitslos, weil andere,die in ihren Heimatländern häufig bittere Lebensbedin-gungen vorfinden – das gebe ich gerne zu; ich werfe esihnen nicht vor –, mit einem solchen Lohn besser lebenkönnen als mit dem Lohn zu Hause.

Sie von der Koalition vernichten hier qualifizierte Ar-beitsplätze, weil Sie einen Mindestlohn verhindern. Dasist die Realität.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Wissen Sie, hier zeigt sich der Irrsinn Ihrer Position inder Debatte. Welcher Auftraggeber im Handels-, Dienst-leistungs- oder Handwerksbereich kriegt wohl den Auf-trag: derjenige, der einen fairen Lohn bietet, der Auslöseund Tariflöhne zahlt, oder derjenige, der mit Sub-Sub-Subunternehmern und miserablen Löhnen unter 7, 6oder 5 Euro pro Stunde agiert? Natürlich derjenige, dermit Billigarbeitskräften auftritt. Was macht er hinterher?Er schickt seine Leute zum Sozialamt; denn da könnensie sich über Hartz IV das restliche Geld holen.

Herr Brüderle ist nicht hier. Ich würde aber gerne ein-mal fragen, Herr Kolb: Was ist das eigentlich für eine li-berale Wirtschaftsauffassung, die es zulässt, dass derStaat eine Lohnsubventionierung in Milliardenhöhe vor-nimmt, dass die anständigen Handwerksmeister ihre

Aufträge verlieren, weil sie Tariflöhne zahlen, dass dieGesellen hinterher arbeitslos sind, weil sie mit anderen,die mit Sub-Sub-Subunternehmern agieren und keinevernünftigen Löhne zahlen, nicht mithalten können? Sievernichten Arbeitsplätze in Deutschland, und zwar Ar-beitsplätze mit einem Lohn, von dem man leben kann.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Sie schicken die Leute hinterher zum Sozialamt. Das istdie Realität Ihrer Politik.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Gabriel, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kolb?

Sigmar Gabriel (SPD):Sehr gerne.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Kollege Gabriel, Sie haben in Bezug auf die

Kollegen der Union den Blick bis zurück in das Jahr2005 gerichtet. Deswegen werden Sie sicherlich nichtsdagegen haben, wenn wir den Blick zurück auf das Han-deln der SPD bis 2005 richten.

Sigmar Gabriel (SPD):Gerne!

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Sie haben Geschäftsmodelle beklagt, bei denen Ar-

beitgeber Löhne zahlen, die durch öffentliche Transfersaufgestockt werden müssen. Könnten Sie mir sagen, obdas Konzept der Aufstockung Teil der Agenda 2010 ist,die sich namentlich mit Ihrer Partei, der SPD, verbindet?War es damals nicht gerade Ihre Idee, geringqualifizier-ten Menschen durch eine Art Kombi-Einkommen, eineKombination aus dem selbst erwirtschafteten Einkom-men und einem öffentlichen Transfer, zu einem Min-desteinkommen zu verhelfen, das in jedem einzelnenFall bedarfsdeckend ist? Würden Sie mir zustimmen,dass Sie sich gerade über sich selbst beklagen und IhrHandeln in den Jahren 2005 und davor beweinen?

Sigmar Gabriel (SPD):Erstens. Wenn es so wäre, wäre es vernünftig, eigene

Fehler einzusehen und sie zu korrigieren.

(Zuruf von der LINKEN: Ja, dann machen Sie das doch!)

Zweitens. Wir reden hier nicht mehr über Geringqua-lifizierte.

(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD] – Zuruf von der SPD: Genau!)

Page 70: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sigmar Gabriel

(A) (C)

(D)(B)

Wir reden über Menschen mit einer ganz normalen Be-rufsausbildung. Na klar! Glauben Sie, dass die Alten-pflegerin, die Krankenschwester und der Pfleger keineanständige Berufsausbildung haben?

Drittens. Wir haben 2002 nicht von der Öffnung desArbeitsmarktes für osteuropäische Arbeitskräfte zum1. Mai dieses Jahres geredet. Darum geht es doch. Dashat die Kollegin Kramme klargemacht.

Wir haben jetzt eine andere Situation. Deswegen bietendiese Unternehmen Pflegekräfte für 1 400 oder 1 800 Eurozum 1. Mai an. Dann wird der Arbeitsmarkt für die ost-europäischen Arbeitskräfte geöffnet. Davon sind dieFachkräfte betroffen und nicht diejenigen, für die wiralle möglichen Kombilöhne in Deutschland ausprobierthaben, um sie sukzessive an den ersten Arbeitsmarkt he-ranzuführen. Sie dringen richtig in den ersten Arbeits-markt ein.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Schlimm!)

Inzwischen sind mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmerin Deutschland im Niedriglohnsektor beschäftigt. Wennwir – das sage ich Ihnen – mit unserer Politik Fehler ge-macht haben, dann wird es jetzt Zeit, dass wir sie korrigie-ren. Wir erleben eine falsche Entwicklung in Deutsch-land. Diese wollen wir korrigieren, Herr Kollege Kolb.Sie wollen sie ausbauen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Ich weiß nicht, Herr Kolb, wann Sie sich hinsetzendürfen. Aber meine Antwort ist damit jedenfalls beendet.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann setze ich mich!)

Herr Kolb, ich mache ein bisschen weiter. Sie erhebendas zum Prinzip. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, wo-rum es im Kern geht. Im Kern geht es nicht nur um dieHöhe des Lohnes. Es geht um die Substanz unseres Lan-des. Denn was hat dieses Land kräftig, wohlhabend undstark gemacht? Die Tatsache, dass sich Arbeit gelohnthat. Wir erleben in Deutschland gerade eine Entwick-lung, die dazu führt, dass sich Arbeit und Leistung nichtmehr lohnen.

Wir alle sind mit dem Spruch unserer Eltern groß ge-worden: Du sollst es einmal besser haben als wir.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)

Was meinen Sie, wie viele Eltern sich heute Sorgen ma-chen, dass es ihren Kindern trotz guter Berufsausbildungschlechter gehen wird als ihnen? 40 Prozent der jungenLeute, die eine gute Ausbildung haben, landen in prekä-ren Beschäftigungsverhältnissen oder Zeitarbeit undwerden schlecht bezahlt. Das sind diejenigen, denen wirimmer sagen: Wir wollen, dass ihr Kinder bekommt,eine Familie gründet, dass ihr etwas für das Alter zu-rücklegt. Die halten uns für gaga, Herr Kollege Kolb.Wir wollen dafür sorgen, dass sie nur noch Sie für gagahalten und nicht diejenigen, die das ändern wollen. Dar-auf können Sie sich verlassen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht um die Substanz der sozialen Marktwirt-schaft. Es geht darum, ob sich Arbeit lohnt. Es geht da-rum, dass nicht das sozial ist, was Arbeit schafft, son-dern das, wovon man leben kann, wenn man arbeitengeht. Darum geht es in Deutschland.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Es geht um den Wert von Arbeit. Das scheinen Sienicht zu verstehen. Es geht – da hat die Kollegin Poth-mer recht – auch um die Würde von Menschen, die ar-beiten gehen. Es geht darum, dass jemand, der einemMenschen im Altenheim täglich mehrfach die Windelnwechselt, der ihn füttert, der ihn betreut, auch einen an-ständigen Lohn bekommt und nicht Angst davor habenmuss, wegen Lohndumping aus dem Ausland hinterherzum Sozialamt gehen zu müssen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Da haben wir doch den Mindestlohn!)

Das dürfen die Leute in Deutschland doch von Ihnen er-warten.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind dagegen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!)

Sie sorgen dafür, dass Mindestlöhne unterlaufen werdenkönnen. Sie tun so, als ob man in Deutschland Jobs ver-liert, wenn man den Mindestlohn einführt. In Wahrheitverlieren wir Jobs, wenn wir ihn nicht einführen.

Meine Damen und Herren, es ist Zeit, dass wir inDeutschland wieder Recht und Ordnung auf dem Ar-beitsmarkt herbeiführen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das schaffen wir! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Nein, Sie und Frau von der Leyen sind den Frauen inDeutschland zweimal in den Rücken gefallen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

als Sie dagegen waren, dass es bei der Leiharbeit glei-chen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und als Sie dagegenwaren, dass wir endlich eingreifen, sodass Frauen undMänner gleichen Lohn bei gleicher Arbeit kriegen. Siehaben beide Male dagegen gestimmt. Ihre Ministerinfällt den Frauen in den Rücken, wenn es ums Handelngeht,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und nach draußen hält sie feine Reden über Aufsichtsräteund Quoten, die sie dort einführen will. Das ist das, wasSie hier machen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Page 71: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12001

(A) (C)

(D)(B)

Sigmar Gabriel (SPD):Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

Meine Bitte an die CDU/CSU ist: Damals, 1952, gabes einen Gesetzentwurf der SPD. Darüber gab es langeBeratungen. Sie bildeten – wie heute – eine gemeinsameRegierung mit der FDP. Am Ende der Beratungen hatteIhre Regierung unter Konrad Adenauer den Mut, demGesetz über Mindestarbeitsbedingungen, dessen Ent-wurf die SPD eingebracht hatte, mit den Stimmen vonCDU/CSU zur Mehrheit zu verhelfen – gegen die Stim-men Ihres Koalitionspartners FDP. Sie zitieren Adenauerso gern. Verhalten Sie sich doch einmal so wie er.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Pascal Kober (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Gabriel, Ihre rhetorischen Fähigkeiten, IhreWortgewandtheit sind beeindruckend. Aber Sie waren inden vergangenen Beratungen zum Thema Mindestlohnnicht anwesend. Insofern haben Sie nicht gehört, was wirden Kollegen Ihrer Fraktion schon immer versucht ha-ben von Grund auf zu erläutern.

Wenn Sie die Anträge bzw. den Gesetzentwurf gele-sen hätten, die zur Beratung vorliegen, wenn Sie sich einbisschen in der Diskussion auskennen würden, dannwürden Sie sehen, dass gegenwärtig unterschiedlicheMindestlohnhöhen im Gespräch sind: Da gibt es die7,50 Euro von Bündnis 90/Die Grünen, die 8,50 Eurovon Ihrer Partei und die 10 Euro der Linkspartei.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Da sind doch 8,50 Euro ein schönes Mittel!)

Ich habe von meinem Kollegen Herrn Schlecht auf einerPodiumsdiskussion in Freiburg, auf der wir gemeinsammit Peter Weiß waren, gelernt, dass die Linkspartei inBaden-Württemberg sogar 12 Euro für notwendig undfür einen gerechten Lohn hält.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Neuer deutscher Rekord!)

Ein Bürger hat mir geschrieben, er habe eine Partei ge-gründet, um einen Mindestlohn von 16 Euro durchzuset-zen. Als ich Sie, Herr Schlecht, gefragt habe: „Warumdann nicht einen gesetzlichen Mindestlohn von20 Euro?“, haben Sie ernsthaft gesagt: Stimmt, darübermüsste man einmal nachdenken. – Lieber Herr Gabriel,Sie sehen, es ist gar nicht so leicht, wenn sich die Politikin die Findung von Lohnhöhen einmischt,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr!)

wenn sie festlegen will, was ein gerechter und guterLohn ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb sagen wir nach wie vor: Versuchen wir, die Po-litik aus dieser Frage herauszuhalten! Mittlerweile ver-suchen Sie in Ihren Vorlagen, Ihre Vorstellungen verges-sen zu machen, dass nämlich für die Festlegung einesgesetzlichen Mindestlohnes die Politik zuständig ist, in-dem Sie plötzlich davon sprechen, dass irgendwelcheunabhängigen Kommissionen die Mindestlohnhöhe fest-legen sollen.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: In England sehr erfolgreich!)

Wenn man die Anträge bzw. den Gesetzentwurf vonder Opposition genau liest, dann stellt man fest, dass SieIhren eigenen Vorschlägen misstrauen und dass Ihre Vor-lagen nicht konsistent formuliert sind; denn der nationaleMindestlohnrat, den beispielsweise die Linkspartei vor-schlägt, soll die Lohnhöhe fortwährend entwickeln, aberden Eingangsmindestlohn von 10 Euro möchten Sie ihmpolitisch vorgeben, genauso wie die Grünen ihren gefor-derten Eingangsmindestlohn von 7,50 Euro.

Wir haben nichts dagegen, dass Löhne gut und ge-recht sein sollen. Aber die Frage ist doch: Wer kann dasfeststellen? Es ist nicht so, dass wir bzw. die Tarifpartnereinfach, losgelöst von der marktwirtschaftlichen Wirk-lichkeit, Lohnhöhen festlegen könnten. Dann wären wiruns vielleicht schnell einig. Das Gleiche gilt auch, wennman die Lohnhöhe danach definieren wollte, was für dieRentensicherungssysteme angemessen wäre. Am Endeist immer der Verbraucher mit seinem individuellenPreisempfinden daran beteiligt, welche Löhne in unsererGesellschaft gezahlt werden. Denn wenn die Löhne zuhoch sind, dann werden die Produkte zu dem sich darausergebenden Preis nicht mehr abgenommen. Dann drohtArbeitslosigkeit; dann droht, dass Menschen nicht mehran der Gesellschaft teilhaben können; dann droht, dassdie Menschen keine Chancen mehr auf dem Arbeits-markt haben. Das scheint Ihnen, lieber Herr Gabriel, völ-lig egal zu sein.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Eindruck muss man haben!)

Wir sagen: Die Menschen sollen Arbeit haben. Wenndas, was sie verdienen, für sie und ihre Familien nichtzum Leben reicht, dann ist es auch nicht unanständigund nicht moralisch fragwürdig, wenn sie von der Soli-dargemeinschaft, vom Steuerzahler, etwas zu ihremLohn dazubekommen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Jetzt hat das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-

Möller von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Page 72: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ko-

ber, worüber Sie zum Schluss sprachen, halte ich für ei-nen Rechtsanspruch.

(Zuruf des Abg. Pascal Kober [FDP])

Kollege Kolb, den gab es übrigens schon zu Zeiten derSozialhilfe, wenn der Lohn nicht ausreichte, den man amEnde des Monats nach Hause brachte. Ich sage Ihnendas, weil Sie in Ihrer Fraktion der Experte sind.

Die SPD-Fraktion hat heute 80 junge Frauen zu Be-such, es ist nämlich Girls’ Day. Diese Girls, die wir herz-lich willkommen heißen, erwarten, dass eine Sache aufhört– denn das ist wesentlich für ihre berufliche Zukunft –: Siewollen, dass Schluss ist mit der Spirale nach unten, nachdem Motto: Es geht auch billiger, wenn es um Arbeitgeht. – Herr Gabriel hat zu Recht darauf hingewiesen:Wünschen wir nicht all unseren Söhnen und Töchtern,dass es ihnen besser geht als uns? Wenn wir das in Sa-chen Lohn nicht hinbekommen, dann lösen wir diesesVersprechen nicht ein. Das lassen Sozialdemokratennicht durchgehen.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb will ich Ihnen sagen: Wir brauchen mehr Rechtund Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Das steht mitnich-ten der Tarifautonomie oder Branchentarifverträgen ent-gegen; es ist vielmehr eine notwendige Ergänzung. Sosehen das auch die Gewerkschaften. Wer meint, er könnehier einen Keil dazwischentreiben, der glaubt auch, dieOsterhasen würden im Laufe des Jahres zu Weihnachts-männern umgeformt.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das passiert tatsächlich!)

Bei den Branchenmindestlöhnen haben wir Sie doch,ehrlich gesagt, zum Jagen tragen müssen. Glauben Siedenn, ohne unseren Druck hätten wir heute diese Min-destlöhne? Nein, dem ist nicht so. Wenn wir nicht jedenMonat Druck machen würden in Sachen Mindestlohn,dann wären wir nicht einmal da, wo wir heute sind. Dasist ein Teil der Wahrheit.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich an vier Beispielen kurz und knappdarstellen, wie es um den Mangel an Recht und Ordnungauf dem Arbeitsmarkt bestellt ist.

Erstes Beispiel. Es ist halb drei, wir alle haben zuMittag gegessen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ich noch nicht!)

deshalb können wir über die Fleischwirtschaft reden,zum Beispiel die in Niedersachsen. Die Zustände dortsind absolut unappetitlich, weil Recht und Ordnung feh-len. Die Dänen sagen: Deutschland ist ein Niedriglohn-land. – Deshalb schicken sie ihre Schweine zumSchlachten nach Deutschland. In der niedersächsischenFleischindustrie herrschen Bedingungen, da vergeht Ih-nen jeder Appetit auf das nächste Schnitzel.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Mir nicht! –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die niedersächsi-

schen Metzger werden in diesem Redebeitragverunglimpft!)

Zweites Beispiel: Herr Kolb, die Metzger in Thürin-gen – da kommt die berühmte Rostbratwurst her – habeneinen Lohn von 5,49 Euro pro Stunde. Dafür können siesich eindreiviertel Rostbratwürste leisten. Das stellen Siesich bitte vor.

Drittes Beispiel: Floristin – das ist ein Wunschberufvieler Frauen. Die machen wunderbare Sachen. Aberwas verdienen sie? 4,58 Euro pro Stunde in Brandenburgund im Hochlohnland Baden-Württemberg sage undschreibe 6,36 Euro.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Tarifvertrag!)

Viertes Beispiel: die Friseure in Thüringen. Darüberhat die Kollegin Pothmer schon gesprochen.

Deswegen sage ich: Wir müssen raus aus dieser Spi-rale „Es geht noch billiger“.

Der FDP-Minister aus Schleswig-Holstein ist vonHerrn Ernst bereits zitiert worden. Da sickert die Er-kenntnis durch, dass es so nicht weitergeht. HerzlichenGlückwunsch, kann ich da nur sagen. Sie haben den Di-rektor des IAB auf Ihrer Seite. In Spiegel-Online ist zulesen, er verstehe gar nicht, warum man einen gesetzli-chen Mindestlohn in Deutschland für Teufelszeug hält.Wissen Sie, was er sagt? Er sagt: Das ist Ökonomiefolk-lore. – Recht hat der Mann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. HeinrichL. Kolb [FDP])

Ich empfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Johann Wadephul

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der letzte sozialdemokratische Beitrag hat michfast schon wieder etwas milder gestimmt. Aber die davorzu Gehör gebrachten Beiträge und insbesondere derje-nige des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Parteiwaren an Populismus nicht zu überbieten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nur, Herr Gabriel: Seien Sie vorsichtig! Sie werdenschon jetzt an mancher Stelle von der Linkspartei über-holt. Herr Ernst ist der bessere Populist als Sie.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)

Sie werden ihn in diesem Bereich auch nicht überholen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Page 73: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12003

Dr. Johann Wadephul

(A) (C)

(D)(B)

Ich beginne mit den europapolitischen Aspekten IhresBeitrages und auch des Beitrages der Kollegin Kramme,die sogar von Völkerwanderung sprach. Herr Gabriel,Sie sprachen davon: Die dringen hier ein. – So reden Siedarüber, wenn für den lange Zeit unfreien Teil Europasnun endlich, nach einer langen Übergangszeit – das hatdort nicht jeder verstanden –, weil sich Deutschland aufseinem Arbeitsmarkt lange abgegrenzt hat, eine Öffnungstattfindet; eine Öffnung, die nicht weniger als die tat-sächliche Vollendung der Einheit Europas bedeutet, dievor 20 Jahren begonnen hat.

Das ist die Zäsur, vor der wir stehen. Bei europapoliti-schen Veranstaltungen – in Warschau oder hier –, beiVeranstaltungen mit Menschen aus Polen, Tschechienoder dem Baltikum halten Sie schöne Reden über Euro-papolitik. In arbeitsmarktpolitischen Debatten hingegenverbreiten Sie einen dumpfen Populismus und sagen:Die dringen hier ein und nehmen den Deutschen die Ar-beitsplätze weg. –

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Lieber Herr Gabriel, Sie befinden sich, um das vornehmauszudrücken, in einer unguten Gesellschaft.

(Anette Kramme [SPD]: Ihr Vortrag ist unsubstanziiert!)

Die Tatsache, dass Sie sich dieser Mittel bedienen müs-sen, spricht nicht dafür, dass Sie in Ihrer Rolle souveränsind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dafür sprach übrigens auch die sehr zufriedene Miene,mit der Herr Steinmeier den Saal nach Ihrem Beitragverlassen hat.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Der wollte sich Sie ersparen!)

Zur Sache: Worüber reden wir? Frau Kramme hat aufdie Recherchen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung hingewiesen. Wir reden über 100 000 Ar-beitskräfte – vielleicht sind es auch 130 000 –, die abdem 1. Mai 2011 zusätzlich auf dem deutschen Arbeits-markt zu finden sein werden. Angesichts eines Verlustesvon 200 000 Arbeitskräften in diesem Jahr als Folge desdemografischen Wandels – darauf hat die Bundesagenturfür Arbeit hingewiesen –,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei einer Gesamt-zahl von 40 Millionen Erwerbstätigen!)

angesichts der Tatsache, dass Deutschland ein Wirt-schaftswachstum hat wie kaum ein anderes Land

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und immer noch über 4 Millionen Arbeitslose!)

– in einigen Bereichen herrscht in Deutschland glückli-cherweise sogar wieder Vollbeschäftigung –,

(Anette Kramme [SPD]: Aber in welchen Bereichen denn?)

und angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland ei-nen Fachkräftemangel haben, muss man sich keine Sor-gen darüber machen, dass 130 000 Menschen nachDeutschland kommen.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber die müssen anständig bezahlt werden!)

Aus deutscher Sicht muss man sich eher darüber freuen– das tun die Betriebe auch –, dass wir Arbeitskräfte be-kommen, die uns unterstützen können. Diese Menschenheißen wir willkommen, und wir behandeln sie selbst-verständlich gut.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Darumgeht es ja gar nicht!)

Herr Gabriel, da Sie an Herrn Adenauer erinnert ha-ben, sage ich: Das ist nicht das erste Mal, dass wir eineZuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt haben.Jahrzehntelang gab es eine Zuwanderung in den deut-schen Arbeitsmarkt insbesondere von Menschen aus derTürkei. Wo waren Sie denn damals? In welcher Art undWeise haben Sie denn damals Alarm geschlagen? HabenSie damals eine Abschottung gefordert und gesagt: „Dasdarf nicht stattfinden!“?

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Darum geht es doch gar nicht! Meine Güte!)

Jetzt verbreiten Sie plötzlich Panik und sorgen für eineVerunsicherung, die aufgrund der Zahlen überhauptnicht gerechtfertigt ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Geschäftsmodell Angst! Das ist das Modell der SPD!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Wadephul, genehmigen Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Ernst?

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Ja.

(Zuruf von der SPD)

– Links ist links.

Klaus Ernst (DIE LINKE):Herr Wadephul, ist Ihnen entgangen, dass kein Red-

ner der Oppositionsfraktionen gefordert hat, den deut-schen Arbeitsmarkt abzuschotten? Ein gesetzlicher Min-destlohn würde – dabei ist es in diesem Zusammenhangerst einmal egal, wie hoch er wäre – selbstverständlichauch für die Kolleginnen und Kollegen gelten, die ausanderen Ländern zu uns kommen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber nicht egal!)

Insofern ist es eine Verdrehung der Tatsachen, wenn Sieuns unterstellen, wir würden aus irgendwelchen nationa-listischen Gründen unser Land abschotten wollen.

Herr Wadephul, ist Ihnen auch entgangen, dass es einErfolg war, dass der Lohn in Deutschland in den letzten

Page 74: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Klaus Ernst

(A)

(D)(B)

Jahrzehnten nicht einfach gedrückt werden konnte unddie Arbeitszeiten nicht einfach verlängert werden konn-ten, weil sie tarifvertraglich festgelegt waren? Ist Ihnenentgangen, dass sich die Unternehmerinnen und Unter-nehmer in unserem Land etwas anderes einfallen lassenmussten, als einfach nur billige Leute einzustellen oderdie Löhne zu drücken, wenn sie mehr Geld verdienenwollten? Sie mussten vernünftige Produktionsweisen er-arbeiten, neue Ideen haben und neue Produkte entwi-ckeln, kurz: Innovationen voranbringen.

Können Sie sich vorstellen – das ist der letzte Teilmeiner Frage –, dass eine Aufhebung dieser Grenzendazu führt – ich meine: wenn die Löhne wegrutschenund die Arbeitszeiten verlängert werden können –, dassdie Unternehmerinnen und Unternehmer künftig in gro-ßer Zahl den schlechteren Weg wählen, um mehr zu ver-dienen, das heißt, dass sie die Löhne senken und dieArbeitszeiten ohne finanziellen Ausgleich erhöhen wer-den?

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Herr Kollege Ernst, zunächst einmal sage ich: Ich

habe Ihren Antrag gelesen.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist gut!)

Sämtliche Forderungen werden mit dem Datum 1. Maioder einer besonderen Dringlichkeit wegen der Gefahrfür deutsche Arbeitsplätze begründet. Lesen Sie Ihren ei-genen Antrag, bevor Sie mir hier eine Frage stellen!

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau der Punkt!)

Zweitens habe ich den Ausführungen zugehört. Eswurde genau darauf, was ich hier angeführt habe, Bezuggenommen.

Drittens verweise ich Sie darauf, dass vor uns andereMitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondereGroßbritannien, ihren Arbeitsmarkt geöffnet haben.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Die haben Mindest-löhne! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die habenMindestlöhne!)

Dort gibt es übrigens – darauf werden wir ja immer hin-gewiesen – Mindestlöhne. Ja, die haben Mindestlöhne.Nur, lieber Herr Gabriel, das hat überhaupt nichts geän-dert.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie verstehen gar nichts!)

Die meisten Polen sind in der Zeit nach 2004 nach Groß-britannien gegangen. Der dortige Arbeitsmarkt hat die-sen Zuwachs voll verkraftet. Das hat überhaupt keineProbleme gegeben. Es hat keinen signifikanten Anstiegder Arbeitslosigkeit gegeben.

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Eben!)

Im Ergebnis wird das also überhaupt nichts ausrichten;das spielt überhaupt keine Rolle.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Wadephul, der Kollege Gabriel würde

Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Nein. Ich würde jetzt gerne einmal versuchen, diesen

Gedanken zu Ende zu bringen.

(Anette Kramme [SPD]: Schade! Das ist aberfeige! – Sigmar Gabriel [SPD]: Schade! Siehaben ein bisschen Schiss jetzt gerade! Dabeiwollte ich Ihnen helfen, Herr Kollege!)

– Haben Sie so wenig Gelegenheit, zu Wort zu kommen,Herr Gabriel? Das tut mir leid. Ich werde Ihnen gegenEnde meiner Rede Gelegenheit geben, da einzuhaken.

(Anette Kramme [SPD]: Das wird ja ein span-nendes Ergebnis!)

Herr Gabriel, Sie haben insbesondere die Pflege ange-sprochen. Ich möchte zunächst einmal auf eines hinwei-sen. Erstens ist es so, dass in diesem Bereich Mindest-löhne gelten.

(Anette Kramme [SPD]: Ja, aber die werdenunterlaufen, indem das als Haushaltshilfe be-zeichnet wird!)

Dies haben Sie leider verschwiegen. Zweitens wundereich mich, in welcher Art und Weise Sie an dieser StellePanik machen. Wir haben in der Pflege – das weiß ei-gentlich jeder in Deutschland – einen akuten Fachkräfte-mangel. Es fehlen mindestens 10 000 Arbeitskräfte. Eswerden mittlerweile Kopfprämien für Menschen, die be-reit sind, in diesem Bereich zu arbeiten, gezahlt. Das istin Ihrem Redebeitrag überhaupt nicht zum Ausdruck ge-kommen, lieber Herr Gabriel. Das muss ich Ihnen in al-ler Deutlichkeit sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Anette Kramme [SPD]: Aber nichtzu einem anständigen Mindestlohn! Das sindHaushaltshilfen!)

Ich muss hinzufügen: Wenn Sie hier diese in der Tatschwierige Arbeit schildern und beschreiben, dass indiesem Bereich Beschäftigte Menschen aus Windeln ho-len und ähnliche schwierige Tätigkeiten ausüben, mussich sagen: Sie haben sich für diesen Beruf entschieden. –Dass wir oder irgendjemand in diesem Hause die Würdedieser Arbeitskräfte infrage stellen und nicht der Mei-nung sind, dass sie gerecht entlohnt werden müssen,stimmt nicht.

(Anette Kramme [SPD]: Deshalb Mindest-lohn! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann ma-chen Sie es doch! Einfach machen!)

Uns so etwas vorzuwerfen, Herr Gabriel, finde ichschlicht und ergreifend daneben. Es ist eigentlich auchunter Ihrem Niveau. Das sollten Sie in Zukunft so nichtwiederholen. Auf dem Niveau brauchen wir derartigeDebatten nicht miteinander zu führen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(C)

Page 75: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12005

Dr. Johann Wadephul

(A) (C)

(D)(B)

Ich möchte abschließend sagen: Es gibt hier nicht nurschwarz und weiß.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch!)

Es ist nicht so, dass die einen für Mindestlohn und dieanderen dagegen sind, sondern es gibt unterschiedlicheWege. Auch wir sind für Mindestlöhne, wir sind sogarfür gesetzliche Mindestlöhne. Das, was aufgrund des Ar-beitnehmer-Entsendegesetzes und anderer Gesetze statt-findet, sind gesetzliche Maßnahmen. Wir sind der Mei-nung, dass es branchenspezifisch unterschiedliche Min-destlöhne geben sollte. Das findet zum Beispiel auch imAntrag der Grünen seinen Niederschlag.

Vielleicht sollten Sie etwas differenzierter an die De-batte herangehen, so, wie es auch der SachverständigeProfessor Bayreuther getan hat, den Sie, Frau Kramme,erwähnt haben. Daher möchte ich abschließend – HerrPräsident, mit Ihrer Genehmigung – noch kurz zitieren,was dieser Sachverständige gesagt hat:

Ich hielte eine Generalisierung des Entsenderechtsfür relativ schwierig, weil es einfach Branchen gibt,die sich dazu nicht eignen. Es gibt diversifizierendeLohnstrukturen in großen unterschiedlichen Lohn-gittern. Das passt nicht ins Entsendegesetz. DieBranchen, die prekäre Beschäftigung aufweisen,sind überwiegend im Entsendegesetz.

Wir haben dafür gesorgt, dass die Branchen, in denenes am notwendigsten ist, durch einen gesetzlich flankier-ten Mindestlohn geschützt werden. Wir schauen uns inaller Ruhe andere Bereiche an, aber es gibt keinen An-lass, mit Blick auf den 1. Mai 2011 in Panik zu verfallen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Sigmar Gabriel.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Nicht schon wie-der! – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Da-durch wird es auch nicht besser!)

Sigmar Gabriel (SPD):Herr Kollege, ich wollte erstens nur sagen, dass ich

mir einen Zustand wie in Großbritannien wünsche.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ich nicht!)

Deswegen finde ich Ihr Beispiel, dass die Briten ihrenArbeitsmarkt geöffnet haben, so wunderbar. Das wollenauch wir. Aber die Briten haben schon seit langer Zeit ei-nen gesetzlichen Mindestlohn.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Und warum geht es den Engländern schlechter?)

Lieber Herr Kollege, wenn wir uns darauf verständigenkönnen – ich vermute, dass Sie das gar nicht wollen –,dass wir uns die Briten als Beispiel nehmen, dass wir fürdie Öffnung der Grenzen nach Osteuropa sind, und zwarso, wie Sie es am Beispiel der Briten beschrieben haben,

dass wir dann allerdings auch die Bedingungen wie inGroßbritannien schaffen, nämlich einen flächendecken-den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, dann sindwir uns einig. Sie haben eben nur die Öffnung der Gren-zen thematisiert, aber nicht den gesetzlichen Mindest-lohn in Großbritannien.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Sie merken, dass ich Ihnen zuhöre. Sie ha-ben mir anscheinend nicht zugehört. Ich habe ausdrück-lich darauf hingewiesen, dass es einen Mindestlohn inder Pflege gibt, aber dass das Problem gerade darin be-steht, dass er unterlaufen wird.

(Anette Kramme [SPD]: So ist es!)

Dem können Sie nur begegnen, wenn Sie einen gesetzli-chen Mindestlohn einführen. Darum geht es.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine Frageder Kontrolle, nicht der Gesetzgebung!)

Drittens, Herr Kollege – damit das noch einmal deut-lich an Ihr Ohr dringt –: Ja, ich finde, wer die Menschen,die in der Pflege arbeiten, mit 1 000 Euro netto und we-niger abspeisen will, der verstößt gegen die Würde derArbeit genauso wie gegen die Würde dieser Menschen inihrer Arbeit. Genau das werfe ich Ihnen vor, ob Sie esnun hören wollen oder nicht.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Wadephul zur Erwiderung, bitte.

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):Herr Kollege Gabriel, das Erste ist: Im Gegensatz zu

Ihnen bin ich regelmäßig als Arbeitsrechtsanwalt tätig.Ich erlebe immer wieder, wie die Kollegin Krammemöglicherweise auch, dass es gesetzliche Regelungen,tarifliche Regelungen, Betriebsvereinbarungen, sogarArbeitsverträge gibt, die klar und eindeutig sind, die aberunterlaufen werden, Herr Gabriel;

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)

sogar strafrechtliche Vorschriften werden gelegentlichunterlaufen. Das gibt es in Deutschland.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das gibt esauch in der Metallindustrie! – Sigmar Gabriel[SPD]: Der kennt sich aus!)

Das wird häufig sanktioniert, aber nicht immer.

Ich will Sie vor dem Trugschluss, dem Sie möglicher-weise aufsitzen, warnen, dass eine gesetzliche Regelungdie Lösung sämtlicher Probleme wäre und all dies dannnicht mehr geschähe. Das ist nicht so. Es wird immerwieder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, diesich in einer schwachen Position befinden und sich so et-was gefallen lassen.

(Anette Kramme [SPD]: Deswegen wollen wirja auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeitstärken!)

Page 76: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Johann Wadephul

(A) (C)

(D)(B)

Das ist traurig. Diesen Menschen muss man helfen. Ichtue das im Rahmen meiner Möglichkeiten als Abgeord-neter und als Anwalt. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie lö-sen damit nicht alle Probleme.

Das Zweite ist: Sie müssen sich schon genau überle-gen, welche Beispiele Sie anführen. Wollen Sie unsernsthaft vorschlagen, dass wir das englische Arbeitsver-tragssystem, praktisch ohne Kündigungsschutz, über-nehmen?

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Allerdings!Mein lieber Freund! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau! Ein „Superkündigungsschutz“wäre das! Das gäbe Probleme ohne Ende! –Anette Kramme [SPD]: Nein! Das ist falsch!Das hat er nicht vorgeschlagen! Doch nicht al-les!)

– Ein bisschen geht nicht. Sie haben gerade gesagt: Dasgesamte britische System soll übernommen werden. –Das haben Sie mir vorgehalten.

(Widerspruch bei der SPD – Anette Kramme[SPD]: Nein! Blödsinn! – Sigmar Gabriel[SPD]: Nein! Das habe ich nicht gesagt!)

– Natürlich, das haben Sie mir vorgehalten. Dann neh-men Sie bitte auch alles.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Man merkt: Sie sindAnwalt! Man merkt, welchen Beruf Sie ha-ben!)

Lieber Herr Gabriel, Sie werden nicht nur ein biss-chen übernehmen können, sondern Sie müssen sichschon auf das gesamte System in Großbritannien einlas-sen.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie würde ich auch alsAnwalt nehmen! – Christian Lange [Back-nang] [SPD]: Nein! Wieso das denn?)

– Ja.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir wol-len doch nicht das Pfund einführen! Das ist janicht zu fassen, was Sie hier erzählen! Worü-ber reden Sie denn?)

– Das ist ja in Ordnung.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir reden hierüber den Kündigungsschutz, Herr Lange! –Sigmar Gabriel [SPD]: Wir merken gerade,warum Sie diesen Beruf gewählt haben!)

Wir reden über arbeitsrechtliche und sozialrechtlicheGrundlagen unseres Wirtschaftssystems. Wenn Sie mirangesichts des Krankenversicherungsrechts in Großbri-tannien, angesichts der Situation, dass es dort praktischkeinen Kündigungsschutz gibt, und angesichts der Situa-tion, dass es dort einen Mindestlohn von gerade einmal6,50 Euro gibt, erzählen wollen, dass die Menschen aufder Insel in besseren sozialen Verhältnissen als die Men-schen hierzulande leben, dann bin ich nicht Ihrer Auffas-sung. Ich bin der Meinung, möglichst viele Menschen inDeutschland sollten wissen, wie Sie über dieses Themadenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Gabriel will in Deutschland englische Verhält-nisse! Das ist wirklich die Sensation!)

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

kann mich in fast allen Punkten dem Kollegen JohannWadephul anschließen,

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

außer bei einer Aussage.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie ha-ben ja auch nur drei Minuten! – Heiterkeit beiAbgeordneten der SPD)

– Ich habe nur drei Minuten, genau.

(Anette Kramme [SPD]: Das passt zu den Prozentzahlen der FDP!)

An einer Stelle seiner Rede hat er gesagt: Herr Gabriel,Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht vom größerenPopulisten Klaus Ernst überholt werden. – Ich sage ganzehrlich: Diese Sorge habe ich nach Ihrem Auftritt hierund heute nicht, Herr Gabriel.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und derCDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Das brau-chen Sie auch nicht! Sie sollten ganz andereSorgen haben! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Essind noch zwei Minuten!)

Neu war in der heutigen Debatte – wir führen sie jahäufig, meistens in gleicher Besetzung, aber bei wech-selnden Anlässen – wenig. Sie sagen, Sie wollen dieLohnfindung in die Hand der Politik legen. Wir sagen,sie ist bei den Tarifpartnern besser aufgehoben. Wir sindauch völlig pragmatisch, wenn die Politik einmal Tarif-verträge für allgemeinverbindlich erklären muss.

(Anette Kramme [SPD]: Ach! Das machen Sie einfach nicht! Da sind Sie pragmatisch!)

Das haben wir in dieser Regierungszeit auch schon ge-tan.

Nur, wir lassen es Ihnen, Herr Gabriel, nicht durchge-hen, dass Sie für die Essenz der sozialen Marktwirtschaftstreiten. Denn zur Essenz der sozialen Marktwirtschaftgehört auch die Tarifautonomie. Dazu gehört auch, dassnicht der Staat und nicht Politiker für die Lohnfindungzuständig sind,

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir ja auch garnicht!)

sondern Arbeitgeber und Gewerkschaften. Das werdenwir gegen Sie verteidigen.

Page 77: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12007

Johannes Vogel (Lüdenscheid)

(A) (C)

(D)(B)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Anette Kramme [SPD]: Wie war das noch mit„Gewerkschaften sind eine Plage“?)

Ich will auf einen anderen Punkt eingehen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Redezeitverlän-gerung! Der Kollege Schlecht möchte eineFrage stellen!)

– Herr Schlecht, möchten Sie eine Frage stellen?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich wollte gerade fragen: Wollen Sie eine Frage des

Herrn Schlecht zulassen?

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Bei drei Minuten Redezeit sehr gerne.

(Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP] –Anette Kramme [SPD]: Drei Minuten? Daspasst zu den Prozentzahlen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön, Herr Schlecht.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Hoffentlich fragt er nicht auch schlecht!)

Michael Schlecht (DIE LINKE):Sie sind eben auf die Tarifautonomie eingegangen.

Das große Problem ist doch, dass die Tarifautonomie inden letzten zehn Jahren erheblich beschädigt worden ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Durch die Politik!)

Ich will Ihnen einen zentralen Punkt nennen. Ich selbstkomme als Hauptamtlicher von Verdi. Bis Anfang 2003waren wir dem gesetzlichen Mindestlohn gegenüber sehrzurückhaltend. Wir haben ihn zu einem zentralen Themaerhoben, nachdem mit Einführung des Arbeitslosengel-des II die Zumutbarkeitsregelungen entfallen sind unddamit der freie Fall der Löhne nach unten eintrat. Damitwar uns klar: Es muss eine andere Regelung her, wennder Gesetzgeber diese Zumutbarkeitsregelungen fortfal-len lässt.

Das ist der entscheidende Punkt: Sie haben – geradeunter tätiger Mithilfe der FDP – längst die Tarifautono-mie so beschädigt, dass schon allein als Notlösung dergesetzliche Mindestlohn in Deutschland mehr als not-wendig ist.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: War das eine Frage?)

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Lieber Herr Kollege Schlecht, ich habe die Frage

zwar nicht verstanden, werde aber trotzdem kurz auf dieBemerkung eingehen.

Erstens: die Zumutbarkeitsregelung im Zusammen-hang mit Hartz IV – es war nach meiner Erinnerung Rot-Grün, die sich als Retter der sozialen Marktwirtschaftaufgespielt haben.

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Sie habendoch damals applaudiert! – Anette Kramme[SPD]: Da haben Sie aber ein ganz schlechtesGedächtnis!)

Zweitens. Herr Schlecht, Sie werden die Tarifautono-mie nicht retten können, wenn Sie der Politik die Lohn-findung in die Hand geben. Ich prophezeie Ihnen: Dasklappt nicht. Wenn wir die Sorge teilen, dass es Gewerk-schaften mit einem zu geringen Organisationsgrad gibt,könnten wir uns die Frage stellen: Wie können wir daskorrigieren? Ich sage Ihnen: Das wird nicht dadurch ge-lingen, dass Sie Politikern die Lohnfindung in die Handgeben.

Es würde übrigens auch ein Zweites nicht gelingen.Großbritannien ist hier immer wieder angesprochen wor-den. Herr Gabriel, ich habe mich in der Tat – wie derKollege Wadephul – schon sehr gewundert. Wir könnengerne über den britischen Kündigungsschutz, die Zahlbritischer Urlaubstage, das britische Niveau der sozialenSicherung und andere Arbeitsmarktregelungen Großbri-tanniens reden.

(Annette Kramme [SPD]: Das ist die neue so-ziale Ader der FDP! Da hat Herr Rösler wasanderes erzählt! – Klaus Ernst [DIE LINKE]:Das hätten Sie wohl gerne!)

Vor allem liegt die Lohnfindung in Großbritannien in derHand einer unabhängigen Kommission. Ich würde gernemit Ihnen darüber diskutieren, ob das eine denkbare Lö-sung ist. Allein, wir glauben Ihnen nicht, dass Sie dasdurchhalten.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Halten wir!)

Schon in Ihren Anträgen beweisen Sie immer wieder,dass Sie dieser Kommission schon bei der Einführungvorgeben wollen, wie hoch der Lohn sein darf. Das istalles, aber nicht unabhängig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann legen Sie doch eineneigenen Vorschlag vor!)

Ich will noch zu einem weiteren Punkt, zum ThemaPopulismus, etwas sagen. Mich hat – auch da muss ichmich meinem Vorredner anschließen – eines wirklich ge-stört, und zwar dass Sie allen Ernstes den 1. Mai zumAufhänger für Ihre Forderungen gemacht haben. Wirsind daran gewöhnt, dass wir hier mit Ihnen in jedemMonat die Mindestlohnfrage noch einmal diskutierenund die bekannten Argumente austauschen müssen. Daskönnen wir gerne machen. Aber Sie können doch nichtden Beginn der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit am1. Mai zum Ausgangspunkt machen!

Frau Kollegin Kramme, man kann nicht allen Ernstessagen, Deutschland sei gänzlich unvorbereitet und imHerbst gebe es Missbrauch, weil die Bürgerinnen undBürger aus den östlichen Mitgliedstaaten der EU zu unskommen können. Das ist ein Schüren von Ängsten, diees in Deutschland viel zu lange gibt,

(Anette Kramme [SPD]: Ihrerseits ist das das Schließen der Augen vor Gefährdungen!)

Page 78: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)

(A)

(D)(B)

von Ängsten, dass aus der Europäischen Union nurSchlechtes kommt. Das ist uneuropäisch für ein Land,das so sehr wie wir vom Binnenmarkt profitiert – da-durch werden hier Arbeitsplätze geschaffen –, das aberdie Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht einführen will.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sig-mar Gabriel [SPD]: Das zitieren wir mal beider Euro-Rettung! Da zitieren wir mal dieFDP!)

– Da spielen Sie sich als die großen Europäer auf. Hierhandeln Sie als europapolitische Populisten.

(Beifall bei der FDP)

Das ist erstens uneuropäisch. Zweitens verhindert dasauch Chancen für unser Land. Sie schüren die Sorge vorArbeitnehmerfreizügigkeit bzw. vor Menschen, die hier-her kommen und weitere Arbeitsplätze schaffen, wie esin anderen europäischen Mitgliedsländern schon langepassiert. Wir hätten früher öffnen sollen. Genau dieseAngst, die Sie schüren, verhindert auch, dass wir beiweiteren Themen schnell genug vorankommen. Dabeigeht es zum Beispiel um die Frage, ob wir nicht auchvon außerhalb Europas Menschen haben wollen, die alsFachkräfte hierher kommen, Arbeitsplätze schaffen undunsere Gesellschaft bereichern.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auchdie müssen anständig bezahlt werden! Anstän-diger Lohn für alle!)

Damit schaden Sie gerade den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern in diesem Land.

In diesem Sinne: Schämen Sie sich, dass Sie diesenAntrag ausgerechnet zum 1. Mai hier wieder vorlegen.Ich fürchte aber, wir werden ihn sowieso in den nächstenMonaten weiter diskutieren. Wir können dann auchgerne weiterhin die Argumente austauschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

gestern in der Ausschusssitzung in einem anderen Zu-sammenhang – da ging es um Flexicurity – über Däne-mark gesprochen. Da rief ein Kollege dazwischen: Diehaben ja auch eine hohe Tarifbindung. – Für einen Au-genblick vermeinte ich, ein wenig Melancholie bei unsim Saal darüber zu spüren, dass uns das verloren gegan-gen ist: die hohe gewerkschaftliche Bindung der Arbeit-nehmer,

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und der Arbeitgeber!)

aber auch die Bindung der Arbeitgeber, die teilweise dieMöglichkeit haben, OT, also ohne Tarifbindung, Mit-

glied in den Arbeitgeberverbänden zu sein. Wir würdendiese Diskussion überhaupt nicht führen, wenn es dortnicht ein Defizit gäbe. Anders ausgedrückt: Wir würdenüber gesetzliche Mindestlöhne nicht diskutieren, wenndie Tarifautonomie in der Art und Weise funktionierenwürde, wie wir es gewohnt waren.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Richtig!)

Ich vermute einmal, dass das Thema – Herr Gabriel,ich glaube, Sie haben es angesprochen oder Frau Poth-mer – in der rot-grünen Koalition noch nicht so aktuellgewesen ist, weil der Stand der Tarifbindung damalsnoch anders war, dass wir es also mit einer Entwicklungder letzten zehn Jahre zu tun haben. Wenn es aber eineErosion der Tarifbindung gibt, dann ist doch der ersteWeg, dies zu heilen, von der Tarifautonomie auszuge-hen, wo immer das möglich ist. Wir haben das mit bran-chenbezogenen Mindestlöhnen getan,

(Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP])

unter anderem in der Abfallwirtschaft, bei den Dachde-ckern, im Elektrohandwerk, in der Gebäudereinigung,bei den Malern und Lackierern, in der Pflege und in derWäscherei, und in den letzten Wochen haben wir Lohn-untergrenzen in der Zeitarbeit vereinbart. Ich halte dasfür einen ganz deutlichen Schritt nach vorne, weil wirdurch die Lohnuntergrenzen in der Zeitarbeit faktisch ei-nen branchenübergreifenden Mindestlohn definiert ha-ben, der natürlich eine Drittwirkung auf diejenigen ent-faltet, die nicht als Zeitarbeitnehmer in diesen Branchenbeschäftigt sind.

Wir haben bei den branchenbezogenen Mindestlöh-nen differenzierte Löhne vereinbart, die sich teilweisenoch zwischen Ost und West unterscheiden. Man kannüber die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme geteilter Mei-nung sein; aber das haben die Tarifpartner nun einmal soausgehandelt. Mein großer Einwand gegen den Antragder Linken besteht darin, dass die Einführung eines Min-destlohns von 10 Euro im Grunde genommen bedeutenwürde, wie mit einer Dampfwalze durch die Tarifland-schaft zu gehen und sämtliche Differenzierungsmöglich-keiten ad acta zu legen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Michael Schlecht [DIE LINKE]:Welchen Stundenlohn haben Sie denn?)

Der Kollege Kolb hat natürlich recht: Mindestlöhnehängen mit Wertschöpfung zusammen. Es ist aber auchwichtig, dass wir nicht erlauben dürfen, dass über einenWettbewerb Lohndumping betrieben wird. Deswegen istes ordnungspolitisch geboten, dort, wo es keine Rege-lungen gibt, sehr genau darüber nachzudenken, wie wireinen wilden Wettbewerb verhindern können.

Die Väter der sozialen Marktwirtschaft standen demsehr offen gegenüber. Müller-Armack hat einmal davongesprochen, dass man durchaus Ordnungstaxen in Höhedes Gleichgewichtslohns begrüßen kann, um willkürli-che Einzellohnsenkungen zu vermeiden. Ich bin sehr da-für. Im Übrigen würde auch der Mittelstand, vor allenDingen das Handwerk, durch tariflich gebundene Min-destlöhne geschützt. Es ist moralisch und ethisch gebo-

(C)

Page 79: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12009

Dr. Matthias Zimmer

(A) (C)

(D)(B)

ten – das wussten nicht nur die Väter der katholischenSoziallehre, sondern auch Adam Smith – und kann auchsozialpolitisch geboten sein.

Was mir bei der ganzen Diskussion ein klein wenig zukurz kommt – das als abschließende Bemerkung, die ichhier machen will –, ist, dass wir es beim Mindestlohnmit einer relativ kleinen Gruppe zu tun haben im Ver-gleich zu den großen Gruppen, die über die Zunahme angewerkschaftlicher Kraft und die Lohnabschlüsse, die inden letzten Wochen und Monaten sehr hoch ausgefallensind, von dem Wirtschaftswachstum profitieren. Ichglaube, man darf an dieser Stelle auch einmal daran erin-nern, dass die Bundesregierung die Prognose für dasWirtschaftswachstum heute auf 2,6 Prozent nach obenkorrigiert hat. Bei einer solch hohen Zahl hätten Sienoch vor wenigen Jahren den Kölner Dom dreimal amTag läuten lassen. Wir sind stolz darauf, dass wir dashinbekommen haben. Wir müssen die Debatte über Min-destlöhne auch im Kontext des gesamtwirtschaftlichenWachstums führen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun hat Kollegin Gitta Connemann für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gitta Connemann (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man

merkt, es nähert sich der 1. Mai. Zum einen nimmt dieAnzahl an Mindestlohnanträgen schlagartig zu. Zum an-deren haben uns heute in der Debatte zum Thema Min-destlohn Kollegen beehrt, die wir hier sonst nicht sehen.

(Pascal Kober [FDP]: So ist es! Kollege Gab-riel zum Beispiel! Er ist auch schon wiederweg! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hatnicht so viel Zeit!)

Das sind die Kollegen Ernst und Gabriel. Ich habe sehrgenau zugehört und muss sagen, dass das der Qualitätdieser Debatte leider nicht gedient hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Bei den Ausführungen zum Thema wurde sehr deut-lich, dass Herr Gabriel, der sicherlich häufig auf Kund-gebungen und Parteiveranstaltungen spricht, nicht weiß,worüber er hier redet. Das wurde am Detail sehr deut-lich, als er zum Beispiel über die Pflege gesprochen unddas Schreckensszenario an die Wand gemalt hat, dasseine Horde von Arbeitnehmern an unseren Grenzensteht, die zu uns wollen, um hier insbesondere in derPflege das Lohnniveau zu drücken. Er hätte sich besserdarüber informieren sollen, dass erstens schon seit eini-gen Jahren Pflegekräfte aus dem Ausland bei uns tätigwerden dürfen. Zweitens gibt es für diese Pflegekräftebereits einen Mindestlohn, und zwar nicht für die Fach-kräfte, wie der Kollege Gabriel suggeriert hat, sondern

für die Hilfskräfte. Drittens hätte er sich informierenkönnen und sollen, wie hoch der entsprechende Mindest-lohn für diese Hilfskräfte in der Pflege ist. Er liegt imWesten bei 8,50 Euro und im Osten bei 7,50 Euro. Erhätte besser daran getan, sich zu informieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben nicht zu-gehört! Unglaublich!)

Viertens hätte er gut daran getan, sich darüber zu infor-mieren, dass es nicht eines gesetzlichen Mindestlohnsbedarf, damit die entsprechenden Regelungen eingehal-ten werden können. Vielmehr kann selbstverständlichauch ein Verstoß gegen einen Branchenmindestlohnnach einer entsprechenden Kontrolle sanktioniert wer-den. Dafür setzen wir uns ein. Hier gibt es kein Rechtset-zungsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Mir ist klar, dass der Kollege Gabriel sich englischeVerhältnisse wünscht. Ich habe immer vermutet, dass ergerne einmal Kronprinz oder König sein will.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das bleibt England erspart!)

Es dient der Debatte aber sicherlich in keiner Weise.

Das Niveau, das Sie in Gänze gezeigt haben – das zogsich leider nicht nur durch den Debattenbeitrag des Kol-legen Gabriel –, beschränkte sich darauf, Angst zu schü-ren. Sie schüren Angst vor dem 1. Mai.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Geschäftsmodell!)

Sie suggerieren das Bild des Ansturms von Billigkon-kurrenz. Meine Damen und Herren von der Opposition,wie müssen sich eigentlich unsere europäischen Nach-barn fühlen? Welches Bild zeichnen Sie damit von Men-schen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowa-kei, aus Slowenien, Tschechien und Ungarn? Ich findedas skandalös. Denn bei unseren Nachbarn muss derEindruck entstehen, dass sie hier nicht willkommen sind.Ich sage für die Unionsfraktion sehr deutlich: Herzlichwillkommen in Deutschland, und zwar ab dem 1. Mai!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,darf ich sagen: Haben Sie keine Angst vor dem 1. Mai!Dabei lasse ich die Frage außen vor, ob es tatsächlich zueinem Ansturm kommen wird. Der Kollege Wadephulist sehr detailliert darauf eingegangen. Es kommt aberauch nicht auf die Zahl an. Es kommt darauf an, dass Siesuggerieren, es gäbe dadurch Billigkonkurrenz. OhneNot; denn die Erfahrungen aus anderen Ländern, die ihreArbeitsmärkte früher geöffnet haben, zeigen, dass dieseBefürchtungen nicht eingetreten sind.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wiebeim Mindestlohn! Da gehen auch keine Ar-beitsplätze verloren!)

Dort kam es nicht zur Verdrängung einheimischer Ar-beitnehmer. Die Arbeitslosigkeit ist dort nicht gestiegen.

Page 80: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Gitta Connemann

(A) (C)

(D)(B)

Die Löhne sind nicht gesunken. Das gilt übrigens auchfür Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn wie Schwe-den. Auch darüber hätten Sie sich vielleicht besser imVorfeld informiert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dort, wo es einen Missbrauch geben könnte, habenwir vorgesorgt. Ab dem 1. Mai gibt es eine Lohnunter-grenze bei der Zeitarbeit, auch dank Ihnen, Frau Ministe-rin von der Leyen; denn hier bestand tatsächlich die Ge-fahr, dass ausländische Firmen unter dem Deckmantelder Zeitarbeit Arbeitnehmer zu niedrigeren Löhnen nachDeutschland entsenden. Einem solchen Verdrängungs-wettbewerb haben wir zugunsten unserer Betriebe undder Mitarbeiter, die dort arbeiten, einen Riegel vorge-schoben. Das ist der richtige Weg, den wir übrigens aufAntrag der betreffenden Branche eingeschlagen haben.Denn wir in der Union sind für Mindestlöhne. Arbeitdarf nicht arm machen. Alles andere wäre unsozial, un-würdig und unerträglich.

Wir setzen bei der Festlegung von Mindestlöhneneben nicht auf den Staat, sondern auf die Tarifpartner.Dieses System hat sich in 60 Jahren bewährt. Heute istdie pulsierende Wirtschaft in Deutschland auch von Ih-nen bejubelt worden. Auch Herr Gabriel hat darauf hin-gewiesen, was in den letzten Jahren hier passiert ist. Daswar das Ergebnis der Tarifautonomie, die eine derGrundlagen der sozialen Marktwirtschaft ist. Lassen Sieuns stolz darauf sein, anstatt sie ständig kaputtzureden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Nur Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kön-nen sicherstellen, dass die Mindestlöhne den jeweiligenVerhältnissen angemessen sind. Ein Einheitslohn für je-den Betrieb in ganz Deutschland

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist doch kein Einheitslohn!)

wird diesen Unterschieden nicht gerecht. Er könnte ver-heerende Folgen haben. Ich weiß, dass die Grünen indiesem Zusammenhang für regionale Mindestlöhne sind.Aber in dieser Hinsicht würde ich auch den Grünen emp-fehlen, sich besser zu informieren. Ich verweise auf dieEuGH-Entscheidung in der Sache Rüffert, wonach es re-gionale allgemeinverbindliche Mindestlöhne nicht gebenkann. Wir müssen auch die Entscheidungen des EuGHbeachten. Darum bitte ich sehr. Denken Sie auch an dasVertragsstrafeverfahren in Sachen Island. Sie haben vor-geschlagen, unsere Entgeltbestimmungen auch auf aus-ländische Betriebe anzuwenden. Das ist nicht möglich.Bitte machen Sie doch Ihre Hausarbeiten, bevor Sie sichhier als Gesetzgeber gerieren. Bitte, bitte, bitte!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Unsere Aufgabe ist es übrigens nicht, Meinungenoder Stimmungen wiederzugeben. Ein Satz der KolleginPothmer hat mich wirklich sauer gemacht. Sie hat ge-sagt, wir hätten kein Herz.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ein kaltes Herz!)

Kein Herz haben diejenigen, die populistisch argumen-tieren,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind die, die Ängste schüren!)

ein Herz haben diejenigen, die sich mit den Betroffenenvor Ort auseinandersetzen. Ich gehe in jeder sitzungs-freien Woche von einem Betrieb zum anderen, um das zutun. Ich habe in meinem Wahlkreis einen wunderbarenBerufsbildungsträger, der viele Jugendliche ausbildet,die es etwas schwerer als die anderen haben. Das sinddie Geringqualifizierten. Sie erhalten dort eine Ausbil-dung zum sogenannten Werker, eine minderqualifizierteAusbildung. Bei einem gesetzlichen Mindestlohn hättengenau diese jungen Menschen eines nicht: Arbeit. Damitwürden wir sie vom Arbeitsmarkt abschneiden. Arbeitbedeutet aber nicht nur Geld, sondern auch Würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bitte Sie um eines: Machen Sie doch diesen jungenMenschen nicht ihre Zukunft kaputt.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gitta Connemann (CDU/CSU):Sehr gerne.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Bitte schön.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Connemann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu

nehmen, dass das IAB bei der letzten Ausschussanhö-rung zum Thema Mindestlohn ausdrücklich darauf hin-gewiesen hat, dass ein klug eingeführter MindestlohnArbeitsplätze nicht vernichten, sondern schaffen würde,auch und ausdrücklich solche für Geringqualifizierte?

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der

Kollegin Golze? Dann könnten Sie die beiden Fragenzusammen beantworten.

Gitta Connemann (CDU/CSU):Ich beantworte erst die Frage der Kollegin Pothmer,

dann die Frage der Kollegin Golze.

Ja, liebe Frau Kollegin Pothmer, es ist so. Sie habenbetont, worauf es ankommt, nämlich auf die kluge Ein-führung eines Mindestlohns.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es geht um einen gesetzlichen Min-destlohn!)

Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass dasIAB, übrigens ebenso wie die Friedrich-Ebert-Stiftung,gesagt hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn derBranchenmindestlohn ist.

Page 81: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12011

Gitta Connemann

(A) (C)

(D)(B)

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ein gesetzlicher! – Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nein, das stimmt nicht! Das ist falsch!Lesen Sie doch mal die Sachen! Hören Sie malzu!)

Wir haben Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen.Schauen Sie sich zwei Volkswirtschaften an.

(Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz)

– Ich bin noch gar nicht fertig.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist aber keine Antwort auf meineFrage!)

– Das ist nicht die Antwort, die Sie hören möchten, liebeFrau Kollegin Pothmer, aber dazu dienen Fragen nicht.Sie müssen sich schon mit der Wahrheit konfrontierenlassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat mit der Wahrheitnichts zu tun!)

Wenn es eng wird, setzen Sie sich und wollen nicht mehrzuhören. Das ist interessant. Das verweist auf Ihr Ver-ständnis von Demokratie. Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Frau Kollegin, gestatten Sie jetzt eine weitere Zwi-

schenfrage der Kollegin Golze?

Gitta Connemann (CDU/CSU):Sehr gerne.

Diana Golze (DIE LINKE):Vielen Dank, Frau Connemann. – Sie haben eben ge-

sagt, ein Herz hätten diejenigen, die mit den Betroffenensprächen und ihnen zuhörten. Deshalb eine klare Frage:Erklären Sie mir bitte, wie es kommt, dass es im rot-rotregierten Berlin die bundesweit einzige Beratungsstellefür entsandte Beschäftigte aus dem europäischen Aus-land gibt, die genau die Arbeitskräfte, die wir hier sehrbegrüßen und die wir vor Ausbeutung schützen wollen,berät?

(Beifall bei der LINKEN)

Gitta Connemann (CDU/CSU):Erstens. Ich kann es Ihnen nicht erklären; denn nach

meiner Wahrnehmung hat der rot-rote Senat in der Ver-gangenheit allen Beratungsstellen so das Geld gekürzt,dass es keine mehr gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens ist Ihre Wahrnehmung falsch. Wenn Siezum Beispiel bei der letzten Anhörung am vergangenenMontag,

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie hören doch bei Anhörungen garnicht zu!)

die wir auch zum Thema Freizügigkeit durchgeführt ha-ben, anwesend gewesen wären, wüssten Sie, dass dieBundesagentur für Arbeit in ganz Deutschland Bera-tungsstellen gerade für die Arbeitnehmer unterhält, dieaus den EU-Beitrittsstaaten zu uns kommen. Wir habennachgefragt, ob diese Beratungsstellen unterfinanziertsind. Die Bundesagentur hat gesagt: Nein. Die Mittelsind sogar noch einmal verdoppelt worden, damit nichtpassiert, dass sich europäische Arbeitnehmer, die zu unskommen, hier hilflos wiederfinden. Dafür, dass das nichtpassiert, haben wir Sorge getragen – Gott sei Dank auchaußerhalb Berlins.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ihre Redezeit ist überschritten.

(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Gitta Connemann (CDU/CSU):Durch die vielen Fragen.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nein, ich habe die Uhr angehalten.

Gitta Connemann (CDU/CSU):Wir sind für den 1. Mai gut gerüstet. Ich sage noch

einmal für die Union voller Freude: Herzlich willkom-men!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] meldetsich zu einer Zwischenfrage)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sinn von Zwi-

schenfragen ist nicht, nach Ende der Redezeit noch Fra-gen zu stellen, um die Redezeit zu verlängern. Das wärekein faires Spiel.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war nicht meine Absicht!)

– Das ist wunderbar.

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der FraktionDie Linke mit dem Titel „Gute Arbeit in Europa stärken –Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am1. Mai 2011 einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/5499, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/4038 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die

Page 82: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen desrestlichen Hauses angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-nes Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fürdie Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vor-feld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. DerAusschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/5499, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4435 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen.

(Zurufe: Der Ausschussempfehlung!)

– Mir ist aufgeschrieben worden: Gesetzentwurf. Wirverändern das also. Ich bitte diejenigen, die der Aus-schussempfehlung – also Ablehnung – zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beiStimmenthaltung von SPD und Linken angenommen.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-tere Beratung.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag derFraktion der SPD mit dem Titel „Gesetzlichen Mindest-lohn einführen – Armutslöhne verhindern“. Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/5101, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/1408 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 lsowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:

28 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Doro-thee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Len-kert, weiteren Abgeordneten und der FraktionDIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes –Keine Übertragbarkeit von Reststrommengen

– Drucksache 17/5472 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. PetraSitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Europäische Forschungsförderung in denDienst der sozialen und ökologischen Erneue-rung stellen

– Drucksache 17/5386 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenéRöspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Pe-ter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten Krista Sa-ger, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Stärkung des Europäischen Forschungsraums –Die Vorbereitung für das 8. Forschungsrah-menprogramm in die richtigen Bahnen lenken

– Drucksache 17/5449 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze

– Drucksache 17/5483 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussFinanzausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Kultur und Medien

e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Die Chance zur Stärkung des UN-Menschen-rechtsrates nutzen

– Drucksache 17/5482 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Be-cker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPD

Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wert-stofferfassung im Rahmen des Planspiels zurFortentwicklung der Verpackungsverordnung

– Drucksache 17/5484 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. PetraSitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Page 83: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12013

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Wissenschaftliche Urheberinnen und Urheberstärken – Unabdingbares Zweitveröffentli-chungsrecht einführen

– Drucksache 17/5479 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-thee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Len-kert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Sofortige Stilllegung der sieben ältesten Atom-kraftwerke und des Atomkraftwerkes Krümmel

– Drucksache 17/5478 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-thee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Len-kert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Überführung der Rückstellungen der AKW-Betreiber in einen öffentlich-rechtlichen Fonds

– Drucksache 17/5480 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten ClaudiaRoth (Augsburg), Agnes Krumwiede, RenateKünast, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Öffentlichen Diskurs zum geplanten Freiheits-und Einheitsdenkmal in Berlin ermöglichen

– Drucksache 17/5469 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fried-rich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg),Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Tierschutz bei Tiertransporten verbessern

– Drucksache 17/5491 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

l) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-desrechnungshofes

Rechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 2010– Einzelplan 20 –

– Drucksache 17/5385 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthana-sie“-Morde

– Drucksache 17/5493 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Al-bert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-ordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), PatrickMeinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP

Gestaltung der zukünftigen europäischen For-schungsförderung der EU (2014–2020)

– Drucksache 17/5492 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinTack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Pries-meier, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduk-tion verbieten

– Drucksache 17/5485 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Pe-tra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut –Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHOin der „Global Health Governance“ stärken

– Drucksache 17/5486 –

Page 84: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

e) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz,Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz in Public Privat Partnerships imVerkehrswesen

– Drucksache 17/5258 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)RechtsausschussFinanzausschussHaushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 j sowiedie Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf.

Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Wir kommen zunächst zum Tagesordnungspunkt 29 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines SechstenGesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuer-gesetzen

– Drucksachen 17/5127, 17/5201 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 17/5510 –

Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Birgit Reinemund

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5510, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/5127und 17/5201 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 b:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs

eines Gesetzes zu dem Abkommen vom9. April 2010 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Commonwealth der Ba-hamas über die Unterstützung in Steuer- undSteuerstrafsachen durch Informationsaus-tausch

– Drucksache 17/5128 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli2010 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und dem Fürstentum Monaco über dieUnterstützung in Steuer- und Steuerstrafsa-chen durch Informationsaustausch

– Drucksache 17/5129 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom27. Mai 2010 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der Kaiman-inseln über die Unterstützung in Steuer- undSteuerstrafsachen durch Informationsaus-tausch

– Drucksache 17/5130 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 17/5467 –

Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeLothar Binding (Heidelberg)

Der Finanzausschuss empfiehlt unter den Buchsta-ben a, b und c seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/5467, die Gesetzentwürfe anzunehmen. WennSie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Ge-setzentwürfe gemeinsam abstimmen. – Es erhebt sichkein Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Gesetzent-würfen zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Gesetzentwürfesind mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP beiStimmenthaltung der Linken und der Grünen angenom-men.

Tagesordnungspunkt 29 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-richtung durch die Bundesregierung

Bericht über die Wohnungs- und Immobilien-wirtschaft in Deutschland

– Drucksachen 16/13325, 17/5314 –

Berichterstattung:Abgeordnete Daniela Wagner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/5314, in Kenntnis der Unter-

Page 85: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12015

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

richtung auf Drucksache 16/13325 eine Entschließunganzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses beiEnthaltung der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu derVerordnung der Bundesregierung

Erste Verordnung zur Änderung der Deponie-verordnung

– Drucksachen 17/5112, 17/5269 Nr. 2, 17/5462 –

Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/5462, der Verordnung der Bun-desregierung auf Drucksache 17/5112 zuzustimmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrakti-onen und der SPD bei Ablehnung der Fraktionen DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu derVerordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Anpassung chemikalienrecht-licher Vorschriften an die Verordnung (EG)Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau derOzonschicht führen, sowie zur Anpassung desGesetzes über die Umweltverträglichkeitsprü-fung an Änderungen der Gefahrstoffverord-nung

– Drucksachen 17/5333, 17/5423 Nr. 2, 17/5497 –

Berichterstattung:Abgeordnete Jens KoeppenFrank SchwabeDr. Lutz KnopekRalph LenkertDorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/5497, der Verordnung der Bun-desregierung auf Drucksache 17/5333 zuzustimmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undFDP bei Enthaltung der Linken und der Grünen ange-nommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 29 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 249 zu Petitionen

– Drucksache 17/5393 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 249 ist einstimmig an-genommen.

Tagesordnungspunkt 29 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 250 zu Petitionen

– Drucksache 17/5394 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 250 ist ebenso einstim-mig angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 251 zu Petitionen

– Drucksache 17/5395 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 251 ist gegen die Stim-men der SPD-Fraktion mit den Stimmen des Hauses imÜbrigen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 252 zu Petitionen

– Drucksache 17/5396 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 252 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen derLinken und der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 253 zu Petitionen

– Drucksache 17/5397 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 253 ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.

Zusatzpunkt 4 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 254 zu Petitionen

– Drucksache 17/5501 –

Page 86: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 254 ist einstimmig an-genommen.

Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 255 zu Petitionen

– Drucksache 17/5502 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 255 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen derLinken bei Enthaltung der Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 4 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 256 zu Petitionen

– Drucksache 17/5503 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 256 ist einstimmig an-genommen.

Zusatzpunkt 4 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 257 zu Petitionen

– Drucksache 17/5504 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 257 ist gegen die Stim-men der Fraktion der Linken mit den Stimmen des Hau-ses im Übrigen angenommen.

Zusatzpunkt 4 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 258 zu Petitionen

– Drucksache 17/5505 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Sammelübersicht 258 haben CDU/CSU,FDP und Grüne zugestimmt; die SPD hat abgelehnt, unddie Linken haben sich enthalten.

Zusatzpunkt 4 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 259 zu Petitionen

– Drucksache 17/5506 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – DieSammelübersicht 259 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken undder Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 4 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 260 zu Petitionen

– Drucksache 17/5507 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – DieSammelübersicht 260 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD undGrünen angenommen.

Zusatzpunkt 4 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 261 zu Petitionen

– Drucksache 17/5508 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 261 ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derdrei Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:

Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undFDP

Pläne der EU-Kommission zur stärkeren Be-steuerung von Dieselkraftstoffen

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Norbert Schindler für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Bitte schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Norbert Schindler (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Gäste auf den Tribünen!

Meine Damen und Herren hier im Plenarsaal! Warum re-den wir über dieses Thema? Es ist wichtig, das deutscheVolk darüber aufzuklären,

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die Bevölkerung!)

was uns in den nächsten zwölf Jahren bei der Umstel-lung von Energiesteuern ins Haus steht.

Zur Sachlage: 2004 hat die Europäische Union be-gonnen, sich dem Thema zu widmen. Das war ein Auf-trag, von allen gewollt. Die Deutschen waren mit derÖkosteuer schon einige Jahre früher dabei. Unter ande-rem wegen der Ökosteuer, die übrigens nicht die Unioneingeführt hat – sie ist mit Mehrheit eingeführt worden –,haben wir hohe Treibstoffsteuersätze.

Jetzt versucht die Europäische Union, die Steuersätzein einem bestimmten Zeitraum anzugleichen; besteuertwerden soll nicht mehr nach der Menge, sondern nachdem Energiegehalt.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Idee!)

So weit, so gut.

Page 87: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12017

Norbert Schindler

(A) (C)

(D)(B)

Wir haben gemeinsam mit Großbritannien mit Ab-stand die höchste Besteuerung in diesem Bereich: BeiDiesel sind es 47 Cent, bei Benzin circa 65 Cent. Wennder europäische Durchschnitt bei Diesel derzeit bei33 Cent liegt, hätte eine Harmonisierung des Steuersat-zes erst langfristig eine Steuererhöhung zur Folge. Wirhaben noch drei Legislaturperioden Zeit. Deswegen ver-stehe ich manchmal die Aufregung nicht, wie sie in denZeitungen nachzulesen ist. Man muss sich nur die Zieleanschauen. Dass Deutschland nur vor dem Hintergrunddes Einstimmigkeitsprinzips der Europäischen Unionzustimmt, ist für uns so sicher wie das Amen in der Kir-che.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Dann können wir uns das heute schenken!)

Natürlich wollen wir auf lange Sicht eine Steuerharmo-nisierung, aber nicht zulasten des deutschen Autofahrers,der schon genug zahlt. Bei der momentanen Belastunghat er absolut die Schnauze voll; so muss man das ein-mal sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deswegen soll man mit Gemach und einer gewissenGelassenheit an die Ziele herangehen, die wir letztend-lich alle erreichen wollen. Da noch viele Kolleginnenund Kollegen zu diesem Punkt reden werden, will ichnur darauf hinweisen, was Deutschland derzeit umzuset-zen versucht, um den CO2-Ausstoß zu senken.

Ich wundere mich und bin erstaunt, dass MatthiasWissmann, unser oberster Autobauer, darauf hinweist,dass die Premiumklasse unter den Dieselfahrzeugenvielleicht betroffen wäre. 2008 – Gabriel war noch Um-weltminister – stand man, ebenfalls beim Autogipfel, vorder Frage: Können wir angesichts der Premiumklasse,die besonders wichtig für unsere Arbeitsplätze und unse-ren Export ist, beim CO2-Ausstoß die europäischeDurchschnittszahl von 120 erreichen? Nein, das könnenwir in Deutschland nicht, deswegen die Kombinationmit Biokraftstoffen. B7 wurde eingeführt, und kein Hahnauf einem Misthaufen hat sich deswegen aufgeregt; alleTreibstoffe waren absolut motorenverträglich. Auch dieEinführung von E5 hat niemand zur Kenntnis genom-men; man ging zur Tagesordnung über. Aber die Einfüh-rung von E10 hat in Deutschland Furcht ausgelöst. Ob-wohl 99 Prozent aller in Deutschland hergestelltenAutos absolut E10-verträglich sind, reden alle vom Un-tergang des Abendlandes. Typisch deutsch: Mein heili-ges Blechle ist vielleicht davon betroffen.

Ich habe hier eine Untersuchung vom TÜV Rhein-land. Die DEKRA in Norddeutschland bestätigt die Un-tersuchungen zum tatsächlichen Verbrauch von E10. Erist geringer im Vergleich zu E0 oder E5, und die Leis-tung von E10 ist noch besser, weil der ETBE-Anteil indiesem Sprit die Intelligenz der Motoren besser ausreiztund nutzt. So sagen mir das Techniker.

Deswegen sollte man das mit Gelassenheit angehen.Ich sage hier im Parlament offen: Ich erwarte in dennächsten Tagen und Wochen auch eine Aufklärungskam-

pagne der Automobilhersteller, denn wegen ihnen wurdedas überhaupt eingeführt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Mineralölverbände haben kläglich versagt. Sie wa-ren nicht bereit, die 8 Millionen Prospekte, die im Um-weltministerium gedruckt worden sind, an den Tankstel-len so zu verteilen, wie es im Nachhinein auf demBenzingipfel verabredet worden ist. Auch die Garantie-erklärung der Autohersteller, das, was man mit ihnen inBrüssel 2008 zum Wohle des deutschen Wirtschafts-standortes vereinbart hat, ist nicht eingehalten worden.Jetzt kommt Herr Matthias Wissmann! Ich hätte mirgewünscht, er hätte vor fünf oder sechs Wochen eineAufklärungskampagne gemacht, um den Einsatz vonnachwachsenden Rohstoffen im Treibstoffbereich zurErreichung der Umweltziele vernünftig zu erklären.Nein, das wird ausschließlich der Politik zugeschoben,und der Umweltminister wird auch noch vorgeführt. Daswar schon ein sehr starkes Stück.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Herr Präsident, Sie gestatten mir noch einen Satzdazu. Wenn die Kirchen Gutmenschenpolitik in denEntwicklungsländern machen wollen, sollen sie sichBrasilien anschauen: Dort gibt es 240 Millionen Hektarlandwirtschaftliche Nutzfläche, wobei kein Regenwaldbetroffen ist. 6 Millionen Hektar werden zur Ethanol-erzeugung genutzt. Wenn es nur 3 Millionen Hektarmehr wären, könnte Brasilien den gesamten lateinameri-kanischen Kontinent mit Benzinersatz versorgen. Im ei-genen Land ist das heute schon der Fall. Aber wir regenuns in Deutschland über einen Ethanolanteil von 5 oder10 Prozent auf.

Wenn wir über die Steuerharmonisierung in der Euro-päischen Gemeinschaft reden, dann müssen wir über dielangfristigen Klimaschutzziele wie die Verminderungdes CO2-Ausstosses nachdenken. Für das Erreichen die-ser Ziele müssen wir alle in Deutschland etwas tun, auchwenn es wie im Moment mühevoll ist.

Die Debatte über Atomausstieg und Ersatztechnolo-gien auf Basis von Gas wird uns im nächsten Vierteljahroder noch länger begleiten. Auch da wird einiges vonDeutschland abverlangt. Aber wenn wir erfolgreich seinwollen, müssen wir auch kerzengerade zu diesen Zielenstehen. Das gilt auch für die Industrie, die daraus einengroßen Profit ziehen wird. Ich nenne da Herrn Wissmannvon der Automobilindustrie und Herrn Picard von derMineralölindustrie, die nach außen verbindlich wirken,aber intern Steine in den Weg legen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, wenn ich richtig gezählt habe, waren

das 17 Sätze. – Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duinfür die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Page 88: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Garrelt Duin (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Schindler, wenn ich das richtig sehe,hat die Koalition diese Aktuelle Stunde zum Thema Be-steuerung von Dieselkraftstoffen und nicht zum ThemaE10 beantragt.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das gehört zusammen!)

– Das sind zwei doch deutlich unterschiedliche Themen.

Ich will auf das eigentliche Thema, nämlich auf denDiesel, zurückkommen. Überall konnten wir am Wo-chenende lesen, dass die EU den Diesel teurer machenwill. Das war die Botschaft. Nach näherem Hinsehenkonnte man in Erfahrung bringen, dass es innerhalb derEU-Kommission Überlegungen gibt, den Diesel um17 Prozent teurer als Superbenzin zu machen.

Es war sehr bemerkenswert, dass am Freitag die Bun-desregierung auf entsprechende Nachfrage in der Bun-despressekonferenz dazu keine Meinung hatte. Ich finde,dass man sich dazu sehr schnell eine Meinung bildenkann. Man muss sich nur fragen: Soll diese Politik derUmwelt, der Industrie oder dem Verbraucher, in demFall dem Autofahrer, nutzen? Dann kommt man sehrschnell zu dem Ergebnis: Die Pläne für eine Verteuerungdes Diesels nützen keinem der drei Genannten. Deswe-gen sind solche Pläne abzulehnen.

(Beifall bei der SPD)

Eine höhere Dieselsteuer hilft niemandem.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Genau das ist falsch! Man müsste sich inhalt-lich damit beschäftigen!)

– Dass die Grünen dafür sind, ist mir schon klar. Daraufkomme ich gleich noch.

Die Pläne innerhalb der Europäischen Union zur stär-keren Besteuerung von Diesel sind ein Paradebeispielfür etwas ganz anderes. Sie sind quasi ein Lehrstück, daszeigt, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist,rechtzeitig, ausgestattet mit einem entsprechenden Früh-warnsystem, auf europäische Entwicklungen zu reagie-ren und sie zu beeinflussen.

(Beifall bei der SPD)

Das haben wir wieder einmal vor Augen geführt bekom-men.

Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele aus der jüngstenVergangenheit. Herr Burgbacher, Sie kennen sie auch;die Grünen werden sagen, dass sie anders zu bewertensind. Bei der Steinkohlefinanzierung ist die Bundes-regierung im wahrsten Sinne des Wortes nicht mit Ener-gie in Brüssel aufgetreten. Das Thema energieintensiveIndustrien wurde mit Blick auf den Emissionsrechtehan-del auf Brüsseler Ebene nicht kraftvoll vorangetrieben.Oder nehmen wir die wettbewerbsrechtlichen Nachteilefür die deutsche Automobilindustrie durch das jüngst ab-geschlossene Handelsabkommen mit Südkorea. Auch dahat sich die Bundesregierung nicht um die Belange der

heimischen Industrie gekümmert. Dieses Problem wirdauch im Rahmen der Diskussion um die Besteuerungvon Diesel deutlich.

Die Politik in Brüssel machen zum Teil deindustriali-sierte Länder. In Brüssel machen zum Teil Leute Politik,die von der Sache selbst am Ende nicht betroffen sind.Ich bin wirklich ein glühender Europäer. Aber ich weißauch: Um gute europäische Politik zu machen, bedarf eseiner starken deutschen Stimme in Europa. Diese fehltaber in allen Feldern.

(Beifall bei der SPD)

Was wir mit Blick auf die Automobilindustrie, auf dieAutofahrer und auf unsere Umwelt brauchen, ist einePolitik aus einem Guss. Wir brauchen eine Verständi-gung darüber, wie wir die Antriebstechnologien der Zu-kunft fördern wollen. Aber dieses Thema darf man nichtsingulär betrachten. Wir müssen uns auch fragen, wiehoch wir welchen Kraftstoff besteuern wollen. Wir müs-sen uns außerdem fragen: Welche Anreize wollen wir imBereich E-Mobility geben? Wollen wir etwa Kauf-anreize geben, um diesen Sektor zu fördern? Wie vielGeld wollen wir im Bereich Forschung und Entwicklungausgeben? Wie wollen wir die Reduzierung der CO2-Emissionen weiter vorantreiben, nicht nur bei Pkw, son-dern auch bei den Nutzfahrzeugen? Welche Infrastrukturwollen wir ausbauen? Wie gehen wir mit dem Thema„Zölle und Außenhandel“ um, also mit der Frage desWettbewerbs mit Herstellern von Automobilen aus au-ßereuropäischen Ländern? Auch das Thema Sicherheitist nicht zu vernachlässigen.

Wir können in jedem einzelnen Feld die Regulierungvorantreiben. Aber es sind nicht die einzelnen Regulie-rungen, die Auswirkungen auf den Standort Deutschlandhaben. Es geht vielmehr um die kumulierende Wirkungder Gesetzgebung in all den Feldern, die ich gerade ge-nannt habe. Wenn wir hier nicht handeln, kann das dazuführen, dass der deutsche Industriestandort mit der star-ken Automobilindustrie – wir sollten sie nicht in eineEcke stellen, sondern froh sein, dass wir sie nach wie vorin Deutschland haben – in Schwierigkeiten gerät.

Es ist die Aufgabe einer Bundesregierung, dafür zusorgen, dass wir endlich – im Grunde in einem Korridorvon zehn Jahren – eine verlässliche Gesetzgebung aufder europäischen Ebene bekommen, bei der sich die An-liegen der Industrie und der Verbraucher, in diesem Fallder Autofahrer, aber auch die ökologischen Aspekte wie-derfinden. Deswegen sage ich mit Blick auf die Bundes-regierung, die am Sonntag, nach 48 Stunden, auch er-kannt hat, dass das ein wichtiges Thema ist, und sichdann dazu positioniert hat: Machen Sie nicht hier inDeutschland dicke Backen! Protestieren Sie nicht inDeutschland gegen Pläne der EU, sondern machen SieIhre Arbeit: Seien Sie in Brüssel vor Ort und kümmernSie sich dort um die Interessen der deutschen Autofah-rer, der deutschen Industrie und der Umwelt!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Page 89: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12019

(A) (C)

(B)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Volker Wissing (FDP):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben schon frühzeitig darauf hingewie-sen, dass die Energiepreise die Brotpreise des 21. Jahr-hunderts sind. Wir haben immer auf die Kostenbelastungder Bürgerinnen und Bürger geachtet. Aber andere indiesem Hause haben es anders gesehen; es gibt Vertreterder Grünen, die hier im Hause immer der Meinung wa-ren, dass die Energiepreise höher sein müssen, damit dieBevölkerung zum Energiesparen erzogen wird. Wir erin-nern uns an Ihre Forderung, den Spritpreis auf gut2,50 Euro, damals 5 DM, anzuheben; das ist das Ziel,das Sie verfolgen. Es war Ihnen egal, dass Energiepreiseauch eine soziale Bedeutung haben; es ist Ihnen auchheute noch gleichgültig.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen selbst, dass das nicht stimmt!)

Es hat das linke Parteispektrum lange nicht interessiert,dass der Zugang zu Energie auch etwas mit Teilhabe,Mobilität und Wohlstand zu tun hat. Die SPD fängt jetztlangsam an, sich mit dem Thema zu beschäftigen; so vielzum Stichwort „frühzeitig“, Herr Kollege Duin.

(Beifall bei der FDP)

Frank-Walter Steinmeier sagte neulich, man müsseaufpassen, dass Strom nicht zum Luxusgut wird. Das ha-ben wir seit Jahren gepredigt; das war bei unserer Ener-giepolitik immer Teil der Abwägung. Schön, dass auchSie sich langsam etwas mit diesem Thema beschäftigen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Aber zukunftstauglich ist Ihre Energiepolitiknicht!)

Denn als Sie zusammen mit den Grünen den Atomaus-stieg beschlossen haben, war von einer sozialen Abfede-rung nicht die Rede.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt, wo es Ihnen langsam dämmert, was es für Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland be-deutet, zügig aus der Kernenergie auszusteigen, über-schlagen Sie sich mit Forderungen nach sozialenAbfederungen, die man dabei brauche. Die arbeitsmarkt-politische Sprecherin der SPD, Frau Kollegin Kramme,fordert jetzt: „Wir brauchen Energiepreissubventionenfür sozial Schwache, Langzeitarbeitslose und Geringver-diener.“ Meine Damen und Herren, was ist das denn fürein Konzept? Erst sollen die Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen den Vermietern die Solaranlagen auf denDächern finanzieren; dann soll der Staat die Energie-preise der Arbeitnehmer subventionieren. Das hat mitMarktwirtschaft nichts zu tun.

(Beifall bei der FDP)

Sie sehen ein, dass der Atomausstieg eine Gefahr fürMenschen mit niedrigem Einkommen ist. Da fragt mansich, warum in Ihrem Atomausstiegskonzept ein Sozial-ausgleich fehlt.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was ist denn dasfür ein Beitrag? Kommen Sie doch mal zumThema!)

– Wir reden hier über Energiepreise.

Mittlerweile ist die Atomausstiegspanik schon so weitgediehen, dass der haushaltspolitische Sprecher derSPD-Fraktion, Carsten Schneider, vor einem übereiltenAusstieg warnt und sagt, man dürfe nicht einfach so her-aus aus der Atomenergie, ohne einen Plan zu haben, wieman das „zu vertretbaren Preisen macht“. Ja, der Mannhat recht; wir sagen das schon seit Monaten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD undder LINKEN)

Zum Thema Dieselsteuererhöhung.

(Zuruf von der SPD: Endlich!)

Die Grünen freuen sich – die Forderung der EU-Kom-mission muss für Sie toll sein –: Man versucht nun voneuropäischer Seite, sich den von den Grünen gefordertenSpritpreisen von 2,50 Euro pro Liter anzunähern.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Auch das ist nicht richtig! Auch das wissenSie!)

Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden das verhindern,weil wir die Menschen im Blick haben, die heute schonverzweifeln, wenn der Tank leer ist. Es gibt in Deutsch-land – das mögen Sie nicht mehr wahrnehmen – vieleBürgerinnen und Bürger, die vor weiteren Spritpreiser-höhungen regelrecht Angst haben, weil sie nicht wissen,wie sie das mit ihren Einkommen finanzieren sollen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Grenze des Zumutbaren ist erreicht. Mobilitätdarf kein Privileg für Wohlhabende werden. Alle, diediese Debatte heute verfolgen, können ganz sicher sein,dass sich die christlich-liberale Koalition für bezahlbareEnergiepreise einsetzen wird, und zwar auf europäischerEbene genauso wie auf nationaler Ebene.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist eine gute Botschaft für unser Land. Es ist einewichtige Botschaft für unser Land, dass die Bundesre-gierung die Bedeutung der Energiepreise erkannt undauch entsprechend gehandelt hat. Es ist gut, dass die Re-gierung die Pläne der Europäischen Union für eine Erhö-hung der Spritpreise für Diesel entschlossen abgelehnthat.

Der Zugang zur Energie ist heutzutage die Vorausset-zung für gesellschaftliche Teilhabe. Die SPD fängt lang-sam an, das zu verstehen. Die Grünen sehen das anders.Ihnen war die Bezahlbarkeit von Energie immer egal.Die FDP hat stets gewusst – und entsprechend verant-

(D)

Page 90: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Volker Wissing

(A) (C)

(D)(B)

wortungsbewusst gehandelt –, worauf es ankommt. Wirwollen Politik für die Menschen in diesem Land ma-chen.

(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN)

Wir wollen, dass Energie bezahlbar bleibt. Das wer-den wir auch weiterhin tun. Tun Sie nicht so, als agiertenwir auf europäischer Ebene nicht mit ganz klarem Kurs.Wir haben frühzeitig Nein dazu gesagt. Wir haben esverhindert.

(Garrelt Duin [SPD]: Freitag hatten Sie noch nicht einmal eine Meinung dazu!)

Die Grünen müssten, wenn sie ehrlich sind, jetzt aufdie Menschen zugehen und sagen: Wir wollen höherePreise, wir wollen bald das Ziel von 2,50 Euro erreichen.Ich sage Ihnen: Wir werden es verhindern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – LisaPaus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mitletzter Kraft!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Dr. Barbara Höll für die Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Präsident, ich vergewissere mich: Dies ist docheine Aktuelle Stunde, gemeinsam von CDU/CSU undFDP beantragt. Dann hätte es gut getan, sich vorher dar-über abzustimmen, was Sie hier überhaupt wollen. We-nigstens das sollte man vermitteln.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Schindler, Sie haben – wenn ich Sie richtig ver-standen habe – hier darum geworben, Ruhe und Sach-lichkeit in die Debatte zu bringen. Was Herr Wissingeben gemacht hat, war genau das Gegenteil davon.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das wollen wir einmal festhalten. Herr Schindler, Siehaben gesagt, wir wollen, da seien wir uns hier im Saaldoch einig, die notwendige Abkehr von fossilen Brenn-stoffen und ein ökologischeres Wirtschaften bei derEnergieerzeugung, bezüglich des Verbrauches vonKraftstoffen im Verkehr, für Heizzwecke usw. Auch dasist einvernehmlich.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Mit weniger Steuern!)

Nun hat die EU-Kommission gehandelt und einenVorschlag vorgelegt. Die Reaktionen dazu: HerrRamsauer geht ins Kampfblatt Bild und verkündet:„Geht überhaupt nicht!“, Herr Oettinger hat als EU-Kommissar gleich gesagt: „Heftiger Widerstand!“, undFrau Merkel hat erklären lassen: „Mit mir ist das nichtzu machen!“ Tosender Applaus vom Verband der Auto-mobilindustrie. Herr Wissing findet das klasse. HerrSchindler, Sie fanden das eben nicht klasse.

Ich hätte mir an dieser Stelle gewünscht, dass Sie alsKoalition die Regierung in die Schranken gewiesen undgesagt hätten: Das Parlament möchte UmweltpolitikSchritt für Schritt tatsächlich umgesetzt haben!

Nun kommen wir einmal zum Inhalt und reden nichtüber E10 und die Arbeit in der EU usw., gucken also dar-auf, was die EU vorgeschlagen hat. Die CO2-Emissionenwerden in zwei verschiedenen Bereichen behandelt. Daseine ist – richtig! – die Energieerzeugung, Kraftwerkeusw. Dazu gibt es den Emissionshandel, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Der andere Bereich betrifft Ver-kehr, Haushalte, Landwirtschaft und kleine Industriebe-triebe. Der ist noch nicht geregelt. Hier holt die EU-Kommission einfach etwas nach. Geht in Ordnung.

Jetzt – wir sind im Jahr 2011 – wird vorgeschlagen,schrittweise einen Übergang vorzunehmen, dass nichtmehr die fossilen Brennstoffe, die umweltschädlich sind,steuerlich besser behandelt werden, also weniger kostenals die anderen – wie Ökobrennstoffe –, die für die Um-welt besser sind. Gut.

Die EU-Kommission schlägt vor, den EU-Mindest-steuersatz in drei Schritten anzuheben. Dies soll unterzwei Aspekten geschehen: CO2-Emissionen und Ener-giegehalt des Kraftstoffs. Da der Steuersatz für Diesel inDeutschland derzeit rund 47 Cent beträgt und der EU-Mindeststeuersatz – wenn ich das richtig sehe – ab 2018bei 41 Cent liegen soll, muss weiß Gott niemand Angsthaben, dass die Steuererhöhung hinter der Tanksäule lau-ert. Herr Wissing, was Sie eben gesagt haben, ist völligerBlödsinn. Es wird sich vorerst überhaupt nichts ändern.

Die EU-Kommission hat einen zweiten Schritt vorge-schlagen: 2023 soll der EU-Mindeststeuersatz für Dieselüber dem für Benzin liegen. Wenn man sich die aktuel-len Steuersätze anschaut, stellt man fest, dass man dannin Bezug auf die Dieselbesteuerung in der Tat einen gro-ßen Schritt machen würde. Wir reden derzeit aber übereinen Zeitraum von zwölf Jahren. In diesen zwölf Jahrenkann man Anpassungsmaßnahmen vornehmen. Die Au-toindustrie könnte in dieser Zeit aus dem Knick kom-men. Man könnte richtig etwas tun. Man könnte Ange-bote unterbreiten. Die Erneuerungsrate bei Fahrzeugenliegt im Durchschnitt sicher bei unter zehn Jahren. Sohaben Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglich-keit, zu sagen: Dann steige ich vielleicht doch vom Die-selauto wieder auf den Benziner um. Es gibt also vieleMöglichkeiten.

Es gibt überhaupt keinen Grund, hier eine solche Pa-nik zu veranstalten. Ich finde es wirklich katastrophal,dass Sie als Koalition gegenüber der Bundesregierungkeine eindeutige Meinung beziehen

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Klar haben wir eine eindeutige Meinung!)

und ein klares Zeichen setzen,

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wir doch gemacht!)

indem Sie sagen: Jawohl, das sind richtige Überlegun-gen. Denen können wir folgen. Wir begrüßen den Vor-schlag der EU-Kommission. – Ich denke, er verdient es,

Page 91: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12021

Dr. Barbara Höll

(A) (C)

(D)(B)

in Ruhe und sachlich diskutiert zu werden. Es muss nichtunnötig via Kampfpresse Stimmung erzeugt werden,weil Sie versuchen, von Ihrer katastrophalen Politik ab-zulenken.

(Beifall bei der LINKEN)

Nehmen wir einmal die energetische Gebäudesanie-rung: Der Umweltminister verkündete in dieser Woche,er möchte 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen undrichtig Geld hineinstecken. Das finde ich völlig in Ord-nung. Wo soll das Geld aber herkommen? Die Atomin-dustrie will einfach nicht weiter einzahlen, weil Sie nichtin der Lage waren, wasserdichte Verträge abzuschließen.Deshalb muss man sagen: Es ist ein plumpes Ablen-kungsmanöver und tatsächlich schädlich für den Um-weltgedanken. Es ist schädlich, weil es eine Verunsiche-rung der Bevölkerung darstellt.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion der Grü-

nen.

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auto-

deutschland befindet sich seit mehreren Wochen in Auf-ruhr. Nach dem Murks mit E10 fragte sich Deutschlandam letzten Wochenende: Kommt jetzt der nächsteMurks? Was wir erleben mussten, war in der Tat Murks.Es handelt sich dabei aber nicht um den Vorschlag derEuropäischen Union. Es war vielmehr Unsinn, die Vor-schläge in einer solch dummen und pauschalen Art undWeise zurückzuweisen, wie es Brüderle, Gabriel,Ramsauer und Merkel getan haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Ver-such, den Volkszorn über E10 auf Brüssel abzuwälzen,ist bisher misslungen. Er wird auch weiterhin nicht tra-gen. Die Bevölkerung ist inzwischen weiter, als Sie den-ken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch ich muss einmal rekapitulieren, worum es denneigentlich geht. Am Wochenende hatte man den Ein-druck: Übermorgen kommt die Erhöhung der Diesel-steuer. So ist es aber nicht. Es geht nicht um ein Gesetz,das morgen in Kraft tritt. Es geht um den Entwurf einerRichtlinie der Europäischen Union, der gestern vorge-stellt worden ist. Damit beginnt nun eine lange, voraus-sichtlich über zwei Jahre dauernde Diskussion zwischender Europäischen Kommission, den europäischen Mit-gliedsländern und dem Europäischen Parlament. Dannwird es zu einer Entscheidung kommen.

Worum geht es inhaltlich? In Bezug auf Diesel geht esum zwei Dinge: Erstens geht es um die schrittweise Er-höhung des europaweiten Mindeststeuersatzes für Dieselvon heute 33 Cent pro Liter auf 41,2 Cent pro Liter bis

2018. Hinzu kommt, dass in anderen europäischen Län-dern zusätzliche Ermäßigungen für Fahrzeuge aus ge-werblicher Nutzung gelten. Auch diese Ausnahmen sol-len abgeschafft werden.

Was ändert sich dadurch in Deutschland? Nichts.Nichts ändert sich in Deutschland, denn hier liegt derDieselsteuersatz bereits über dieser Mindestgrenze, undzwar bei 47 Cent pro Liter. Das hat eine Konsequenz:den Tanktourismus. Dieser ist massiv. Es gibt Schätzun-gen, dass allein in Österreich der Absatz von Sprit zu30 Prozent auf Tanktourismus zurückzuführen ist. Die-ser Tanktourismus, der umweltpolitisch unsinnig ist,würde zurückgedrängt. Was kann daran aus deutscherSicht falsch sein?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Dieser Kommissionsentwurf schlägt vor,dass ab 2023 Kraftstoffe endlich gleich zu behandelnsind und dann nach ihrem Energiegehalt und ihrem CO2-Ausstoß besteuert werden sollen. Das ist klima- und um-weltpolitisch sinnvoll. Wenn Sie von der Koalition sichtatsächlich einmal dem Inhalt des Papieres widmen wür-den, dann könnten auch Sie nur zu dem Schluss kom-men, dass dieser Vorschlag zu begrüßen ist. Es gibt näm-lich keine ökologische Begründung dafür, dass inDeutschland Diesel mit 18 Cent gegenüber Benzin sub-ventioniert wird. Diese Begünstigung ist kontraproduk-tiv.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Fakten:Der CO2-Ausstoß von Diesel liegt pro Liter um21 Prozent höher als der von Benzin, wohingegen derSteuersatz auf Diesel um 28 Prozent niedriger ist. Wasist daran ökologisch sinnvoll? Das macht einfach keinenSinn.

Der Verweis auf die großen Fortschritte, die in denletzten Jahren in der Dieseltechnologie gemacht wordensind, zieht heute nicht mehr, jedenfalls nicht, was um-welt- und klimaschutzpolitische Argumente angeht.Denn seit 2001 sinken die durchschnittlichen CO2-Emis-sionen neuer Dieselfahrzeuge nicht mehr, stattdessensteigen sie an. Das hängt damit zusammen, dass dertechnologische Fortschritt durch die Anmeldung vonleistungsstärkeren Pkw komplett aufgefressen wordenist. Bei Neuzulassungen liegen Dieselfahrzeuge derzeitim Schnitt bei einem Wert von 173 Gramm CO2 pro Ki-lometer. Damit liegen sie über dem Wert von Benzinernund weit über den angepeilten 120 Gramm CO2 pro Ki-lometer. Die Dieselförderung in Deutschland bremst an-dere emissionsärmere Technologien, wie beispielsweisedie Hybridfahrzeuge, aus. Diesel wird im Vergleich zumBenzin – um eine Hausnummer zu nennen – in Höhevon 6,4 Milliarden Euro subventioniert.

Außerdem gibt es bei Dieselfahrzeugen ein weiteresProblem, das eigentlich allgemein bekannt ist: Gesund-heitsgefährdung durch Feinstaub. Kraftstoffverbren-nung und -filter sind beim Diesel eben nicht so effektivwie beim Benziner. Weitere Umweltprobleme kommenhinzu. Stichworte sind beispielsweise Bodenversäuerungoder Sommersmog.

Page 92: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Lisa Paus

(A) (C)

(D)(B)

Noch ein Wort zu den Preisen. Herr Wissing, dieRede war von 2,50 Euro. Es ist gar nicht einmal sicher,dass, würde eine Steuererhöhung kommen, diese tat-sächlich zu Preiserhöhungen führen muss. Momentan istes schon so: Aufgrund der stark gewachsenen diesel-betriebenen Pkw-Flotte in Deutschland müssen wir der-zeit nicht nur Rohöl importieren, das in Deutschland raf-finiert wird, sondern wir müssen zusätzlich Dieselimportieren, um die Dieselfahrzeuge in Deutschland be-treiben zu können. Auch das macht keinen Sinn.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie ein bisschen he-

runter, lassen Sie Luft ab! Setzen Sie sich mit dem Inhaltder Richtlinie auseinander! Ansonsten stehen Sie vor ei-nem Problem. Wenn Sie das nicht wollen, was wollenSie stattdessen unternehmen, um die Klimaziele zu errei-chen? Dazu hätte ich dann gerne eine Äußerung von Ih-nen. Ich befürchte, wir haben bald nicht nur E10, son-dern dann kommt E20, E30 oder Weiteres. Bitte zeigenSie uns Ihre Alternativvorschläge!

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Die Kritik, die hier in Rich-tung Regierung auf den Weg gebracht wurde, ist bislangso vielfältig, so unterschiedlich und einander widerspre-chend, dass aus meiner Sicht sehr vieles dafür spricht,dass die Position der Bundesregierung genau die richtigeist. Insofern ist eine Debatte wie die, die wir jetzt hierführen, durchaus erhellend. Die einen sagen, wir hättenuns früher und stärker aufpumpen müssen. Die anderensagen, wir sollten Luft ablassen. Ich meine, wir solltenuns mit der Geschichte sachlich und vernünftig ausein-andersetzen.

Die Kritik von Herrn Duin, wir hätten nicht rechtzei-tig reagiert, ist vollständig verfehlt.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was?)

Immerhin hat sich die Kanzlerin zügig, unmittelbar zuBeginn dieser Debatte geäußert, und das ist nun einmaldie höchste Instanz der Regierung, die sich hierzu mel-den kann. Das heißt, man kann der Regierung wirklichnicht vorwerfen, sie hätte sich nicht adäquat gemeldet,wenn sich die Bundeskanzlerin zu Wort gemeldet hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – LisaPaus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit derfalschen Antwort!)

Ich glaube, es ist durchaus legitim, dass wir in einersolchen Debatte, in der es um ein europäisches Rege-lungsvorhaben geht, auch einmal darüber nachdenken,welche Interessen Deutschland in diesem Zusammen-hang hat. Auch die deutschen Interessen sollten meinerAnsicht nach eine Rolle spielen. Diese Frage spielt näm-lich für den Standort Deutschland eine Rolle, insbeson-dere für die Automobilindustrie, aber auch für unsereVerbraucher. Jedes zweite Fahrzeug, das hier neu zuge-lassen wird, ist ein Dieselfahrzeug. Diese Frage spielt fürdie Menschen in Deutschland also eine ganz großeRolle. Herr Wissing hat zu Recht darauf hingewiesen,dass sich viele schon heute fragen, ob sie die Spritpreisevon morgen noch bezahlen können.

Deswegen: Wenn wir das Regelungsvorhaben, dasauf europäischer Ebene angedacht wird, nämlich die An-gleichung der Diesel- und Benzinbesteuerung, bis zumEnde durchspielen, stellen wir fest, dass sich die Diesel-besteuerung um 60 Prozent erhöhen würde. Im Endef-fekt läge der Dieselpreis 17 Prozent über dem Benzin-preis.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Aber es liegt in Ihrer Hand, das national anderszu regeln!)

Das ist eine Belastung, die für den deutschen Verbrau-cher nicht hinnehmbar ist. Diese Regelung ist vor allemmit Blick auf die Menschen nicht vertretbar, die im länd-lichen Raum leben und zur Arbeit pendeln.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Regelung wäre auch für unsere Landwirtschafteine schwere Belastung. Im Übrigen geht sie auch mitBlick auf unsere Automobilindustrie in die falsche Rich-tung.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Die Erhöhung können Sie aber nicht Brüsselanlasten!)

Schließlich würde auch das Transportgewerbe – ichdenke an den Gütertransfer auf der Straße, der gerade indem Logistikland Deutschland eine große Rolle spielt –schwerstens belastet werden, weil fast jeder große Lkwdieselbetrieben ist.

Hier ist Diesel als Kraftstoff generell angesprochenworden. Ich glaube, an dieser Stelle muss man sehr sorg-fältig differenzieren. Der CO2-Ausstoß pro Liter ist beiDiesel zwar höher, aber der Verbrauch ist bei einem Die-selmotor gegenüber einem Benzinmotor 25 Prozentniedriger. Das heißt, wir müssen sehen, wie hoch die Be-lastung pro gefahrenem Kilometer ist. Das ist die ent-scheidende Größe, wenn man fragt, welche Fortbewe-gungsart belastender oder weniger belastend für Klimaund Umwelt ist.

Dann sind wir bei der Frage: Welche technologischenEntwicklungsmöglichkeiten haben wir? Wenn Sie mitden Experten in der Automobilindustrie sprechen, sagensie Ihnen: Wir sind beim Diesel noch lange nicht amEndpunkt der Entwicklung angelangt. Ich nenne dasStichwort „Clean Diesel“.

Page 93: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12023

Dr. Mathias Middelberg

(A) (C)

(D)(B)

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das ist bei 172 Gramm pro Kilometer auchdringend nötig!)

Gerade Hersteller wie Volkswagen und Daimler sind beidieser Technologie weltweit führend. Wir wären ja mitdem Klammerbeutel gepudert, wenn wir diesen Schritttun würden. Dadurch würden wir unsere Automobilin-dustrie in diesem Kernfeld, in dem wir absolut Welt-marktführer sind – unsere Dieselautos lassen sich her-vorragend exportieren –, unsere industrielle Basis mitHundertausenden von Arbeitsplätzen dort und bei denZulieferunternehmen, eilfertig beschädigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin der Meinung, dass wir uns mit den Vorschlä-gen der EU-Kommission sachlich, vernünftig und behut-sam auseinandersetzen sollten. Wir sollten in der De-batte die deutschen Interessen aber durchaus deutlichund klar artikulieren. Das haben die Bundeskanzlerinund der Bundesverkehrsminister aus meiner Sicht über-zeugend getan.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – LisaPaus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wieerreichen Sie die Klimaziele im Verkehrsbe-reich?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

Uwe Beckmeyer (SPD):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich habe den Eindruck, dass bei den Regierungs-fraktionen und damit natürlich auch bei der Bundesre-gierung am letzten Wochenende die große Nebelma-schine angeworfen worden ist. Wie kommt man zu die-sem Eindruck? Plötzlich haben wir in großen Zeitungenden Weckruf des ADAC und des Herrn Wissmann ge-hört und gelesen, der Sie hinsichtlich der möglichen Re-aktionen hier in Deutschland aufgeschreckt hat. Da fragtman sich: Brauchten Sie diesen Weckruf? Es schien so;denn danach äußerten sich Frau Merkel und HerrRamsauer. Man hat den Eindruck: O Gott, bei denen istder Weckruf angekommen. Die Frage ist nur: Wer regierteigentlich unser Land? Der ADAC, der Verband der Au-tomobilindustrie oder diese Bundesregierung?

Man muss ernsthaft fragen, Herr Schindler, ob Siehier Ihre Einzelmeinung vorgetragen haben oder ob dasdie Linie Ihrer Fraktion ist.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war die des Bauernverbandes!)

Was war das?

(Zuruf des Abg. Norbert Schindler [CDU/CSU])

Es wird erstens deutlich gesagt – da sind wir gar nichtauseinander –, dass Mobilität – hören Sie zu –

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Hören Siezu! – Gegenruf der Abg. Ingrid Arndt-Brauer[SPD]: Sie sind nicht lernfähig!)

in Deutschland bezahlbar bleiben muss und soll, undzweitens, dass wir eine Automobilindustrie haben, dieauch national von uns im Auge behalten werden muss,weil eine große Zahl von Industriearbeitsplätzen von derAutomobilproduktion in Deutschland abhängt.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Autogipfel gab es nur bei Gabriel! Da haben Sie recht!)

– Hören Sie zu.

Wir haben vor einigen Tagen das eine oder andereschriftlich bekommen, in dem zu lesen ist, wie die Bun-desregierung zu diesen Papieren der EuropäischenUnion und zu diesen Plänen steht. Da wird vom Bundes-finanzministerium auf die Frage der Fraktion der Grü-nen, welche Position die Bundesregierung zur Energie-steuerrichtlinie vertritt, in einem offiziellen Schreibengeantwortet:

Die Vorlage eines Änderungsvorschlags zur Ener-giesteuerrichtlinie an den Rat ist ein interner Vor-gang der Kommission, in den die Mitgliedstaatennicht offiziell einbezogen sind. Die Bundesregie-rung nimmt zu informell in die Öffentlichkeit ge-langten Punkten keine Stellung, da weder bekanntist, ob diese zutreffend sind, noch bekannt ist, obdie Kommission diese dem Rat förmlich vorschla-gen wird.

So weit die Bundesregierung auf diese Frage.

Nun hören Sie zu: Seit anderthalb Jahren existiert einArbeitspapier der Generaldirektion Steuern und der Zoll-union hinsichtlich der entsprechenden Modifizierung.Dieses ist den Mitgliedstaaten zugesandt worden und be-kannt.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ach nee!)

Die Frage an Sie oder an die Bundesregierung lautetdoch: Was ist seitdem in Deutschland geschehen? HabenSie sich eine Meinung dazu gebildet?

(Beifall bei der SPD – Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Nicht einmal gelesen!)

Haben Sie etwas getan? Sie machen hier die Windma-schine an, Herr Dr. Wissing, und sagen: Ho, wir sind die-ser und jener Meinung. Aber was ist seitdem geschehen?Hat sich Deutschland in diese Diskussion eingebracht?Nein, Deutschland hat es nicht; sonst wäre die Überra-schung nicht so groß gewesen.

(Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Wenn man es nicht liest!)

Es ist bekannt – auch das kann man diesen Dokumen-ten entnehmen –, dass sich sehr wohl Unternehmen,Kommissionsdienststellen und Mitgliedstaaten in viel-fältigen Beiträgen aus den Mitgliedsländern dazu geäu-

Page 94: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Uwe Beckmeyer

(A) (C)

(D)(B)

ßert und dies bewertet haben. Sie aber sind überraschtworden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie mussten geweckt werden. Bei dieser katastrophalenPolitik in Richtung Europa frage ich mich: Wo ist eigent-lich Ihre Verantwortung für den IndustriestandortDeutschland?

(Beifall bei der SPD – Dr. Mathias Middelberg[CDU/CSU]: Der Arbeitsplatzstandort ist imbesten Zustand, Herr Beckmeyer! – Zuruf desAbg. Dr. Volker Wissing [FDP])

Ich glaube, insofern war der Weckruf sinnvoll. Ichkann an dieser Stelle nur sagen: Das alles erinnert michsehr stark an das, was wir bei E10 erlebt haben. HerrRamsauer sagte, er sei dafür, dass E10 eingeführt wird,Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Kauder, der gerade nichtanwesend ist, sagte natürlich, dass das überhaupt nichtinfrage kommt.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Sie lügen!)

Welche Haltung haben Sie denn? Sie haben gar keineHaltung. Sie sind in dieser Frage meinungslos.

(Nicolette Kressl [SPD]: Nicht nur in der Frage!)

Das allerdings ist sträflich und verantwortungslos bezo-gen auf unsere Position in Europa. Da kann ich nur sa-gen: Werden Sie besser. Wenn nicht, bestätigt sich dieThese: Wir werden zurzeit in Deutschland schlecht re-giert.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – IngridArndt-Brauer [SPD]: Das stimmt allerdings!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Heinz Golombeck (FDP):Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Nicht alles, was aus Brüssel kommt, istschlecht. Insbesondere beim Klimaschutz ist es durchaussinnvoll, europäische Regelungen einzuführen. Denn na-tionalstaatliche Insellösungen tragen zum Klimaschutzkaum bei und führen außerdem zu Wettbewerbsverzer-rungen.

Alle Mitgliedstaaten haben der Strategie Europa 2020und den 20-20-20-Zielen zugestimmt. Deutschland istmit seinem ambitionierten Ziel, 40 Prozent des CO2-Aus-stoßes bis 2020 einzusparen, der absolute Vorreiter. Diesist nicht ungewöhnlich. Man kennt uns in Europa als Im-pulsgeber und Pionier, insbesondere in Umweltfragen.

Deutschland ist das einzige europäische Land, das soerfolgreich aus der Krise kam. Heute titelt die Bild-Zei-tung: „So viele Jobs wie noch nie!“ Die Bundesregie-rung erwartet für 2011 ein Wirtschaftswachstum von2,6 Prozent; das sind 0,3 Prozentpunkte mehr als in derPrognose zu Jahresbeginn. Die Zahl der Arbeitslosenwird auf 2,9 Millionen sinken. Sollen wir diese positiveEntwicklung jetzt etwa gefährden? Eine neue Steuerpoli-tik aus Brüssel ist das Letzte, was wir derzeit gebrauchenkönnen.

Kommen wir nun zur Besteuerung von Dieselkraft-stoff.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war dazu noch mal Ihr Vorschlag?)

Es gibt bereits die Euro-5- und Euro-6-Verordnung,durch welche der Schadstoffausstoß von Dieselmotorenund Benzinern angeglichen wurde. Ab 2014 werden dieStickoxidemissionen durch die Euro-6-Norm um weitere68 Prozent gesenkt.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gibt es sie aber immer noch!)

Außerdem gibt es eine EU-Verordnung aus dem Jahre2009 zu den Neuzulassungen von Pkw nach Emissions-gruppen und Kraftstoffarten, welche eindeutige Ziele zurVerringerung der CO2-Emissionen verfolgt. Die Europä-ische Kommission sieht sogar vor, diejenigen Herstellermit einer Lenkungsabgabe zu belegen, deren Jahresmit-tel bei Pkw-Neuzulassungen über dem für sie festgeleg-ten Wert liegt. Eine höhere Besteuerung des hocheffizi-enten Dieselkraftstoffs ergibt daher umweltpolitischwenig Sinn.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ahnungslos!)

Wirtschaftlich hätte sie fatale Folgen. Fast der ge-samte Straßengütertransport erfolgt durch Dieselfahr-zeuge. Eine zusätzliche Besteuerung würde nicht nur ge-rade viele kleine und mittlere Unternehmen in denfinanziellen Ruin treiben, sondern es würden auch dieLandwirtschaft, das Handwerk, die Speditionsbetriebe,kurzum der Mittelstand, der Leistungsträger unserer Ge-sellschaft, unverhältnismäßig belastet. Nicht zuletztwürde die Besteuerung längerfristig auf den Verbraucherumgewälzt werden, der für viele Produkte tiefer in dieTasche greifen müsste.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Dann lassen Sie das doch! Brüssel jedenfallszwingt Sie nicht dazu!)

Nein, meine Damen und Herren, wir haben derzeitkeinen Spielraum für Teuerungsraten. Gerade erst kamvon EU-Kommissar Lewandowski der Vorschlag, künf-tig ein Drittel der EU-Einnahmen mit einer EU-Steuerauf bestimmte Waren zu generieren. Dies widersprichteindeutig dem Koalitionsvertrag von Union und FDP.Denn dort steht:

Eine EU-Steuer oder die Beteiligung der EU an na-tionalen Steuern und Abgaben lehnen wir ab. Auchdarf die EU keine eigenen Kompetenzen zur Abga-

Page 95: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12025

Heinz Golombeck

(A) (C)

(D)(B)

benerhebung oder zur Kreditaufnahme für Eigen-mittel erhalten.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Und warum?)

Genauso verhält es sich auch mit der Vorgabe von Min-deststeuersätzen. Auch diese lehnen wir ab. Wir brau-chen in der Steuerpolitik keinen Nachhilfekurs vonBrüssel.

Aufgrund des schnelleren Ausstiegs aus der Kernen-ergie werden wir massiv investieren müssen: in den Lei-tungsausbau, in intelligente Netze, in Speichertechnolo-gie und nicht zuletzt in die Energieforschung.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Haben Sie nicht eben etwas von gemeinsamerKlimaschutzpolitik gesagt?)

Es nützt nichts, darum herumzureden: Energie wird oh-nehin teurer werden. Wir können und wollen die Ver-braucher nicht von mehreren Seiten durch höhere Preisebelasten. Dies würde unser gerade erst mühsam er-kämpftes Wirtschaftswachstum bremsen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

In Steuersachen muss im Rat einstimmig entschiedenwerden. Das heißt, ein Veto der Bundesregierung kannund wird die Richtlinie zur Energiebesteuerung, so wiesie uns vorliegt, kippen. Daher sagen wir Nein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Ingrid Arndt-Brauer (SPD):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gestern, am13. April 2011, kam eine Nachricht aus Brüssel mit derÜberschrift – ich zitiere –: „Energiebesteuerung: Kom-mission setzt sich für Energieeffizienz und umwelt-freundlichere Erzeugnisse ein“. In dieser Nachricht hießes:

Die Europäische Kommission hat heute einen Vor-schlag vorgelegt, mit dem die veralteten Regelun-gen zur Besteuerung von Energieerzeugnissen inder Europäischen Union überholt werden sollen.

Man könnte sagen: Na endlich! Man könnte sich freuenund könnte sagen: Jawohl, jetzt machen wir eineAktuelle Stunde zu dem Thema und sagen, wie wir dasin Deutschland umsetzen wollen. Darauf habe ich ge-wartet; leider wurde ich bisher enttäuscht. Herr Schind-ler sprach über E10, und Dr. Wissing sprach – ein ganzneues Feld – über Sozialpolitik. Dr. Middelberg sprachhauptsächlich von deutschen Interessen innerhalb Euro-pas. Herr Golombeck redete von der Arbeitslosenquoteund wollte auf keinen Fall Steuererhöhungen.

Ich rede jetzt einmal über Energiesteuern, also überunser Thema. Energiesteuern werden aus verschiedenenGründen erhoben. Natürlich will man Einnahmen erzie-len, man möchte die Leute zu sparsamem Verhalten ani-mieren, und man möchte lenken, was bedeutet, dass sau-bere Energie bevorzugt werden soll.

Was ist in Brüssel passiert? Man hat dort festgestellt:Energie wird völlig unterschiedlich besteuert, und eswäre sinnvoll, zu schauen, was für Produkte man hat undwie man die ganze Sache harmonisiert. Das ist an sichüberhaupt nichts Schlimmes bzw. Schlechtes. Das hättenwir heute auch alles aktuell abfeiern können.

Wie war die Situation? Die Situation war folgende:Schon am letzten Wochenende wurden vorab Nachrich-ten durchgestochen, die dazu führten, dass vor allem dieZeitung mit den großen Buchstaben den Untergang desAbendlandes postulierte. Aber die Kanzlerin stellte klar:Diesel wird nicht teurer. Ein kraftvolles Wort! Niemandhatte vorher in Brüssel gesagt: Wir wollen Diesel verteu-ern. Vielmehr wollte man Energie nur anders besteuernund vielleicht einmal Sachen auf den Prüfstand stellen.

Überhaupt wundert es mich, dass sich die Bundesre-gierung aktuell mit dem Thema so stark beschäftigt;denn die ganze Sache wird für uns frühestens 2023 rich-tig akut. Da diese Bundesregierung nur noch bis 2013 imAmt ist, muss sie sich über solche langfristigen Dinge,denke ich, überhaupt keine Gedanken machen. Ich emp-finde das Ganze als gigantisches Ablenkungsmanöver.

Schauen Sie mal: Die Regierungsbank ist leider sehrspärlich besetzt. Normalerweise sitzt da eine Kanzlerin,die plötzlich den Atomausstieg forciert, obwohl sie im-mer für Atompolitik war. Das treibt die Leute natürlichin die Verunsicherung. Normalerweise sitzt da noch einAußenminister, zu dem mir nur einfällt, dass er in Zu-kunft das falsche Amt abgeben wird. Dann sitzt danebenein Innenminister, der bei Migranten Chaos verursacht.All das bringt die Leute in Panik. Sie setzen dann ihreHoffnungen auf den meistens danebensitzenden Finanz-minister, der leider keine Steuersenkungen vornehmenkann, aber auch sonst nicht einmal die Gemeindefinan-zen geregelt bekommt. Normalerweise sehen wir dane-ben einen Wirtschaftsminister,

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Guter Wirtschafts-minister!)

der wie ein Fels in der Brandung steht. Allerdings ist dasWasser schon weg; das hat er nur nicht gemerkt.

(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])

Am Rand sitzt normalerweise unsere Arbeitsministerin,die Kürzungen bei Eingliederungsmaßnahmen in derForm forciert, dass nicht nur den Arbeitslosen angst undbange wird.

Das alles bringt die Bevölkerung natürlich in Aufruhr.Man kann das verstehen, wenn dann noch die Apoka-lypse „Jetzt geht es gegen Autofahrer“ an die Wand ge-malt wird. Denn dann hilft auch nicht die in der zweitenReihe sitzende Verbraucherministerin, die sich bisherum alles Mögliche gekümmert hat, nur nicht um denSchutz der Verbraucher.

(Beifall bei der SPD)

Page 96: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ingrid Arndt-Brauer

(A) (C)

(D)(B)

Alle Hoffnung ruht – gleich nachfolgend – auf der Fami-lienministerin mit ihren Freiwilligendiensten. Ob dasdem Land helfen wird, wage ich zu bezweifeln. BeimGesundheitsminister kann ich nur fragen: Wo ist die Re-form? Bei Ramsauer frage ich mich: Wo ist der Plan?Und bei Röttgen kann ich nur hoffen, dass das Morato-rium dauerhaft sein wird; ansonsten hat er nämlich auchkeine Lösung. Schavan muss man nicht großartig erwäh-nen, und bei Niebel fällt mir, ehrlich gesagt, außer Wirt-schaftsförderung auf Kosten der Armen nichts mehr ein.

Jetzt könnte man sagen: Unsere Hoffnung in der EUruht auf Oettinger.

(Olav Gutting [CDU/CSU]: Guter Mann!)

Wir haben ja einen Energiekommissar. Nur frage ichmich: Wo ist eigentlich unser Energiekommissar? Wennes um langfristige energiepolitische Ziele geht, habe ichvon ihm auch noch nichts gehört.

Das ist das Problem. Die aktuelle Regierung – die,wie gesagt, auf zwei Jahre befristet ist – kümmert sichnicht aktuell um die wirklichen Probleme in diesemLand, sondern lässt es zu, dass dieses Land in Panik ver-fällt und dieser Zeitung mit den vier Buchstaben hinter-herläuft, ansonsten macht sie nichts als Ankündigungen.

Ich möchte Sie bitten, sich in Zukunft zu bemühen,diese zwei Jahre einigermaßen anständig über die Bühnezu bringen und uns nicht nur Chaos zu hinterlassen; dennso viel können wir dann auch nicht mehr aufräumen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Daswar eine sehr lachhafte Rede!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Peter Aumer (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Arndt-Brauer,Sie haben an dem Thema dieser Aktuellen Stunde totalvorbeigeredet. Sie haben gesagt, welche Kollegen vonuns zum Thema gesprochen haben. Das Wesentliche ist,dass man bei all den Punkten den roten Faden erkennt.Bei Ihrer Satire, die Sie in Bezug auf das Kabinett vonsich gegeben haben, fehlte es aus meiner Sicht an jegli-cher Verantwortung für das Thema.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das war eine Situationsbeschreibung!)

Ich glaube, Sie stellen sich dieser Debatte nicht mit dergebotenen Ernsthaftigkeit.

Wenn man sich der Situation in unserem Land stellt,dann sieht man, dass die Energie eines der wesentlichenThemen ist,

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Tun Sie doch endlich mal etwas!)

über die man verantwortungsvoll und verlässlich disku-tieren muss. Das tun wir.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Nichts!)

Wir setzen uns mit den Dingen verantwortungsvoll aus-einander und spielen hier nicht Fasching oder sonstigeDinge. Das kann nicht sein. Das war eine Büttenrede undnichts anderes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – In-grid Arndt-Brauer [SPD]: Das war doch nichtFasching! Das war eine Situationsbeschrei-bung! – Zuruf des Abg. Dr. Hermann Ott[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Unser gemeinsames Ziel ist eine EU-Wirtschaft, diegrüner und wettbewerbsfähiger ist sowie effizientermit den Ressourcen umgeht.

Das hat gestern der EU-Steuerkommissar bei der Vor-stellung der Richtlinie, über die wir heute reden, gesagt.Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. Das ist für unsjedoch ein Vorschlag, der durchdacht werden muss, undman muss sich den Themen natürlich auch verantwor-tungsvoll stellen.

Herr Beckmeyer hat vorhin gesagt, dass wir als christ-lich-liberale und die Regierung tragende Koalition nichtverantwortungsvoll mit dem Industriestandort Deutsch-land umgehen. Lieber Herr Beckmeyer, dieser Verant-wortung sollten auch Sie in der Energiedebatte gerechtwerden;

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wohl wahr! Aber Siescheinen ein Wahrnehmungsproblem zu ha-ben!)

denn wir handeln verantwortungsvoll und schauen, wieman die Energiepolitik für die nächsten Jahrzehnte rich-tig und verantwortungsvoll ausrichten kann. Dazu gehörtnatürlich auch, dass man bei dem Thema Besteuerunggenauer hinschaut und dass man für die Erreichung derKlimaziele eine gemeinsame Politik machen muss, dieverantwortungsvoll in die Zukunft gerichtet ist. Wir tundas. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Oppo-sition, Sie haben zwar viel gesagt, aber keine konkretenVorschläge dafür gemacht,

(Garrelt Duin [SPD]: Doch, natürlich! Sie haben nicht zugehört!)

– Sie auch nicht –, wie man bei der Energiebesteuerungandere Wege gehen kann.

Wir denken, dass gerade die Dieselbesteuerung einwichtiger Punkt für die deutsche Steuerpolitik und fürdie Energiepolitik in Deutschland ist.

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Und warum kümmern Sie sich nicht darum?)

Für die private Wirtschaft und für Privatnutzer gilt: Seitlängerem gibt es eine ökologische Besteuerung desTreibstoffes, die in dieser Zeit sicherlich auch richtigund wichtig war, weil man damit lenkend wirkt. Mandarf aber natürlich auch nicht überbesteuern.

Page 97: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12027

Peter Aumer

(A) (C)

(D)(B)

Gerade bei den Dieselfahrzeugen ist die CO2-Vermei-dung ein wesentliches Ziel. Liebe Frau Paus, es wundertmich, dass die Grünen dieses Ziel ganz aus den Augenverloren haben. Ich habe aus Ihrer Rede geschlossen – soist mir das vorgekommen –, dass Sie die dieselbetriebe-nen Fahrzeuge verdammen. Ich finde das nicht unbe-dingt sehr verantwortungsvoll.

(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört!)

– Das war der Tenor ihrer Rede und aus meiner Sichtnicht unbedingt richtig; denn die Dieselfahrzeuge sindeffizient und energiesparend, und es ist kontraproduktiv,wenn man sie falsch besteuert.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ich habe gesagt: Beim Diesel ist nicht allesGold, was glänzt!)

Die Nachfrage nach Dieselfahrzeugen ergibt sich vorallem aufgrund der Kostenfaktoren. Das muss man ganzklar sehen. Man muss sich natürlich auch die Besteue-rungsstruktur in unserem Land ansehen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das können Sie ändern! Damit hat Brüsselnichts zu tun!)

Neben der Besteuerung des Kraftstoffs gibt es auch dieKfz-Steuer, die sich natürlich auf die Wettbewerbsfähig-keit der Dieselfahrzeuge auswirkt. Deswegen muss mandie Dieselbesteuerung als Ganzes sehen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Mit der Vorgabe in der Energiesteuerrichtlinie ist eseinfach schwierig, die Dieselfahrzeuge in unserem Landwettbewerbsfähig zu halten und nicht zusätzlich durcheine Besteuerung zu belasten. Zum anderen muss mannatürlich auch sehen, dass die Dieseltechnologie vor al-lem im Transportgewerbe und im industriellen Bereichvorherrscht. Eine höhere Besteuerung wird sicherlichnicht dazu beitragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit un-seres Landes verbessert wird. Hierüber muss man ver-antwortungsvoll diskutieren.

Frau Paus, Sie haben es ja auch gesagt: Die bishergeltende Ermäßigung kann dann nicht mehr aufrecht-erhalten werden. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dassman gerade im Bereich des Transportgewerbes und beider Besteuerung der industriellen Fahrzeuge Ausnahmenmachen kann.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wie erreichen Sie Ihre Klimaschutzziele imVerkehrsbereich?)

Des Weiteren sind wir in Deutschland mit unserengroßen Automobilherstellern in der Dieseltechnologieweltweit führend. Auch hier muss man die Wettbewerbs-fähigkeit des Standortes Deutschland aufrechterhaltenund den Vorsprung sichern. Denn das Entscheidende fürden Industriestandort Deutschland ist, Herr Beckmeyer,dass wir auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig und indiesem Bereich Vorreiter in wirtschaftlichen Fragensind.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch in Zukunft! Nicht nur kurzzeitig!)

Das hat die Bundesregierung dazu veranlasst, denVorschlag der Europäischen Kommission kritisch zu se-hen und ganz klar zu sagen, dass man alle Auswirkungender Energiesteuerrichtlinie auf den Standort Deutsch-land, auf die gewachsene Besteuerungsstruktur und aufWirtschaft und Verbraucher in unserem Land mitberück-sichtigen muss.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Da muss man eine kluge, zukunftsfähige Poli-tik machen!)

Wenn die Bundesregierung merkt, dass die geplantenÄnderungen der gewachsenen Besteuerungsstrukturen inEuropa den richtigen Weg einschlagen, dann kann manihnen zustimmen. Wenn nicht, dann muss man die Richt-linie ablehnen und einen anderen Weg der Energiebe-steuerung beschreiten, damit die Klimaziele in Europaund in Deutschland verlässlich erreicht werden.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat Olav Gutting für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Olav Gutting (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-

gentlich könnte man es kurz machen. Die Pläne zur Er-höhung der Mindestbesteuerung von Diesel verlangen inEuropa Einstimmigkeit. Kanzlerin und Bundesregie-rung haben bereits eindeutig gesagt, dass es mit dieserRegierung keine Zustimmung, sondern ein Veto gibt,und zwar aus gutem Grund.

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es gibt keine Sicherheit mehr, HerrGutting!)

Denn bereits heute werden Dieselfahrzeuge in Deutsch-land bei der Kfz-Steuer erheblich höher besteuert alsFahrzeuge mit Ottomotor. Deswegen zur Dieselsteuer-erhöhung ein klares Nein, heute und auch in den nächs-ten Jahren. Damit wäre die Sache eigentlich erledigt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Aber es geht auch um Grundsätzliches. Eine großedeutsche Zeitung hat – vorhin haben wir das schon ge-hört – in dieser Woche getitelt: „Sind wir Autofahrer dieDeppen der Nation?“ Ja, dieses Gefühl kann den einenoder anderen in unserem Land beschleichen. Das mussuns Sorgen machen. Denn es gibt aus meiner Sicht spür-bare Tendenzen in diesem Land gegen das Autofahreninsgesamt.

Die Brüsseler Vorschläge zur Erhöhung der Mindest-besteuerung von Diesel sind nur ein Teil des europäi-schen Weißbuches zur Verkehrspolitik. Darin stehen

Page 98: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Olav Gutting

(A) (C)

(D)(B)

noch mehr Punkte, zum Beispiel radikale europaweiteGeschwindigkeitsbegrenzungen

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jawohl!)

und der an den Haaren herbeigezogene Vorwurf, dass essich bei der Dienstwagenbesteuerung um eine Subven-tion handele.

Hinzu kommen die Meinungen der Grünen. DasGanze ist aus meiner Sicht ein Frontalangriff auf diedeutsche Automobilindustrie, vor allem auf die in Ba-den-Württemberg ansässigen Prämiumhersteller.

(Zurufe von der LINKEN: Oh!)

Wir sind mit der deutschen Automobilindustrie Techno-logieführer, gerade auch beim Diesel. Die Modelle wer-den immer sparsamer und effizienter. Bei den Dienstwa-gen haben wir Deutschen einen Marktanteil von knapp80 Prozent. Unsere Produkte aus der Automobilindustriesind weltweit gefragt.

Es ist einigen in Europa offensichtlich ein Dorn imAuge, dass die deutsche Automobilindustrie mit ihrenSpitzenprodukten weite Teile der Märkte dominiert.

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch Quatsch, Herr Gutting!Jetzt malen Sie nicht was an die Wand!)

Verschließen Sie ruhig die Augen. Aber diese Vor-schläge aus Brüssel haben System. Sie richten sich ge-gen die deutsche Automobilindustrie und gegen die vie-len Hunderttausend Arbeitsplätze in diesem Segment.

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Mir kommen die Tränen!)

Hinzu kommt, dass Grüne aus den eigenen Reihen imeigenen Land sagen:

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Vaterlandsverräter!)

Straßenbau ist nicht mehr zeitgemäß. Unvergessen istauch Ihre Forderung von 5 DM bzw. heute 2,50 Euro proLiter Benzin. Der Vorsitzende des Verkehrsausschussesder Grünen aus Baden-Württemberg sagt, die Auto-mobilindustrie habe nicht mehr dieselbe Bedeutung wiefrüher und sei nicht mehr so wichtig, obwohl in Baden-Württemberg knapp jeder vierte Arbeitsplatz von derAutomobilindustrie abhängt.

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ihr habt nur mit uns Grünen eineChance!)

Aus den Koalitionsverhandlungen von Grün-Rot inStuttgart hört man Beschwichtigungen: Ja, ja, wir wer-den schon noch die eine oder andere Umgehungsstraßebauen. Aber ich sage Ihnen: Mit der einen oder anderenUmgehungsstraße ist das Problem nicht zu lösen.

Wir brauchen dringend mehr Investitionen in denStraßenbau. Wirtschaft braucht Mobilität.

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir brauchen mehr kreative Ingeni-eure! Kreativität!)

Wenn wir zukünftig die Spitzenstellung unserer Wirt-schaft in Baden-Württemberg und deutschlandweit er-halten wollen, dann dürfen wir dem drohenden Ver-kehrskollaps nicht tatenlos zusehen. Sonst sind wir inBaden-Württemberg bald nicht mehr nur die Erfinderdes Autofahrens, sondern auch die Erfinder des „Auto-stehens“.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die deutschen Autofahrer zahlen an der Tankstelle,über die Kfz-Steuer und über die Lkw-Maut jährlichknapp 52 Milliarden Euro. Diese 52 Milliarden Eurosprudeln aus dem Bereich des Straßenverkehrs, aber nurein Bruchteil davon, nämlich knapp 6 Milliarden Euro,fließt in den Bundesfernstraßenbau. Ich glaube, dastimmt etwas nicht.

Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land erwartenvon der Politik zu Recht mehr Investitionen in die Straße

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Diese Politik ist doch gerade abgewähltworden, Herr Gutting! Das gibt es doch garnicht!)

und nicht mehr Abzocke an der Tankstelle.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Als letzter Rednerin in dieser Aktuellen Stunde erteile

ich Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktiondas Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Patricia Lips (CDU/CSU):Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine

sehr geehrten Damen und Herren! Klimaschutz wird inEuropa und in Deutschland und damit vor allem auch beiden Menschen in diesem Land groß geschrieben.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das haben wir gerade gehört!)

– Das kann man nicht oft genug sagen. – Nun kann mandas zunehmende Engagement seitens der Politik unter-schiedlich forcieren: Man kann auf der einen Seite An-reize setzen, seien es steuerliche Anreize oder Zu-schüsse, oder man kann gezielt einzelne Steuerelementeerhöhen, um dadurch, dass man ein Produkt unattraktivmacht, Lenkungswirkungen zu erzielen.

Die europäische Energiesteuerrichtlinie, um die esheute geht, ist dabei grundsätzlich ein Instrument, umKlimaschutz voranzubringen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch einmal eine Aussage!)

Sie gibt es nicht erst seit heute, und sie soll weiterentwi-ckelt werden. Sie setzt Mindeststandards hinsichtlich derEnergiesteuern für die Mitgliedstaaten, durchaus verbun-den mit der Möglichkeit, Anreize zu setzen. So weit, sogut. Doch was geschieht nun im Rahmen dieser Weiter-

Page 99: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12029

Patricia Lips

(A) (C)

(D)(B)

entwicklung? Der aktuelle Vorschlag der EuropäischenKommission sieht nicht einfach vor, die Mindeststeuer-sätze zu harmonisieren bzw. zu erhöhen, sondern gehtvielmehr davon aus, dass es perspektivisch zu einer völ-lig neuen Bemessungsgrundlage kommt. Durch diesequalitative Änderung verschieben sich die Parameter derBesteuerung – vornehmlich im Kraftstoffbereich undinsbesondere bei Diesel – nicht unerheblich.

Ich betone: Maßnahmen, die zu Energieeinsparungund Reduzierung des CO2-Ausstoßes führen, sind grund-sätzlich immer zu begrüßen. Wer wollte da Nein sagen?Aber der Teufel steckt im Detail. Deshalb möchte ich dieGelegenheit nutzen, etwas in Erinnerung zu rufen, waswir in jüngster Vergangenheit beschlossen haben. Ver-folgt man manche aktuelle Diskussion, hat man zurzeitfast das Gefühl, wir stünden erst am Anfang vonErkenntnissen. Ich sage dies auch, weil man eben nichteinfach eine Einzelmaßnahme – in diesem Fall die Än-derung der Dieselbesteuerung – von außen einem diffe-renzierten Gefüge von bereits vorhandener steuerlicherGesamtbelastung der Teilnehmer im Straßenverkehrquasi zusätzlich überstülpen kann.

Kollege Gutting hat schon darauf hingewiesen: Die-selfahrzeuge werden in Deutschland mit einem höherenKfz-Steuersatz belegt, um gerade den Steuervorteil beider Energiesteuer wieder auszugleichen. Es ärgert mich,wenn immer wieder einseitig geschrieben oder gesagtwird, es finde eine Subventionierung der Dieselfahr-zeuge statt. Diese Medaille hat zwei Seiten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir haben darüber hinaus erst vor kurzem die Kfz-Steuer mit Elementen weiterentwickelt, die Anreize set-zen sollen, grundsätzlich auf verbrauchsarme Fahrzeugeumzuschwenken.

Warum sind wir so verfahren? Das Optimierungs-potenzial bei Dieselfahrzeugen ist höher als bei Fahrzeu-gen mit Ottomotoren, deren Verbrauch ist damit in derRegel geringer,

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War!)

und sie sind sparsamer. Kollege Middelberg hat daraufhingewiesen: Eigentlich müsste man vielmehr auf dieKilometerleistung abzielen und nicht so sehr auf denKraftstoff.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Beim Klimaschutz geht es nicht um den Liter,sondern um den Inhalt!)

Deshalb war es das Ziel, nicht erst an der sprichwörtli-chen Zapfsäule anzusetzen, sondern bereits beim Erwerbeines Fahrzeugs. Diese Maßnahmen wurden ergriffen,weil man deren Notwendigkeit erkannt und sie als ziel-führend im Sinne des Klimaschutzes bewertet und vorallen Dingen auch als gerecht angesehen hat.

Nicht gerecht wäre es, wenn diese Bemühungen unddie damit hervorgerufene Bereitschaft der Menschen, auf

schadstoffärmere Fahrzeuge umzusteigen, nun durcheine pauschal höhere Dieselbesteuerung fast schon kon-terkariert würde, ohne das Genannte zu berücksichtigen.Was sollen wir denn den Menschen sagen, die heutevielleicht mehr auf den Verbrauch als auf die Ausstat-tung oder die Farbe eines Wagens achten, worüber wiruns ja freuen? Bisher war die Strategie auch innerhalbder EU immer sehr stark auf die Prinzipien ausgerichtet,Anreize für die technologische Entwicklung von Fahr-zeugen und steuerliche Anreize zu setzen, damit die Hal-ter ihre Kaufentscheidung bewusst nach diesen Kriterienausrichten.

Nun am Ende aber diejenigen zu strafen, die in die-sem Sinne gehandelt haben, die Zange quasi von beidenSeiten anzusetzen, kann nicht unser Ziel sein. Da reichtschon das Signal aus Brüssel. Die Reaktionen kann manauch mit „Wehret den Anfängen“ rechtfertigen.

Jedes zweite Auto – es wurde schon darauf hingewie-sen –, das heute in Deutschland gekauft wird, ist ein Die-sel. Wir sind führend in der Weiterentwicklung dieserTechnologie. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen. DieAuswirkungen würden auch und vor allem den kommer-ziellen Bereich wie das Transportgewerbe empfindlichtreffen und damit die Wettbewerbsfähigkeit dieses Lan-des beeinträchtigen. Auch das kann uns nicht gleichgül-tig sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Bei Abwägung des beschriebenen Gesamtbildes kannzumindest den bisher bekannten Vorschlägen mit denentsprechenden Auswirkungen von unserer Seite nichtgefolgt werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – LisaPaus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wiewollen Sie die Klimaschutzziele erreichen?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-thee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-wie der Abgeordneten Miriam Gruß, NicoleBracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP

Neue Perspektiven für Jungen und Männer

– Drucksache 17/5494 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

Page 100: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

In einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-terin Kristina Schröder das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorein paar Wochen, am 8. März, haben wir den 100. Welt-frauentag gefeiert. Er steht für all die Rechte, die sichFrauen hart erkämpft haben. Seit 1999 gibt es auch einenInternationalen Männertag. Was aber die öffentlicheAufmerksamkeit betrifft, kann dieser InternationaleMännertag mit dem Weltfrauentag bei weitem nicht mit-halten. Er bewegt sich eher auf dem Niveau des Welttagsfür die Bekämpfung von Wüstenbildung und Dürre.

Dieses Aufmerksamkeitsgefälle zwischen Frauentagund Männertag ist symptomatisch für eine Schieflage inder Gleichstellungspolitik. Wenn wir über Gleichberech-tigung reden, reden wir vor allem über Frauenpolitik.Die Bedeutung der Jungen- und Männerpolitik in derGleichstellungspolitik wird immer noch unterschätzt.Das müssen wir ändern, und zwar sowohl im Interesseder Männer als auch im Interesse der Frauen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Florian Bernschneider [FDP])

Wir wollen Gleichberechtigung – nicht als Ergebnis-gleichheit, sondern als Chancengleichheit. Der Schlüsselzur Gleichberechtigung der Geschlechter ist die Gestal-tungsfreiheit von Männern und Frauen, was ihren eige-nen Lebensentwurf betrifft.

Wie sehr dabei Männerleben und Frauenleben von-einander abhängen, sehen wir zum Beispiel, wenn wirdie Chancengleichheit im Berufsleben betrachten. Wirführen die Debatte um Frauen in Führungspositionenauch fast ausschließlich als eine frauenpolitische De-batte. Das ist ein Fehler.

(Caren Marks [SPD]: Sie sind ja nie da bei denDebatten! – Gegenruf von der CDU/CSU: Sieredet doch gerade! – Caren Marks [SPD]: Malausnahmsweise!)

Fakt ist: Wenn in vielen Topführungspositionen 70- oder80-Stunden-Wochen immer noch üblich sind, dann ste-hen das nur diejenigen durch, denen jemand zu Hauseden Rücken freihält. Damit macht unsere Arbeitswelteine traditionelle Rollenverteilung in der Partnerschaftquasi zu einer Art Karrierevoraussetzung.

Für das Prinzip „Karriere wird nach Feierabend ge-macht“ bezahlen viele Frauen also gleich doppelt: zumeinen mit eingeschränkten Karrierechancen für sie selbst– wenn sie am Feierabend eben nicht Karriere machen,sondern die Kinder bettfertig machen – und zum anderenmit Verzicht auf Unterstützung durch den Partner, weilauch er sich diesem Prinzip beugen muss. Genau das istdoch der Punkt.

Glücklicherweise gibt es heute immer mehr Väter, diemehr von ihrer Familie haben wollen als ein Bild aufdem Schreibtisch. Auch sie bezahlen im Moment mitschlechteren Karriereaussichten, wenn sie ihre Prioritä-ten entsprechend setzen. Auch sie sind in stereotypenRollenerwartungen gefangen, so wie vielleicht ihre Müt-ter vor 50 Jahren.

Wenn wir faire Chancen für Frauen wollen, dannmüssen wir auch Männern die Chance geben, sich vonRollenmustern zu lösen, und zwar sowohl in der Familieals auch in der Arbeitswelt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Union und FDP sagen: Männer- und Frauenpolitikstützen sich gegenseitig. Was man aus männer- und jun-genpolitischer Sicht machen kann, zeigt der Antrag derKoalitionsfraktionen auf. Auch für mich als Ministerinhatte dieses Thema seit Beginn meiner Amtszeit höchstePriorität.

Deswegen hat heute in Deutschland zum ersten Malbundesweit ein Boys’ Day stattgefunden, ein Ereignis,an dem sich auf Anhieb 35 000 Jungen beteiligt haben.Ich kann Ihnen nur sagen: Der Anklang, den dieserBoys’ Day gefunden hat, hat meine eigenen Erwartun-gen bei weitem übertroffen. Dieser Tag ist auch interna-tional schon bekannt geworden. Ich freue mich sehr,dass heute mein norwegischer Kollege, der norwegischeMinister für Kinder, Gleichstellung und soziale Inklu-sion, Audun Lysbakken, in Deutschland ist – er sitztoben auf der Tribüne –, um sich den hiesigen Boys’ Dayanzuschauen.

(Beifall)

Wir haben deswegen vor einigen Monaten einen Bei-rat für Jungenpolitik gegründet, ein Gremium, in demnicht nur, wie sonst, Wissenschaftler und Praktiker zu-sammensitzen, sondern auch sechs Jungen aus ganz un-terschiedlichen sozialen Milieus. Sie alle entwickelnHandlungsempfehlungen für die Jungen- und Männer-politik. Ich sage Ihnen: Wenn wir uns das anschauen,dann können wir alle noch etwas lernen.

Wir haben das Programm „MEHR Männer in Kitas“gestartet. Mehr Männer in Kitas sind wichtig, um Män-nern neue Berufsaussichten zu ermöglichen, um Kindernvon Anfang an zu zeigen, dass Erziehungsaufgaben vonFrauen und Männern wahrgenommen werden können,und um mehr männliche Vorbilder zu haben. MännlicheVorbilder in den Kitas – das ist sowohl für die Jungen alsauch für die Mädchen wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben auch für die sogenannten Vätermonate– eigentlich sind es die Partnermonate – beim Elterngeldgesorgt. Diese Monate sind ein riesiger Erfolg. Bevorwir das Elterngeld eingeführt hatten, haben nur3,5 Prozent der Väter eine berufliche Auszeit für die Be-treuung ihrer Kinder genommen. Jetzt sind es fast25 Prozent. Das ist ein bemerkenswerter Wandel in sowenigen Jahren. Die Ausweitung der Anzahl der Väter-monate steht selbstverständlich nach wie vor auf unsererAgenda. Genauso wie alle anderen Maßnahmen, die wir

Page 101: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12031

Bundesministerin Dr. Kristina Schröder

(A) (C)

(D)(B)

geplant haben, unterliegt diese Maßnahme natürlich– der Neuigkeitswert dieser Aussage liegt genau bei null –auch dem Finanzierungsvorbehalt.

Noch eins will ich Ihnen von der Opposition sagen:Ihre Konzepte für eine Ausweitung der Anzahl der Vä-termonate – Sie gehen teilweise so weit, zu fordern, derStaat solle vorschreiben, dass die Anzahl der Väter- undder Müttermonate hälftig, aktuell also sieben zu sieben,aufzuteilen sei – sind einfach nur Ausdruck eines Mehrsan Bevormundung, eines Mehrs an Umerziehung. DieUmsetzung dieses Konzepts würde für 90 bis 95 Prozentaller Paare bedeuten, dass ihnen das Elterngeld gekürztwird.

(Caren Marks [SPD]: Warum das denn?)

Das wird es mit uns nicht geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schließlich hat die Bundesregierung vor einigenWochen im Kabinett die Einführung einer Familien-pflegezeit beschlossen. Die Familienpflegezeit ist aufMenschen ausgerichtet, die Vollzeitarbeitsplätze haben.Insofern ist die Familienpflegezeit auch auf Männer aus-gerichtet. Diese bessere Vereinbarkeit von Pflege undBeruf trägt dazu bei, dass die Pflege nicht weiter als reinweibliche Aufgabe wahrgenommen wird.

Meine Damen und Herren, es hat knapp 90 Jahregedauert, bis ein Internationaler Männertag den Welt-frauentag ergänzt hat. Es hat zehn Jahre gedauert, biszum Girls’ Day ein Boys’ Day hinzukam. Ich bin mir si-cher: Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die Er-kenntnis durchsetzt, dass zeitgemäße Politik Männer undFrauen gleichzeitig ansprechen muss. Die Zeit der Ge-schlechterkämpfe ist vorbei. Sorgen wir für die notwen-dige Gestaltungsfreiheit, damit Männer und FrauenGleichberechtigung sowohl in der Partnerschaft als auchim Beruf leben können!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Caren Marks (SPD):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte FrauMinisterin, schön, dass Sie heute mal bei einem Themaaus Ihrem Ressort anwesend sind!

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber leider ist es wie üblich: viele Worte, keine Taten.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zur Sache!)

Mit Erstaunen habe ich den Antrag von Union undFDP „Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ gele-sen. Wie ist es möglich, dass Ihnen erst jetzt klar gewor-den ist, dass Gleichstellungspolitik beide Geschlechter

im Blick haben muss? Das ist eine ebenso selbstver-ständliche wie banale Erkenntnis.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ach, neuerdings?)

Selbstverständlich setzen erfolgreiche familien- undgleichstellungspolitische Maßnahmen bei Frauen undMännern, bei Jungen und Mädchen gleichermaßen an.

Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik war schonimmer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingungen ei-nes jeden Kindes und Jugendlichen unabhängig vom Ge-schlecht zu verbessern und auf Chancengleichheit hinzu-wirken.

(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Die Ergebnisse sehen wir!)

Diese schwarz-gelbe Bundesregierung und insbeson-dere ihre Ministerin aber suchen nicht das Verbindende,sondern das Trennende zwischen den Geschlechtern.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht!)

Noch nie wurden so tiefe Gräben zwischen der Jungen-und der Mädchenförderung gezogen wie unter dieser Fa-milienministerin.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU –Zuruf von der CDU/CSU: Unterste Schub-lade!)

Frau Schröder, Sie spielen sich in den Medien gernals Retterin der Jungs und der Männer auf. Sie behaup-ten pauschal, Jungen würden in der Schule benachteiligtund am Junge-Sein gehindert. Auch im Antrag von Ih-nen, meine Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, heißt es schwammig:

Auch in der Schule muss den besonderen Bedürf-nissen von Jungen Rechnung getragen werden.

Was bitte sollen denn deren besondere Bedürfnisse sein?Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag nichts.

(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Bei den Sozial-demokraten ist das gleich!)

Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen: Nicht alleJungen sind gleich, und auch nicht jedes Mädchen be-schäftigt sich gern still und – so das Klischee der Fami-lienministerin – malt mit einem Stift Schmetterlinge. Er-weitern Sie doch erst einmal Ihren Horizont und bauenSie die Rollenstereotypen in Ihrem Kopf ab! Das würdeJungen und Mädchen in diesem Land wirklich helfen,Frau Ministerin.

(Beifall bei der SPD – Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist jetzt wirklich keine Stern-stunde!)

Nicht Jungen per se sind benachteiligt bzw. habenSchulprobleme; es sind die Jungen aus benachteiligtenund bildungsfernen Familien, die vor allem durchschwarz-gelbe Politik konsequent weiter abgehängt wer-den. Das ist ein Widerspruch höchsten Grades.

(Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])

Page 102: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Caren Marks

(A) (C)

(D)(B)

Es ist doch gerade die Politik von Union und FDP in denBundesländern – man braucht nur einmal in mein Bun-desland, Niedersachsen, zu schauen, um das festzustel-len –, die dafür verantwortlich ist, dass Kinder nicht mit-genommen und gefördert, sondern abgehängt und imStich gelassen werden.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das war unter Ihrer Regierung anders?)

Sie halten stur am dreigliedrigen Schulsystem fest,wo Abschulen – ein schreckliches Wort! – und Sitzen-bleiben zur Tagesordnung gehören. Sie bekämpfen kon-sequent längeres gemeinsames Lernen. Das alles sindFakten, die manchen Jungen mehr Probleme machen alsmanchen Mädchen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Gerade Jungen macht das frühe Aussortieren, das dieUnion ja mit Verve vertritt, viel häufiger zu schaffen.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ich denke, es gibt nichts Spezifisches für Jungen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,im krassen Widerspruch zu Ihrer Forderung, mehr Jun-gen zu fördern, steht Ihr aktuelles Handeln. Sie kürzengerade radikal bei erfolgreichen Projekten und Maßnah-men, von denen insbesondere Jungen in schwierigen Si-tuationen, aber durchaus auch Mädchen – die blendenSie ja völlig aus – profitieren. Ob es das erfolgreiche In-tegrationsprojekt im Problemstadtteil ist, das durch dasProgramm „Soziale Stadt“ gefördert wurde, oder dasProgramm zur Senkung der Schulabbrecherquote: Dra-matische Kürzungen, wohin man blickt! Sieht so IhreVorstellung von der Förderung benachteiligter Jungenaus, die Sie hier angeblich ganz neu in den Blick genom-men haben?

Die SPD-Bundestagsfraktion hat ernsthafte Antwor-ten auf die Frage, wie wir Kinder und Jugendliche besserunterstützen und fördern können: Es kommt auf den An-fang an. Kinder müssen also so früh wie möglich geför-dert werden. Darum müssen wir beim Krippenausbaumehr Fahrt aufnehmen. Aber da, Frau Ministerin, gehenSie auf Tauchstation.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – IngridFischbach [CDU/CSU]: Es geht um die Quali-tät, Frau Marks! Sie haben es immer nochnicht begriffen!)

Im Gegenteil, Sie, Frau Ministerin, halten am rück-wärtsgewandten Betreuungsgeld fest. Sie sagen nichtNein zum Betreuungsgeld, sondern stehen weiter zu die-ser Bildungsverhinderungsprämie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit unterstützen Sie benachteiligte Kinder mit Sicher-heit nicht, und auch bei dem notwendigen konsequentenAusbau von Ganztagsschulen ist keinerlei Unterstützungsichtbar.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einfache Weltvon Familienministerin Schröder erklärt die Benachteili-gung von Jungen wie folgt: Schuld am schulischen Miss-erfolg von Jungen haben Frauen, da sie die Mehrheit derErzieherinnen und Grundschullehrerinnen stellen – inte-ressant. Natürlich begrüßen auch wir, wenn sich mehrMänner für den Beruf des Erziehers oder des Grund-schullehrers entscheiden. Das Aufbrechen von Rollen-stereotypen ist grundsätzlich positiv. Doch, Frau Schrö-der, ich möchte Sie beruhigen: Studien belegen, dassJungen keine Nachteile und schlechtere Beurteilungenerfahren, wenn sie in erster Linie von Frauen betreut undunterrichtet werden.

Was tun Sie eigentlich für die Förderung von Mäd-chen und Frauen? Hier kürzen Sie und verteilen Mittelfür die Förderung von Frauen in die Förderung von Män-nern um. So wird Gleichstellungspolitik nicht gelingen;denn diese muss auf beide Geschlechter ausgerichtetsein.

Es sind überwiegend Frauen, die in der Pflege tätigsind. Das ist ein anstrengender Beruf mit viel zu wenigAnerkennung und viel zu wenig Geld. Doch anstatt sichdafür starkzumachen, dass der Dienst am Menschenmehr Anerkennung erfährt, sagen Sie ganz profan,Frauen sollten doch einfach die richtigen Berufe ergrei-fen. Das muss schön zu hören sein für Frauen in so an-strengenden Berufen, die bemerken, dass sie im Stichgelassen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Claudia Bögel [FDP]: Was?)

Im heute debattierten Antrag von Schwarz-Gelb heißtes: „Stereotype Zuschreibungen müssen überwundenwerden.“ Weiterhin ist zu lesen, dass „Männer in ihrerAufgabe als Väter“ gestärkt werden müssen. Ich sage:nur zu, mit Mut voran!

Warum aber hat diese Bundesregierung eine partner-schaftliche Weiterentwicklung des Elterngeldes auf Eisgelegt? Warum trennen Sie sich nicht von steuerlichenRegelungen, die die klassische Rollenverteilung zemen-tieren? Warum wollen Sie nur unverbindliche Vereinba-rungen mit der Wirtschaft? Wirklich gebraucht wird eineverbindliche Zeitpolitik, die sowohl Männer als auchFrauen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf un-terstützt, und kein Larifari mit netten Treffen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hilft den Fami-lien nicht weiter, wenn Männer und Frauen gegeneinan-der ausgespielt werden, wie Sie es tun.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das machen Sie doch die ganze Zeit!)

Es hilft auch nicht, wenn Sie als Familien- und Frauen-ministerin gleichstellungspolitisch Engagierte bei jederGelegenheit abfällig als Altfeministinnen bezeichnen.Frau Schröder, machen Sie endlich konkrete Politik!Entwickeln Sie Maßnahmen, die bei den Familien an-kommen! Reden Sie weniger, und handeln Sie endlich!

Page 103: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12033

Caren Marks

(A) (C)

(D)(B)

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hören Sie auf! Sie haben genug geredet!)

Das würde helfen – Jungen wie Mädchen, Frauen wieMännern. Darauf wartet unser Land, seit Sie Ministerinsind, vergeblich.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Mi-chaela Noll [CDU/CSU]: Endlich was Ver-nünftiges!)

Miriam Gruß (FDP):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Sie wissen, dass ich im Plenum nor-malerweise sehr gern frei rede; aber ich habe heute beiIhrer Rede, Frau Marks, so viel mitgeschrieben, dass ichjetzt einige Zettel mitnehmen musste.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das wäre aber nicht nötig gewesen!)

Zunächst einmal: Die Maßnahmen, die wir getroffenhaben, beruhen nicht auf banalen Erkenntnissen, sondernauf der harten Realität, die wir vorfinden. Es ist eigent-lich schade, dass erst wir als schwarz-gelbe Koalitionkommen mussten, damit etwas gegen die Missstände inDeutschland getan wird,

(Caren Marks [SPD]: Sie haben nichts begrif-fen! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber Sie tun doch nichts, Sie redendoch nur!)

die damit zusammenhängen, dass Jungen und auch Män-ner benachteiligt sind.

Es ist ja schön, dass Sie grundsätzlich sagen, dass wirhier niemanden gegeneinander ausspielen sollen. Abergenau das haben Sie mit Ihrer Rede getan; Sie habenFrauen gegen Männer ausgespielt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ca-ren Marks [SPD]: Ganz im Gegenteil! Un-sinn!)

Sie haben dann angesprochen, dass Sie die Lebensbe-dingungen eines jeden Kindes verbessern wollten.Schauen wir uns doch einmal die Kinderarmutszahlen inden einzelnen Ländern an: In Berlin sind 35 Prozent vonKinderarmut betroffen, in Niedersachsen sind es 15 Pro-zent,

(Diana Golze [DIE LINKE]: Was tun Sie denn dagegen?)

in Bayern 7 Prozent.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

So schaut es aus, denn wir machen eine gute Wirt-schaftspolitik, die es ermöglicht, das zu erwirtschaften,was notwendigerweise verteilt werden muss.

(Zuruf des Abg. Sönke Rix [SPD])

Nach Ihrer Politik würde es keinem Kind, keinem Vaterund keiner Familie besser gehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ca-ren Marks [SPD]: Aber Mindestlohn könntegegen Armut in den Familien helfen!)

Tatsache ist, dass Jungs heutzutage schlechter lesenkönnen und dass sie häufiger in der Schule versagen.Das zeigen die Zahlen ganz eindeutig. Fakt ist auch, dasses mehr Mädchen gibt, die Abitur machen, und dass esmehr junge Frauen gibt, die Hochschulabsolventinnensind.

Das Problem für die Frauen ist letztendlich die Kin-der-oder-Karriere-Frage, weil wir hinsichtlich Verein-barkeit von Familie und Beruf immer noch etwas zurücksind. Weil Sie uns die ganze Zeit vorwerfen, hier Kür-zungen vorzunehmen,

(Caren Marks [SPD]: Beim Elterngeld haben Sie gekürzt!)

will ich Ihnen an dieser Stelle sagen: Wir kürzen in die-sem Bereich nicht, sondern bauen die Betreuungsplätzesowohl quantitativ als auch qualitativ weiter aus und hal-ten am Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 fest.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Christel Humme [SPD]: Das ist ja unglaub-lich!)

Sie behaupten weiterhin, wir würden uns nicht um diebesonderen Bedürfnisse der Jungs in der Schule küm-mern und dazu nichts sagen. Ja, sehr geehrte FrauMarks, das ist so, weil wir uns hier auf Bundesebene be-finden. Ich spreche mich zwar gegen das Kooperations-verbot aus, das nach wie vor besteht, aber derzeit sinddie Länder allein für die Schulen zuständig. Aber wir ha-ben die Fakten angesprochen; sie liegen jetzt auf demTisch.

(Caren Marks [SPD]: Ist die CDU hier eine an-dere als in Niedersachsen?)

Von Ihnen habe ich in dieser Richtung noch gar nichtsgehört. Wir erkennen die Realität, und wir handeln dem-entsprechend.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Lachen des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])

Ich bin der Meinung, dass die Phase des Kampfes derGeschlechter überwunden werden muss. Dafür sorgenwir mit unserer Politik. Nur ein Miteinander ist erfolg-reich.

(Caren Marks [SPD]: Eben! Das machen Sie aber nicht!)

– Doch. Sie dagegen machen nichts. Ihre Politik basiertauf dem Kampf Frau gegen Mann. Wir sind längst wei-ter. – Unsere Politik geht davon aus, dass Frauen und

Page 104: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Miriam Gruß

(A) (C)

(B)

Männer auf einer Seite stehen und es in den Familien einMiteinander gibt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – KaiGehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beiuns kämpfen auch Männer für die Frauen-quote! Bei Ihnen sind alle dagegen!)

Die Regierung nimmt sozusagen eine Vorbildfunktionein, und wir brechen Strukturen auf.

Ich will noch eine persönliche Anekdote anbringen.Als ich 2005 in den Bundestag gewählt wurde, hat derApotheker um die Ecke gesagt: Wir sind stolz, dass Siein den Bundestag gekommen sind. Aber, Herr Gruß, wiemachen Sie das jetzt eigentlich mit dem Essen? – Darankonnte man sehen, wie tradiert die Rollenverständnissewaren. Seit September ist mein Mann allerdings zuHause. Jetzt wird er nicht mehr ausgelacht. An diesenPunkt müssen wir gelangen. Wir müssen Vorbild sein.Dazu braucht es solche Signale wie die entsprechendenAnträge, die wir in den Bundestag einbringen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zur Diskussion über das Elterngeld: Das Elterngeldist, was die Männer anbelangt, ein Erfolg. Vorher kam esso gut wie nicht vor, dass Männer wie selbstverständlichzu Hause blieben. Die schwarz-gelbe Regierung brichtdie Strukturen auf, und jetzt machen sich UnternehmenGedanken darüber, wie sie nicht nur den Frauen, sondernauch den Männern familienfreundliche Arbeitszeiten an-bieten können.

Für die Ausweitung des Elterngeldes gilt: Wenn es zuviel kostet, dann können wir sie nicht durchführen. So istes nun einmal. Aber wir machen eine verantwortungs-volle Politik, die auf die nächsten Generationen ausge-richtet ist. Wir sagen nämlich: Wir können nicht immernur verteilen; denn erstens muss das, was verteilt wird,auch erwirtschaftet werden, und zweitens dürfen wirnicht Geld verteilen, wenn dadurch auf dem Rücken un-serer Kinder Schuldenberge angehäuft werden. Schließ-lich haben die Kinder dann den Schlamassel. Auf Schul-denbergen können sie nicht spielen und erst recht nichtlernen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – KaiGehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Washat das mit Jungenpolitik zu tun?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Diana Golze (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Es ist schon bezeichnend, dass wirausgerechnet heute über einen Antrag debattieren, dersich mit der Benachteiligung von Jungen und Männernin unserer Gesellschaft befasst; denn es ist Girls’ Day,also ein Tag, der eigentlich geschaffen wurde, um Mäd-chen für männerdominierte Berufe zu interessieren.

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das Gegenstück ist, Jungen für Frauenberufe zu interessieren!)

Nun gibt es dieses Jahr zum ersten Mal den sogenann-ten Boys’ Day. Ich finde es so schade, dass Sie schonwieder das machen, was Sie auch sonst tun, nämlich dieMenschen, in diesem Falle Jungen und Mädchen, gegen-einander auszuspielen, statt sich um die Ursachen desProblems zu kümmern, sehr geehrte Kolleginnen undKollegen der die Bundesregierung stellenden Parteien.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruchbei der CDU/CSU – Markus Grübel [CDU/CSU]: Die beiden Dinge bedingen sich! – PaulLehrieder [CDU/CSU]: Im Gegenteil!)

In Ihrem Antrag erklären Sie, werte Kolleginnen undKollegen von CDU/CSU und FDP, dass die Jungen – Siereden ja immer gleich von allen – immer offensichtlicherzu Bildungsverlierern werden. Der Focus titelte bereits2002 „Arme Jungs!“. Die Zeit titelte „Die neuen Prügel-knaben“. Sie zählen in Ihrem Antrag genau die Faktenauf, die in dieses Bild passen: Jungen wiederholen häufi-ger eine Klasse, brechen häufiger als Mädchen dieSchule ab und weisen geringere Lesekompetenzen alsMädchen auf.

Eine OECD-Studie vom Mai 2009 kommt zu demSchluss, dass

diese Unterschiede eher auf Stereotype als auf un-terschiedliche Begabung zurückzuführen sind, …

Doch an dieser Stelle kommt die gute Nachricht zu die-sem traurigen Befund: Sie glauben, Sie hätten die Ant-wort und damit die Schuldigen gefunden. Den Jungenfehle aufgrund der Feminisierung in Kita und Schule unddes „Fehlens männlicher Bezugspersonen im familiärenBereich“ die „Ermutigung und positive Vorbilder“.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau so ist das!)

Schuld sind also die zu hohe Zahl der Frauen in den Er-ziehungs- und Bildungsberufen und – wenn ich es richtigverstanden habe – alleinerziehende Frauen bzw. gleich-geschlechtliche Beziehungen, in denen Kinder ohnemännliche Ermutigung und positive Vorbilder aufwach-sen, nach dem Motto: „Ich habe Feuer gemacht!“

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN undder SPD sowie bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das sind Familienkonstellationen, die inzwischen zumganz normalen Alltag gehören, offenkundig aber nicht indas eine oder andere Weltbild passen.

Auf die Frage, was genau ein solches positives Vor-bild ausmacht, welche Ansprüche eine Lehrerin, einLehrer, ein Erzieher erfüllen muss, um diese Lücke zuschließen, hüllen Sie sich allerdings in Schweigen.Ebenso vage bleiben Sie bei der Unterlegung Ihrer The-sen mit wissenschaftlich oder empirisch belegbaren Zah-len und Fakten, und zwar mit gutem Grund, denn solcheZahlen und Fakten gibt es nicht; eine Studie, die belegt,dass sich allein durch die Anwesenheit von männlichem

(D)

Page 105: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12035

Diana Golze

(A) (C)

(D)(B)

Erzieher- und Lehrerpersonal die Situation von Jungenexplizit verbessert hätte, liegt nicht vor. ÖsterreichischeErhebungen belegen sogar eine Diskriminierung vonJungen in der Benotung, wenn sie von Männern unter-richtet werden.

Es ist also nicht wichtig, ob Kinder von Männern oderFrauen unterrichtet werden; wir brauchen Pädagoginnenund Pädagogen, die in die Lage versetzt werden, eine ge-schlechtssensible und gleichstellungsorientierte Schulegestalten zu können.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Anträge wie dieser werden aber bestimmt keinen kon-struktiven Beitrag dazu leisten.

Die bloße Forderung nach mehr männlichen Vorbil-dern hilft nicht weiter. Vielmehr bauen Sie damit einBild von scheiternden Jungen und von karriereorientier-ten Mädchen auf, bei dem die einen absteigen und dieanderen aufsteigen, ein Bild, das der Realität nicht stand-hält. Es gibt im realen Leben eben nicht die Jungen, dieals Loser zurückbleiben, und nicht die Mädchen, die aufder Überholspur an ihnen vorbeirauschen.

(Caren Marks [SPD]: Ganz genau! – MichaelaNoll [CDU/CSU]: Das sagt auch keiner! – Ge-genruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Doch!)

Es gibt Kinder und Jugendliche, die von vornhereinbenachteiligt sind bzw. benachteiligt werden, und dasaus unterschiedlichen Gründen. Dazu können die Haut-farbe, der Migrationshintergrund, Armutserfahrungen,Homosexualität, Behinderungen und anderes gehören.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Ju-gendliche Homosexuelle mit Migrationshin-tergrund! – Caren Marks [SPD]: Alles Grup-pen, für die die Ministerin nichts macht!)

Aber all das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus. MitForderungen nach jungengerechter Bildung stecken Sielediglich den Erzieherinnen und Lehrerinnen denSchwarzen Peter für Ihre verkorkste Sozial-, Bildungs-und Arbeitsmarktpolitik zu.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Gesamtgesellschaftliche Probleme werden einzelnenPersonengruppen zugeschoben. Damit lenken Sie ganzbewusst davon ab, dass Sie von der christlich-liberalenKoalition nicht in der Lage waren, eine Politik zu ma-chen, die jedem Kind, damit auch jedem Jungen, gleich-berechtigte Startchancen bietet. Sie waren nicht in derLage, Akzente zu setzen, um Väter in die Situation zubringen, eine – so beschreiben Sie es – „neue Balance imDreieck zwischen Beruf, Familie und Partnerschaft zuschaffen“. Ist es nicht diese Regierung, die in dieser Wo-che bekannt gemacht hat, dass die versprochene Auswei-tung der Vätermonate beim Elterngeld nicht kommenwird?

(Caren Marks [SPD]: Ganz genau! – IngridFischbach [CDU/CSU]: Nein! Das ist falsch!Das ist nicht die Wahrheit! Auch wenn Sie esdreimal sagen, ist es nicht wahr!)

Ist es nicht Ihre Regierung, die einen verfassungswidri-gen Regelsatz für Kinder unverändert lässt, obwohl erdie besonderen und eigenständigen Bedarfe aller Kindernicht berücksichtigt? Ist es nicht die christlich-liberaleKoalition, die ein Bildungspaket feiert, das sich geradein der Praxis als bürokratisches Monstrum erweist undkeine gerechten Bildungschancen für alle Jungen undMädchen schafft?

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Das Füllhorn für alle ausschütten!)

An welcher Stelle im christlich-liberalen Antrag the-matisieren Sie die Arbeitsbedingungen und die schlechteBezahlung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehre-rinnen und Lehrern?

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derSPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:An keiner Stelle!)

Ist es nicht die christlich-liberale Koalition, die geradeein bewährtes Programm für Schul- und Ausbildungsab-brecher so radikal zusammenstreicht, dass wahrschein-lich über die Hälfte der Beratungsstellen schließenmuss?

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wir brauchen keine Beratungsstellen!)

Auch wenn es um die Aufgabenverteilung geht, sind Sieprima: Alle Vorschläge, die Sie machen, gehen zulastender Länder und Kommunen, ohne dass Sie erklären, wo-mit sie die Kosten bestreiten sollen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich selbst bin Muttervon zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen.

(Caren Marks [SPD]: Ich auch!)

Ich befürchte, dass es das Mädchen sein wird, dem esschwerfallen wird, trotz gleicher Voraussetzungen in Fa-milie und Schule später selbstbewusst durch das Lebenzu gehen, dass sie also nicht fair und gerecht behandeltwird und nicht denselben Erfolg haben wird. DennFrauen erhalten trotz steigenden Bildungsniveaus immernoch 26 Prozent weniger Gehalt als Männer

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Wer spielt hierwen gegen wen aus? Das machen Sie jetztwieder!)

und sind an Unis, in Chefetagen und in den Vorständennach wie vor selten oder gar nicht anzutreffen. Vor die-sem Hintergrund kann ich über den von Ihnen formulier-ten Prüfauftrag, ob auch Männer Gleichstellungsbeauf-tragte sein sollten, nur den Kopf schütteln. Solange eseine strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen gibt,bedarf es eines solchen besonderen Wächteramtes fürFrauen.

Page 106: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Diana Golze

(A) (C)

(D)(B)

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks[SPD]: Das versteht die Ministerin nicht!)

Thomas Gesterkamp schrieb in einer Studie für dieFriedrich-Ebert-Stiftung:

Nur miteinander und nicht gegeneinander lässt sichGeschlechterdemokratie umsetzen. Vereinfachun-gen und die umgekehrte Stilisierung von Männernzum Opfer „des Feminismus“ helfen nicht weiter.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Gehring hat für die Fraktion Bündnis 90/

Die Grünen das Wort.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als ich vor fünf Jahren die Einführung des Boys’ Daygefordert habe, bin ich von nicht wenigen in diesemHaus dafür belächelt worden.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Aber nicht von mir! Ich fand das immer gut!)

Heute gibt es endlich den ersten bundesweiten Boys’Day. Das begrüßen wir. Wir wünschen allen Beteiligtenviel Erfolg.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-geordneten der SPD)

Noch besser wäre, wenn der Girls’ Day – übrigensherzlichen Glückwunsch zum heutigen zehnten Geburts-tag – und der Boys’ Day an verschiedenen Tagen statt-finden würden. Damit würde man beiden Geschlechternnoch gerechter.

(Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Für eine nachhaltige Jungenpolitik reicht ein einzel-ner symbolischer Boys’ Day aber nicht aus. Wir brau-chen einen grundlegenderen Ansatz.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Deswegen ha-ben wir einen Antrag eingebracht!)

Geschlechtergerechtigkeit für Jungen und Mädchenkann nur dann Normalität werden, wenn sie jeden Taggelebt wird.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)

Von der Kindertagesstätte an sollte jeder und jede freivon tradierten Klischees verschiedene Rollenmuster undAngebote kennenlernen können –

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ganz ohne Tradition ist auch nicht schön!)

ohne Bevormundung, dafür mit Wahlfreiheit und Freudean Vielfalt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

Daher sollten neue Wege und Perspektiven für Jungs dasganze Jahr über aufgezeigt werden:

(Zuruf von der FDP: Ja, genau! – Dr. ThomasFeist [CDU/CSU]: Dafür gibt es doch diesenhervorragenden Antrag!)

im Bildungssystem, in der Jugendhilfe und in der Be-rufswelt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt durchaus Forderungen in Ihrem Antrag, dieunterstützenswert sind, zumal wir seit langem etwa Pro-bleme von Jungen im Bildungssystem thematisieren.Manche Jungs stehen tatsächlich auf der Standspur.Viele Mädchen scheinen auf der Überholspur zu sein. ImDurchschnitt schneiden sie in der Schule besser ab, neh-men häufiger ein Studium auf, machen bessere Ab-schlüsse. Trotzdem sind Frauen in Führungspositionenimmer noch eine Seltenheit. Trotzdem entscheidet diesoziale Herkunft viel stärker über den Bildungserfolg alsdas Geschlecht. Deshalb müssen wir vor allem da anset-zen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])

Besonders bei der Finanzierung von Jungenarbeit undder tatsächlichen Verankerung bleibt Ihr Antrag völlignebulös. Jungenpolitik darf nicht auf Kosten der weiter-hin notwendigen Mädchenpolitik gehen.

(Zuruf von der FDP: Das will doch keiner!)

Das ist offensichtlich auf der rechten Seite des HausesKonsens. Dies wäre ein schwerer Fehler. Dies würde vonuns entschieden abgelehnt.

(Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Jörn Wunderlich [DIELINKE] – Michaela Noll [CDU/CSU]: Vonmir auch!)

Wir wollen eine Jungenpolitik, die Jungen individuellfördert, ihnen bessere Teilhabe ermöglicht, neue Pers-pektiven eröffnet und Mädchenpolitik sinnvoll ergänzt.Sie können sich ein gutes Beispiel etwa an Nordrhein-Westfalen nehmen, wo eine Mittelerhöhung des Kinder-und Jugendförderplans um 25 Prozent vorgesehen istund die darin enthaltenen Gendermittel verdoppelt wer-den – sowohl für Jungenförderung als auch für Mäd-chenförderung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN – Ewa Klamt[CDU/CSU]: Nur das Geld ist nicht da! DieFrage ist, wer das bezahlt!)

– Sie wissen, Jugendförderung ist Zukunftsinvestition.

Wir wollen, dass sich das Spektrum bei der Ausbil-dungs- und Studienwahl von Jungen erweitert und siesich für weitere Berufe begeistern. Mehr als die Hälfte

Page 107: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12037

Kai Gehring

(A) (C)

(D)(B)

der männlichen Auszubildenden entscheidet sich für ei-nen jungentypischen Ausbildungsberuf. Leider ist nochkein einziger aus dem sozialen, erzieherischen oder pfle-gerischen Bereich darunter. Hier sind Männer deutlichunterrepräsentiert. In Kitas stellen sie nur 3,5 Prozentdes Personals, obwohl die EU seit Jahren einen Anteilvon 20 Prozent anpeilt. Automechatroniker und Kochsind spannende Ausbildungsberufe. Wir wollen abermehr Männer für Pflege- und Erzieherberufe gewinnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)

Weil das so ist, müssen viel stärker als bisher in allenSchulen Geschlechterklischees, in der Berufsberatungund -orientierung geschlechterstereotypische Berufsinte-ressen hinterfragt werden.

(Zuruf von der FDP: Ganz genau!)

Der Bundesregierung und Ministerin Schröder fehltaber offenbar der notwendige Gestaltungswille, um Ge-schlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Sie müssenendlich an geschlechtsspezifische Benachteiligungen imBerufsleben heran. Die müssen sie konkret angehen.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen Sie einen Vorschlag!)

Frauen werden in ihren beruflichen Karrierewegen aus-gebremst. Die Chefsessel bleiben männlich besetzt.

Hier betreiben Sie, Frau Schröder, im Kabinett Blo-ckadepolitik und werden Ihrem Amt nicht gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind die erste Bundesfrauenministerin, die eine Frau-enquote in den Aufsichtsräten und in den Vorständen ak-tiv hintertreibt. Es geht hierbei konkret um Geschlech-terpolitik und Geschlechtergerechtigkeit.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen Sie doch mal einen Vorschlag!)

Da muss ich Ihnen sagen: Folgenlose Appelle undFlexi-Selbstverpflichtungen bringen bei diesem Themagenauso wenig wie bei der skandalösen Lohndiskrimi-nierung, die es in diesem Land immer noch gibt. Glei-cher Lohn für gleichwertige Arbeit – nur das ist fair. Dasgilt sowohl für Männer als auch für Frauen. Daher müs-sen Sie endlich aktiv werden.

Wir werden bei der heutigen Debatte das Gefühl nichtlos, dass diese Initiative von Ihrem frauenpolitischenNichtstun ablenken soll. Frau Schröder, wir wollen end-lich Taten sehen. Wir kritisieren auch Ihre unsachlicheFeminismuskritik, mit der Sie nur von eigenen Versäum-nissen ablenken wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie erklären den Geschlechterkampf für beendet. InGastbeiträgen in der FAS führen sie ihn aber munter wei-ter, indem Sie sozusagen Feminismus-Bashing betrei-ben. Sie bauen einen Popanz auf, indem Sie dort behaup-ten, es gebe eine verbreitete Ablehnung der Jungen-

politik. Das sehe ich so nicht. Das Gegenteil ist doch derFall.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Stimmen Siedoch einfach unserem Antrag zu, Herr Geh-ring!)

Das beweist der heutige erfolgreiche Boys’ Day ein-drucksvoll. Feminismus-Bashing ersetzt keine ge-schlechtergerechte Politik für Frauen und Männer, son-dern schadet nur.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Das Ausspielen von Mädchenförderung gegen Jun-genpolitik ist ebenso falsch wie Ihr Versuch, die untaug-liche Familienpflegezeit als neue Männerpolitik zu ver-kaufen. Es ist genauso falsch, die Ausweitung derPartner- und Vätermonate beim Elterngeld einfach zubeerdigen. Denn hiermit wären große Schritte in Rich-tung Gleichstellung möglich. Es ist ebenso falsch, amantiquierten Ehegattensplitting und der Zuhausebleib-prämie Betreuungsgeld festzuhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])

Sie bedienen mit solchen Scheindebatten gegen denvermeintlich alten Feminismus letztlich abgestandeneKlischees. Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nurmit Frauen und Männern gemeinsam gestalten. DennMänner sind Partner für die Gleichstellungspolitik. Dassage ich auch als männlicher Feminist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Auch Männer wollen eine neue Arbeitszeitpolitik.Auch Männer profitieren von mehr Kita- und Ganztags-schulplätzen. Auch sie wollen eine bessere Vereinbarkeitvon Familie und Beruf. Moderne Väter sind keine FataMorgana. Sie wollen weder von Kollegen noch Vorge-setzten schief angeguckt werden,

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Macht dochniemand! Was für Leute kennen Sie denn? Dasist ja schrecklich!)

wenn sie Teilzeitarbeit einfordern, Vätermonate bean-spruchen oder sagen: Ich muss heute auch einmal um14 Uhr gehen, weil ich Vater geworden bin. – Da ist esvöllig egal, ob diese Väter Automechatroniker, Grund-schullehrer, Spitzenmanager oder Staatssekretär sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Männer brauchen eine bessere gesundheitliche Prä-vention. Wir brauchen keine blöden und dumpfen Sprü-che wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ mehr.Dies führt nur dazu, dass sie bezüglich der eigenen Ge-sundheit oder Ungesundheit Warnsignale überhören.Männer wollen wertvolle Zeit. Sie wollen auch eine Ent-schleunigung im Beruf. Moderne Männer wollen Verant-wortung teilen und vorgegebene Geschlechterrollen ver-lassen. Sie wollen Neues ausprobieren.

Page 108: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Kai Gehring

(A) (C)

(D)(B)

Männer und Frauen wollen egalitäre Partnerschafts-modelle leben. Weil das so ist, muss eine geschlechter-gerechte Politik schon heute kluge und flexible Rahmen-bedingungen dafür schaffen. Genau das tun Sie nicht.Genau das leistet auch Ihr Antrag nicht. Ein gemeinsa-mer Ansatz, der beiden Geschlechtern nutzt, bedeutetnicht, gesellschaftlichen Konflikten aus dem Weg zu ge-hen. Das aber tut die Ministerin. Statt warmer Wortewollen wir eine mutige Gleichstellungspolitik. Dasheißt: Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollege Gehring, bitte achten Sie auf die Zeit.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das heißt: Frauenquote für die Aufsichtsräte und Vor-

stände. Das heißt: eine emanzipierte Jugendpolitik, diegeschlechtersensibel ist und für Jungen und Mädchen diebesten Voraussetzungen für die Zukunft schafft.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie des Abg. Peter Wichtel[CDU/CSU] – Paul Lehrieder [CDU/CSU]:Der Anfang war gut, Herr Gehring!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Noll das

Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Michaela Noll (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich sage es ehrlich: Ich finde es schade. FrauMarks, ich hatte eigentlich gedacht, wir hätten diesesSpalten zwischen Jungen und Mädchen, das Sie geradevollzogen haben, längst überwunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ca-ren Marks [SPD]: Sie spalten! Sie haben nichtzugehört, Frau Noll!)

Die Art, wie Sie argumentiert haben, ist für mich sehrenttäuschend.

Ich hatte im Vorfeld schon zum Kollegen Kai Gehringgesagt, er müsse sich nicht wundern, wenn ich ihn lobe.Ich tue es nun auch. Vieles von dem, was er gerade ge-sagt hat, ist im Endeffekt das, was im grünen Männer-Manifest steht. Es geht darum, nicht länger Macho seinzu müssen.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich sogar geschrieben!)

Einiges davon hat der Herr Kollege Gehring soeben be-schrieben. Recht hat er.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich finde es unerträglich, dass die Kollegin Golze, derenArbeit in der Kinderkommission ich sehr schätze, hierSachen in den Raum stellt und Schuldzuweisungen

macht. So sagt sie zum Beispiel, wir würden alleinerzie-hende Mütter an den Pranger stellen. Das ist weiß Gottnicht der Fall. In unserem Antrag steht explizit, dass wirauf wissenschaftliche Studien zurückgreifen wollen.Diese fehlen aber. Zur Mädchenforschung haben wir re-lativ viel, zur Jungenforschung ist bisher nicht viel vor-handen. Diese Forderung ist in unserem Antrag enthal-ten, damit wir künftig auf wissenschaftlichen Datenaufbauen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Ministerin als erste Rednerin hat erläutert, dassdie Ausweitung der Vätermonate unter einem Finanzie-rungsvorbehalt steht. Sie haben hier gesessen und dieArgumente gehört. Hinterher behaupten Sie wieder dasGegenteil. Das finde ich mehr als unfair. So kann mankeine Politik für die Bürger in Deutschland machen. Tutmir leid.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Di-ana Golze [DIE LINKE]: Das ist aber so!Kommen die Vätermonate oder kommen sienicht?)

Ich möchte auf einen anderen Punkt zu sprechenkommen. Seit 2002 bin ich im Deutschen Bundestag.Das Thema „Jungen- und Männerpolitik“ liegt mir seit-dem wirklich am Herzen. Damals waren die KolleginGruß und ich noch Oppositionspartner, und wir befandenuns auf einem gemeinsamen Weg. Ich habe eine Anfragegestellt; sie hat einige Jahre später ebenfalls eine An-frage gestellt. Jeder, der diese Anfrage liest – und daswürde ich Ihnen einmal empfehlen –, kann das Fazit zie-hen: Es liegt Handlungsbedarf vor; wir müssen uns umdie Jungen kümmern.

Das heißt nicht, dass ich irgendetwas gegen die Mäd-chen unternehmen möchte. Ständig sprechen wir von derdemografischen Entwicklung und darüber, wie wenigKinder wir haben. Wir tun uns keinen Gefallen, wennwir nicht versuchen, beide Geschlechter zu fördern, undzwar in den Bereichen, wo sie vielleicht Probleme ha-ben. Bei den Mädchen ist das später – gläserne Decke,Aufstieg, Wiedereinstieg –, bei den Jungen ist es viel-leicht früher. Wie Sie aber argumentiert haben, kommenwir definitiv nicht weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ca-ren Marks [SPD]: Kürzung der Mittel für Be-nachteiligte!)

Das finde ich persönlich nach wie vor ausgesprochenenttäuschend.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihrem Wahlkreis geht.Ich bin Familienpolitikerin, und wenn ich in Kindergär-ten, in Schulen oder bei Elternvereinen bin, werde ich oftvon Eltern angesprochen. Ich habe einen Brief von einerMutter dabei, die sich heute noch per E-Mail dafür be-dankt hat, dass wir uns dieses Thema überhaupt einmalvornehmen. Wir alle hören die Eltern, wir alle hören dieLehrer, und viele sagen: Wir müssen uns um die Jungskümmern. Das hat für mich nichts damit zu tun, etwasgegen die Mädchen zu tun.

Page 109: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12039

Michaela Noll

(A) (C)

(D)(B)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Genau!)

Sie waren doch in der letzten Woche selber im Aus-schuss. Dort hat Professor Mathias Albert noch einmalbestätigt: Der geschlechtsspezifische Trend beim ThemaBildung ist ungebrochen. Junge Frauen haben ihremännlichen Altersgenossen bei der Schulbildung über-holt. Ob Bildung oder Gesundheit: Mädchen haben dieJungen in wichtigen Bereichen abgehängt. – Das ist gutfür die Mädchen, aber es ist schlecht für die Jungs.

(Caren Marks [SPD]: Aber Sie machen Bil-dungspolitik, die das verstärkt!)

Sie machen einen Fehler. Wir spielen die Menschennicht gegeneinander aus.

(Caren Marks [SPD]: Doch! Genau das tun Sie! Sie verschärfen das!)

Ich möchte, dass wir sie dort abholen, wo sie Defizitehaben. Das tun Sie eben nicht. Beide Geschlechter habenFörderbedarf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weil Sie das vorhin angesprochen haben: Haben wirin der 17. Legislaturperiode überhaupt einmal über dieProbleme von Männern oder Jungen gesprochen? Dashaben wir nicht getan. Ich habe einmal die entsprechen-den Anträge aus der 17. Legislaturperiode herausge-sucht. Es waren 15 Anträge, und nur einer hat am Randedie Situation von Jungen gestreift. – Vielen Dank an dieGrünen, denn es war Ihr Antrag.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind meistens Vorreiter!)

Ich sage: Das ist zu wenig. Wir müssen uns für Männer-und Jungenforschung öffnen.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir waren immer für die Frauenquote!)

Wir müssen zusehen, dass wir in diesem Punkt weiter-kommen. Es gibt kein Entweder-oder, sondern nur einSowohl-als-auch für ein Miteinander der Geschlechter.

(Diana Golze [DIE LINKE]: Genau das steht aber nicht in Ihrem Antrag!)

Das haben Sie leider mit Ihrem Kommentar zu verhin-dern versucht.

Professor Rauschenbach hat damals gesagt – vielevon Ihnen waren dabei –:

Es ist ein Drama, dass zunehmend Kinder bis zum10. Lebensjahr in männerfreien Zonen aufwachsen.

Wir möchten die männerfreien Zonen mit Männern fül-len, mehr nicht,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ca-ren Marks [SPD]: Nur zu! – Kai Gehring[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Auf-sichtsräten und Vorständen sitzen genug Män-ner!)

damit die Kinder die Möglichkeit haben, beide Ge-schlechter und damit andere berufliche Perspektivenkennenzulernen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Di-ana Golze [DIE LINKE]: Warum sind es män-nerfreie Zonen? Die können nicht für 800 Euroim Monat arbeiten!)

Wir wollen Männern Mut machen, so wie es KollegeGehring sagte. Wir wollen Männern Mut machen, sichauch in anderen Rollen zurechtzufinden, sodass sie nichtmehr belächelt werden. Viele Väter kommen zu mir undsagen: Wissen Sie, Frau Noll, die Elternzeit würde ichgerne machen, aber wenn ich mit diesem Anliegen zumeinem Arbeitgeber gehe, erhalte ich nur ein müdesSchmunzeln. Hier, in den Köpfen der Menschen, müssenwir etwas verändern, sodass die Männer Akzeptanz er-fahren. Ich möchte den Männern Mut machen, auch ihrRollenbild zu erweitern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich noch kurz auf den Punkt bringen,warum ich glaube, dass wir dringend handeln müssen.Frau Professor Almendinger hat uns damals im Aus-schuss die Brigitte-Studie „Frauen auf dem Sprung“ vor-gestellt. Damit hat sie deutlich gemacht, dass die Frauenin ihrer Entwicklung zugelegt haben. Was passiert aber,wenn diese kompetenten Frauen langfristig keinenadäquaten Partner mehr finden? Dann sieht es düster ausmit der Familiengründung. Dann sind wir mit der Fami-lienpolitik am Ende. Wenn Sie das ändern wollen, dannhelfen Sie doch bitte mit, dass wir beide Geschlechterstark machen für eine Zukunft in Deutschland und siedort abholen, wo Defizite bestehen. Ich würde michfreuen, wenn Sie Ihr Schwarz-Weiß-Denken endlich ein-mal ad acta legen würden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Rix hat für die SPD-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Sönke Rix (SPD):Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Ein Hinweis, liebe Frau Noll: Lesen Sie sich die Redevon Frau Marks noch einmal durch.

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Oje! Sie hat keine masochistischen Anwandlungen!)

In der nächsten Debatte können wir dann gerne noch ein-mal aufschlüsseln, an welchen Stellen Frau Marks dieGeschlechter gegeneinander ausgespielt hat. Dass mandie Jungen- und Männerpolitik, von der Sie sprechen,kritisiert, heißt noch lange nicht, dass man eine entspre-chende Förderpolitik nicht für notwendig hält.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ach so! Dasist etwas ganz Neues! – Ingrid Fischbach[CDU/CSU]: Herr Rix, sie hat doch gesagt,das ist gar nicht nötig!)

Page 110: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sönke Rix

(A) (C)

(D)(B)

Das sollten Sie nicht miteinander verwechseln. Die Kri-tik an Ihren Ansätzen beinhaltet nicht automatisch eineAblehnung der Männer- und Jungenförderung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich gehöre zu den Männern, die 2,4 Prozent der Erzie-her ausmachen.

(Beifall des Abg. Florian Bernschneider [FDP])

Ich bin also einer von denen, die mit den neuesten Initia-tiven in vielen Bereichen gesucht werden. Mit diesemBlickwinkel will ich versuchen, auf zwei, drei Punkteeinzugehen. Vor allem möchte ich auf die männerfreienZonen eingehen, die auch Sie, Frau Noll, gerade ange-sprochen haben. Den Kindergarten und die Grundschulehat Herr Rauschenbach zu Recht als männerfreie Zonenbezeichnet. Ich weiß das, weil ich zu den 2,4 Prozent ge-höre. Aber warum ist das so, und welche Antworten bie-ten Sie, Frau Ministerin, mit dem Programm „MEHRMänner in Kitas“?

Erstens. Jetzt, wo wir mehr Männer in die Kinderta-gesstätten holen wollen, spielt die Bezahlung der Erzie-herinnen und Erzieher eine Rolle. Warum war das nichtschon vorher der Fall? Was haben Sie eigentlich für einBild?

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks[SPD]: Ja! Das ist unglaublich! – MarkusGrübel [CDU/CSU]: Ist das in SPD-regiertenLändern anders?)

Und Sie sprechen davon, dass es darum geht, Rollen-typen zu überwinden. Dabei wird dadurch ein Rollentypbestätigt: Der Mann ist der Ernährer, und deshalb musser besser verdienen. Das ist nicht der richtige Ansatz,Frau Ministerin.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Arbeitslose Männer sollen jetzt in einemCrashkurs in relativ kurzer Zeit den Beruf des Erziehersim Rahmen einer Umschulung erlernen können. Dafrage ich wieder: Was haben Sie eigentlich für ein Bildvon den jetzt arbeitenden Erzieherinnen und Erziehern?Wie bewerten Sie die Tätigkeit, die sie ausüben? Es kanndoch nicht angehen, dass wir einerseits sagen, dass sichgut qualifizierte Personen um die frühkindliche Bildungkümmern müssen – es geht ja nicht nur um die Betreu-ung, um das Aufpassen im klassischen Sinne, sondernauch um die frühkindliche Bildung –, und auf der ande-ren Seite nehmen wir einfach jemanden, der in einemCrashkurs von vielleicht anderthalb Jahren den Berufdes Erziehers erlernt hat.

(Miriam Gruß [FDP]: Das will doch keiner!)

So werte ich den Beruf des Erziehers und der Erzieherinmit Sicherheit nicht auf.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Ihrem Antrag erwähnen Sie auch den Gleichstel-lungsbericht. Diesen Bericht hat die zuständige Ministe-rin übrigens nicht einmal persönlich entgegengenom-men, vielleicht weil das eine oder andere, was darinformuliert ist, ihr nicht passt – das sind aber Ansätze,über die wir zu diskutieren haben –: Das eine ist dieQuote in Aufsichtsräten und Vorständen, das andere dieEntgeltgleichheit. Mit diesen Maßnahmen, mit der Ein-führung der Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsrä-ten und der Herstellung der Entgeltgleichheit, überwindeich die von Ihnen kritisierten Rollenbilder. Warum fan-gen wir damit nicht einfach an?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die Fokussierung auf Jungen und Männer in dieserDebatte ist – das ist schon mehrfach angesprochen wor-den – ein Ausdruck des Geschlechterkampfes, den Sieeigentlich überwinden wollen.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie müssen den Antrag einmal lesen!)

Eine Jungen- und Männerförderung kann nur in einemGesamtkonzept der Gleichstellungspolitik eine Rollespielen. Man kann nicht einerseits die Frauenpolitik unddie vermeintlich alte Emanzipationsbewegung kritisie-ren und andererseits sagen: Wir machen jetzt nur etwasfür Jungen und Männer, um den Geschlechterkampf zuüberwinden. Sie befördern den Geschlechterkampf andieser Stelle.

(Beifall der Abg. Petra Crone [SPD] – MiriamGruß [FDP]: Was? – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Eine super Rede! Es ist gut, dass Siekein Erzieher mehr sind!)

Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen, weil Sieimmer von der Überwindung der Rollentypen reden. Aufdie Frage nach den Partnermonaten beim Elterngeld indiesem Zusammenhang – das ist eine ganz aktuelle De-batte – haben leider auch Sie, Frau Noll, keine Antwortgegeben. Wir haben gemeinsam in der Großen Koalitionetwas unternommen, um die Rollentypen zu überwin-den. Wir waren es, die die Partnermonate eingeführt ha-ben. Jetzt, wo wir es verstärken wollen, weil wir alle derMeinung sind, dass wir diese Rollentypen überwindenwollen, zieht die Ministerin zurück und kneift, angeblichweil nicht genügend Geld da ist.

(Caren Marks [SPD]: Ja! Schade, schade!)

Frau Ministerin, es wird nicht besser, wenn SieSchaufensterpolitik betreiben, wenn Sie einfach nurneue Projekte ankündigen und neben dem Girls’ Dayjetzt auch noch den Boys’ Day einführen. Von unsererSeite sage ich: Wir finden es wunderbar, wenn Men-schen am Boys’ und Girls’ Day teilnehmen und Mäd-chen die Berufe kennenlernen, die vielleicht eher typischmännlich sind, und Jungen die Berufe kennenlernen, dietypisch weiblich sind.

Page 111: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12041

Sönke Rix

(A) (C)

(D)(B)

(Beifall des Abg. Florian Bernschneider [FDP])

Das hat hier niemand kritisiert. Aber daraus müssenauch Konsequenzen gezogen werden.

(Florian Bernschneider [FDP]: Ja! Steht im Antrag!)

Das fängt bei der Bezahlung, bei Quoten in Aufsichts-räten, aber auch bei dem Bild, das man über Erzieherin-nen und Erzieher in der Öffentlichkeit zeichnet, an. DasBild, das Sie prägen, ist nicht hilfreich zur Überwindungder Rollentypen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Bernschneider

das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Florian Bernschneider (FDP):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir haben heute mehrfach gehört – ich möchtees einmal positiv ausdrücken –, wie gut die Bilanz derBildungsabschlüsse junger Frauen heute ist: Mädchenmachen häufiger und ein besseres Abitur, Mädchen bzw.junge Frauen sind auch die Gewinner an deutschenHochschulen. Die Expertise zum Programm „NeueWege für Jungs“ bringt es, wie ich finde, auf Seite 10 gutauf den Punkt: Das katholische Arbeitermädchen vomLand, das noch in den 70er-Jahren in der Bundesrepub-lik als Bildungsverliererin galt, gibt es heute nicht mehr.– Das sollte uns zunächst einmal freuen; denn all dassind Zeichen eines positiven Wandels in unserer Gesell-schaft und positive Ergebnisse einer erfolgreichen deut-schen Gleichstellungspolitik.

Aber die eben genannte Expertise stellt auf Seite 10auch klar: Der Bildungsverlierer von heute ist der Mi-grantensohn aus einer bildungsschwachen Familie. Daskann uns nicht zufriedenstellen; damit können wir unsnicht zufriedengeben. Nun kann man natürlich immerder Logik folgen und sagen: Es ist doch klar, wenn einerin die erste Liga aufsteigt, nämlich die Mädchen, dannmuss auch jemand anders in die zweite Liga absteigen,nämlich die Jungs. Ich sage Ihnen aber ganz deutlich:Das ist nicht meine Auffassung von moderner Gleich-stellungspolitik.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unsere Aufgabe ist es, gute Rahmenbedingungen sozu setzen, dass Kinder und Jugendliche unabhängig vomGeschlecht Entwicklungschancen und Perspektiven er-halten. Wir wollen, dass Jungen und Mädchen gemein-sam in der ersten Liga spielen.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)

Deswegen verstehe ich nicht die Aufregung, die in die-ser Debatte von Teilen der Opposition suggeriert wird.Niemand will jetzt den Fokus auf die Jungs rücken unddabei die Errungenschaften der Mädchen- und Frauen-politik der letzten Jahrzehnte aufs Spiel setzen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wollen das eine tun, ohne das andere zu lassen.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das begreifendie nicht! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Welche neuen Errungenschaftenin der Frauenpolitik planen Sie denn? Fordertdie FDP jetzt eine Frauenquote?)

Die althergebrachte Maxime: „Willst du die Mädchenstärken, musst du die Jungs schwächen“, war falsch undist falsch. Sie wäre auch falsch, wenn die Jungs in die-sem Satz zuerst genannt würden. Das möchte niemand.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Was tun Sie gegen neue Ungleichheit? Wannkommt die Frauenquote?)

Natürlich reicht zur Förderung der Jungs nicht eineinzelner Boys’ Day.

(Diana Golze [DIE LINKE]: Richtig!)

Ich finde, Kollege Gehring hat es in seiner Pressemittei-lung wunderbar formuliert: „Jeder Tag muss ein Boys’Day sein.“ Das ist völlig richtig. Ich möchte Ihnen darecht geben. Genau deswegen legen wir Ihnen ja heutediesen Antrag vor. Uns allen ist doch bewusst, dass esuns gelingen muss, mehr junge Männer von zum Bei-spiel einer Ausbildung im sozialen Bereich zu begeis-tern. Deswegen ist der Boys’ Day in das Projekt „NeueWege für Jungs“ eingebettet. Dieses Projekt versucht,nicht nur an einem Tag, sondern an 365 Tagen im Jahrgenau dieses Ziel zu erreichen. Wir wollen erzieherischeund pflegerische Berufe attraktiver machen. Wir wollengemeinsam mit den Ländern dafür sorgen, dass das Per-sonal in der Berufs- und Ausbildungsberatung entspre-chend geschult wird.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir fordern im vorliegenden Antrag die Bundesregie-rung auf, die bestehenden Programme in diesem Bereichauszubauen. Weil ich jetzt immer wieder die StichworteMindestlohn und Bezahlung gehört habe, sage ich: Dasallein löst das Problem nicht. Wenn Sie das Gehalt einesjungen Tischlers mit dem eines jungen Erziehers oderKindergärtners vergleichen, dann werden Sie feststellen,dass die Bezahlung nicht der Grund für die Berufswahldieser jungen Männer ist. Die Gründe liegen tiefer. Manmuss die Gründe angehen; das tun wir richtigerweise indiesem Antrag.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte mit einem Zitat von Norbert Blüm schlie-ßen, das meiner Meinung nach sehr gut auf die heutigeDebatte passt,

Page 112: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Florian Bernschneider

(A) (C)

(D)(B)

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rente ist sicher!)

gerade wenn ich mir die Rednerinnen und Redner derOpposition vor Augen führe. Norbert Blüm hat einmalgesagt: „Der Kampf der Geschlechter ist so einfallsloswie der Klassenkampf.“ Wo er recht hat, hat er recht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ca-ren Marks [SPD]: Dann lassen Sie ihn ein-fach!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Unionsfraktion hat der Kollege Weinberg das

Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Tatsächlich – Michaela Noll hat recht – ist der Verlaufdieser Debatte interessant. Im Vorfeld habe ich mir dieFrage gestellt: Wie diskutieren wir wohl heute? Nehmenwir dieses ernste gesellschaftliche Thema gemeinsammit der Opposition in den Fokus,

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Oh ja! Das wäre schön gewesen!)

oder transportieren wir weiterhin alte, ideologisch ge-prägte Vorurteile in die Debatte? Letzteres haben einigeRedner der Opposition leider getan.

(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ach was! Dann müssen Sie etwas Vernünfti-ges vorschlagen!)

Ich sage ausdrücklich – Kollege Gehring, ich hatte schongroße Sorge, dass wir ihn zu sehr gelobt haben und erden Raum verlässt –: Ich möchte mich bei den Grünenfür die Art und Weise, wie sie diese Diskussion geführthaben, bedanken.

Der Hamburger Pädagoge Frank Beuster hat in sei-nem Buch Die Jungenkatastrophe Folgendes formuliert:

Viele Jungen sind in Not geraten. Grund ist eineeinseitige, unzureichende Prägung. … Auch fehlenzu häufig die Väter und die Männer in der Erzie-hung von Jungen.

Wir haben diese Aussage politisch aufgegriffen und zurDiskussion gestellt. Frau Golze kritisierte daraufhin, wirwürden nur auf das Trennende hinweisen. Das ist völligfalsch. Wir greifen genau die Punkte auf, die in der ge-sellschaftlichen Diskussion, aber auch in der Wissen-schaft mehr und mehr Raum einnehmen. Heutzutagesind es nämlich in erster Linie die Jungen, die unterstütztund gefördert werden müssen.

Frau Marks, Sie fordern von uns, die besonderen Be-dürfnisse der Jungen in der Bildungspolitik zu definie-ren. Frau Marks, besuchen Sie doch einmal die Schulenin Ihrem Wahlkreis.

(Caren Marks [SPD]: Das habe ich schon! Fra-gen Sie doch mal die Lehrer, was die von Ih-rem Antrag halten!)

Kollege Feist und ich haben das getan. An meiner ehe-maligen Schule, einer katholischen Grund-, Haupt- undRealschule – sie befindet sich in einem sozialen Brenn-punkt im Süden Hamburgs, in Hamburg-Wilhelmsburg –,haben die Jungen bzw. die Männer von sich aus eine AGgegründet. Sie wollen das Thema Jungenförderung mehrin den Fokus rücken, weil sie festgestellt haben, dass esbesondere Bedürfnisse gibt.

(Caren Marks [SPD]: Dann machen Sie vonder CDU doch in den Ländern eine bessereBildungspolitik!)

Dies haben wir politisch aufgegriffen. Insofern könnenSie uns nicht vorwerfen, wir hätten keine besonderenBedürfnisse definiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Kollegen haben bereits klar zum Ausdruck ge-bracht: Die Defizite der Jungen gerade im Bildungsbe-reich zu betrachten, hat nichts damit zu tun, Jungen undMädchen in irgendeiner Weise gegeneinander auszuspie-len. Wenn ich mir die Bildungsergebnisse ansehe, FrauGolze, dann stelle ich fest: Die Bildungsergebnisse derJungen stagnieren nicht etwa, sondern die Jungen verlie-ren in nahezu allen Bereichen immer weiter an Boden.Die letzte PISA-Studie kam zu dem Ergebnis, dass derUnterschied zwischen Mädchen und Jungen bei der Le-sekompetenz mittlerweile 39 Punkte beträgt; das ent-spricht einem Schuljahr.

(Caren Marks [SPD]: Ja! Wir brauchen eben längeres gemeinsames Lernen!)

Darauf muss man als Bildungspolitiker und Familienpo-litiker eingehen. Man muss sich überlegen, wie ein Pro-gramm ausgestaltet sein könnte, mit dem man die Lese-kompetenz der Jungen stärkt. Das haben wir getan. Sieaber werfen uns vor, wir würden einseitige Politik betrei-ben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Caren Marks [SPD]: Länge-res gemeinsames Lernen, Herr Weinberg! Daswäre eine Antwort!)

Zur Schulabbrecherquote und zum Thema Klassen-wiederholungen haben die Kolleginnen und Kollegenschon einiges gesagt.

Es gibt eine subjektive und eine objektive Wahrneh-mung; Michaela Noll hat es formuliert. Wir wollen, wiein unserem Antrag formuliert, wissenschaftlich untersu-chen: Wo genau liegen bei der Bildung und Ausbildungvon Jungen und Mädchen die Schwerpunkte? Herr Rix,wir wollen auch erfahren: Was macht ein Erzieher ei-gentlich anders als eine Erzieherin? Auch wir wollen,dass der Anteil männlicher Erzieher steigt und nicht wei-terhin nur 2,8 Prozent beträgt. Dies betrachten wir alsForschungsauftrag. Wir müssen vermeiden, dass in die-ser Republik möglicherweise ein neues gesellschaftli-ches Problem entsteht. Das Thema „Migration und sozi-

Page 113: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12043

Marcus Weinberg (Hamburg)

(A) (C)

(D)(B)

aler Status“ – Sie haben es erwähnt – haben wirBildungspolitiker als bedeutsam erkannt. EntsprechendeProgramme gibt es bereits. Wir wollen dafür sorgen,dass sozialer Status und Migrationshintergrund in Zu-kunft nicht mehr über den Bildungserfolg entscheiden.Darüber hinaus muss ein weiteres Problem, das in denletzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat,in den Fokus gerückt werden: die Entwicklung der Jun-gen. Wenn Jungen in ihrer subjektiven Wahrnehmung zuBildungsverlierern werden und weniger Chancen aufdem Ausbildungsmarkt haben, dann entwickeln sie sichanders. Wenn sie zusätzlich einen Migrationshintergrundhaben oder ihr sozialer Status gering ist, dann entsteht inweiten Teilen der Gesellschaft ein Problem.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das Kernproblem ist trotzdem die sozialeLage!)

Der Anlass dafür, dass wir uns mit diesem Thema be-fasst haben, war die Frage: Wie genau reagieren dieseJungen? Die Antwort lautet: Sie reagieren auch mit Ag-gression und üben häusliche Gewalt aus. Genau dies istfamilienpolitisch das Desaster und die Urkatastrophe.Darauf müssen wir so schnell wie möglich reagieren,insbesondere im Bildungsbereich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Worum geht es in unserem Antrag en détail? Der Kol-lege von den Grünen hat den einen oder anderen Aspektbereits erwähnt. Es geht um eine geschlechtersensiblePädagogik als Querschnittsaufgabe an den Schulen. Un-terrichtsinhalte sollen so gestaltet werden, dass sie so-wohl Mädchen als auch Jungen gerechter werden. Dasheißt nicht, dass Pädagogen männliche Rollenbilder undPädagoginnen weibliche Rollenbilder übernehmen sol-len, sondern das heißt, dass Männer und Frauen an denInstitutionen, in der Kita und in der Schule, Jungen undMädchen gemeinsam unterrichten sollen. Die Unter-richtsinhalte sollten so gestaltet sein, dass sie beiden,Jungen und Mädchen, gerecht werden. Wir brauchenProgramme zur Stärkung der Lesekompetenz und müs-sen bei der Berufswahl dafür sorgen, dass sich auch Jun-gen – heute findet erstmalig der Boys’ Day statt – stärkerfür Berufe interessieren, die sie bisher nicht angestrebthaben. Nur so schaffen wir einen Ausgleich.

Das Programm „MEHR Männer in Kitas“ mit derZielmarke 20 Prozent ist bereits ein erster Aufschlag.Frau Marks hat gesagt, sie sei darüber erstaunt, dass unserst jetzt klar werde, dass beide Geschlechter in denBlick zu nehmen seien.

(Caren Marks [SPD]: So schreiben Sie das ja!)

Was haben Sie eigentlich bis 2005 gemacht?

(Caren Marks [SPD]: Viel!)

Wo haben Sie Ihre Akzente gesetzt? Ich kann nicht er-kennen, dass die SPD damals in der Regierungsverant-wortung irgendwie die Thematik der Jungen aufgenom-men hätte. Sie haben sich richtigerweise zu denMädchen geäußert. Das wird von uns nicht als negativoder defizitär angesehen. Vielmehr nehmen wir jetzt diejungen Männer bzw. die Jungen mit in den Fokus.

Zum Schluss will ich Frank Beuster zitieren:

Es liegt nun in der Hand von uns Männern, Vätern,Lebensgefährten, ob wir diese Aufgabe – Vorbildzu sein – dem Fernsehen, Computerspielen und derStraße überlassen.

Wir als Politik, als Regierung haben das aufgenommen.Sie als Opposition können sich gerne anschließen. Wirwürden uns freuen, wenn wir in den Ausschüssen kon-struktiv und kritisch darüber diskutierten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Lehrieder für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Paul Lehrieder (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Während wir hier im Plenum des Deut-schen Bundestages über unseren Koalitionsantrag debat-tieren, sind bundesweit – um 18.30 Uhr werden hoffent-lich die ersten schon Feierabend haben – zahlreicheSchüler seit heute früh quasi bei der praktischen Umset-zung. Denn am heutigen Boys’ Day – dem ersten offiziel-len Zukunftstag für Jungen in unserem Land – erhaltenbundesweit zahlreiche Schüler der Klassen 5 bis 10 – FrauMinisterin Schröder hat ausgeführt, dass 35 000 Jungendie Gelegenheit wahrnehmen – Einblicke in interessanteund chancenreiche Dienstleistungsberufe, besonders inden Bereichen Erziehung, Gesundheit und Pflege. So be-kommen sie erste Eindrücke von Berufsbereichen, in de-nen bislang nur wenige Männer arbeiten. Herr Rix hatausgeführt, dass er zu der sehr kleinen Minderheit von2,4 Prozent Erziehern gehört, die im Kindergarten dasentsprechende Rollenbild tradieren. Bestenfalls lernendie Schüler bereits am heutigen Tag ihre potenziellenArbeitgeber kennen. Ich glaube, das Programm ist wich-tig. Am 1. Juli fällt die Wehrpflicht weg. Viele jungeMänner mussten in den letzten Jahren, bedingt durch denZivildienst, in Berufe „hineinschnuppern“, die sie an-sonsten vielleicht nicht aus freien Stücken gewählt hät-ten. Deshalb ist es, Frau Ministerin, ganz wichtig, dasswir in den nächsten Monaten auch die Freiwilligen-dienste im Auge behalten. Wir müssen aufpassen, dassauch in Zukunft das Kennenlernen von bestimmten Be-rufsbildern ermöglicht wird, was früher, als es die Wehr-pflicht noch gab, zwangsläufig geschah.

Schon im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, einemoderne Jungen- und Männerpolitik zu entwickeln undbereits bestehende Projekte weiter zu unterstützen. DieEinführung des Boys’ Day am heutigen Tag ist ein wei-terer richtiger und wichtiger Schritt hin zur Verbesserungder Zukunftsperspektiven für Jungen. Ich hätte es, FrauKollegin Marks, begrüßt, wenn Sie gesagt hätten: Ja-wohl, hier seid ihr auf dem richtigen Weg. Wir haben dasfrüher vielleicht noch nicht so dramatisch gesehen, aberwir sind auf einem guten Weg. Wir begleiten euch kon-

Page 114: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Paul Lehrieder

(A) (C)

(D)(B)

struktiv, aber auch kritisch, um für mehr Verständnis zusorgen.

Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle auf dasProjekt „Neue Wege für Jungs“ und die Initiative„MEHR Männer in Kitas“ mit dem gleichstellungspoliti-schen Ziel, den Anteil männlicher Fachkräfte in Kinder-tagesstätten deutlich zu erhöhen, verweisen. Jahrzehnte-lang galten nur Mädchen und Frauen als besondersförderungsbedürftig. Gleichstellungspolitische Ansätzefür Jungen und Männer fehlten weitestgehend. Nun rü-cken zusätzlich die Jungen in den Fokus der Gleichstel-lungspolitik, und das ist gut so.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Von einer zeitgemäßen Gleichstellungspolitik könnenwir alle nur profitieren. Die Vorredner haben in Bezugauf viele Bereiche bereits darauf hingewiesen. Beson-ders im pädagogischen Bereich sowie im Dienstleis-tungssektor bei Gesundheit und Pflege zeichnen sich einFachkräftemangel und auch ein besonderer gesellschaft-licher Bedarf ab, der sich durch die demografische Ent-wicklung unserer Gesellschaft in den nächsten Jahrennoch deutlich verstärken wird.

Wir wollen erreichen, dass die Männer von morgendurch eine moderne Gleichstellungspolitik vor allem inbildungs- und berufspolitischer Hinsicht gestärkt wer-den. Jungen wie Mädchen, Männer wie Frauen sollen inunserer Gesellschaft in allen Lebensbereichen die glei-chen Chancen und Gestaltungsfreiheiten haben. Ichglaube, es ist gut, wenn wir an dieser Sache hier gemein-sam konstruktiv arbeiten und keine Feindbilder aufbauenbzw. Gegenposition darstellen, die die Sache nicht ver-dient.

Ich finde es auch gut, dass Kollege Gehrig gesagt hat:Ein Boys’ Day im Jahr ist eigentlich zu wenig; wirbrauchten 365 Boys’ Days im Jahr. Natürlich kann ichdas nur unterstützen und sage: Jawohl, den Fokus, denwir heute hier ganz bewusst auf dieses Thema richten,müssen wir das ganze Jahr über beibehalten.

Dazu brauchen wir zum einen die Weiterentwicklungvon Programmen und Maßnahmen der Gleichstellungs-politik, um einseitige männliche Rollenzuschreibungenaufzubrechen. Zum anderen brauchen wir die Akzeptanzfür die Notwendigkeit dieser Fortentwicklung und diegemeinsame Überwindung von Rollenstereotypen in un-serer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich bei denGeschlechterrollen von Jungen und Männern einiges ge-tan. Werte haben sich verschoben. Familie, Beziehungund Freundschaft sind wichtiger geworden. Das Ge-schlechterverhältnis wird neu ausbalanciert.

Ein Beispiel, das ich bewusst zum Schluss nenne,sind die von mehreren Vorrednern bereits zitierten Vä-termonate, die in den letzten Jahren dazu geführt haben,dass sich deutschlandweit immerhin etwa 24 Prozent derjungen Väter – Tendenz steigend – durch eine Auszeitvon ihrem beruflichen Leben zu ihrer Erziehungsverant-wortung bekannt haben. In Bayern – darauf bin ich ganzbesonders stolz – sind es sogar über 30 Prozent.

(Beifall der Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU] und Miriam Gruß [FDP])

– Liebe Frau Gruß, hier dürfen Sie laut klatschen. – VonBayern lernen, heißt Siegen lernen. Machen Sie weiter indieser Richtung!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Über Sachsenkönnte er auch einmal etwas Nettes sagen!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5494 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten PetraCrone, Angelika Graf (Rosenheim), Petra Ernst-berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Potenziale des Alters und des Alterns stärken –Die Teilhabe der älteren Generation durchbürgerschaftliches Engagement und Bildungfördern

– Drucksache 17/2145 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Petra Crone für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Petra Crone (SPD):Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolle-

ginnen! Meine Damen und Herren!

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist mal ein netter Anfang!)

Ist es nicht ganz wunderbar? Das, was sich die Men-schen schon immer gewünscht haben, ist eingetreten:Unsere Lebensspanne wird immer länger. Ich finde,diese dazugewonnene Zeit ist ein ganz schönes Ge-schenk; denn wir sind immer besser gebildet, gesünderund fitter. Kurz: Wir haben mehr vom Leben. Gleichzei-tig kann man unsere Lebensläufe nicht mehr uniformiertin drei Teile einteilen: Schule/Ausbildung/Studium, Ar-beitszeit und Ruhestand. Nein, viele Lebensläufe sindvon Brüchen, Umwegen, Veränderungen und Neubeginn

Page 115: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12045

Petra Crone

(A) (C)

(D)(B)

gekennzeichnet. Keine Arbeitsphase kommt mehr ohneWeiterbildung aus. Der Begriff „lebenslanges Lernen“ist damit zum Teil schon mit Leben gefüllt. Nun muss ersich auch noch deutlicher in der verlängerten Lebens-phase verfestigen.

Werfen wir einen Blick in den Sechsten Altenbericht,der sich mit dem Thema Altersbilder beschäftigt. DieÄlteren existieren überhaupt nicht. Diese Altersgruppeist genauso vielfältig wie alle anderen Bevölkerungs-gruppen – mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen vonLeben, Alltag, Familie und Freizeitgestaltung. Leiderwird immer viel zu sehr darüber gesprochen, was Älterenicht mehr können und welche Macken sie haben. DieseDiskriminierung muss endlich aufhören.

(Beifall bei der SPD)

Stattdessen müssen wir die Potenziale und Stärken vielstärker hervorheben. Wir brauchen eine breite politischeund gesellschaftliche Debatte darüber, wie ältere Mitbür-ger in der Arbeitswelt behandelt werden: ob sie gezieltweitergebildet werden, ob ihre Erfahrung geschätzt wirdund ob die Arbeitsbedingungen ihnen gerecht werden.Auch muss darüber gesprochen werden, inwiefern dieBildungspolitik schon auf lebenslanges Lernen ausge-richtet ist und ob das Gesundheitswesen entsprechendvorbereitet ist.

Darum fordere ich die Bundesregierung auf, die An-regungen der Wissenschaftler aus dem Fünften undSechsten Altenbericht in konkrete politische Program-matik umzusetzen. Familienministerin Schröder hatnicht nur die Jungenpolitik, sondern auch die Senioren-politik zu einem ihrer Kernthemen ausgerufen. – Auchwenn sie gerade nicht anwesend ist, frage ich sie: Wannbeschäftigen wir uns in diesem Parlament mit demSechsten Altenbericht? Eine Debatte darüber stand zwarursprünglich auf der heutigen Tagesordnung, ist aberkurzfristig wieder abgesetzt worden.

(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Nein! Er ist unsauch wichtig! Es kommt auf die Tagesord-nung!)

Ergreifen Sie bitte endlich Initiativen, um die Potenzialedes Alters ausreichend zu fördern und zu stärken! Zwarfolgt ein Modellprojekt auf das nächste – ich erinnerenur an den Kampf um die Mehrgenerationenhäuser –,das ersetzt aber keinen langfristigen Aufbau und keinelangfristige Förderung von sinnvoller Infrastruktur, undzwar gemeinsam mit Ländern und Kommunen. Hier et-was und dort etwas: Das reicht nicht aus, um das Großeund Ganze zu gestalten.

In einer Gesellschaft mit einem größer werdendenAnteil älterer Menschen muss die Politik, müssen wirgemeinsam mit Wirtschaft und Gesellschaft die Teilha-bemöglichkeiten auch für diese Gruppe sicherstellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Das ist das Anliegen unseres Antrags. Dabei geht es uns,der SPD-Bundestagsfraktion, vor allem auch um die Be-dürfnisse von sozial Schwächeren, Geringqualifizierten,

Migranten, Migrantinnen und Menschen mit Behinde-rung. Es geht uns auch um die Älteren in ländlichen Re-gionen.

Ziel ist eine neue Sicht des Alters in der Arbeitswelt.Dazu gehört das Recht auf Bildung für alle Lebensalter.Jeder, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, egalwelchen Alters, hat das Recht auf Bildung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lernen ist für die ältere Generation mehr als nur Wis-senserwerb. Es ist vor allem soziale Teilhabe und bedeu-tet eine enorme Steigerung der Lebensqualität. Selbst imhohen Alter hat Lernen noch positive Auswirkungen aufLeib, Seele und Selbstbestimmtheit, und es ist für unsdeshalb auch Gesundheitsförderung und Prävention.Wenn ich mich hier umschaue und die älteren Kollegenund Kolleginnen sehe, kann ich nur sagen: Das Parla-ment ist fast ein Jungbrunnen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Letztendlich motiviert Lernen auch zu bürgerschaftli-chem Engagement. Die älteren Generationen prägen dieGesellschaft – genauso wie die jüngeren – mit ihrer Er-fahrung, ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten. Sie habenmehr Zeit und wollen auch mehr Verantwortung über-nehmen. Neben den Fachkräften leisten vor allem ältereMenschen einen wertvollen Beitrag in Hospizen, Pflege-heimen, aber auch für das sportliche und kulturelle Le-ben in den Kommunen. Davon profitieren wir alle.

Wir, meine Herren und Damen, müssen gute Rahmen-bedingungen für flexible Angebote schaffen. Allzu starreRegelungen und Verpflichtungen allerdings schreckenab. Besser ist ein großes Spektrum möglichst passge-nauer Vereinbarungen. Ein Signal ist mir dabei sehrwichtig: Dieses Engagement darf kein billiger Ersatz fürLeistungen unseres Sozialstaates sein.

(Beifall bei der SPD)

Es ist ein wichtiger Beitrag für den Zusammenhalt unse-rer Gesellschaft.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Grübel hat für die Unionsfraktion das

Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Markus Grübel (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der Analyse der demografischen Entwicklung inDeutschland sind wir uns einig. Die Gesellschaft wirdälter. Die Lebenserwartung steigt. Gleichzeitig nimmtdie Zahl der Jüngeren ab. In Zahlen: In den Zeiten dergeburtenstarken Jahrgänge gab es rund 1,4 MillionenGeburten im Jahr. Jetzt sind es weniger als 700 000. Dasentspricht einem Verhältnis von zwei zu eins. Das heißt,

Page 116: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Markus Grübel

(A) (C)

(D)(B)

in wenigen Jahren gehen zwei Menschen in Ruhestand,während einer aus der Ausbildung in das Erwerbslebennachrückt. Das ist eine Herausforderung für die Gesell-schaft, insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme,aber auch eine Chance. Im Alter liegen nämlich auchgroße Potenziale.

Wir müssen realistische und differenzierte Altersbil-der entwickeln. Wir benötigen Altersbilder, die die Men-schen motivieren, Altersbilder, die Alter als Chance be-greifen. Alt sein heißt heute nicht in erster Linie, hilfs-oder pflegebedürftig zu sein; nur 5 Prozent der 70- bis75-Jährigen sind auf fremde Hilfe angewiesen und pfle-gebedürftig. Die heutigen Seniorinnen und Senioren sindim Durchschnitt besser ausgebildet und vitaler als frü-here Generationen. Auch die Werbung greift das auf:„Schönheit kennt kein Alter“, sagt die Werbung für einKörperpflegemittel. Ich möchte ergänzen: Kreativitätkennt kein Alter, Engagement kennt kein Alter, Bildungkennt kein Alter.

Nun zum vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion. Siehaben einen ungewöhnlichen Weg gewählt. Sie habenMitte Juni erst einmal einen Antrag geschrieben, in demSie ganz viele konkrete Forderungen erhoben haben.Wenige Tage später richten Sie eine Kleine Anfrage andie Bundesregierung und fragen nach all dem, wozu Sievorher Position bezogen haben. Die Antworten konntenaber nicht in Ihren Antrag einfließen. Platter gesagt: Sieerklären zuerst den Weg, um dann nach dem richtigenWeg zu fragen. Umgekehrt wäre es wohl sinnvoller ge-wesen. Dann wären manche Punkte in dem Antrag nichtmehr aufgeführt worden.

Die Erkenntnisse und Empfehlungen des fünftenAltenberichts haben Eingang in die Arbeit der verschie-denen Ressorts der Bundesregierung gefunden. EineVielzahl von Programmen insbesondere aus dem Bun-desfamilienministerium fördert zielgruppengenau dasEngagement der älteren Menschen und trägt dazu bei,dass die so vielfältig vorhandenen Potenziale der Älterengenutzt werden. Programme wie „Alter schafft Neues –Aktiv im Alter“, die Freiwilligendienste aller Generatio-nen und die Mehrgenerationenhäuser fördern das Enga-gement gerade älterer Menschen. Wir haben jetzt eineLösung gefunden, wie wir die Förderung der Mehrgene-rationenhäuser für die Jahre 2012, 2013 und 2014 er-möglichen können. Die Antragstellung ist ab Sommermöglich.

Die Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ greift die Er-fahrungen und Anliegen der über 50-Jährigen auf undmacht gleichzeitig Unternehmen auf die ökonomischenChancen der demografischen Entwicklung aufmerksam.Die Initiative „Internet erfahren“ will die Nutzung neuerMedien durch Ältere gezielt fördern. Auch dafür gibt esProgramme in den Mehrgenerationenhäusern. Der „Frei-willigendienst aller Generationen“ und sein Vorläufer,der „Generationsübergreifende Freiwilligendienst“, sindbeides Modellprogramme mit großem Erfolg. Die Eva-luation hat ergeben, dass 64 Prozent der Freiwilligen äl-ter als 50 Jahre sind.

In dem Antrag gibt es Punkte, bei denen wir nichtweit auseinander sind, teilweise sogar eng zusammen,zum Beispiel bei der Überprüfung der Altersgrenzen.Diesen Punkt haben wir auch im Koalitionsvertrag fest-gehalten. Es gibt auch Punkte im Antrag – zum Beispieleine weitere EU-Antidiskriminierungsrichtlinie –, diewir anders bewerten. Wir hatten über das Thema imAusschuss und im Plenum mehrfach diskutiert; deshalbbrauche ich das nicht näher auszuführen. Im Bereich derForschung hat die Antidiskriminierungsstelle letztes Jahreine Expertise zum Thema „Diskriminierung im Alter“vorgelegt. Eine Konsequenz daraus ist, dass die Antidis-kriminierungsstelle des Bundes nächstes Jahr denSchwerpunkt auf Altersdiskriminierung legt. Hier sindwir also schon sehr aktiv.

Als Fortentwicklung der Erkenntnisse aus dem fünf-ten Altenbericht hat das Familienministerium den sechs-ten Altenbericht „Altersbilder in der Gesellschaft“ inAuftrag gegeben. Der Bericht und auch die Stellung-nahme der Bundesregierung liegen vor. Frau Crone, wirwerden noch vor der Sommerpause den sechsten Alten-bericht hier besprechen. Ihr Antrag stützt sich aber imWesentlichen auf den fünften Altenbericht. Der sechstelag damals noch nicht vor.

Als einen wichtigen Punkt, den Sie in Ihrem Antragnicht ansprechen konnten, weil das damals nicht bekanntwar, möchte ich den Bundesfreiwilligendienst erwähnen.Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst bieten wir denüber 27-Jährigen und damit auch der älteren Generationdie Möglichkeit, sich zu engagieren und ihre Potenzialeeinzubringen. Dieser Dienst steht Männern und Frauenoffen. Er dauert in der Regel 12 Monate, mindestens 6und höchstens 18 Monate, wenn er nicht von einer be-sonderen pädagogischen Maßnahme begleitet wird. Fürdie über 27-Jährigen und damit für die Älteren sind20 Wochenstunden vorgesehen. Zu der 20-Stunden-Re-gelung haben wir in der Anhörung zum Bundesfreiwilli-gendienstgesetz die Sachverständigen befragt. AlleSachverständigen haben einvernehmlich gesagt, dass siedie 20-Stunden-Regelung für richtig halten, weil da-durch eine Verstaatlichung des Ehrenamts verhindertwird.

Mitte Mai startet die Informationskampagne mit demTitel „Zeit, das Richtige zu tun – Nichts erfüllt mehr, alsgebraucht zu werden“. Eine der vielfältigen Maßnahmenwird sein, dass ein Bus der Linie 100, die auch hier amReichstagsgebäude vorbeiführt, mit entsprechenden In-formationen versehen wird. Ich hoffe, dass dieses Ange-bot viele Interessenten auch aus dem Kreis der Älterenfindet. Sie sehen also: Es geschieht schon viel, und wirwollen noch mehr anpacken. Es wäre gut, wenn wir hieran einem Strang ziehen würden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich

das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Page 117: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12047

(A) (C)

(D)(B)

Heidrun Dittrich (DIE LINKE):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Wir debattieren heute über den An-trag der SPD und nicht über den Altersbericht der Bun-desregierung. Das finde ich schade, denn da wäre mehrdrin.

(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das ist uns so wichtig, dass wir das separat machen!)

Der Titel des Antrags lautet fast genauso wie der Be-richt: „Potenziale des Alters und Alterns stärken – DieTeilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftlichesEngagement und Bildung fördern“. Leider schreiben Sienicht hinein, dass eine Teilhabe auch durch armutsfesteRenten gefördert werden kann. Die besondere Benach-teiligung von Frauen, Migranten und Menschen mit Be-hinderung auf dem Arbeitsmarkt wird auch in Ihrer Be-gründung nicht angesprochen. Frauen und Migrantenhaben nicht 47 Jahre in Vollzeit gearbeitet, um eineRente ohne Abschläge mit 67 Jahren zu erhalten. Siebleiben in Minijobs und Teilzeitstellen hängen; sie blei-ben im Alter arm.

Was bieten Sie diesen Menschen an? Als ersten Punktfordern Sie, meine Damen und Herren von der SPD, denFreiwilligendienst aller Generationen. Die Benachteilig-ten auf dem Arbeitsmarkt, die keine eigene existenz-sichernde Rente aufbauen können, sind aber genau IhreZielgruppe – die Freiwilligen aller Generationen –, undsie werden auch dazu gezwungen sein zu arbeiten, wennsie ihre Teilrente, ihr Hartz IV oder ihre Grundsicherungaufbessern wollen. Diesen Freiwilligendienst von 16 bis70 Jahren braucht kein Mensch.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Jugendlichen benötigen stattdessen Ausbildungs-plätze. 80 Prozent der Menschen in Deutschland wollennicht bis 67 arbeiten, und sie wollen auch nicht bis zumAlter von 70 Jahren tätig sein. Hören Sie auf die Ge-werkschaften, und verringern Sie das Renteneintrittsalterwieder! Damit schaffen Sie Arbeitsplätze, auch für Ju-gendliche.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben in der letzten Woche im Bundestag gemein-sam mit der Linken und den Grünen gegen den Bundes-freiwilligendienst gestimmt. Warum fordern Sie jetzt denFreiwilligendienst aller Generationen, wo es noch weni-ger Geld als Belohnung – zwischen 50 und 150 Euro –gibt? Sind Ihnen denn die älteren Menschen so wenigwert? Wo bleibt das Rentenalter als Lebensabschnitt, derselbstbestimmt und erholsam sein kann, frei vom Zwangder Erwerbstätigkeit?

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Trotzdem ist es bürgerschaftliches Engage-ment!)

Engagement bedeutet bei diesen Parteien, nicht für sichselbst, sondern für die Gesellschaft, für andere tätig zusein, und das auch noch mit einem Dienst. Die Älterenfordern das ein, behaupten Sie von der SPD. Mir sindkeine Briefe der Gewerkschaften und der Seniorenver-

bände bekannt, die dies fordern. Die Unternehmen unddie Regierungen fordern das, weil sie so mit staatlicherSubvention einen neuen Niedriglohnbereich – Freiwilli-gendienst aller Generationen – einführen. Kranke, er-schöpfte und ältere Menschen und Menschen mit Behin-derung werden in Ihrem Antrag nicht bedacht. Wer aberlänger fit ist, könnte sich Urlaubswünsche erfüllen undHobbys nachgehen. Das ist selbstbestimmt, aber das istnicht vorgesehen. Wenn ein Liedermacher wie Konstan-tin Wecker Konzerte gegen rechts organisiert, so habeich nichts dagegen. Er soll singen, solange er möchte. Erkann das auch; denn er ist finanziell abgesichert. Er kannsich frei entscheiden.

Setzen Sie sich mit uns für den gesetzlichen Mindest-lohn von 10 Euro ein, damit die Beschäftigten eineRente aufbauen können.

(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-langen] [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu HorstJanson?)

Dann können sie sich entscheiden. Der Freiwilligen-dienst aller Generationen orientiert sich an Mehrgenera-tionenhäusern, die zu Pflegestützpunkten werden sollen.Alle Wege der Freiwilligen führen in die Pflege; denn35 000 Zivis wollen ersetzt werden.

Mit Ihrer Forderung nach lebenslangem Lernen undÜberprüfung der Altersgrenzen beim bürgerschaftlichenEngagement unterstützt auch die SPD die Altersbilderim Sechsten Altenbericht der Bundesregierung. Dortgeht es um eine Überprüfung der tariflichen Schutzvor-schriften für Ältere. Es geht um den Abbau des Kündi-gungsschutzes. Es geht darum, die noch gewerkschaftli-chen Vorstellungen von einem Anspruch auf Rente mit 67zu beseitigen.

Dem Sechsten Altenbericht sind zwei Varianten zuentnehmen: Erste Variante: Das Rentenalter wird, ohneeine Alterszahl zu nennen, erst mit Ende der individuel-len Leistungsfähigkeit erreicht. Zweite Variante: DasRentenalter wird erreicht, wenn das 67. Lebensjahr voll-endet ist. Dann wird die individuelle Leistungsfähigkeitüberprüft. Warum sollen die Rentnerinnen und Rentnerals niedrig Entlohnte bis 70 tätig sein und damit Arbeits-plätze im öffentlichen Dienst besetzen? Sie leisten dochbereits etwas für die staatliche Gemeinschaft, Stichworte:Einkommensteuer, Medikamentenzuzahlung, Kranken-versicherung, Pflegeversicherung, 19 Prozent Mehrwert-steuer und eventuell Hundesteuer. Das ist nicht wenig.

Fordern Sie mit uns Arbeitsplätze im öffentlichenDienst. Statt eine Teilhabe durch ausreichendes Einkom-men und Rente zu fordern, diskriminieren Sie die Älte-ren durch Ihr Angebot, sich im Freiwilligendienst allerGenerationen zu verpflichten, und das – über die gesetz-liche Altersgrenze hinaus – bis 70 Jahre. Damit wendenSie sich gegen die Beschäftigten, die auf ein gesetzlichesRentenalter vertrauen. Wir hingegen sind für eine ar-mutsfeste Rente und einen zwanglosen Lebensabend.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Page 118: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nächste Rednerin ist Nicole Bracht-Bendt für die

FDP-Fraktion.

Nicole Bracht-Bendt (FDP):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Unsere Gesellschaft wird älter; das haben hierheute schon mehrere festgestellt. Seniorenpolitik istlängst kein Randthema mehr. Die demografische Ent-wicklung betrifft uns alle. 2050 wird jeder dritte Bundes-bürger älter als 60 Jahre sein. Die Veränderung der Al-tersstrukturen wurde lange von vielen lediglich alsBelastung unserer Sozialsysteme dargestellt. Das ist in-zwischen erfreulicherweise anders geworden.

Wir sind uns wohl alle darin einig, dass Menschennicht aufs Abstellgleis geführt werden dürfen, nur weilsie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Die meisten Äl-teren wollen sich nicht von heute auf morgen aus demwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zurück-ziehen. Sie wollen mit ihrer Bildung und ihrem Wissenaktiv bleiben. Das zu ermöglichen, ist eine wichtige Zu-kunftsaufgabe. Von der geistigen Fitness profitierennicht nur die Senioren, sondern alle.

Die FDP-Fraktion setzt sich seit langem für ein Endestarrer Altersgrenzen ein. Deshalb unterstütze ich IhreForderung, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, Potenziale des Alters und des Alterns zu stär-ken. Die Teilhabe älterer Generationen – sei es durchBildung oder durch bürgerschaftliches Engagement – istauch mein Ziel. Im ersten Teil Ihres Antrags schildernSie treffend die Situation. Sie haben recht: Diesen demo-grafischen Prozess können wir nur gemeinsam mit denÄlteren gestalten. Nie waren Senioren so selbstständigund führten individuell ihr Leben, wie sie es wollten.

Ältere Menschen gestalten und prägen die Gesell-schaft im Beruf wie in ihrer privaten Zeit. Wir wärendumm, wenn wir auf diese wertvollen Potenziale ver-zichten würden. Bildung ist für Menschen ein Lebenlang die Voraussetzung, um in der sich wandelnden Ar-beitswelt Schritt zu halten. Wer fordert, muss fördern.Wer sich mit 50, 60 oder 70 beruflich engagiert, verdientAnerkennung und Dank und muss, wie auch alle jünge-ren Arbeitnehmer, motiviert und weitergebildet werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lernen für das Alter umfasst die gesamte Lebensspanne.Dies alles sind Forderungen, die wir, die FDP-Fraktion,mittragen.

Allerdings ist der Forderungskatalog im SPD-Antragüberzogen. Vieles darin ist ohnehin überholt oder nichtfinanzierbar, etwa der Ausbau der generationenübergrei-fenden Freiwilligendienste. Wir haben gerade den Bun-desfreiwilligendienst auf den Weg gebracht; er ist gene-rationenübergreifend. Zum ersten Mal werden geradeÄltere ermuntert, sich einzubringen. Ich wünsche mirzum Beispiel, dass ein Tischler in die Kita geht und dortJungen und Mädchen zeigt, was man alles machen kann.

(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])

Eine Rentnerin oder ein Rentner hat sogar die Möglich-keit, Geld dazuzuverdienen. Ich verweise auch auf denAusbau der Mehrgenerationenhäuser. Die Ministerin haterst im Dezember das Pilotprojekt neu ausgeschrieben.Sowohl etablierte Einrichtungen als auch ganz neue Pro-jekte wird der Bund auch künftig tragen.

Im Antrag heißt es weiter: Altersgrenzen sollen beimbürgerschaftlichen Engagement überprüft und abgebautwerden. – Daran arbeiten wir doch ebenfalls. Dies ist mirein wichtiges Anliegen.

Außerdem fordern Sie die Bundesregierung auf, Al-tersdiskriminierung aktiv zu bekämpfen. Was glaubenSie, was die Antidiskriminierungsstelle des Bundes tut?

Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle berichteteim Familienausschuss auf meine Frage hin, dass es sichin zwei von drei Beschwerdefällen um Altersdiskrimi-nierung handele, zum Beispiel dass Ältere von Weiter-bildungsmaßnahmen ausgeschlossen sind. Es gibt kei-nen Grund dafür, dass in Betrieben das Recht aufWeiterbildung an bestimmte Altersgrenzen gekoppeltsein soll. Die Antidiskriminierungsstelle legt hier bereitseinen klaren Schwerpunkt.

(Caren Marks [SPD]: Den die FDP nie wollte!)

Ansonsten enthält der Antrag zusätzliche, kostenin-tensive Programme und Projekte, so wie wir es von derSPD gewohnt sind – ein Wohlfühlprogramm aus Steuer-mitteln finanziert.

(Caren Marks [SPD]: Sie machen lieber Wohl-fühlprogramme für Mövenpick!)

In einer Zeit, in der wir Politiker alles tun sollten, um un-seren Kindern und Großkindern keine gigantischenSchuldenberge zu hinterlassen – auf denen können sienicht spielen –, tun Sie so, als könnten wir Wohltaten mitdem Füllhorn ausschütten.

Ich möchte daran erinnern, dass es schon eine ganzeReihe von guten Maßnahmen gibt. Lebenslanges Lernenwird bereits in vielen Projekten umgesetzt. Ob bei denLandfrauen, dem Kolpingwerk oder den Kommunen –das Weiterbildungsangebot für Senioren ist mittlerweileeindrucksvoll. Viele Angebote sind sogar kostenlos. Obes ein Computerkurs ist, ein Fremdsprachenkurs oder einSeniorenstudiengang an der Universität – alles das stärktdie Kompetenz für ein eigen- und mitverantwortlichesLeben.

(Beifall bei der FDP)

Der Sechste Altenbericht enthält wichtige Erkennt-nisse und Handlungsempfehlungen für die Politik. Dieseumzusetzen, muss unser vorrangiges Ziel sein. Die Bun-desregierung hat mit der Initiative „Aktiv im Alter“ be-reits klar Impulse zur Stärkung älterer Menschen gesetzt.Es werden Kommunen dabei unterstützt, Strukturen auf-oder auszubauen, die eine stärkere Partizipation ältererMenschen ermöglichen. In der Initiative „Wirtschafts-faktor Alter“ unter Federführung des Wirtschaftsminis-teriums werden Senioren-, Wirtschafts- und Verbrau-cherpolitik miteinander verbunden mit dem Ziel, die

Page 119: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12049

Nicole Bracht-Bendt

(A) (C)

(D)(B)

Lebensqualität von älteren Menschen zu erhöhen undgleichzeitig das Wirtschaftswachstum zu stärken.

Die FDP-Fraktion unterstützt das wichtige Ziel, Poten-ziale des Alters zu stärken. Die Koalition hat bereitswichtige, wegweisende Entscheidungen dazu gefällt.

(Caren Marks [SPD]: Oh!)

Wir wollen eine Seniorenpolitik, die ältere Menschen alsselbstbewusste Personen wahrnimmt und mit allenRechten und Pflichten einbindet. Dazu braucht es aberkeine utopischen Programme, wie von der SPD ge-wünscht, die nicht finanziert werden können und an derRealität vorbeigehen. Deshalb werden wir den Antragnatürlich ablehnen.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Gespräche und Debatten über den demografischenWandel, über seine Herausforderungen und seine Folgensind mittlerweile ein Dauerbrenner. Jeder weiß, dass die-ses Feuer seit einiger Zeit munter vor sich hinlodert.

Der Anteil der Älteren in unserer Bevölkerung steigt.Das ist erfreulich; denn auch unsere Lebenserwartungsteigt. Dazu tragen der medizinische Fortschritt genausowie die besseren Lebensbedingungen bei. Das bedeutetfür uns aber auch ganz klar: Wir haben einen politischenHandlungsauftrag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit IhremAntrag machen Sie deutlich, dass Ihnen der Handlungs-bedarf durchaus bewusst ist. Ich möchte hier den Blickauf die Potenziale Älterer noch etwas weiten. Das Enga-gement der Älteren schiebt sich immer weiter über denBeginn des Ruhestandes hinaus. Eine Grenze, sich zuengagieren, ist oft dann erreicht, wenn es die eigene Ge-sundheit nicht mehr zulässt. Hier sehen wir deutlich,dass außer Engagement und Bildung auch andere Berei-che gefragt sind, damit sich die Potenziale Älterer entfal-ten können.

Altenpolitik ist ein Querschnittsthema. Es wird alsohöchste Zeit, dass wir es in den Debatten verankern – imSinne einer bewussten Generationenpolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Tun wir dies nicht, wird die Herausforderung des demo-grafischen Wandels schnell zur Überforderung für alle,und aus dem Dauerbrenner wird dann ganz schnell einFlächenbrand. Zukünftig müssen alle Politikfelder aufihre generationengerechte Ausgestaltung und die dortvorherrschenden Altersbilder und diskriminierenden Re-gelungen überprüft werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir sind ge-fragt in unserer persönlichen Einstellung gegenüber demAlter, in unserer Rolle als Abgeordnete, wie wir uns öf-fentlich äußern. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sindgenauso gefragt wie Familienangehörige.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gilt, ein realistisches Bild des Alters zu entwerfen.

Es gibt nicht die Alten; da haben Sie recht, FrauCrone. Das dritte und vierte Lebensalter sind von so gro-ßer Unterschiedlichkeit geprägt wie kaum ein anderesLebensalter zuvor. Deshalb muss auch unser Altersbildfacettenreich sein.

Es gibt eben nicht nur die fitten Älteren, es gibt auchdiejenigen, die einen weitreichenden Unterstützungs-und Pflegebedarf haben. Auch diese müssen wir imBlick haben. Das bedeutet aber auch, dass wir umfassen-dere Strategien brauchen, um die Potenziale und Res-sourcen dieses Personenkreises zu fördern.

Die Nationale Engagementstrategie der Bundesregie-rung sollte ein Grundstein für die Förderung des bürger-schaftlichen Engagements werden. Die diesbezüglichenErwartungen waren immens groß, und eine Strategieverspricht ja auch Großes. Doch was dabei herausge-kommen ist, spottet wirklich jeder Beschreibung. Vonstrategischem Handeln auf der Bundesebene ist nichts zuerkennen. Stattdessen folgte eine Inventurliste von Maß-nahmen und Modellprojekten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Kein Wort wird darauf verwendet, wie es gelingensoll, die wichtige Frage der Förderung zwischen Bund,Land und Kommune zu diskutieren und zu klären, undkein Wort darüber, wie man sich die eigene Verantwor-tung zur Infrastruktursicherung vorstellt. Als Trostpflas-ter stellt man dagegen einen neuen Freiwilligendienstvor. Das kann doch nicht allen Ernstes Ihre einzige Ant-wort sein! Sie wissen doch sicherlich, dass dabei Träger-prinzipien verletzt werden. Es werden Doppelstrukturenaufgebaut, und das Wissen Älterer über Engagementför-derung wird missachtet.

Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage derLinken geantwortet, dass bürgerschaftliches Engage-ment ein „Motor für die Entwicklung sozial innovativerLösungen“ sei und die „Entwicklungsfähigkeit unsererGesellschaft“ stärke. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, dieser Motor benötigt auch Energie. Die NationaleEngagementstrategie taugt dafür nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Crone [SPD])

Diese Strategie lässt den Motor stottern. Ich befürchte,am Ende würgt sie den Motor sogar noch ab. Dadurchverschwendet man die Potenziale Älterer, anstatt sie imSinne aller Generationen zu fördern und zu nutzen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Page 120: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Erwin Rüddel (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Noch nie sind so viele Menschen so alt ge-worden wie heute,

(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

und noch nie waren sie dabei so gesund und so gut aus-gebildet. Unsere Volkswirtschaft und unsere Gesell-schaft insgesamt brauchen ihr Wissen und ihre Erfah-rung. Ich habe gerade festgestellt, dass darüber sehrgroßer Konsens in diesem Hause herrscht.

Die ältere Generation hat wachsende Bedeutung fürdas Wirtschafts- und Arbeitsleben, den Bildungsbereich,die Integrationspolitik und den gesellschaftlichen Zu-sammenhalt in unserem Land. Es geht um soziale Teil-habe, um den Austausch von Erfahrungen und um einbreites bürgerschaftliches Engagement in einer lebendi-gen Zivilgesellschaft. Damit die älter werdende Gesell-schaft zu einer Chance für jeden Einzelnen und für unserLand wird, hat die Bundesregierung eine Fülle von Ini-tiativen ins Leben gerufen, liebe Frau Scharfenberg. Icherwähne beispielhaft die Mehrgenerationenhäuser, einegroße Erfolgsgeschichte, die wir deshalb auch fort-schreiben. Ich erwähne die Freiwilligendienste aller Ge-nerationen. Sie sind ausdrücklich für jedes Alter offenund fördern das Miteinander in unserer Gesellschaft.Beispielhaft sind auch die bundesweit 46 Leuchtturm-projekte sowie die ebenfalls geförderten kommunalenOnlinemarktplätze, über die Interessenten ein passendesAngebot in ihrer Region finden können.

Ich erwähne ferner die Initiative der Bundesregierung„Alter schafft Neues“, die insbesondere der älteren Ge-neration vielfältige Wege aufzeigt, sich nach eigenerWahl für das Gemeinwohl zu engagieren. Dazu gehörtauch das Programm „Aktiv im Alter“, das vor allem aufdie Kommunen zielt. Hier geht es darum, Nachbar-schaftshilfen aufzubauen und altersgerechtes Wohnen zufördern. Auf diese Weise können die älteren Mitbürge-rinnen und Mitbürger unmittelbar ihr örtliches Gemein-wesen mitgestalten.

Schließlich soll auch die Initiative „WirtschaftsfaktorAlter“ nicht unerwähnt bleiben, die Senioren-, Wirt-schafts- und Verbraucherpolitik miteinander verbindet.Denn adäquate Dienstleistungen und Produkte steigerndie Lebensqualität älterer Menschen und stärken ihreRolle als Verbraucher.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit Blick auf diese kurze Aufzählung wird es Sienicht erstaunen, wenn ich feststelle, dass wir die Politikfür die ältere Generation bei der zuständigen Bundesmi-nisterin und natürlich auch beim zuständigen Staats-sekretär in den besten Händen wissen.

(Caren Marks [SPD]: Wie anspruchslos!)

Ich füge hinzu: Das gilt auch für die Bundesbildungs-ministerin. Ich denke dabei an das Programm „Lernenim Lebenslauf“, welches an das anschließt, was im Rah-men der Qualifizierungsoffensive der Bundesregierungumgesetzt wird.

Umso mehr erstaunt der Antrag der SPD. Sie rennenhier seitenlang offene Türen ein und beschwören wort-reich Dinge, die in unserem Land schon längst gelebteWirklichkeit sind. Sie legen ein weiteres Mal Zeugnisvon Ihrem unerschütterlichen Staatsglauben ab.

Wir werden noch ausführlich Gelegenheit haben, imAusschuss über Ihren Antrag zu sprechen. Aber schonjetzt möchte ich sagen: Es geht um Menschen, die in derRegel ein jahrzehntelanges Berufsleben hinter sich ha-ben und durchaus in der Lage sind, selbstverantwortlichüber ihre Aktivitäten und Interessen zu entscheiden. Wirsollten ihnen Angebote machen und ihnen zusätzlicheAnreize für ihr freiwilliges Engagement und für ihre in-dividuelle Weiterbildung geben. Aber wir sollten jedenAnschein von Bevormundung und von staatlich gelenk-ter Zwangsbeglückung der älteren Generation vermei-den.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben es schließlich mit mündigen Frauen undMännern zu tun, die über eine gehörige Portion Lebens-erfahrung verfügen und eine beachtliche Lebensleistungvorzuweisen haben. Ich glaube nicht, dass sie noch imAlter auf Schritt und Tritt vom Staat gesagt bekommenmöchten, was sie zu tun haben. Unserem Leitbild ent-spricht eine ältere Generation, die selbstbewusst und ei-genverantwortlich über ihre Aktivitäten und ihr freiwilli-ges Engagement entscheidet. Diesem Leitbild fühlen wiruns verpflichtet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Franz Müntefering für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Franz Müntefering (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als

Immanuel Kant 50 Jahre alt wurde, wurde er mit der Be-merkung laudatiert „Verehrungswürdiger Greis“. Es istlange her; das würde heute keiner mehr sagen. Heutegibt es in Deutschland 4 Millionen Menschen, die über80 Jahre alt sind. Im Jahr 2050 werden es 10 Millionensein. Heute sind 7 000 Menschen in Deutschland über100 Jahre alt. Im Jahr 2050 werden es etwa 75 000 sein.Das heißt, es verändert sich ganz viel, und es ist gut,wenn man darüber spricht und sich bewusst macht, wassich da verändert.

Alt ist man nicht mehr mit 50. Ich sage: auch nichtmit 70, vielleicht mit 80 oder 85 Jahren. Wir sprechenüber Ältere. Das sind die Menschen zwischen 60 und70 Jahren. Dann kommen die Alten. Die Älteren sindjünger als die Alten. Das zeigt, dass wir die richtigen

Page 121: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12051

Franz Müntefering

(A) (C)

(D)(B)

Worte an dieser Stelle noch gar nicht gefunden haben,und macht deutlich, wie schnell sich diesbezüglich etwasverändert hat.

Ich komme zum Ansehen der alten Menschen. Wennin einer Gesellschaft nur ganz wenige Menschen alt wa-ren, dann galten sie als Weise. Wenn aber ganz vieleMenschen alt sind, dann ist sozusagen die Patina dünn,

(Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und man erkennt schnell, dass sich etwas verändert hat.Deshalb müssen wir lernen, mit dem Alter richtig umzu-gehen.

Wer 70 ist, hat deshalb nicht recht. Er hat deshalb aberauch nicht unrecht. Wer 30 ist, hat nicht recht, nur weiler 30 ist. Aber er hat auch nicht automatisch unrecht.Vielleicht müssen wir uns einfach daran gewöhnen, dasSenioritätsprinzip ein bisschen infrage zu stellen und unsklarzumachen, dass die Antwort auf die Frage, wie alt je-mand ist, relativ wenig darüber aussagt, ob er recht hatoder nicht recht hat. Das gilt übrigens auch für sein Kön-nen; denn Ältere können eine ganze Menge.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiedes Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Wir müssen auch über die Potenziale sprechen. Dererste Punkt, der einem an dieser Stelle einfällt, ist dasVersprechen, eine Politik für alte Menschen zu machen.Ich sage dazu: Wir müssen auch an der Stelle fördernund fordern. Denn es gibt in der Demokratie keinenSchaukelstuhl. Wenn man älter wird und der Kopf nochin Ordnung ist, dann hat man eine Mitverantwortung da-für, dass die Gesellschaft funktioniert. Das Schlimmste,was Deutschland passieren könnte, wäre, dass die großeGruppe der Menschen, die älter werden, nur von Mal-lorca aus Karten schreibt und sagt: „Schickt uns nochzwei Jahrzehnte die Rente! Das werdet ihr noch hinbe-kommen. Dann schaut mal zu, wie ihr klarkommt!“ Wirmüssen wissen, dass wir aufeinander angewiesen sind,dass wir diese Probleme miteinander klären müssen.

Das zweite Potenzial, um das es geht, liegt in der Prä-vention. Altwerden fängt jung an. Was wir heute bei denKindern nicht hinbekommen – gesunde Ernährung, guteBildung und Selbstbewusstsein –, das kann sich auchnicht auszahlen, wenn sie in ein höheres Alter kommen.Menschen verändern sich nicht so sehr. Wenn wir sagen„Engagiert euch!“, dann ist die Frage, ob die Kinder daslernen, solange sie klein und jung sind, damit sie weiter-machen, wenn sie ins Alter hereinwachsen, wenn sie dasAlter von 65, 67 oder 70 erreicht haben. Prävention istalso etwas ganz Wichtiges.

Es gibt so einen schönen Spruch von Voltaire – wir inDeutschland sollten hier zuhören –:

Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habeich beschlossen, glücklich zu sein.

Ich finde das sehr geschickt: Wenn man sich darauf ein-stellt, dass man die Chance hat, gesund alt zu werden,dann kann man ein gutes Leben haben und etwas leisten.

Es ist auch eine Frage der Einstellung, wie man sich die-sem Alter nähert und was man sich vornimmt, dann zutun.

Nun will ich aber nicht nur über die schönen Seitenund die philosophischen Aspekte sprechen. Ich willschon ernst nehmen, was eben von der Linken gesagtworden ist: Natürlich geht es hier auch um materielleSicherheit im Alter. Ich glaube, dass wir deshalb nichtmehr allzu lange Altenberichte diskutieren werden, son-dern Gesellschaftsberichte diskutieren müssen; alle Ge-nerationen müssen berücksichtigt werden.

Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten, in denenuns richtig bewusst geworden ist, dass sich da etwas ver-ändert, lange darüber gesprochen, dass wir uns mit demThema der Älteren beschäftigen müssen, dass wir hierneu denken und organisieren müssen. Jetzt müssen wirdarangehen, sämtliche Konsequenzen der demografi-schen Entwicklung zu betrachten. Alle Generationensind aufeinander angewiesen. Mich erinnert das ein biss-chen an die Debatte über Jungen und Mädchen, die wirvor einer Stunde geführt haben: Dort ist von allen gesagtworden, dass es nicht um einen Gegensatz geht. Auchbei den Generationen geht es nicht um Gegensätze. Alle,die über Generationenkonflikte und -kriege sprechen,machen etwas ganz Gefährliches und Unnötiges.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP und des Abg. Dr. Ilja Sei-fert [DIE LINKE])

Man muss deshalb darauf achten, dass wir uns bewusstdarüber bleiben, dass wir alle Generationen brauchen,dass diejenigen, die heute älter sind, nicht nur für sichverantwortlich sind – das haben wir in den 80er-Jahrenvon Hans Jonas gelernt –, sondern auch für die Jüngerenund diejenigen, die danach kommen werden.

Ich glaube, dass wir in Deutschland – auch wir imDeutschen Bundestag – bald die Grundsatzdebatte ange-hen und Handlungskonzepte für ein Land entwickelnmüssen, das eine große demografische Veränderung er-lebt, die erhebliche Konsequenzen in allen Lebensberei-chen haben wird. Da sind wir gerne dabei.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Norbert Geis (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Niemand zieht in Zweifel, dass sich unsere Ge-sellschaft – die Gesellschaften der Industrienationen ins-gesamt – in den letzten zwei Generationen entscheidendverändert hat: Sie wird nicht mehr so sehr von Jugendli-

Page 122: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Norbert Geis

(A) (C)

(D)(B)

chen und Kindern geprägt, sondern mehr und mehr vonErwachsenen, vor allen Dingen auch von rüstigen Pen-sionisten und Rentnern. Dieser Wandel der Gesellschaftfordert uns natürlich heraus. Im Antrag der SPD werdendie Herausforderungen benannt. Aber auch schon imSechsten Altenbericht werden die Herausforderungengenau analysiert und hervorragend dargestellt. Die Bun-desregierung hat entsprechend gehandelt. Eine Maß-nahme aufgrund des demografischen Wandels ist zumBeispiel die Rente mit 67.

Trifft man auf einen rüstigen Alten, einen rüstigenRentner oder Pensionisten, dann begegnet einem oft eingutaussehender, strahlender Mensch, der sich darüberfreut, dass er den Druck des Berufslebens hinter sich hatund jetzt endlich zu dem kommt, was er schon immermachen wollte. Aber es ist genauso richtig, dass die Ge-sellschaft auf das Potenzial, auf das Können dieser rüsti-gen älteren Menschen nicht verzichten kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deshalb glaube ich, dass alle Überlegungen richtig sind,die einen Anreiz dafür bieten, dass sich die älteren Men-schen dafür begeistern lassen, sich im Gemeinwesen zuorganisieren und einzubringen.

Damit die älteren Menschen einen entsprechendenBeitrag leisten können, kommt es darauf an, dass sie sichweiterbilden. Überhaupt meine ich, dass das lebenslangeLernen, die Bereitschaft, die Augen aufzumachen und zusehen, was auf einen zukommt, und sich danach auszu-richten, ein Grundmerkmal gerade im Alter sein sollte.So wird die Erstarrung verhindert, die den älteren Men-schen oft genug – manchmal sehr zu Unrecht – vorge-worfen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist nur die eine Seite des Alters, in der die Men-schen noch rüstig sind, in der sie Heiterkeit ausstrahlenund bereit sind, in ihrem Beruf weiterzuarbeiten und sichim Gemeinwesen zu engagieren.

Aber es gibt auch die andere Seite des Alters. Es gibtviele einsame alte Menschen. Es gibt viele Menschen,die ohne Familie sind, die keinen Anschluss haben, diekeine Freunde haben, die allein in ihrer Wohnung imvierten, achten, zehnten Stock eines Hochhauses wohnenund sich ausgegrenzt fühlen. Dies ist eines der großenProbleme der Gesellschaften in einer Industrienation. Jo-hannes Paul II. hat folgerichtig in seinem SchreibenNovo Millennio Ineunte, das er zur Jahrtausendwendeherausgegeben hat, auf dieses Problem hingewiesen undes als eines der drängenden Probleme unserer Zeit gese-hen.

Es ist notwendig, dass es karitative Organisationengibt, die sich um diese Menschen kümmern, dass sichdie Kirchengemeinden ihre Altentreffs erhalten, die sehrhilfreich sein können. Das Mehrgenerationenhaus spielthier eine große Rolle. Es ist aber auch der Ideenreichtumeiner guten Kommunalpolitik gefragt, die bereit ist, aufdiese Menschen zuzugehen, sie aus ihrem Schnecken-

haus herauszuholen und sie für eine Mitarbeit im Ge-meinwesen zu begeistern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dannkommt eine weitere Phase des Alters, in der die Men-schen gebrechlich werden, in der sie sich selbst nichtmehr vorstehen können, in der sie hilflos wie ein Kindsind. Dann kommt es zur Krise – nicht nur für diese altenMenschen, sondern auch für ihre Umgebung. Sie sindhilflos wie ein Kind. Bei Kindern weckt diese Hilflosig-keit die Liebe der Mutter und bringt die sorgende Umar-mung der Umgebung hervor. Bei den Alten wird oft miteiner spontanen Ablehnung reagiert, die aus einer natür-lichen Empfindung heraus kommt, weil das Alter in die-ser Phase des Lebens keine Zukunft mehr verspricht,weil das Alter in dieser Phase des Lebens Gebrechlich-keit zeigt, auch auf das eigene Ende hinweist. Hierkommt es darauf an, dass solche Menschen von einer gu-ten Familie umgeben sind, aber auch darauf, dass dieJungen und die rüstigen Alten bereit sind, diesen Men-schen gegenüber Verantwortung zu übernehmen.

Ich habe einen weiteren Gedanken. Es gibt auch diealten Menschen, deren Lebensbogen eine große Höheund Weite aufzeigt. Wir erinnern uns an unsere jüngsteVergangenheit, in der alte Menschen, alte Männer bereitwaren, Verantwortung für den ganzen Staat zu überneh-men. Wir kennen die großen Staatsmänner gerade ausunserer jüngsten Vergangenheit, die aus einer schier un-glaublichen physischen und psychischen Reserve heraustäglich gehandelt und entschieden haben. Ich habe hierdas Bild des jetzt amtierenden Papstes vor meinen Au-gen.

Es kommt auch in der Wissenschaft vor. Denken Siean Einstein. Oder denken Sie an die Literatur, anBernard Shaw oder an Ernst Jünger. Oder denken Sie anGoethe, der in seinem Alter wunderbar abgeklärte Werkegeschrieben hat. Oder denken Sie an einen Mann wieTizian, der mit 100 Jahren von der Pest dahingerafft wer-den musste – so möchte ich beinahe sagen – und bis zumletzten Augenblick gemalt hat. Diesen Bogen gibt esauch.

Es gibt aus den 60er-Jahren einen Ausspruch vonGuardini. Er heißt:

Es gehört zu den fragwürdigsten Erscheinungen un-serer Zeit, dass sie wertvolles Leben einfachhin mitJungsein gleichsetzt.

Ich meine, dass diese Mahnung bzw. diese Erkenntnisauch heute noch Gültigkeit haben.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/2145 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

Page 123: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12053

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-rung der Mediation und anderer Verfahrender außergerichtlichen Konfliktbeilegung

– Drucksachen 17/5335, 17/5496 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-terin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.

(Beifall der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! In einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 hat dasBundesverfassungsgericht festgestellt – ich zitiere –:

Eine zunächst streitige Problemlage durch eine ein-verständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in ei-nem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig ge-genüber einer richterlichen Streitentscheidung.

An diesen Grundsatz knüpfen wir mit dem eingebrach-ten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Mediationund anderer Verfahren der außergerichtlichen Konflikt-beilegung an. Die Mediation als eine Methode, in geord-neter und konstruktiver Weise mit Konflikten umzuge-hen, ist besonders geeignet, die Verantwortung derBürgerinnen und Bürger für sich selbst und andere zustärken. Deshalb wollen wir die Bürger ermuntern, ihreStreitigkeiten vornehmlich eigenverantwortlich zu lösen.

Bislang ist die Mediation gesetzlich weitgehend un-geregelt. Nunmehr verpflichtet uns die EU-Mediations-richtlinie zum Handeln. Anders als bei den meisten Ge-setzesvorlagen, die im Deutschen Bundestag behandeltwerden, betreten wir rechtliches Neuland. Das bedeutet:Wir konnten nicht auf vorhandenen Strukturen aufbauen,sondern mussten das Mediationsgesetz von Grund aufneu entwickeln. Deshalb haben wir im Rahmen einerExpertengruppe namhafte Vertreter aus Wissenschaftund Praxis in die Vorarbeiten einbezogen. Eine wichtigeHilfestellung lieferte uns das vom Max-Planck-Institutfür ausländisches und internationales Privatrecht imAuftrag meines Hauses erstellte rechtsvergleichendeGutachten. Hierdurch konnten wir wertvolle Informatio-nen über die Erfahrungen anderer Länder mit der Media-tion gewinnen und bei der Erarbeitung des Entwurfs be-rücksichtigen.

Im Bereich der Mediation treffen sehr unterschiedli-che Auffassungen aufeinander, die nicht ganz leicht inEinklang zu bringen sind. Bei der Schaffung des Regie-rungsentwurfs haben wir die verschiedenen Interessenabgewogen und darauf hingewirkt, diese in einen ange-

messenen Ausgleich zu bringen. Dabei haben wir unsvon dem Ziel leiten lassen, möglichst wenig in die Ent-faltung der Mediation als eines noch in der Entwicklungbefindlichen Konfliktlösungsverfahrens einzugreifen.Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf ein breites undüberwiegend positives Echo bei den Verbänden und auchin der Gesellschaft gefunden hat. Auch die Länder be-grüßen die mit dem Entwurf verfolgte Zielrichtung.Gleichwohl will ich nicht verhehlen, dass der vorgelegteEntwurf auch in der Kritik steht. Diese Kritik konzen-triert sich vornehmlich auf einige wenige, allerdingsauch bedeutsame Punkte.

Ansprechen möchte ich zunächst das Thema der ge-richtsinternen Mediation. Die von verschiedenen Seitenerhobenen Forderungen nach einer kompletten Abschaf-fung dieser Mediationsform teile ich nicht. Die gerichts-interne Mediation ist in den letzten Jahren eine festeGröße an deutschen Gerichten geworden. Erfolgsquotenvon bis zu 74 Prozent bei Konfliktbereinigung sprechenfür sich. Mit dem Mediationsgesetz stellen wir den Län-dern das notwendige Instrumentarium zur Verfügung,die gerichtsinterne Mediation fortzuführen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Allerdings wollen wir den richterlichen Mediatoren auchkeine weiter gehenden Befugnisse einräumen als ihrenaußergerichtlich tätigen Kollegen.

Bei der Prüfung und Umsetzung von Vorschlägen ausdem parlamentarischen Raum, die auf eine weitere För-derung gerade der außergerichtlichen Mediation abzie-len, werden wir gerne unterstützend tätig werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und der Abg. Ingrid Hönlinger[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Natürlich greifen wir das Anliegen gern auf, gerade dieaußergerichtliche Mediation so attraktiv zu machen, dasssie sich entfalten kann. Aber wir dürfen nicht aus denAugen verlieren, dass die finanziellen Rahmenbedingun-gen den Gestaltungsmöglichkeiten Grenzen setzen.

Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch hin-sichtlich der Frage, wie die Aus- und Fortbildung derMediatoren und damit der Zugang zur Mediatorentätig-keit geregelt werden soll. Hier haben wir die verschie-densten Modelle intensiv geprüft, wie zum Beispiel dieSchaffung von Zulassungsvoraussetzungen oder einerstaatliche Anerkennung.

Am Ende haben wir uns mit dem Entwurf gegen einedetaillierte gesetzliche Regelung entschieden. Damitwollen wir gewährleisten, dass der Mediation als einemnoch stark in der Entwicklung begriffenen Verfahren ge-nügend Entfaltungsspielraum verbleibt. Zugleich wol-len wir neuen bürokratischen Strukturen entgegenwir-ken, die wiederum mit Kosten verbunden wären.

Die Qualität der Mediation und die Transparenz aufdem Mediatorenmarkt sollen im Interesse der Verbrau-cherinnen und Verbraucher durch die Schaffung einesprivaten Zertifizierungssystems gefördert werden. Wir

Page 124: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

(A) (C)

(D)(B)

zählen dabei auf die Kraft der Selbstregulierung durchdie Berufsgruppen und Verbände.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Zivil-gesellschaft erfordert die Weiterentwicklung von moder-nen und effektiven Methoden autonomer Konfliktbeile-gung. Ich bin sicher, dass wir mit dem vorgelegtenGesetzentwurf diese Entwicklung befördern und damitauch einen nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung derStreitkultur in Deutschland leisten werden. Ich freuemich auf konstruktive Beratungen im zuständigen Aus-schuss.

Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sonja Steffen (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Mi-

nisterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Me-diationsrichtlinie der Europäischen Union verfolgt dasZiel, den Zugang von Einzelpersonen und sonstigenWirtschaftsteilnehmern zu modernen Methoden der al-ternativen Streitschlichtung zu verbessern. Wir EU-Mit-gliedstaaten haben bis Ende Mai dieses Jahres Zeit, dieseRichtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Der unsheute vorliegende Entwurf des BMJ sieht ein entspre-chendes Bundesgesetz vor. Ziel des Gesetzes ist es, dieMediation zu fördern und die außergerichtliche Kon-fliktbewältigung voranzubringen. Wir alle begrüßengrundsätzlich dieses Ziel.

Die entscheidenden Vorteile einer Streitbeilegungdurch Mediation gegenüber Prozess und Urteil sind fol-gende: Eine Mediation ist in der Regel kürzer und billi-ger als ein streitiges Verfahren. Außerdem entscheidendie Konfliktparteien selbst über das Ergebnis. Dies för-dert in aller Regel die Zufriedenheit der Beteiligten amAusgang des Verfahrens. Untersuchungen haben auchgezeigt, dass die durch eine Mediation entstandenen Lö-sungen länger halten.

Besonders Familienrechtler werden die Stärkung derMediation zur Streitbeilegung sehr begrüßen. Gerade inhochemotionalen Familienkonflikten bietet die Media-tion große Chancen. Sie macht nämlich vor allem dannSinn, wenn es nicht nur darum geht, einen Streit irgend-wie zu klären, sondern auch darum, dass die Beteiligtenhinterher noch miteinander auskommen müssen.

So weit, so gut.

In den bisherigen, wie ich finde, sehr konstruktivenGesprächen, die überfraktionell stattfanden, haben sichentscheidende Schwierigkeiten bei der Schaffung einerneuen gesetzlichen Regelung der Mediation gezeigt, dieim Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu klären seinwerden. Die Frau Ministerin hat auf einige Punkte be-reits hingewiesen. Ich teile diese Auffassung. Ich möchtean dieser Stelle auf drei besonders wichtige Punkte ein-gehen.

Beim Stichwort „Mediation“ dachten und denkenviele Menschen bis heute an einen Schreibfehler des Be-griffs „Meditation“.

(Heiterkeit und Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD])

Es geht hierbei jedoch nicht darum, bei Räucherstäbchenund Keksen Probleme zu diskutieren.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau,die Zeiten sind vorbei! – Gegenruf des Abg.Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Schade! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]:Ich denke, so löst die SPD ihre Probleme! –Gegenruf der Abg. Christine Lambrecht [SPD]:Da geht es schon handfester zu!)

Der Mediator soll nach dem Gesetzesvorhaben eine sehrentscheidende Aufgabe übernehmen: Er bringt dieStreitparteien an einen Tisch und hilft ihnen, selbst zu ei-ner Lösung zu kommen. Der Mediator muss auf die Inte-ressen der Kontrahenten eingehen, und er muss Men-schen einschätzen können. Schließlich soll er eineVereinbarung fixieren, und diese soll dann auch nochvollstreckbar sein, das heißt, die Wirkung einer gerichtli-chen Entscheidung haben.

Seit das Kabinett den Entwurf des Gesetzes auf denWeg gebracht hat, schießen Mediatorenkurse wie Pilzeaus dem Boden. Das bereitet uns Sorge; denn bislangschreibt das geplante Gesetz nicht vor, was ein Mediatorgelernt haben muss. Wenn Politik und GerichtsbarkeitKontrolle abgeben, der Mediator aber nicht über einefundierte theoretische Ausbildung und vor allem überkeine praktische Erfahrung im Umgang mit Menschenverfügt – was insbesondere bei der professionellen Kon-fliktbeilegung wichtig ist –, dann ist zu befürchten, dasssich am Ende der Stärkere durchsetzt und unbefriedi-gende Ergebnisse erzielt werden.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir halten daher eine psychosoziale und bzw. oder ei-nen juristischen Hintergrund und ausreichende berufli-che Erfahrung für unbedingt erforderlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des Abg. Jens Petermann[DIE LINKE])

Vor allem, wenn es um Streitigkeiten um Kinder geht, istbesonderes psychologisches Einfühlungsvermögen ge-fragt. Wir meinen daher, dass es verbindlicher gesetzli-cher Anforderungen an die Aus- und Fortbildung derMediatoren bedarf.

Ich möchte nun auf einen weiteren Punkt eingehen,den Sie, Frau Ministerin, bereits angesprochen haben.Nach dem vorliegenden Entwurf soll es unterschiedlicheFormen der Mediation geben: Sie kann unabhängig voneinem Gerichtsverfahren, im Verlauf des Prozesses oderauch mit einem Richter als Mediator ablaufen. Bei ei-nem Scheitern der Mediation darf derselbe Richter nichtmehr selbst in der Sache entscheiden, wenn es sich umeine gerichtliche Mediation handelt. Gerade die eigent-

Page 125: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12055

Sonja Steffen

(A) (C)

(D)(B)

lich nicht gewollte Stärkung der sogenannten gerichts-internen Mediation sehen wir kritisch. Wir haben Sorge,dass mit der richterlichen Mediation die eigentliche Auf-gabe der Justiz in den Hintergrund gedrängt wird. Statteinen Streit zu verkürzen, können Gerichtsverfahren sodurchaus auch in die Länge gezogen werden. Es ent-spricht auch nicht dem Bild des unabhängigen Richtersnach dem Grundgesetz, wenn er erst als Mediator auftrittund anschließend nicht in der Sache entscheiden darf.Diese Einschränkung ist jedoch notwendig, um eine Vor-eingenommenheit des urteilenden Richters zu vermei-den.

Die gewünschte Beschleunigung der Streitbeilegungund die gewünschte Kostenersparnis setzen daher vor-aus, dass der Schwerpunkt des Gesetzes auf der außerge-richtlichen Streitbeilegung liegt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Hierfür müssen im Gesetz zusätzliche Kostenanreize füreine außergerichtliche Streitschlichtung geschaffen wer-den.

Damit bin ich beim letzten Punkt angelangt. Eine Me-diationskostenhilfe für die Nichtwohlhabenden ist imGesetzentwurf bislang nicht vorgesehen. Sie haben be-reits darauf hingewiesen, dass das Probleme mit sichbringt, weil das finanziert werden muss. Ich halte dieMediationskostenhilfe insbesondere im Familienrechtfür unbedingt angebracht.

(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Ab welchem Einkommen denn?)

– Da gibt es die üblichen Regeln. – An dieser Stelle istder Gesetzentwurf aus unserer Sicht bislang nicht mutiggenug. Wenn das geplante Gesetz parallel dafür sorgt,dass die Mediation im Gericht und zudem auch nochkostenlos angeboten wird, werden die Parteien verständ-licherweise sagen: Zur Not machen wir die Mediationeben im Gericht. – Dies würde nicht zu der gewünschtenEntlastung der Gerichte führen. Daher müssen auch dieLänder ein Interesse daran haben, eine Kostenhilfe fürdie außergerichtliche Mediation bereitzustellen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jens Pe-termann [DIE LINKE] – Otto Fricke [FDP]:Da können die rot-grünen Länder ja mal vor-gehen!)

Der Gesetzentwurf ist ein guter Ansatz und zeigt dieBedeutung, die Mediation in unserer Gesellschaft zu-künftig haben soll. Klare gesetzliche Regelungen erhö-hen die Transparenz und werden den Zugang zur Media-tion erleichtern. Aber dazu bedarf der vorliegendeEntwurf der Überarbeitung; denn Sie haben es richtiggesagt: Wir betreten gesetzliches Neuland. – Ich hoffedaher, dass wir konstruktiv zusammenarbeiten und zu ei-nem guten Ergebnis kommen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Ver-

ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Mediation ist garnicht ein so neues Verfahren. Bereits im 17. Jahrhunderthat Alvise Contarini im Westfälischen Frieden 1648 alsMediator die Abschlussverhandlungen mitgeführt. Erwar von allen Seiten anerkannt und mit hohem Vertrauenausgestattet. So gesehen hat es einige Zeit gedauert, bisuns der Gesetzesentwurf des BMJ, des Justizministeri-ums, heute vorgelegt wurde. Aber das liegt nicht an einerzeitlichen Verzögerung durch das Justizministerium,ganz im Gegenteil.

(Heiterkeit des Abg. Otto Fricke [FDP])

Es hat vielmehr europarechtliche Gründe, dass es jetztzu einem Mediationsgesetz gekommen ist. Bereits 1999hatte der Rat von Tampere beschlossen, dass die Mit-gliedstaaten außergerichtliche Streitbeilegungsmecha-nismen einführen sollen. 2002 ist mit dem Grünbuch zuraußergerichtlichen Streitbeilegung im Grunde dernächste Schritt gegangen worden, bis dann die Richtliniezur Mediation, die wir heute umsetzen, von der EU er-lassen worden ist. Es gibt also einen europarechtlichenHintergrund; die entsprechende Richtlinie setzen wirjetzt in deutsches Gesetz um.

Generell soll der Gesetzentwurf die Mediation stär-ken, das außergerichtliche Streitverfahren der Mediationbefördern, und speziell soll die Richtlinie umgesetztwerden. Kern der Richtlinie sind drei Punkte: Vollstreck-barkeit, Verjährung und Vertraulichkeit. Bezüglich derVollstreckbarkeit geht es darum, dass die Parteien die amAbschluss getroffene Vereinbarung für vollstreckbar er-klären lassen können oder sollen. Bezüglich der Verjäh-rung geht es darum, dass die Parteien, die eine Mediationeingehen, nicht im Nachhinein schlechtergestellt wer-den, falls die Mediation scheitert und für sie dann gege-benenfalls Fristen abgelaufen sind. Bezüglich des Ver-trauensschutzes geht es darum, dass die Dinge, die ineinem Mediationsverfahren vor dem Mediator diskutiertwerden – dies sind teilweise sehr vertrauliche, sehr in-time Sachverhalte –, dann nicht durch den Mediator oderan der Mediation teilnehmende Dritte in die Öffentlich-keit gelangen.

Zu Recht hat die Justizministerin weitere Aspekte imGesetzentwurf ergänzt, nämlich die Ausdehnung auf in-nerstaatliche Sachverhalte. Das ist richtig. Ich glaube, eswäre zu kurz gegriffen, wenn man gesagt hätte: Wir be-rücksichtigen nur grenzüberschreitende Sachverhalte. Eswar ein richtiger Entschluss, zu sagen: Wir dehnen diesauf deutsche Sachverhalte aus und erstrecken das Media-tionsgesetz auf alle Bereiche.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ebenso ist es richtig, dass wir bestimmte Definitionenschaffen, zum Beispiel des Mediators und des Media-

Page 126: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Patrick Sensburg

(A) (C)

(D)(B)

tionsverfahrens, und auch gewisse Grundsätze festlegen,beispielsweise die Verpflichtungen, die ein Mediatoreingehen muss. Das Gesetz leistet also zum einen eineUmsetzung der Richtlinie, zum anderen – zu Recht –eine Ausdehnung auf bestimmte weitere Aspekte. Vondaher bedanke ich mich ganz herzlich an dieser Stellebei der Frau Ministerin und bei Staatssekretär Dr. Stadlerfür die konstruktiven Gespräche in den letzten Wochen.

Der schlanke Gesetzgebungsvorschlag wirft aber zu-gleich verschiedene Fragen auf. An manchen Stellenwirft er sogar mehr Fragen auf, als er Klärungen schafft.Die Frage, die zuerst aufgeworfen wird, betrifft den An-wendungsbereich. Für welchen Anwendungsbereich giltdieses Gesetz? Welche Arten der Mediation werden er-fasst? Sollen beispielsweise auch Mediationen auf demSchulhof, wenn ein 18-jähriger Oberstufenschüler zwi-schen 15- und 16-jährigen Schülern mediiert, erfasstwerden? Soll beispielsweise auch die Mediation in einersechsköpfigen Familie, wenn der ältere Bruder für eineSchwester als Mediator tätig ist, erfasst werden? Das istunklar. Von einem Gesetz kann man, glaube ich, schonerwarten, dass zumindest sein Anwendungsbereich klardefiniert ist; diese Definition muss mindestens in der Be-gründung erfolgen. Sonst wird das Gesetz sicherlichnicht den Erfolg haben, den wir ihm wünschen.

Der zweite Aspekt betrifft die Mediationsarten. DieKollegin Steffen hat es schon angesprochen: Ganz wich-tig ist ein richtig austariertes Verhältnis zwischen dergerichtlichen Mediation und der außergerichtlichen Me-diation. Hier muss der Schwerpunkt auf der außerge-richtlichen Mediation liegen; denn das ist das, was wirim Kern wollen. Wir wollen nicht, dass Streitigkeitenvor ein Gericht gebracht werden, sondern wir wollen,dass möglichst viele Streitigkeiten bereits im Vorfeld ge-klärt werden. Es entlastet auch die Staats- und Länder-kassen, wenn die Gerichte gar nicht erst bemüht werden,und führt bei den Parteien zu viel größerem Vertrauen.Die Mediation schafft im besten Fall eine Win-win-Situation.

In den nächsten Wochen muss es uns gelingen, die au-ßergerichtliche Mediation zu stärken, ohne auf die ausmeiner Sicht guten Ansätze der Gerichtsmediation, dieinsbesondere aus den Bundesländern gekommen sind, zuverzichten. Es muss aber, wie gesagt, eine Stärkung deraußergerichtlichen Mediation geben. Dies sieht der Ge-setzgebungsentwurf derzeit nicht vor. Wenn man ihnliest, stellt man fest: Er stärkt eher die in Bezug auf dieKosten nicht so günstige Gerichtsmediation.

Hier spielt übrigens § 2 Abs. 4 Mediationsgesetz einegroße Rolle. Er schließt nämlich die anwaltliche Bera-tung im Rahmen der Mediation aus, wenn eine Parteidem widerspricht. Hier müssen wir nachbessern. Sonstbekommen wir an dieser Stelle ein Problem mit der an-waltlichen Beratung der Parteien in der Mediation.

Der dritte ganz wesentliche Punkt – die Kollegin Stef-fen hat auch ihn schon angesprochen – ist die Aus- undFortbildung. Will der Gesetzgebungsentwurf Erfolg ha-ben, will er die Mediation wirklich voranbringen, dannmuss die Frage der Ausbildung der Mediatoren geklärtsein. Es kann nicht sein, dass sich weiterhin jeder „Medi-

ator“ nennen und ein entsprechendes Schild an seine Türhängen darf und wir glauben, dadurch würden wir dieMediation befördern. Denken Sie nur an die Recht-schutzversicherer, die sich im Bereich der Mediationgerne engagieren möchten. Sie brauchen aber auch dieSicherheit, dass der Mediator, der einen Fall mediiert,gut ausgebildet ist.

(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Und dass er haftet!)

Dies dürfen wir, glaube ich, nicht allein der Selbstregu-lierung der Verbände überlassen. Denn in den letzten 10,15 Jahren hat sich gezeigt: Den Verbänden alleine ist esbisher nicht gelungen, hier Standards zu schaffen. Dashat auch die Diskussion gezeigt.

In den nächsten Wochen wird es wichtig sein, in § 5Mediationsgesetz eine klare Regelung zu treffen, gege-benenfalls im Rahmen einer Rechtsverordnung oder ei-ner Verwaltungsvorschrift, die, was die Voraussetzungenangeht, gewisse Mindeststandards und im Hinblick aufdie Ausbildung eine gewisse Mindeststundenzahl nennt.Ich denke, für die Ausbildung eines Mediators sollten120 bis 150 Stunden notwendig sein; eine geringereStundenzahl ist, glaube ich, nicht möglich.

Dies sind unserer Auffassung nach die Kernpunkte, indenen wir in den nächsten Wochen eine Verbesserungdes Gesetzentwurfes erzielen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Viele Detailfragen sind noch zu klären. Dabei geht esnach meiner Meinung aber im Wesentlichen um techni-sche Fragen, beispielsweise um die Hemmung von Fris-ten; ich denke nur an § 4 Kündigungsschutzgesetz. Einbloßer Verweis auf die BGB-Fristen reicht nicht aus.Hier müssen wir, glaube ich, etwas genauer hinschauen.

Eine weitere Frage lautet: Welche Gerichtsbarkeitensollen einbezogen werden: die Sozialgerichtsbarkeit, dieFinanzgerichtsbarkeit, die Arbeitsgerichtsbarkeit? Wol-len wir all diese Gerichtsbarkeiten in dem Gesetz erfas-sen oder nicht? Das ist bisher etwas unklar. Ein andererwichtiger Aspekt ist die Vollstreckbarkeit der Abschluss-vereinbarung einer Mediation. Soll jeder Mediator, auchein Soziologe oder Philosoph, eine Mediationsvereinba-rung, die später vollstreckbar ist, verfassen dürfen? Alldiese Fragen müssen wir noch klären, wenn dieses Ge-setz Erfolg haben soll. Ich glaube, wir werden sie auchklären, zumal gerade die letzten Fragen eher technischerArt sind.

Die beiden zentralen Punkte, die angesprochen wor-den sind, die Aus- und Fortbildung – dies betrifft § 5 desMediationsgesetzes – und die Austarierung des Verhält-nisses zwischen gerichtlicher Mediation und außerge-richtlicher Mediation, sind die Knackpunkte dieses Ge-setzes, mit denen wir uns befassen müssen. Ich glaube,wenn wir diese beiden Probleme lösen, dann wird dieMediation Erfolg haben.

Frau Ministerin, von parlamentarischer Seite kann ichIhnen unsere Zusammenarbeit zusichern. Ich glaube, wir

Page 127: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12057

Dr. Patrick Sensburg

(A) (C)

(D)(B)

werden mit diesem Gesetz einen großen Erfolg erzielen,wenn wir es schaffen, die genannten Probleme gemein-sam zu lösen. Ich hoffe, dass uns dies in den nächstenWochen gelingen wird.

Ich bedanke mich ganz herzlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Jens Petermann (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin,mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Um-setzung der europäischen Richtlinie über bestimmteAspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen prä-sentiert die Bundesregierung leider nur ein halbgaresGericht. Es besteht die Gefahr, dass es ungenießbar ist,also schwer im Magen liegt, und Sie den Adressaten,also den Bürgerinnen und Bürgern, den Betrieben, aberauch den Institutionen, Steine statt Brot geben.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ist es nun halbgar, oder sind es Steine?Können Steine halbgar sein?)

Der Entwurf aus Ihrem Hause, Frau Ministerin, ver-dient leider keine Bestnote. Das sagt nicht nur die Oppo-sition, die hier etwas schärfer kritisieren darf, das siehtauch die Koalition so. Es gibt gravierende Mängel. DieKostenfrage sowie die Frage der Aus- und Weiterbil-dung sind nicht geklärt. Ich glaube, die bisherige Debattehat gezeigt, dass hier wirklich Nachbesserungsbedarf be-steht.

Am 21. Mai 2008 erteilten der Europäische Rat unddas Europäische Parlament den Mitgliedsländern dieHausaufgabe, für grenzüberschreitende Streitigkeiten inZivil- und Handelssachen den Zugang zur Mediation zufördern. Die Frist zur Umsetzung endet demnächst, am20. Mai dieses Jahres, also in circa fünf Wochen. DieRegierung hatte fast drei Jahre Zeit, die Richtlinie umzu-setzen. Das zu diskutierende Ergebnis scheint indes mitheißer Nadel gestrickt. Es entsteht der Eindruck, dass Sieden Auftrag aus Brüssel nicht so recht verstanden haben.

Laut Richtlinie soll die Mediation für grenzüber-schreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachengesichert werden. Explizit ausgeschlossen sind Steuer-und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegen-heiten und die Staatshaftung. Diese Ausschlüsse bezie-hen sich auf Rechtsgebiete, wo es ein starkes strukturel-les Ungleichgewicht der Verfahrensbeteiligten gibt. Dashat auch seinen Grund; denn eine Mediation macht nurSinn, wenn sich die Parteien auf Augenhöhe gegenüber-stehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, dass die schwä-chere Partei regelmäßig über den Tisch gezogen wird.Das kann nicht Sinn der Sache sein.

Das Bundesjustizministerium will nun die gerichtli-che, die gerichtsnahe und die außergerichtliche Media-tion in den Bereichen Zivilrecht, Familienrecht, Arbeits-recht, Sozialrecht und Verwaltungsrecht einführen.Fraglich ist dabei, ob die Umsetzung der Richtlinie dasüberhaupt erfordert. Gerade im Sozial-, Arbeits- undVerwaltungsrecht besteht ein strukturelles Ungleichge-wicht zwischen den Beteiligten. Hat zum Beispiel einHartz-IV-Empfänger Probleme mit der Kürzung seinerRegelleistungen, soll er sich künftig erst einmal mit derBehörde bei Kaffee und Kuchen und den berühmtenRäucherstäbchen – das Copyright dafür liegt beim Kol-legen Ahrendt – an einen Tisch setzen und um eine ge-ringere Kürzung feilschen, obwohl die Kürzung an sichunter Umständen rechtswidrig war.

Wenn nun ein Hartz-IV-Empfänger eine Streitigkeitvor dem Zivilgericht austrägt, besteht für ihn die Möglich-keit, Prozesskostenhilfe zu beantragen. Das ergibt sich ausdem Justizgewährungsanspruch und dem Sozialstaatsge-bot. Hinsichtlich der Mediationskosten schweigt sich derEntwurf allerdings aus. Der Hartz-IV-Empfänger müsstealso, wenn er sich auf die Mediation einlässt, mindestensdie Hälfte der Kosten des Mediationsgespräches selbsttragen. Das BMJ kann die Höhe der Kosten bisher nurschätzen. Es ist von circa 450 Euro die Rede. Bei einemRegelsatz von 364 Euro, der in unserem eben geschilder-ten Fall durch die Sanktionen noch gekürzt werdenwürde, ist das Ganze unbezahlbar. Hier bedarf es einesRechtsanspruchs auf Mediationskostenhilfe. Ein For-schungsprojekt der Länder, wie es in dem derzeitigen § 6des Entwurfs geplant wird, ist unzureichend.

(Beifall bei der LINKEN)

Die im Übrigen sehr spannende Frage, wer sich Me-diator nennen darf, bleibt letztlich unbeantwortet. DerEntwurf überlässt es dem Mediator selbst, durch geeig-nete Aus- und Fortbildung Sachkunde zu erlangen. Dasist mir viel zu beliebig. Für die sachkundige Durchfüh-rung einer Mediation – das ist hier schon gesagt worden –braucht man meines Erachtens eine hochqualifizierteAusbildung in Psychologie und Kommunikation sowiemindestens durchschnittliche Rechtskenntnisse.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fricke?

Jens Petermann (DIE LINKE):Nein. – Herr Kollege Sensburg hat in der FAZ geäu-

ßert, dass es einer verbindlichen Zertifizierung bedarf.Da bin ich mit Ihnen, geschätzter Kollege Sensburg, ei-ner Meinung. Ich kann mich da nur anschließen.

Schließlich soll die Mediation auch bundeseinheitlichgeregelt sein. Ansonsten droht ein Flickenteppich mitunterschiedlichen Standards wie bereits in der Beamten-besoldung, und das ist von Nachteil.

Page 128: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Jens Petermann

(A) (C)

(D)(B)

Die Linke fordert: Mediation muss auf grenzüber-schreitende Zivil- und Handelssachen beschränkt sein;Mediationskostenhilfe muss eingeführt werden, und einebundesweit einheitliche Ausbildung der Mediatorenmuss sichergestellt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Ministerin, bessern Sie den Entwurf insoweitnach. Beachten Sie dabei auch unseren Entschließungs-antrag. Dann können wir die Regelung mittragen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Ingrid Hönlinger für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir diskutierenheute über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregie-rung zur Förderung der Mediation und anderer Verfahrender außergerichtlichen Konfliktbeilegung. HeribertPrantl hat die Intention dieses Gesetzentwurfs in derSüddeutschen Zeitung als „juristischen Paradigmen-wechsel“ geadelt.

Was müssen wir gesetzlich regeln, damit Mediationein effektiver Bestandteil dieser Gesellschaft wird? Wirmüssen uns zunächst im Klaren darüber sein, wo undwie wir Mediation und andere Konfliktlösungsmethodenvorrangig verankern wollen. Wollen wir sie in den Ge-richtssälen bei den Richtern oder außerhalb des Ge-richtsverfahrens bei freiberuflichen Mediatorinnen undMediatoren oder Beratungsstellen integrieren?

(Mechthild Dyckmans [FDP]: Warum „oder“? –Otto Fricke [FDP]: Wie wäre es mit „oder/und“?)

In dem Gesetzentwurf werden beide Modelle definiert.Die Begrifflichkeit orientiert sich aber am Wort „Ge-richt“, indem von außergerichtlicher, gerichtsnaher undgerichtsinterner Mediation ausgegangen wird. Die ge-richtsinterne Mediation wird dabei durch Kostenfreiheitprivilegiert.

Meine Damen und Herren, das Mediationsverfahrengewinnt seine Wirksamkeit durch Eigenverantwortlich-keit der Parteien und durch die Gesprächsleitung einesallparteilichen Mediators. In den Sitzungen können dieParteien ihre Interessen und Bedürfnisse im direkten Ge-spräch selbst herausarbeiten. Normalerweise dauert einMediationsverfahren zwischen drei und acht Sitzungen à1,5 Stunden. Es erstreckt sich über mehrere Wochen,und am Ende kann eine gültige, von allen Parteien unter-zeichnete Vereinbarung stehen.

Wie stellt sich der Vergleich zwischen richterlicherund außergerichtlicher Mediation dar? Der Richterberufist aufgrund hoher Fallzahlen und gekürzter Richterstel-len durch einen enormen Zeit- und Erfolgsdruck geprägt.

(Otto Fricke [FDP]: Böse Länder!)

Die Modellprojekte der richterlichen Mediation zeigen,dass dort die Mediation in ein bis zwei Sitzungen durch-geführt wird. Oft hat der Richter die Akte vorher gelesen,lässt sich die Interessenlage also nicht von den Parteienerklären, und am Ende gibt es einen Vergleichsvorschlag.Wir verkennen nicht, dass zahlreiche Richterinnen undRichter viel Zeit und Geld investiert haben, um eine Me-diationsausbildung zu absolvieren. Innerhalb der ihnenzur Verfügung stehenden Zeit arbeiten sie mit viel Enga-gement, erzielen auch gute Ergebnisse, aber das Verfah-ren entspricht doch eher dem Modell eines Güterichters,wie wir es aus Thüringen und Bayern kennen, das in§ 278 Abs. 5 ZPO verankert ist, und nicht der Mediation,wie sie außerhalb der Gerichte durchgeführt wird.

(Mechthild Dyckmans [FDP]: Völlig falsch!)

Wenn wir eine eigenverantwortliche Konfliktlösungund die Entlastung der Justiz erreichen wollen, dannmüssen wir weiterdenken. Dann müssen wir auch an diePunkte denken, die die Kolleginnen und Kollegen schonangesprochen haben, nämlich daran, wie wir die Aus-und Fortbildung von Mediatorinnen und Mediatoren si-chern können. Wir müssen die Grundzüge klar artikulie-ren. Ich weiß, dass große Mediations- und Anwaltsver-bände schon an Qualitätsstandards arbeiten und einequalitätsvolle Ausbildung anbieten. Es reicht aber nichtaus, diese Entwicklung nur dem freien Markt zu überlas-sen, wie es die Bundesregierung vorschlägt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ist die Qualität der Mediation erst einmal gesichert,dann wird es der Justiz sicher leichter fallen, Streitfällean geeignete Mediatorinnen und Mediatoren nach außenzu verweisen. Das hätte viele Vorteile. Die Koordina-tionsstellen, die schon an den Gerichten existieren,könnten genutzt werden, um Fälle auf ihre Geeignetheithin zu überprüfen. Dort arbeiten erfahrene Richterinnenund Richter, die Mediationsfälle bearbeitet haben. Einähnliches Modell kennen wir aus den Niederlanden.Auch dort werden häufig Mediationsfälle in die freieMediation verwiesen.

(Mechthild Dyckmans [FDP]: Das ist doch auch heute schon möglich!)

Für die Mediatorinnen und Mediatoren bestünde ein An-reiz, an dem Projekt mitzuwirken. Wir könnten die Mit-wirkung auch mit der Verpflichtung zu einer Evaluationverbinden. Es entstünde ein positiver Kreislauf: Wirkönnten die Gerichte effektiv entlasten, die außergericht-liche Mediation würde in Anspruch genommen, dieKonfliktlösungen würden immer nachhaltiger, und dieGerichte würden weiter entlastet.

Das führt mich zu dem letzten Schritt, den wir ausmeiner Sicht gehen müssen: die Einführung einer Media-tionskostenhilfe. Das würde Mediation unabhängig vomEinkommen ermöglichen und durch die Anbindung andie Gerichte die notwendige Qualitätssicherung bieten.Die Bundesregierung führt immer wieder an, das seinicht finanzierbar und falle in die Länderzuständigkeit.Wir wissen aber, dass zum Beispiel ein streitiges Fami-liengerichtsverfahren mit Regelungen zum Sorgerecht,

Page 129: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12059

Ingrid Hönlinger

(A) (C)

(D)(B)

zum Umgang und zum Unterhalt sehr viel Zeit, Geld undNerven kostet. Ich denke, auch die Bundesländer solltenernsthaft darüber nachdenken, zumindest in Modellpro-jekten eine Mediationskostenhilfe einzuführen; denn dieMediation würde mit Sicherheit auch die Justizhaushalteentlasten.

(Otto Fricke [FDP]: Das können ja die Rot-Grünen machen!)

Aus unserer Sicht ist der Gesetzentwurf leider in deraktuellen Form nicht ausgewogen genug. Deswegenkönnen wir ihm in dieser Form nicht zustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Unionsfraktion hat der Kollege Silberhorn das

Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Thomas Silberhorn (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine zunächst streitige Problemlage durch eine ein-verständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in ei-nem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig ge-genüber einer richterlichen Streitentscheidung.

Das schrieb das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007.In der Tat führen streitige Verfahren zwar zur Klärungeiner Rechtsfrage, aber nicht notwendig zu einer hinrei-chenden Befriedung der Parteien. Das mag daran liegen,dass unsere Zivilverfahren stark formalisiert sind undauch in materieller Hinsicht unser Zivilrecht schrecklichlogisch ist. Jeder Student lernt in seiner ersten Stunde Zi-vilrecht, die Frage zu beantworten, wer von vom wasworaus verlangen kann. Wer diese Frage stellt, wird inunserem Zivilrecht eine Antwort finden. Allerdings istdie Wirklichkeit oft so komplex, dass es mit der Beant-wortung dieser Frage allein nicht getan ist. So könnenordentliche Gerichtsverfahren oft wenig Rücksicht aufdie Ursachen einer Streitigkeit und auf die Befindlich-keiten der Parteien nehmen.

In diesem Zusammenhang begrüße ich es, dass wirnun die Mediation in allen Formen – außergerichtlich,gerichtlich und gerichtsnah – auf eine neue rechtlicheGrundlage stellen. Wir setzen damit zugleich die EG-Richtlinie über bestimmte Aspekte der Mediation in Zi-vil- und Handelssachen um, eine Richtlinie, die sich zuRecht auf grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil-und Handelssachen beschränkt.

In Deutschland finden sich bislang Regelungen zukonsensualen Konfliktlösungen nur vereinzelt, beispiels-weise im Familienrecht und im Rahmen der Gütever-handlungen in Zivilrechtsstreitigkeiten. Wir stellen dasnun auf eine deutlich breitere Grundlage. Der Anwen-dungsbereich des Mediationsgesetzes wird nahezu alleRechtsgebiete erfassen. Weshalb die Finanzgerichtsbar-

keit nicht dabei ist, kann vielleicht noch überprüft wer-den. Dass beispielsweise ausdrücklich das Markengesetzgenannt ist, finde ich durchaus mutig, weil in diesemRechtsbereich, in dem es häufig um hohe Streitwerteund wettbewerbsrechtliche Bezüge geht, oft um jedenQuadratmillimeter gekämpft wird. Aber immerhin: Wirhaben einen sehr breiten Anwendungsbereich. Das zeigt,dass es völlig ausreichend ist, wenn sich die EuropäischeUnion mit Mindestharmonisierung befasst. Wir sindselbst in der Lage, die Gelegenheit zu nutzen, das Wei-tere in eigener Zuständigkeit zu regeln. Wir brauchen indiesem Bereich keine Vollharmonisierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Gesetzentwurf soll zunächst einmal das Bewusst-sein für die Möglichkeiten schaffen, Konflikte im Ein-vernehmen beizulegen. Dazu soll schon in der Klage-schrift erklärt werden, ob der Versuch einer Mediationoder eines anderen Verfahrens zur außergerichtlichenKonfliktbeilegung unternommen worden ist oder obGründe entgegenstehen. Diese Verfahren der Mediationsind bei rechtsuchenden Bürgern noch nicht sehr starkverankert. Ich denke, das Gesetz wird einen Beitrag dazuleisten.

Die streitenden Parteien sollen im Rahmen der Me-diation eigenverantwortlich zu einer Einigung über ihreStreitigkeit gelangen. Das setzt voraus, dass dieses Ver-fahren in einem vertraulichen Rahmen geführt werdenkann. Zu diesem Zweck ist es richtig, genauso eine Ver-schwiegenheitspflicht des Mediators zu vereinbaren wieihm ein Zeugnisverweigerungsrecht zu geben. Wir soll-ten vielleicht noch einmal die Frage, die an uns von vie-len Seiten herangetragen worden ist, aufwerfen, inwie-weit ein Beweisverwertungsverbot realisiert werdenkann. Das wird nicht ganz einfach; aber das Anliegen, ineinem solchen Verfahren die Vertraulichkeit zu wahrenund als Partei eines Mediationsverfahrens nicht in einemstreitigen Gerichtsverfahren zu scheitern, müssen wirernst nehmen.

Die Vollstreckbarkeit der Vereinbarungen soll erleich-tert werden. Ob das auf die Zustimmung der Gerichtestößt, werden wir nochmals diskutieren können. Geradeim außergerichtlichen Mediationsverfahren ist es nichtganz einfach, zur Vollstreckbarkeit zu kommen. Aberhier ist ein sinnvoller Ansatz gewählt.

Ich begrüße ebenfalls, dass wir die gerichtsinterneMediation hier regeln. Die Frage, ob man dadurch tat-sächlich zu einer Entlastung der Gerichte und zu effizi-enteren Verfahren kommen kann, wird sich den Bundes-ländern selbst stellen und auch von diesen zubeantworten sein. Es ist von unserer Seite aus richtig,den Ländern diese Möglichkeit an die Hand zu geben.Ich denke, wir können den Bundesländern selbst über-lassen, ob sie der Meinung sind, dass dieses Verfahrenfür sie eine Effizienzsteigerung und Erleichterung istoder ob nicht durch den höheren Zeitaufwand oder hö-here Kosten auch höhere Belastungen entstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist aber insbe-sondere, die Möglichkeiten der außergerichtlichen

Page 130: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Thomas Silberhorn

(A)

(D)(B)

Mediation zu erweitern. Die gerichtsinterne Mediationfindet nun schon seit geraumer Zeit, wenn auch erpro-bungsweise, mit Erfolg statt. Die Frage, ob hinreichendeAnreize bestehen, zu einer außergerichtlichen Media-tion zu kommen, müssen wir uns noch einmal vorlegen.Es ist jedenfalls ernst zu nehmen, wenn viele sagen,dass die Kostentragungspflicht der Parteien im außerge-richtlichen Mediationsverfahren ein Wettbewerbsnach-teil sein kann. Dieser Wettbewerbsnachteil darf jeden-falls nicht so weit gehen, dass er prohibitiv wirkt und dieParteien überhaupt nicht die Möglichkeit der Mediationin Anspruch nehmen. Die Vorschläge, eine Gebührenan-rechnung auf streitige Gerichtsverfahren zu erwägen,können wir im Rahmen des parlamentarischen Verfah-rens überdenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Ausbildung der Mediatoren ist schon angespro-chen worden. Nach dem Gesetzentwurf wird die Aus-und Fortbildung in die Verantwortung des Mediators ge-legt. Das, Frau Bundesministerin, ist in der Tat mutig.Wir könnten uns durchaus vorstellen, die Entwicklungvon Mindeststandards zu erwägen, wie sie von verschie-dener Seite an uns herangetragen werden. Ich jedenfallsteile das Anliegen, das hier schon mehrfach vorgetragenworden ist. Wir reden hier nicht über eine esoterischeVeranstaltung, sondern über die Beilegung von Rechts-streitigkeiten. In diesem Zusammenhang muss die Qua-litätssicherung ein wichtiger Punkt sein. Ich weise aller-dings auch darauf hin, dass beispielsweise der DeutscheAnwaltverein davon ausgeht, diese Qualitätssicherungwerde sich schon einstellen – nach dem Motto: Qualitätsetzt sich durch. Das mag durchaus so sein; aber dannsollten wir auch die Frage beantworten, wie es mit derHaftung der Mediatoren steht. Wenn wir es weitgehendin die Verantwortung der Mediatoren stellen, mit wel-cher Ausbildung und mit welcher Erfahrung sie dieseAufgabe übernehmen, dann muss auch sichergestelltsein, dass bei einer mangelnden Beratung der Mediatorfür das haftet, was er zwischen den Parteien vermittelt;

(Otto Fricke [FDP]: Also Haftpflicht!)

denn es kann am Ende nicht der rechtsuchende Bürgerdarunter leiden, dass er mangelhaft beraten wird. Es be-steht also ein Zusammenhang: Wenn man die Ausbil-dung weitgehend freistellt, dann muss man die Frage derHaftung beantworten.

Ich bin auch der Auffassung, dass rechtsberatendeBerufe immer für Mediation infrage kommen; denn die-ses Verfahren zur Streitbeilegung ist ein Bestandteil derRechtspflege. Deshalb ist es wichtig, dass Parteien, dieeine Vereinbarung treffen, nicht nur in Kenntnis derSachlage, sondern auch in Kenntnis der Rechtslage han-deln.

Wir haben also viel Potenzial für konsensuale Streit-beilegungen in Deutschland. Dieser Gesetzentwurf istein guter Grundstein dafür. Wir sollten die offenen Fra-gen in einem guten Miteinander im parlamentarischenVerfahren beraten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf den Drucksachen 17/5335 und 17/5496 an denRechtsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei-tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten OmidNouripour, Hans-Christian Ströbele, MarieluiseBeck (Bremen), weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bun-deswehr entwickeln – Unterrichtung und Eva-luation verbessern

– Drucksache 17/5099 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)InnenausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.Das bedeutet für uns Parlamentarier eine enorme Verant-wortung. Ich weiß, dass nicht nur bei uns Grünen vor je-dem neuen Einsatz und vor jeder Verlängerung einesEinsatzes schwierige Debatten stattfinden, um dieserVerantwortung gerecht zu werden.

Grundlage für unsere persönliche Gewissensentschei-dung sind die Informationen, die uns die Bundesregie-rung zukommen lässt. Die Qualität dieser Informationenist allerdings in Anbetracht der Tragweite unserer Ent-scheidungen in vielerlei Hinsicht unbefriedigend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir eine deutlichverbesserte Unterrichtungs- und Evaluationspraxis sei-tens der Bundesregierung einfordern.

Das Parlamentsbeteiligungsgesetz legt fest, dass dieBundesregierung den Bundestag regelmäßig unterrich-tet. In der Gesetzesbegründung heißt es: Es soll übervorbereitende Maßnahmen, Planungen und den Verlaufvon Einsätzen sowie Entwicklungen im Einsatzland be-richtet werden. Jährlich und nach Abschluss der Einsätzeist ein Evaluationsbericht vorzulegen. In Ausnahmefäl-len findet die Unterrichtung über die Obleute statt. – Dietatsächliche Praxis der Unterrichtung wird diesem An-spruch nicht gerecht. Die wöchentliche Aufzählung von

(C)

Page 131: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12061

Katja Keul

(A) (C)

(D)(B)

lagerelevanten Vorfällen im Verteidigungsausschusskann eine Analyse der Entwicklungen nicht ersetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan 2010war der erste seiner Art, obwohl der Einsatz schon neunJahre andauerte und meine Fraktion einen solchen Be-richt seit Jahren immer wieder angefordert hatte.

(Zuruf von der FDP: Wir machen es endlich!)

Wir wollen aber nicht nur vergangene Einsätze aus-werten, sondern auch konkrete Kriterien für zukünftigeEinsätze ermitteln. Oft geht es in der parlamentarischenund öffentlichen Debatte um die Frage der völkerrechtli-chen Legitimität, aber viel zu selten um die Frage derWirksamkeit militärischer Mittel. Dabei ist völkerrecht-liche Legitimität zweifelsohne eine erforderliche, nichtaber eine hinreichende Voraussetzung für einen Militär-einsatz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ob ein Militäreinsatz erfolgreich ist oder nicht, kann nurdann bestimmt werden, wenn ein konkretes Ziel gesetztwurde. An der Erreichung dieses Ziels müssen sich danndie eingesetzten Mittel messen lassen.

Ich denke, wir sind uns alle darüber im Klaren, dassin Afghanistan viele Fehler gemacht worden sind. Daherist es auch so wichtig, aus diesen Fehlern zu lernen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)

2001 sind die Bündnispartner aus lauter Solidarität in ei-nen gemeinsamen Einsatz gegangen, ohne zuvor ein ge-meinsames Ziel zu definieren und sich darüber einig zuwerden, mit welchen Mitteln man das Ziel erreichenwill. Jeder hat das gemacht, was er gerade konnte oderfür sinnvoll hielt, bis klar war, dass keine Strategie dieschlechteste Strategie war. Trotz dieser Erfahrung habensich die Bündnispartner auch hinsichtlich der Flugver-botszone über Libyen wieder einmal nicht auf gemein-same Ziele einigen können.

Wir fordern also mit unserem Antrag klare Prüfkrite-rien für Auslandseinsätze und aussagekräftige Fort-schrittsberichte inklusive der Auswertung ziviler Maß-nahmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu ist es aber auch erforderlich, Geheimhaltung aufdas zu beschränken, was wirklich geheimhaltungsbe-dürftig ist. Es ist nachvollziehbar, dass in sicherheitsrele-vanten Bereichen eine vertrauliche Einstufung notwen-dig sein kann. Dafür gibt es aber im Wesentlichen nurzwei relevante Gründe: der Schutz involvierter Personenund der laufender Operationen. In der Praxis sieht es lei-der so aus, dass jeder, der einen Bericht schreibt, selbstüber die Einstufung dieses Berichts entscheidet und an-schließend niemand mehr prüft, ob das eigentlich wirk-lich erforderlich war. Am Ende werden dann nur nochdie Obleute geheim unterrichtet, die dann nicht einmalmehr ihre Ausschusskollegen informieren dürfen. Das

ist nicht im Sinne einer transparenten parlamentarischenKontrolle.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Überall, wo es irgendwie möglich ist, sollte das Parla-ment als Ganzes über den Verlauf der Einsätze schrift-lich und öffentlich informiert werden; denn wer Verant-wortung übernehmen soll, ist auf eine qualifizierteUnterrichtung angewiesen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Kiesewetter hat für die Unionsfraktion

das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau KolleginKeul, Sie fordern in Ihrem Antrag eine andere, eine um-fassendere Berichterstattung gegenüber dem Parlament.Ich möchte Ihnen einmal kurz darstellen, wie sich dieBerichterstattung in den letzten zehn Jahren entwickelthat. Im Jahr 2000 hat Ihre Fraktion verlangt, dass derKosovo-Einsatz nicht mehr jährlich mandatiert wird, umjährliche namentliche Abstimmungen im Rahmen einesBeschlusses zu vermeiden.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)

Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die erreichthat, dass gerade beim Kosovo-Einsatz eine jährlicheMandatierung erfolgt. Wir haben uns damals für dieRechte des Parlaments eingesetzt.

Ich möchte noch einen anderen Punkt erwähnen. Eskommt darauf an, wie die Mandate formuliert sind. Eswar im Jahr 2003, als Außenminister Fischer sich recht-fertigen musste, weil die Mandatsformulierung damalsso zweideutig war, dass Drogenbekämpfung eine Auf-gabe der Bundeswehr hätte sein können. Das haben wirmit einer aufwendigen Protokollerklärung verhindert. –Diese Zeiten sind vorbei. Ich freue mich, dass Sie denEvaluierungsbericht Afghanistan angesprochen haben.Wir machen Fortschritte. Das ist auch ein Verdienst die-ses Parlaments.

Ich möchte kurz auf Ihre Kritik an den Berichtspflich-ten eingehen. Die Berichtspflichten haben natürlich auch– Sie haben es angesprochen – Geheimhaltungsschutz-gründe. Es geht ebenfalls darum, dass das jetzige Obleu-teverfahren eingehalten wird. Wenn es gewünscht wird,kann ich nachher gerne einzelne Obleuteinformationen,insbesondere was Spezialkräfte angeht, darlegen. Offen-sichtlich ist es nur Ihr Wunsch, entsprechende Informati-onen über den Einsatz der Spezialkräfte zu erhalten.Dazu aber haben Sie Ihre Obleute.

Page 132: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Roderich Kiesewetter

(A) (C)

(D)(B)

Ich möchte auf das eigentliche Thema, den Kriterien-katalog, eingehen. Ich halte es für wichtig, dass wir unsdarüber unterhalten, was die Prüfsteine für einen Aus-landseinsatz sind. Grundsätzlich gilt für uns, die CDU/CSU-Fraktion, dass jeder Einsatz seine politische undmilitärische Besonderheit hat. Ich möchte fast sagen: Je-der Einsatz hat seine eigene Geografie. Die sachlichenund politischen Ausgangslagen sind unterschiedlich. EinSchema eines Kriterienkatalogs entspricht nicht demGrundsatz, dass jeder einzelne Einsatz eine besondere si-cherheitspolitische Herausforderung ist und es damitauch spezieller sicherheitspolitischer Lösungsansätzebedarf. Ich sage auch ganz offen: Der außenpolitischeHandlungsspielraum muss erhalten bleiben. Deswegenmüssen wir jeden Einzelfall konkret prüfen. Wir brau-chen Ermessensspielräume. Ich nehme einfach einmaldas Beispiel „Responsibility to Protect“. Wäre dies einmaßgebliches Kriterium für die Beteiligung an Auslands-einsätzen, müssten wir tatsächlich überall dort interve-nieren, wo Menschenrechte massiv verletzt werden. Dieswürde zu einer Überforderung nicht nur unserer Streit-kräfte, sondern auch unserer Gesellschaft führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte einen Bogen schlagen. Natürlich kann einKriterienkatalog hilfreich sein; er kann Orientierung ge-ben. Dem ist auch unsere Fraktion nachgekommen. Ichverweise darauf, dass Herr Schockenhoff im Jahr 2006einen Zehnpunktekatalog vorgelegt hat. Ich möchte sie-ben Bausteine nennen, die für unsere Debatte ganz hilf-reich sind.

Erster Baustein: völkerrechtlicher Rahmen. Liegt einMandat der Vereinten Nationen vor? Ist es ein Einsatz imRahmen der kollektiven oder der Selbstverteidigung? Istes ein Einsatz im Rahmen von Bündnisverpflichtungen?

Zweiter Baustein: das politische Ziel. Frau Keul, Siehaben vorhin zu Recht gefragt: Was ist die Exit-Strate-gie? Was ist das Ziel eines Einsatzes? Wie realistisch istder Einsatz? Unter welchen Voraussetzungen und in wel-chem Zeitraum kann der Einsatz erfolgreich beendetwerden? Für uns Deutsche ist besonders wichtig: Mitwelchen Partnern gehen wir in den Einsatz?

Dritter Baustein: deutsche Interessen. Sind durch denKonflikt deutsche Interessen betroffen? Ein deutschesInteresse ist immer, abgesehen von der Evakuierungdeutscher Staatsbürger, die Aufrechterhaltung des Prin-zips „Keine Alleingänge“. Es gibt keine deutschen Son-derwege bei Auslandseinsätzen. Sind die Einsatzregelnso gestaltet, dass unsere Interessen und auch das politi-sche Ziel umsetzbar sind? In dem Zusammenhangnehme ich noch einmal den Gedanken einer nationalenSicherheitsstrategie auf, den unsere Fraktion im Jahr2008 sehr deutlich formuliert hat.

Vierter Baustein: Was sind die Konsequenzen einesEinsatzes oder Nichteinsatzes? Welche Folgen hat es,wenn wir nicht eingreifen? Wie bedeutsam ist unserdeutscher Beitrag zum Gelingen einer Mission? – Dassind Fragen, die wir uns auch aktuell stellen.

Fünfter Baustein: die zivile Krisenprävention. FrauKeul, Sie haben den Punkt zu Recht angesprochen. Wel-

che nichtmilitärischen Maßnahmen bzw. Maßnahmender zivilen Krisenprävention werden zur politischen Lö-sung des Konflikts ergriffen, und ist die Wahl der Mittelverhältnismäßig?

Sechster Baustein: Welche Risiken bestehen für dieEinsatzkräfte? Wir haben nicht nur die Verantwortungfür die Umsetzung der politischen Ziele, liebe Kollegin-nen und Kollegen; wir haben auch eine Verantwortunggegenüber den Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbau-helfern, die wir in die Einsätze schicken. Welche Risikenbestehen für sie, und wie können sie begrenzt werden?

Siebter Baustein. Damit spreche ich die öffentlicheKommunikation an. Dabei geht es um die Stichworte„Überforderung, politisch wie finanziell“ und „Kommu-nikationsbedarf“. Wir müssen auch darüber nachdenken,wie weit unsere Einsätze gehen können. Was können wiruns leisten? Vor allen Dingen – damit schlage ich denBogen zur Evaluierung –: Welche Lektionen lernen wiraus den Einsätzen?

Somit sind diese sieben Bausteine nicht als Checklistezu verstehen. Mein Kollege Reinhard Brandl wird nocheinen anderen Gesichtspunkt einbringen. Wenn Sie vonden Streitkräften sprechen, so sprechen wir auch von derVerantwortung des Staatsbürgers und der Staatsbürgerinin Uniform. Das ist auch eine verantwortungsethischeFrage, auf die wir nachher eingehen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Auf jeden Fall muss über jeden Einsatz neu entschiedenwerden.

Sie fordern in dem Zusammenhang einen Gesamtbe-richt unabhängiger Experten. Ich sage ganz offen: Si-cherheitspolitik kann man nicht outsourcen. Wir, dasParlament, haben die Verantwortung. Wir können unsnatürlich Expertise ins Haus holen – wir haben auchschon viele Anhörungen durchgeführt –, aber ich warnedavor, dass wir als Parlament unsere Verantwortung ab-geben. Wir müssen dazu stehen und dürfen nicht sagen:Die Wissenschaftler haben uns das empfohlen.

Allerdings – ich komme zum Schluss – ist Ihr Antragin einem Punkt hilfreich, und das ist der bilanzierendeGesamtbericht. Wir als Union haben im letzten Jahrselbst gefordert – das waren einige Kollegen von mirund auch ich –, dass die Unterrichtung des Parlamentsumfassender geschieht, dass vielleicht ein Ministeriumfederführend beauftragt wird, aber dass wir ganzheitli-cher informiert werden, aus entwicklungspolitischerSicht, aus wirtschaftlicher Sicht und natürlich – das istbisher auch immer sehr gut geschehen – aus verteidi-gungspolitischer Sicht. Das halte ich für ganz entschei-dend.

Diesen Punkt aus Ihrem Antrag können wir mittragen,aber die anderen Punkte aus nachvollziehbaren Gründennicht. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. Wirsind aber offen für Vorschläge, wie wir die Unterrich-tung des Parlaments verbessern können. Das ist die Auf-fassung und Erwartung der Union. Aber es gilt: Sicher-

Page 133: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12063

Roderich Kiesewetter

(A) (C)

(D)(B)

heitspolitik kann man nicht outsourcen und auch nichtkatalogisieren.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Groschek für die SPD-Frak-

tion.

Michael Groschek (SPD):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

glaube, Herr Kiesewetter hat mit dem letzten Punkt ei-nen Hinweis darauf gegeben, wo die Schwachstelle beimAntrag der Grünen ist. Bei der Überschrift fängt es an.Die Prüfkriterien für einen Einsatz erinnern doch zustark an eine Katalogisierung, bei der es dann nach demMotto geht: Wenn acht von zehn Punkten gegeben sind,dann ja; wenn es sieben und weniger sind, dann nein.

(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ein Quatsch!)

Darüber besteht bei uns noch Diskussionsbedarf. An-sonsten finden wir den Antrag wichtig und richtig, wasdie Verdichtung und die wachsende Transparenz von In-formationen angeht.

Ich komme auf einen Punkt zu sprechen, bei dem wiruns, zumindest wir aus dem Verteidigungsausschuss, andie eigene Nase fassen müssen. Ich sehe den HerrnStaatssekretär Kossendey und habe seine wiederholtenMahnungen im Ohr, dass sich der Ausschuss doch bitteeinmal intensiv und zeitlich angemessen mit dem Stich-wort „Atalanta“ befasst. Der Bitte ist der Ausschuss bis-lang nur rhetorisch nickend, aber nicht de facto gefolgt.Zur Wahrheit gehört, glaube ich, nicht nur die Informa-tionspflicht der Bundesregierung, die in ihren Defizitenhier richtig beschrieben ist, sondern auch das politischeManagement von Ausschussdiskussionen, um unsererVerantwortung auf der anderen Seite gerecht zu werden.Wenn wir die Diskussionskultur so beleben, kommenwir ein ganzes Stück weiter.

Jetzt konkret zum Antrag. Jeder Einsatz ist ein Uni-kat. Das muss man bei den Einsätzen berücksichtigen.Man kann eine Zustimmung nicht nach Schema F geben.Ich komme zum Schluss noch auf eine andere Perspek-tive zu sprechen, mit der man das Problem lösen kann.Die Problembeschreibung wurde auch schon im Antraggegeben.

Ich finde, Herr Kiesewetter, Sie haben zu Unrecht aufRot-Grün gezeigt, nach dem Motto: Da war die CDUschon weiter, angefangen beim Kosovo. – Ich denke, eswar schon eine gemeinsame Leistung, sich nach der Ver-einigung in einem sehr schwierigen Prozess des Lear-ning by Doing in der neuen Rolle gesteigerter Verant-wortung zurechtzufinden und diese zu praktizieren.Dann wurde ein Gesetz über die parlamentarische Betei-ligung auf den Weg gebracht. Damit haben wir seit 2005eine klare gesetzliche Grundlage, wie ein Beschluss mitParlamentsbeteiligung zu fassen ist. Auf dieses Gesetzund auf unsere Erfahrungen können wir uns stützen.

(Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Richtig!)

Bisher haben wir die Verpflichtung zur umfassendenInformation. Wir haben die Verpflichtung, über Einsätzeschon im Stadium der Vorplanung zu diskutieren. Aktu-ell besteht das Problem: Welche Libyen-Einsätze werdenvon wem mit welcher Legitimation wo vorbereitet?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein Hinweis darauf, dass aktuell Defizite festzu-stellen sind. Wir haben Informationspflichten in Bezugauf den jeweiligen Verlauf, und wir haben Informations-pflichten im Rahmen einer Jahresbilanz. Ich glaube,diese bilanzierenden Berichte sind ein Pferdefuß; siewerden noch nicht hinreichend praktiziert, und es be-steht großer Nachholbedarf.

Die formale Obleuteunterrichtung ist in Ordnung,aber sie kann nicht reichen. Die Parlamentsarmee ist einVerfassungsgebot, und sie ist unteilbar. Es gibt keine Ar-mee in der Armee und schon gar keine Armee neben derArmee. Deshalb ist auch die KSK integraler Bestandteildieser Parlamentsarmee und entsprechend in ihrem Tunund Handeln rechenschaftspflichtig. Wir sind rechen-schaftspflichtig, was die Wahrnehmung unserer Verant-wortung gerade bei diesen Einsätzen angeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt aber auch, dass wir mit dieser Verantwor-tung sorgfältig umgehen müssen.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollege Groschek, gestatten Sie eine Frage des Kolle-

gen Ströbele?

Michael Groschek (SPD):Bitte.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Danke, Herr Kollege. – Da Sie gerade bei dieserFrage sind: Ich hatte nachgeschaut, seit wann der Kol-lege Kiesewetter Mitglied dieses Hauses ist und ob erdas wissen kann; aber er kann es offenbar nicht wissen:Die Verantwortung bezieht sich auf das ganze Parla-ment, nicht auf einen Ausschuss und schon gar nicht aufdie Obleute eines Ausschusses. Deshalb muss auch dasganze Parlament über alle Einsätze informiert werden.

(Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Ist daseine Zwischenfrage an mich, oder? – Heiter-keit bei der CDU/CSU)

Michael Groschek (SPD):Billard!

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Die Frage kommt jetzt. – Ist Ihnen bekannt, dass dasBundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus-drücklich festgestellt hat, dass „Parlamentsarmee“ heißt:eine dem gesamten Parlament verantwortliche Armee

Page 134: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Hans-Christian Ströbele

(A) (C)

(D)(B)

– das bedeutet, dass das gesamte Parlament informiertwerden muss –, und dass es nicht der Entscheidung desBundesverfassungsgerichts entspricht, wenn die jetzigeBundesregierung irrtümlicherweise meint, dass sie,wenn sie einzelne Leute wie zum Beispiel Obleute infor-miert hat, ihrer Informationspflicht ausreichend nachge-kommen ist?

Michael Groschek (SPD):Kollege Ströbele, da kann ich Ihnen nur antworten:

Ja. Im Übrigen teile ich Ihre Einschätzung, dass dieObleuteunterrichtung im Sinne dieser Rechtsprechungnicht ausreichend ist.

Ich komme zum Antrag zurück. Ich war bei demStichwort „wechselseitige Verantwortung“. Die Solda-tinnen und Soldaten des KSK tragen ganz besondere Ri-siken. Sie sind bei ihren Einsätzen unmittelbar mit tödli-cher Bedrohung konfrontiert. Deshalb haben wir diegroße Verantwortung, bei dem Bedürfnis, den gläsernenSoldaten zu schaffen, Grenzen zu ziehen und zu akzep-tieren. Die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten kannnicht in Kompromissen zwischen Opposition und Regie-rung verhandelt werden. Da muss man Fingerspitzenge-fühl haben. Deshalb sagen wir Ja; aber nach Einsätzenmüssen die Grundzüge im Parlament evaluierbar undkritisierbar sein, um im Zweifel Konsequenzen für künf-tige Einsätze ziehen und im Rahmen parlamentarischerVerantwortung korrigierend eingreifen zu können. Ichhabe Soldatinnen und Soldaten so kennengelernt, dasssie gesagt haben: Die Parlamentsverantwortung ist einhohes Gut. Seitdem es gefährliche Auslandseinsätzegibt, wissen wir, wie wichtig die Verantwortung des Par-lamentes für uns im Einsatz ist. – Wir haben daher eineVerpflichtung, dieser Verantwortung auch durch das Ein-fordern neuer Informationsqualitäten bestmöglich nach-zukommen.

Ich komme zum Punkt zwei, der uns wie das Einfor-dern eines Kriterienkatalogs vorkommt. Wir sagen: Dasmacht keinen Sinn. Wenn man den Punkt zwei mit demPunkt drei zusammennimmt, dann wird das eigentlicheProblem deutlich, das Sie mit diesen Instrumenten hilfs-weise lösen wollen. Unser gemeinsames Problem ist dasFehlen einer aktualisierbaren sicherheitspolitischenAgenda. Es gibt viel Stückwerk und Schubladen neben-einander. Wir leiden manchmal eher an zu viel parallellaufender schriftlicher als an systematischer und zielge-richteter Unterrichtung. Deshalb muss es unser gemein-sames Interesse sein, eine sicherheitspolitische Agenda,nationale Interessen beachtend, zu schaffen und in eineeuropäische sowie in eine Bündnisperspektive – Stich-wort „NATO“ – einzubetten.

Es gibt viele aktuelle Hinweise, die genau dieses De-fizit belegen: angefangen von der Bundeswehrreform,die ohne eine konzeptionelle Einbettung gestartet wurde,bis hin zu der Diskussion über Libyen. Die Enthaltungim Sicherheitsrat ist strategisch überhaupt nicht einzu-ordnen, sondern sie erscheint wie ein Zufallsprodukt.

(Beifall bei der SPD)

Das zeigt, dass wir ganz dringend eine Agenda der ver-netzten Sicherheitspolitik brauchen, die dann Grundlagefür eine gemeinsame Formulierung sicherheitspoliti-scher Schritte sein kann. Das ist der entscheidendePunkt. Kollege Kiesewetter, Ihre Schlussbemerkungzielt in diese Richtung. Ich würde mich freuen, wenn wirin den Ausschussdiskussionen über eine sicherheitspoli-tische Agenda einen Verständigungsprozess organisierenkönnten, wie er auch in manch anderen Bereichen mög-lich geworden ist.

Ich will mir einen Hinweis noch erlauben. Bei denBausteinen und Kriterien für eine denkbare Einsatzori-entierung haben Sie ein wesentliches Merkmal verges-sen, das aber unter anderem bei der Stimmenthaltung imSicherheitsrat eine Rolle zu spielen schien. Das war derHinweis darauf, dass wir nicht nur eine Verantwortunggegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die wir in denEinsatz schicken, haben, sondern dass wir auch eine ge-meinsame Verantwortung für die potenziellen Opfer ei-ner solchen Auseinandersetzung tragen, gleich welcherHerkunft und unabhängig davon, ob sie in Uniform oderin Zivil im Rahmen eines solchen Einsatzes sterben.Man muss sich daher fragen, wie adäquat der Mittelein-satz ist, wenn es gilt, Soldatinnen und Soldaten in denEinsatz zu schicken.

Frau Keul, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü-nen, wir hoffen, dass wir diesen Punkt in einem Diskus-sionsprozess auflösen können. Wir teilen Ihr Bedürfnisnach dichterer und transparenterer Information und ap-pellieren an uns Parlamentarier, die Informationspflich-ten wahrzunehmen. Wir hoffen, dass wir beim Formulie-ren einer sicherheitspolitischen Agenda einen Schrittnach vorne kommen; denn sie fehlt an allen Ecken undKanten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Dr. Djir-Sarai hat für die FDP-Fraktion

das Wort.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Die Genehmigung neuerAuslandsmandate – das ist vorhin schon von allen Red-nern gesagt worden – oder eine Einsatzverlängerungliegt nicht in der Hand der Regierung. Nein, die Ent-scheidung, deutsche Soldaten in Auslandseinsätze zuschicken, muss vom Parlament getroffen werden.

Die Parlamentsarmee ist deshalb ein starkes Symbolfür die demokratische Willensbildung und zeigt den gro-ßen Einfluss des deutschen Parlaments. Dieses Privilegist natürlich nicht nur mit Rechten, sondern auch mitVerpflichtungen verbunden. Dabei sind wir uns selbst-verständlich der großen Verantwortung bewusst, die mitdem Parlamentsbeteiligungsgesetz einhergeht. Die Grund-voraussetzung für eine gewissenhafte Entscheidung istdie sehr gute Versorgung mit Informationen, Informatio-

Page 135: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12065

Dr. Bijan Djir-Sarai

(A) (C)

(D)(B)

nen zu Situationen im Einsatzgebiet, Informationen zumZweck des Einsatzes oder zur Einsatzgestaltung.

Jede einzelne Einsatzentscheidung muss im Vorfeldgenauestens analysiert werden. Aus diesem Grunde ver-sorgt uns die Bundesregierung auf vielfältige Weise mitden wichtigsten Informationen dazu. Die Bundesregie-rung fokussiert in der wöchentlichen Ausgabe der „Un-terrichtung des Parlaments“ eine zeitnahe Unterrichtungzu den laufenden Bundeswehreinsätzen. Damit wird al-len interessierten Parlamentariern die Möglichkeit zurBeobachtung der verschiedenen Einsätze gegeben.

Ich halte den Aspekt der Aktualität für besonderswichtig. Deshalb begrüße ich die derzeitige Gestaltungder Unterrichtung sehr. Ein Gesamtbericht, wie er vomAntragsteller gefordert wurde, kann nicht im Sinne einerzeitnahen Erfassung der Lage sein; das haben wir bereitsbei anderen Diskussionen festgestellt. Der gefordertezeitnahe Evaluierungsbericht kann auch nicht im Sinneeiner rationalen Beurteilung des Einsatzes betrachtetwerden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ein Evaluierungsbericht würde höchstens dann Sinn ma-chen, wenn er mittel- bis langfristig ausgerichtet wird.Der Erfolg der meisten Einsätze der Bundeswehr lässtsich nämlich erst im Laufe der Zeit erkennen; das ist dieRealität.

Schon allein die Forderungen nach einem Kriterien-katalog sowie nach konkreten und überprüfbaren Ziel-vorgaben in diesem Antrag führen aufs Glatteis. Wie dieFachpolitiker unter uns wissen, finden sich in der Ge-schichte keine zwei exakt gleichen Auslandseinsätzewieder. Jeder Einsatz ist speziell und ist mit speziellenHerausforderungen verbunden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aus diesem Grund kann ein einzelner Kriterienkatalogniemals die Komplexität der Situation angemessen wi-derspiegeln. Jeder Einsatz muss individuell betrachtetwerden und darf nicht durch ein uniformes Raster gestri-chen werden.

Konkrete und überprüfbare Zielvorgaben sind natür-lich insbesondere im Militärbereich leicht aufzustellen.Die Frage, die sich stellt, ist jedoch: Wie sinnvoll ist einsolches Vorgehen? Ich bin davon überzeugt, dass dasnicht sonderlich sinnvoll ist, denn alle quantifizierbarenErfolge lassen in keinem Fall Rückschlüsse auf zivilge-sellschaftliche Erfolge von Auslandseinsätzen zu. DerEinfluss des Einsatzes auf die Regierungsführung, diepolitische Stabilität eines Landes oder das Vertrauen derBevölkerung in eine Verbesserung der Lage können mit-tels der in diesem Antrag vorgeschlagenen Maßnahmennicht beurteilt werden.

Deutlich beurteilt werden kann aber die Forderung imAntrag nach einem unabhängigen Expertengremium. Eshandelt sich hierbei um die Berichtsfunktion dieses Gre-miums. Die Aufstellung eines Mandats sowie die Beurtei-lung und Unterrichtung über Auslandseinsätze deutscherSoldaten sind ureigene Aufgaben der Bundesregierung.

An dieser Stelle haben Dritte keine Legitimation zu er-warten. Hier darf und wird keine Ausgliederung der Ver-antwortung stattfinden; mein Kollege hat das vorhin ge-sagt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sicherheitspolitik kann nicht ausgegliedert werden.

Ich kann zusammenfassend sagen: Einige der Forde-rungen der Antragsteller erfüllt die Bundesregierung be-reits in hohem Maße. Die anderen Forderungen, die inIhrem Antrag enthalten sind, können bei aller wohlge-meinten Intention nicht rational umgesetzt werden. Beiallem Verständnis: Die geplante Umsetzung ist so nichtmöglich. Der Antrag ist daher abzulehnen.

Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Be-merkung machen. Sie haben das Thema Afghanistan undden Fortschrittsbericht angesprochen. Sie haben all dieJahre natürlich darüber geredet, aber wir haben letztend-lich gehandelt. Wir haben geliefert, nicht Sie.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Gehrcke für die Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe die ganze Zeit geknobelt: Wie argumentiere ichbei diesem Antrag? Ich habe bislang keinem Ausland-seinsatz zugestimmt und habe auch nicht vor, das zu ma-chen. Ich bin stolz darauf, dass dies nicht nur eine indivi-duelle Haltung ist, sondern auch die Haltung meinerFraktion: Wir haben keinem Auslandseinsatz zuge-stimmt und werden es auch nicht tun.

(Beifall bei der LINKEN – Roderich Kiese-wetter [CDU/CSU]: Dann brauchen Sie auchkeine Kriterien!)

– Eben. Das war ja mein Problem.

Im Antrag werden jetzt Prüfkriterien präsentiert. Ichbin trotz meiner grundsätzlichen Position, die ich geradedeutlich gemacht habe, dafür, dass man ernsthaft darüberredet. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Mich persön-lich bewegen hier zwei Motive: Erstens. Ich will mit sol-chen Prüfkriterien die Zustimmung zu Auslandseinsät-zen der Bundeswehr schwerer, wenn nicht sogarunmöglich machen. Das kann man erreichen, wenn manes schlau anfängt. Zweitens. Ich möchte eine Kräftever-schiebung mit befördern, weg vom Regierungshandeln,hin zu den Parlamentsrechten. Das ist hier immer um-stritten gewesen. Das sind die Motive, die mich bewe-gen, überhaupt ernsthaft bei dieser Frage mitzudiskutie-ren. Man kann sich verschiedene Sachen anschauen, dieim Antrag enthalten sind.

Der erste Punkt, bei dem ich glaube, dass der Antragvöllig berechtigt ist, ist folgender: Ich halte die Unter-

Page 136: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Wolfgang Gehrcke

(A) (C)

(D)(B)

richtung des Parlaments über die Auslandseinsätze in-haltlich wie formal für völlig ungenügend und nicht zuakzeptieren.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die Sonderbehandlung, das Obleutesystem – dieFraktionsvorsitzenden haben dem ja zugestimmt –, halteich für völlig inakzeptabel. Man erfährt nämlich über-haupt nichts. Wir werden morgen um 7.30 Uhr wiederim U-Boot im Verteidigungsministerium sitzen. Dannglaubt man, man hat etwas erfahren, geht raus, geht insCafe, weil man nicht mitschreiben kann, guckt sich an,was man erfahren hat, und stellt fest: Es stand allesschon in der Zeitung. Die Regierung informiert nichtvernünftig. Sie informiert nicht präzise.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte auch nicht, dass zwei Kategorien von Ab-geordneten entstehen, Abgeordnete, die etwas erfahren,und Abgeordnete, denen etwas verschwiegen wird. Die-jenigen, die etwas erfahren, werden sogar unter Druckgesetzt und dürfen noch nicht einmal ihren Kollegen inden Ausschüssen mitteilen, was sie erfahren haben. Esist absurd, wenn man gefragt wird: „Wie ist es mit derKSK?“, und man noch nicht einmal sagen darf, ob die daoder nicht da sind, weil selbst das geheim ist. Das mussunbedingt geändert werden.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, dass manerst jetzt über eine Bilanzierung von Auslandseinsätzenredet. Dieses Parlament hat Auslandseinsatz auf Aus-landseinsatz beschlossen. Aber keiner hat am Ende wirk-lich kritisch nachgefragt: Welches sind die Ergebnisseder Einsätze? Was ist moralisch, politisch, menschlichzerstört worden? Was ist mit den Einsätzen erreicht wor-den? Auch das halte ich für völlig inakzeptabel.

Ich möchte auch gern, dass am Parlamentsbeteili-gungsgesetz Veränderungen vorgenommen werden. Dar-über müsste man ernsthaft reden. Das Parlament mussein größeres Recht erhalten, Auslandseinsätze zu been-den – auch mitten im Einsatz – und die Armee zurückzu-holen.

(Beifall bei der LINKEN – Katja Keul[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Rechthat es ja!)

Es muss das Recht haben, solche Auslandseinsätze zuverbieten. Wir diskutieren doch nicht im luftleerenRaum. Schauen wir uns einmal das Trauerspiel um denLibyen-Einsatz an. Das ist doch eine Katastrophe, wasdort abläuft.

Bei der Beschlussfassung müssen die Fraktionen dasRecht haben, zu Anträgen der Bundesregierung Alterna-tivanträge zu stellen. Wir haben ja nur das Recht, Ja oderNein zu sagen. Außer einer Entschließung gibt es keinemateriellen Rechte. Ich glaube, dass man über solcheFragen reden muss.

Zum Schluss, liebe Kollegen der Grünen: Als ich Ih-ren Antrag gelesen habe, habe ich mich an meinen Lieb-lingsroman erinnert: Die Abenteuer des braven SoldatenSchwejk. Schwejk war entschieden dafür, dass der KriegRegeln erhält. Ich bin entschieden dafür, dass der Frie-den Regeln erhält. Sie hatten einmal gute Positionen.Wenn Sie ordentlich arbeiten und wieder darauf zurück-kommen, wäre das ein echter Fortschritt in diesemHause.

Danke sehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Dr. Brandl für die Unions-

fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Entscheidungen über Auslandseinsätze, die wirhier in diesem Saal zu treffen haben, sind mit dieschwerwiegendsten Entscheidungen, die von diesen Ab-geordneten zu treffen sind. Schwerwiegend sind sie be-sonders deshalb, weil es neben den politischen Fragenauch ethische Aspekte des Handelns und des Nichthan-delns abzuwägen gilt, und zwar in jedem einzelnen Fall.Die Kollegen haben es vorhin angesprochen: Jeder Fallist anders.

Wenn wir eines aus der Geschichte lernen können,dann ist es doch, dass wir heute nicht vorhersehen kön-nen, vor welchen Fragen wir in einem Jahr, geschweigedenn in fünf oder in zehn Jahren stehen. Die Situation inLibyen ist heute doch ganz anders gelagert, als sie da-mals in Afghanistan war oder wie sie auf dem Balkanwar. Die Situation war vor einem Jahr auch nicht vorher-sehbar.

Klar ist, dass unsere Entscheidungen weder nach au-ßen noch nach innen willkürlich wirken dürfen. Wirbrauchen für unsere Außenpolitik und die Entscheidun-gen über Auslandseinsätze eine klare politische, wert-orientierte Linie. Die Frage ist, inwieweit wir diese Linieanhand einer Checkliste in die Zukunft vorzeichnen kön-nen. Meine Einschätzung dazu ist: Angesichts der Kom-plexität und der Unterschiedlichkeit der einzelnenEinsätze und der einzelnen Anfragen, die uns gestelltwurden, muss man sagen: Wir können es nicht.

Natürlich gibt es politische Leitplanken, an denen wiruns orientieren können, wie zum Beispiel das Vorhan-densein eines völkerrechtlichen Mandats. Der KollegeKiesewetter hat vorhin in seiner Rede sechs weitere sol-cher Leitplanken genannt. Vermutlich, Frau KolleginKeul, haben Sie in Ihren Fraktionen – –

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur eine!)

– Ich habe gleichzeitig auch die SPD gemeint. Es tut mirleid.

Page 137: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12067

Dr. Reinhard Brandl

(A) (C)

(D)(B)

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch fast das Glei-che!)

Vermutlich haben Sie, Frau Kollegin Keul und Herr Kol-lege Groschek, in Ihren Fraktionen ähnliche oder anderePunkte, an denen Sie sich orientieren. Das ist auch rich-tig.

Ich stimme Ihnen und dem Kollegen Kiesewetter zu,dass wir in der Frage der Unterrichtung des Parlamentseine ganzheitliche, ressortübergreifende Informationbrauchen. Wir können heute aber nicht festschreiben,welche Kriterien mit welcher Gewichtung in einem nichtbekannten Fall in der Zukunft maßgeblich sein sollen.Wenn ich dann irgendwann einmal zu einem EinsatzNein sage,

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na gut, machen Sie doch!)

dann will ich mir auch nicht vorhalten lassen: Aber dumusst doch, alle Kriterien, denen du damals zugestimmthast, sind erfüllt.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist damit nicht gemeint!)

Jenseits aller politischen Kriterien ist eine solche Ent-scheidung immer auch eine Gewissensentscheidung. DieFreiheit dazu möchte ich mir nicht nehmen lassen.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die will ich Ihnen auch nicht nehmen!)

Welche Leitlinien für das Gewissen gelten, muss jederAbgeordnete mit sich selbst vereinbaren. Auch das istnicht einfach.

Der Herr Kollege Kiesewetter hat heute eine Reihevon politischen Kriterien hergeleitet.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Leitplanken! – Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Bausteine!)

– Ob Sie es Kriterien oder Leitplanken nennen, FrauKollegin Keul, ist eigentlich egal. – Es geht uns darum,dass es keine Checklisten gibt, an denen man abhakenkann: 80 Prozent sind erfüllt, was machen wir dann?Stimmen wir zu, oder stimmen wir nicht zu?

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Da steht auch nicht „Checklisten für Bundes-wehr-Auslandseinsätze“!)

– Ja, da steht „Prüfkriterien“. Aber wenn Sie den Antraglesen, sehen Sie, dass genau das darin steht.

Es gibt neben den politischen Leitplanken, die HerrKollege Kieswetter angesprochen hat, auch noch ethi-sche Leitplanken. Für mich persönlich war es sehr hilf-reich, dass sich auch die Kirchen mit diesem Thema in-tensiv beschäftigt haben. Bevor ich ins Parlament kam,war mir das gar nicht so sehr bewusst. Ich habe danachdas Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz „Ge-rechter Friede“ gelesen. Darin wird die Gewaltanwen-

dung als letztes Mittel der Politik als nur dann zulässigbeschrieben, wenn sie zeitlich begrenzt ist, mit klarerZielsetzung auf das internationale Gemeinwohl ausge-richtet ist

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na bitte!)

und in der Verantwortung einer internationalen Autori-tät, das heißt der Vereinten Nationen, erfolgt. Alle ande-ren Mittel müssen entweder unanwendbar oder unwirk-sam sein. Der Waffeneinsatz darf nicht mehr Übelhervorbringen als das zu beseitigende Übel selbst.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sehr richtig!)

Aber, Frau Kollegin Keul, auch das sind nur Leitplan-ken, die uns die konkrete Entscheidung im Einzelfallnicht abnehmen. Über den jeweiligen Einzelfall müssenwir selbst nach bestem Wissen und Gewissen entschei-den.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5099 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Vormundschafts- undBetreuungsrechts

– Drucksache 17/3617 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 17/5512 –

Berichterstattung:Abgeordnete Andrea Astrid VoßhoffSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Sonja Steffen,Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Änderung des Vormundschaftsrechts und wei-tere familienrechtliche Maßnahmen

– Drucksachen 17/2411, 17/5512 –

Page 138: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsidentin Petra Pau

(A) (C)

(B)

Berichterstattung:Abgeordnete Andrea Astrid VoßhoffSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeStephan Thomae für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Stephan Thomae (FDP):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte

Kollegen! Am 10. Oktober 2006 machten Polizeibeamtein Bremen einen grausigen Fund: Sie entdeckten imKühlschrank der Wohnung eines drogenabhängigen Va-ters die Leiche eines kleinen Kindes.

Der kleine Kevin, geboren im Januar 2004, hat in sei-nem kurzen Leben Bekanntschaft gemacht mit Kliniken,mit Heimen, mit Sozialarbeitern, aber die notwendigeFürsorge hat er nicht erfahren. Als Kevin acht Monatealt war, äußerte die Polizei gegenüber dem Jugendamtden Verdacht auf einen gravierenden Fall der Kindes-misshandlung. Als Kevin neun Monate alt war, wurde ermit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. AlsKevin elf Monate alt war, kam er in die Obhut eines Kin-derheimes. Als er 18 Monate alt war, starb seine drogen-süchtige Mutter. Das Jugendamt erhielt die Vormund-schaft über ihn, und er wurde zurück in die Obhut seinesVaters gegeben. Im Oktober 2006 wurde seine Leiche imKühlschrank des Vaters gefunden.

Wir haben in der Politik die Aufgabe, die Konsequen-zen hieraus zu ziehen, indem wir zunächst die Ursacheneines solchen Falles analysieren und ihn einer genauenBetrachtung unterziehen. Der Vater nahm Termine, diedas Jugendamt anberaumt hatte, nicht mehr wahr. DerAmtsvormund, der für Kevin verantwortlich war, hatte200 Vormundschaftsfälle zu betreuen. Er hatte kaumpersönlichen Kontakt zu seinem Mündel, was bei diesergroßen Fallanzahl, die er zu bewältigen hatte, fast nichtverwundern kann. Kevin füllte eine dicke Akte beim Ju-gendamt; aber diese dicke Akte konnte sein kurzes Le-ben nicht retten.

Die Regierung und wir als Gesetzgeber wollen heutemit der zweiten und dritten Beratung eines Gesetzes zurVerbesserung der Vormundschaftsregelungen die Konse-quenzen daraus ziehen. Es gibt zwei wichtige Punkte,derer wir uns heute in dem Ihnen vorliegenden Entwurfder Bundesregierung annehmen wollen.

Punkt eins betrifft die Regelung, dass ein Vormundein Mündel in der Regel einmal monatlich in seiner ge-wöhnlichen Umgebung, also zu Hause, besuchen muss.Im Einzelfall kann das auch mehr oder weniger häufigsein. Es kann auch in Betracht kommen, dass dieserKontakt an anderen Orten stattfindet. Dieser Punkt, dass

der Kontakt nicht unbedingt zu Hause stattfinden muss,ist in Ihrem Antrag ebenso enthalten wie im Gesetzent-wurf der Regierung; Frau Kollegin Steffen wird sichnachher noch dazu äußern. Im Einzelfall kann von dieserRegel abgewichen werden. Wir haben Vertrauen zu denMitarbeitern der Jugendämter, dass sie bestimmen kön-nen, wo ein problemloser oder ein problembehafteterFall vorliegt. Wir wollen hier die Jugendämter nicht inein zu enges Korsett zwängen.

Punkt zwei. Wir wollen die Fallzahl pro Amtsvor-mund auf 50 begrenzen. Der Antrag der SPD-Fraktionsieht eine Begrenzung auf 40 Fälle vor. Man kann natür-lich immer eine Unterbietung vornehmen. Egal wo mandiese Grenze ansetzt, kann man immer versuchen, dieseZahl zu unterbieten. Der Hintergrund ist aber der, dasswir in vielen Bundesländern gute Erfahrungen mit einerBegrenzung auf 50 Fälle gemacht haben. Wir haben Ver-trauen in die Mitarbeiter der Jugendämter, dass sie mitdieser Größenordnung verantwortungsvoll umgehenkönnen.

Bei 200 Fällen allerdings – das ist uns allen klar – istein verantwortungsvoller Kontakt auch für den fürsorg-lichsten und gewissenhaftesten Mitarbeiter nicht mehrmöglich. Da ist auch der fürsorglichste Jugendamtsmit-arbeiter überlastet. Das Problem liegt also nicht in demUnterschied zwischen 40 und 50 Fällen, sondern in demzwischen 50 und 200 Fällen. Dieses Problem lösen wirmit unserem Gesetzentwurf. Eine geringfügige Über-schneidung ist, glaube ich, nicht das Problem. Das ist derKernpunkt, in dem wir uns – darüber freue ich mich sehr –in diesem Hohen Hause weitgehend einig sind.

Das sind die beiden Kernpunkte des heute zu verab-schiedenden Gesetzentwurfs.

Ich erlaube mir, abschließend einen Ausblick zu ge-ben; denn wir wollen nicht bei dem stehen bleiben, waswir heute zur Vermeidung von Fällen wie dem vonKevin beschließen wollen. Im Zusammenhang mit denVormündern wollen wir auch eine Leitbilddiskussionführen. Diesbezüglich wollen wir weitere Korrekturenvornehmen, zum Beispiel bei der Frage, ob ein Vormundauch das Sorgerecht für seine Mündel erhalten soll. Daswürde eine Änderung des § 1800 BGB bedeuten. Wirwollen auch darüber diskutieren, ob ein Vormund in ge-richtlichen Verfahren als Beteiligter zwingend angehörtwerden muss. All das wollen wir weiter besprechen.

Wir wollen uns den Anregungen, die vonseiten derOpposition kommen werden, nicht verschließen. ImRahmen des Gesetzesvorhabens, das heute auf derAgenda steht, haben wir alle Anregungen aufgenommen.An dieser Stelle möchte ich deshalb allen Kolleginnenund Kollegen aus den Koalitionsfraktionen und den Op-positionsfraktionen meinen Dank für die konstruktiveMitwirkung bei diesem, wie ich meine, auch menschlichsehr wichtigen Gesetzesvorhaben aussprechen. Im An-schluss an den Dank möchte ich die Bitte aussprechen,dass der heute vorliegende Gesetzentwurf in diesem Par-lament eine breite Zustimmung erfährt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(D)

Page 139: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12069

(A) (C)

(D)(B)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Sonja Steffen von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sonja Steffen (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In einem Punkt sind wir uns fraktionsüber-greifend einig: Der Schutz unserer Kinder hat oberstePriorität, und der Gesetzgeber muss alles daransetzen,dass Fälle wie der des kleinen Kevin, dessen traurigesSchicksal Herr Thomae uns vorhin geschildert hat, zu-künftig verhindert werden,

(Beifall bei der SPD)

jedenfalls soweit dies mit staatlicher Hilfe möglich ist.

Wir begrüßen daher jede gesetzliche Änderung, diedazu dient, die Erfüllung der staatlichen Schutzpflichtgegenüber Kindern zu verbessern. Vormünder spielen indiesem Bereich eine ganz zentrale Rolle. Im Fall vonKevin – auch das hat der Kollege Thomae vorhin schongesagt – kamen auf zweieinhalb Planstellen bei derSozialbehörde rund 650 Mündel. Das bedeutet für jedenVormund 260 zu betreuende Kinder. Eine verantwor-tungsvolle Wahrnehmung der mit einer Vormundschaftverbundenen Aufgaben ist unter solchen Umständen un-möglich.

(Beifall bei der SPD)

Zu Recht stehen daher bei dem vorliegenden Gesetz-entwurf der persönliche Kontakt mit dem Mündel unddie Begrenzung der Vormundschaftsfälle im Vorder-grund. Allerdings sind wir uns nicht mehr einig – daraufhaben Sie schon hingewiesen –, wenn es um die kon-krete Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen geht,insbesondere wenn es um die Fallobergrenze geht.

In dem vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, dass einvollzeitbeschäftigter Beamter oder Angestellter höchs-tens 50 Vormundschaften führen soll. „Soll“ in einer ge-setzlichen Regelung heißt zwar in der Regel „muss“;Überschreitungen sind in Ausnahmefällen jedoch mög-lich. Aus unserer Sicht wäre hier eine Mussvorschrift er-forderlich gewesen, um eine tatsächliche Schallgrenzezu setzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und der Abg. Ingrid Hönlinger[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir bleiben daher bei der Forderung unseres heute eben-falls zur Abstimmung vorliegenden Antrags, die Ober-grenze auf 40 Vormundschaften in Form einer Mussvor-schrift festzulegen.

(Beifall bei der SPD)

Die Aussagen der Sachverständigen in der öffentli-chen Anhörung – viele von uns waren dabei – haben unsin dieser Position bestärkt; denn es bestanden aufseitender Experten große Zweifel im Hinblick auf die prakti-sche Einhaltung der Fallobergrenze und der Durchfüh-rung des gleichzeitig vorgeschriebenen monatlichen

Kontaktes. Ich will Ihnen das einmal anhand eines Zah-lenbeispiels erklären: Ein vollzeitarbeitender Vormundmit 50 Mündeln müsste nach Ihren Vorgaben zum mo-natlichen persönlichen Kontakt pro Jahr 600 Besuche or-ganisieren. Bei 220 Arbeitstagen bedeutet das, dass proTag zwei bis drei Mündel besucht werden müssen. Wennman bedenkt, dass jeder Besuch der Planung bedarf, dasssich viele Mündel weit weg von der Behörde aufhalten,dass sie in Pflegefamilien oder in Heimen untergebrachtsind, dann wird klar, dass das im Grunde genommenkaum möglich ist. Es kann sich nur um sehr kurze Kon-trollbesuche handeln, die den unterschiedlichen Situatio-nen, in denen sich die Mündel befinden, und der Perso-nensorge nicht gerecht werden können. Vor diesempraktischen Hintergrund wurde der monatliche Kontaktim vorliegenden Entwurf – auch das haben Sie schon ge-sagt – als Regelausnahmevorschrift ausgestaltet. Daslässt natürlich einen Freiraum zu. Wie sich dieser Frei-raum in der Praxis allerdings tatsächlich auswirken wird,bleibt abzuwarten. Wir hätten uns hier eine stärker amWohl des Mündels orientierte Vorschrift mit einem klarfestgeschriebenen vierteljährlichen Kontakt gewünscht.

(Beifall bei der SPD)

Denn die Notwendigkeit und das Bedürfnis nachKontakt richten sich nach der individuellen Fallgestal-tung. Die Kontakte sind vom Einzelfall und von der Si-tuation vor Ort abhängig. Ausschlaggebend für die In-tensität der persönlichen Kontakte zwischen Vormundund Kind sollte immer der Bedarf des Kindes sein. An-dererseits sollte gewährleistet sein, dass der Vormundauch bei augenscheinlich unproblematischen Situationenim Lebensbereich des Kindes regelmäßige Besuche vor-nimmt; denn die Neuregelung soll es dem Mündel er-möglichen, in seinem Vormund eine zuverlässige Be-zugsperson zu finden. Die Umsetzung eines monatlichenKontaktes läuft Gefahr, für den Vormund und für dasMündel zu einer oft nicht nötigen Pflichtveranstaltungzu werden. Den Vormündern ist hier ein größerer zeitli-cher Spielraum innerhalb verbindlicher und praktisch er-reichbarer Eckdaten zu überlassen.

(Beifall bei der SPD)

Die Einführung einer als Mussvorschrift festgeschrie-benen vierteljährlichen Regelung wäre aus unserer Sichtzielführender gewesen als ein im Regelfall monatlicherKontakt, der vermutlich schon bald eine Ausnahme seinwird. Um auch hier noch einmal ein Rechenbeispiel zubringen: Bei unserem Vorschlag, vierteljährlicher Kon-takt und Fallzahlobergrenze 40, wäre es möglich, einenBesuch pro Arbeitstag zu organisieren. Dann findet manzu vernünftigen Lösungen.

Einige der in unserem Antrag angeregten Änderun-gen, wie beispielsweise die Einführung eines Anhö-rungsrechts für den Vormund vor dem Familiengericht,hat das BMJ mit dem Hinweis auf die geplante Gesamt-reform des Vormundschaftsrechts vorerst abgelehnt bzw.verschoben. Herr Thomae hat hier schon eine Diskus-sion angekündigt. Wir hoffen, dass wir in der Oppositionuns dort einbringen können. Sie können sich sicher sein,dass wir dies an der einen oder anderen Stelle mit Nach-druck versuchen und hoffentlich auch erfolgreich tun

Page 140: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sonja Steffen

(A) (C)

(D)(B)

werden. Denn es bleibt noch einiges zu tun, wenn wirdie Vormundschaft und die Betreuung grundsätzlich ver-bessern wollen.

Es gibt noch ein weiteres Problem. Es bleibt schließ-lich offen, inwiefern der Bundesrat bei der Verabschie-dung des vorliegenden Gesetzentwurfes mitzureden hat.Nicht nur der Bundesrat, auch der WissenschaftlicheDienst des Deutschen Bundestages geht bei dem Gesetz-entwurf von einer Zustimmungspflicht aus. Die Bundes-regierung bleibt jedoch bei ihrer Haltung, dass der Bun-desrat nicht zustimmen muss. Wir befürchten daher, dassder Gesetzentwurf an der Zustimmungspflicht des Bun-desrates scheitern könnte. Es wäre daher vielleicht klü-ger gewesen, sich im laufenden Reformverfahren mitden Ländern zusammenzusetzen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

um eine bessere Praktikabilität des Gesetzes und damiteine breite Zustimmung auf Länderebene zu erreichen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, insgesamt –darin sind wir uns einig; das möchte ich hier noch ein-mal betonen – geht der Gesetzentwurf mit seiner Absichtdes stärkeren Kinderschutzes in die richtige Richtung.Allerdings geht er uns nicht weit genug. Deshalb werdenwir uns bei der Abstimmung enthalten.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ute Granold (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

befassen uns heute mit einer Gesetzesänderung zum Vor-mundschafts- und Betreuungsrecht. Wir haben in denletzten Wochen, denke ich, auf sehr sachlicher Basis ver-sucht, hier gemeinsam einen Weg zu finden, einen erstenSchritt zu tun. Ich denke, er geht in die richtige Rich-tung. Es geht um das Wohl und die Interessen minder-jähriger Kinder, die unter Vormundschaft stehen. Es gehtum Menschen, die des besonderen Schutzes des Staatesbedürfen. Es geht um Kevin und viele andere Kinder, dieein ähnliches Schicksal erlitten haben. Es geht bei die-sem Gesetz darum, Vernachlässigung und Missbrauchrechtzeitig zu erkennen und verhindern zu helfen.

Die Vormundschaft umfasst die gesamte elterlicheSorge, das heißt Fälle, wo den Eltern die Sorge entzogenund diese in der Regel auf das Jugendamt übertragenwurde. Wir hatten in Deutschland 2007 30 547 Fälle,2009 waren es 31 082 Fälle.

Wir haben in der letzten Wahlperiode einiges in die-sem Bereich getan. Ich erinnere daran: § 1666 BGB, dasGesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnah-men bei der Gefährdung des Kindeswohls. Vorher sah

die Praxis so aus, dass, wenn ein Gericht eingeschaltetwurde, das letzte Mittel im Entzug der elterlichen Sorgebestand. Wir wollten die Möglichkeit schaffen, dass dieGerichte schon früher eingeschaltet werden. Wir wolltenein möglichst frühes und niederschwelliges Tätigwer-den, das für die Kinder und für die Eltern gut ist. So wur-den zum Beispiel das Gebot, für die Einhaltung derSchulpflicht zu sorgen, und das Gebot, Leistungen derKinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen, einge-führt. Ich denke, in diesem Bereich ist das materielleRecht zum Positiven geändert worden.

Im Anschluss daran haben wir das Familienverfah-rensgesetz in Kraft gesetzt – das FGG haben wir aufge-hoben – und damit begleitend dazu beigetragen, dass denVerfahren, die Kinder betreffen, Vorrang eingeräumtwird. Sie müssen innerhalb eines Monats durchgeführtwerden. Damit haben wir ein Vorrang- und Beschleuni-gungsgebot in das Gesetz aufgenommen.

An dieser Stelle ist es ganz wichtig, darauf hinzuwei-sen, dass die allermeisten Eltern ihrer Sorgepflicht nach-kommen, ihre Kinder verantwortlich erziehen und sieliebevoll betreuen und versorgen. Der Schutzauftrag desStaates ist den Fällen vorbehalten, in denen es im jewei-ligen Elternhaus Defizite gibt.

Wir haben einen gesetzgeberischen Handlungsbedarferkannt, sowohl aufgrund der Empfehlungen der Arbeits-gruppe, die vom Justizministerium eingesetzt wurde,nachdem wir den § 1666 BGB geändert haben, als auchaufgrund der Evaluierung des Betreuungsrechtänderungs-gesetzes, das wir in der letzten Wahlperiode auf den Weggebracht haben.

Der zentrale Punkt – er wurde schon angesprochen –ist der persönliche Kontakt des Vormundes zum Mündelbzw. des Betreuers zu seinem Schützling, dem Betreu-ten. Dieser Kontakt muss im Gesetz verankert werden.Das ist für uns ein wichtiger Punkt, der sofort umgesetztwerden soll.

Hinzu kommt, dass dieser Kontakt auch kontrolliertwird; dies muss deshalb auch in den jährlichen Berichtdes Vormundes, des Betreuers, aufgenommen werden. Ineinem weiteren Schritt untersteht das Ganze der Kon-trolle, der Aufsicht durch das Familiengericht. Weil unsdies so wichtig ist, haben wir festgelegt: Wenn der per-sönliche Kontakt im Falle der Betreuung nicht eingehal-ten wird, ist dies ein Grund, den Betreuer zu entlassen.

Ebenso bedeutsam wie der persönliche Kontakt ist dieBegrenzung der Zahl der Mündel, um die sich ein Vor-mund zu kümmern hat. Wir haben im Rechtsausschusseine umfassende Anhörung durchgeführt; das wurdeschon angesprochen. In Anbetracht der Ergebnisse die-ser Anhörung haben wir einige Änderungen am Gesetz-entwurf der Koalitionsfraktionen vorgenommen. Auchunter Einbeziehung der Änderungsanträge von SPD undLinken haben wir dem Rechtsausschuss einen Be-schlussvorschlag vorgelegt, von dem wir denken, dasswir ihn umsetzen können. Dabei war für uns der allei-nige Maßstab das Wohl des Kindes bzw. des Mündels.

Der persönliche Kontakt wurde bereits angesprochen.Wir haben im Gesetz die Regelung getroffen, dass der

Page 141: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12071

Ute Granold

(A) (C)

(D)(B)

Kontakt im Regelfall monatlich zu erfolgen hat, dass imEinzelfall aber auch kürzere oder längere Besuchsab-stände erforderlich sein können. Das Interesse des Kin-des und die Situation des Mündels sollen bei der jeweili-gen Regelung berücksichtigt werden, und die notwen-dige Flexibilität soll gewährleistet sein.

Weil uns sehr wichtig ist, dass der Kontakt in der Pra-xis tatsächlich erfolgt, haben wir festgelegt, dass dieFallzahl auf 50 Vormundschaften pro Vormund begrenztist. Diese Fallzahl ist auch von den Sachverständigen inder Anhörung als praktikabel beurteilt worden; diese Re-gelung muss von den Jugendämtern umgesetzt werden.Es sind also nicht 200 oder, wie es zurzeit durchschnitt-lich der Fall ist, 120 Vormundschaften pro Vormund,sondern 50. Hätten wir die Fallzahl auf 40 festgelegt,hätten Sie vielleicht 30 gefordert. Wir meinen, die Be-grenzung auf 50 Vormundschaften pro Vormund ist inOrdnung.

Wir haben diese Regelung als Sollvorschrift ausge-staltet, das heißt, 50 Vormundschaften pro Vormund sindder Regelfall. Wenn es aus jugendamtsinternen Gründenfür kurze Zeit ein oder zwei Fälle mehr sein sollten, dannist auch dies akzeptabel. Aber grundsätzlich ist die Zahlder Vormundschaften pro Vormund auf 50 begrenzt. DieseBegrenzung ist für uns unverzichtbar und stellt die abso-lute Obergrenze dar. Wenn Sie dies als „Schallmauer“bezeichnen wollen – auch in der Anhörung hieß es, dieFallzahl 50 sei akzeptabel, da realistisch und umsetzbar –,dann soll es so sein.

Wir haben deutlich gemacht, dass wir alles Weitere,worüber wir diskutiert haben, gemeinsam mit der Oppo-sition, in einem zweiten Schritt bei der Reform bzw. derModernisierung des Vormundschaftsrechts, das noch ausdem vorletzten Jahrhundert stammt, umsetzen wollen.Dazu gehört das Leitbild, das Berufsbild ebenso wie dasTätigkeitsfeld des Vormundes. Die Beteiligung desMündels wurde bereits angesprochen. Bei der Anord-nung bzw. der Führung der Vormundschaft soll das Mün-del dann auch abhängig von geistiger Fähigkeit undReife an Entscheidungen des Vormundes beteiligt wer-den.

Ein eigenes Anhörungsrecht des Vormundes in fami-liengerichtlichen Verfahren ist ein weiterer Aspekt, überden wir gerne noch diskutieren können. Über einige we-nige Punkte, die ich gerade erwähnt habe, haben wirschon im Berichterstattergespräch diskutiert. Auch dieseVorhaben werden wir auf den Weg bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich noch auf das Inkrafttreten des Geset-zes zu sprechen kommen – ich denke, dieser Punkt wirdvom Kollegen von der Linken noch angesprochen –: Esist ein zweistufiges Verfahren vorgesehen.

Zum Inkrafttreten. Wir haben das – nach eingehenderDiskussion und nachdem wir es auch noch einmal über-prüft haben – als richtigen Weg empfunden. Wir sagen:Der persönliche Kontakt des Vormundes mit dem Mün-del, aber auch die jährliche Berichtspflicht sind so wich-tig, dass dies mit Inkrafttreten des Gesetzes, das heißt

mit dem Tag der Verkündung, umgesetzt werden muss.Zu allem anderen – das heißt zur Fallzahlbegrenzungund zur Aufsicht durch das Familiengericht – sagen wir,dass ein Jahr Zeit gegeben werden muss, um die nötigeOrganisation in den Behörden bzw. bei den Gerichten zuermöglichen. Das ist auch realistisch. Die SPD hat zwarbeantragt, dass es kein Jahr sein soll, sondern neun Mo-nate. Darauf wird es, denke ich, aber nicht ankommen.Wir wollen in einem zweiten Schritt – das wäre nach ei-nem Jahr – das Weitere, was uns ein Anliegen ist, aufden Weg bringen.

Die Beteiligung des Bundesrates wurde angespro-chen. Wir sind nach mehrfacher Überprüfung – dazuwurden bereits einige Ausführungen gemacht; einigemeinten, es bedürfe einer Zustimmung des Bundesrates –zu der Ansicht gelangt, dass eine solche Zustimmungnicht erforderlich ist. Nach Art. 104 a Abs. 4 des Grund-gesetzes ist die Führung einer Vormundschaft keine ver-gleichbare Dienstleistung im Sinne der Vorschrift. Bis-lang sind im Gesetz die Vormundschaft und auch dieKontakte zum Mündel geregelt. Die Aufgaben des Vor-mundes sind konkretisiert worden. Die Fallzahlfest-schreibung ist ebenfalls eine Konkretisierung, keine Er-weiterung. Wir meinen daher, dass das Gesetz nichtzustimmungspflichtig ist.

Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was dieKollegin Hönlinger vielleicht noch ansprechen wird.Das ist die Frage der Trennung zwischen Vormund-schafts- und Betreuungsrecht. – Ja, ich habe eine langeRedezeit; die muss ich ausnutzen.

(Beifall der Abg. Andrea Astrid Voßhoff[CDU/CSU] – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]:Sie können mir ja was abgeben!)

– Es ist so! Eine große Fraktion hat eine lange Redezeit,und wir von der Union haben jetzt keinen zweiten Red-ner. Ich meine daher, es ist sinnvoll, dass man auf das,was diskutiert wurde, auch eingeht; das ist gut so.

Bei der Trennung zwischen Vormundschaft und Be-treuung gebe ich Ihnen grundsätzlich recht. Es hat sichmit der Änderung des Betreuungsrechtes in der letztenWahlperiode – es wurde übrigens jetzt von der Bundes-regierung auf eine Große Anfrage der Grünen hierzu ge-antwortet – gezeigt, dass wir überhaupt weltweit einesder modernsten Betreuungsrechte haben. Das war natür-lich auch ein großes Lob an die Bundesregierung. Dashaben wir in der letzten Wahlperiode auf den Weg ge-bracht. Die angesprochene Trennung ist grundsätzlichrichtig. Es ist aber durch die Evaluierung festgestelltworden, dass der persönliche Kontakt zwischen Betreu-ern und Betreuten – das sind in der Regel ältere Men-schen – durch dieses Gesetz zurückgegangen ist. Derpersönliche Kontakt hat gelitten. Uns ist es wie bei denKindern auch bei den Betreuten sehr wichtig, dass derpersönliche Kontakt vorhanden ist. Deshalb gibt es dieVerweisung von der einen Vorschrift zur anderen. Wirwollen mit diesem Schritt sicherstellen, dass der persön-liche Kontakt zu den älteren betreuten Menschen da ist.Deshalb haben wir im Gesetz diese Verbindung geschaf-fen.

Page 142: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ute Granold

(A) (C)

(D)(B)

Auch im Betreuungsrecht gibt es eine vom BMI ein-gesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wenn deren Eva-luierung ausgewertet ist, wollen wir auch hier in einemweiteren Schritt, aufbauend auf dem jetzigen Gesetz, dieÄnderungen, die unter anderem vom Bundesverband derBerufsbetreuer an uns herangetragen wurden, beratenund das Erforderliche auf den Weg bringen.

Wir als Gesetzgeber wollen die Mündel schützen unddafür Sorge tragen, dass es unseren Kindern gut geht.Aber wir wissen auch, dass das alleine nicht reicht. DerKollege Thomae hat den Fall Kevin angesprochen. Inmeinem Mainzer Wahlkreis wurde gerade wieder einFall abgeurteilt. Das Kind war sechs Wochen alt. Trotzeiner engmaschigen Kontrolle durch das Jugendamt, dieHebamme und Jugendhilfeeinrichtungen war es – auchwegen Überforderung – nicht möglich, das Kind zuschützen. Es ist dann zu Tode gekommen. Das heißt, wirmüssen versuchen, sehr schnell zu schauen, ob die Elternüberfordert sind und ob das Kind der Hilfe bedarf. Auchals Nachbarn sollte man darauf schauen, ob es Problemein der Familie gibt: Wie geht es der Mutter? Wie geht esden Geschwisterkindern? Und vieles andere mehr ist indieser Hinsicht von Bedeutung.

Unser Anliegen heute ist also nur ein Baustein vonvielen, wenn es darum geht, denen zu helfen, die dieschwächsten Glieder unserer Gemeinschaft sind undkeine große Lobby haben. Wir müssen in jedem Bereich– auch im Jugendhilferecht – begleitend als Gesetzgeberda sein und korrigieren, wo es Fehlentwicklungen gibt.Deshalb ist es für uns gemeinsam sehr wichtig, dass wirin einem zweiten Schritt sowohl im Vormundschafts-recht als auch im Betreuungsrecht weitere Verbesserun-gen vornehmen und das Gesetz, das in der Tat schon sehralt ist, den heutigen Verhältnissen anpassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir würden uns freuen, wenn Sie in einem heutigenersten Schritt diesem Gesetz zustimmen würden, damitwir dann in den weiteren Beratungen das, was wir schonim Ausschuss bzw. in den Berichterstattergesprächendiskutiert haben, noch auf den Weg bringen können.Vielleicht kann die SPD dann doch zustimmen. Ob dieFallobergrenze bei 50 oder 40 liegt, ob es nun neun Mo-nate sind oder ob es ein Jahr bis zum Inkrafttreten desGesetzes ist: Das sind Kleinigkeiten. Die Richtung istrichtig. Es wäre ein gutes Zeichen für die, die betroffensind, und für die, die mit den Kindern arbeiten. Das sindinsbesondere die Mitarbeiter der Jugendämter, die wirk-lich eine sehr, sehr gute und vorbildliche Arbeit leisten.Insofern sollten wir hier in diesem Hause sagen: Wirbringen in einem ersten Schritt ein Gesetz auf den Weg,das für alle nur das Beste will.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Jörn Wunderlich (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Kollege Thomae hat den Grund für den Gesetzentwurfzutreffend beschrieben: Fälle wie der von Kevin und an-deren sollen verhindert werden, der Kontakt zwischenMündel und Vormund soll gestärkt werden.

Nach dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, sollenpersönliche monatliche Kontakte stattfinden. Das isteine Sollvorschrift. Nach einer Einzelfallprüfung kannder Zeitraum kürzer oder länger ausfallen. Die Pflegeund Entwicklung des Mündels ist durch den Vormundpersönlich zu fördern und durch ihn zu gewährleisten.Hier wird also eine Aufgabenerweiterung vorgenom-men, die ganz erheblich ist. Die Fallobergrenze ist ange-sprochen worden. Das ist auch als Sollvorschrift ausge-staltet, das heißt, ein Abweichen nach oben ist ebensomöglich.

Über die Kosten, die auf die Kommunen zukommen,ist überhaupt nicht gesprochen worden. Die Kommunenhaben sich gemeldet und gesagt: Um Gottes Willen,liebe Bundesregierung, hier kommen teilweise Personal-kosten auf uns zu, die um 100 Prozent über denen liegen,die wir jetzt haben. Die Regierung sagt: Wir reden überdie Kosten nicht. – Die Aufgabenerweiterung soll soforterfolgen, während es zur Fallobergrenze von 50 erst ineinem Jahr kommt. Erst also die Aufgaben und dann dieStruktur? Ich kann die Kinder nicht auf die Wiese schi-cken und sagen: So, jetzt seid ihr alle da, jetzt baue icheinen Kindergarten um euch herum.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])

Es hieß, es gebe eine breite Zustimmung in diesemHaus. Frau Granold, Sie sagten auch noch: Vielleichtkann die SPD zustimmen; das wäre ein deutliches Signal.Wir haben einen Änderungsantrag in den Ausschuss ein-gebracht und nach der Sachverständigenanhörung über-einstimmend feststellen können, dass die Zahl 50 wirk-lich als kritische Marke klassifiziert worden ist. Es hieß– ich zitiere einmal –: Die Einführung einer Fallober-grenze von 50 ist unverzichtbar, aber aufgrund der Ar-beitsbelastung praktisch nicht umsetzbar. Das ist hier javorgerechnet worden. Von anderer Seite hieß es dann:30 bis 40 Fälle sind angesichts der persönlichen Amts-führung die Grenze, und die Fallobergrenze von 50 mussin Form einer Mussvorschrift und nicht einer Sollvor-schrift festgelegt werden.

Ein Grund dafür, das Ganze abzulehnen, war im We-sentlichen die Finanzierung. Es hieß, eine Fallober-grenze von 40 sei nicht zu finanzieren. Darüber, wie dieFallobergrenze von 50 finanziert werden soll, ist aber niegesprochen worden.

Die Zustimmung des Bundesrats ist nach Meinungmeiner Fraktion ebenfalls erforderlich. Durch die Pflichtder Länder, eine geldwerte Sachleistung oder vergleich-bare Dienstleistung mit einer nicht unerheblichen Kos-tenbelastung zu erbringen, wird eine Zustimmungs-pflicht nach Art. 104 a Abs. 4 Grundgesetz begründet.Das hat auch der Bundesrat so gesehen, und auch einvom Wissenschaftlichen Dienst in Auftrag gegebenes

Page 143: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12073

Jörn Wunderlich

(A) (C)

(D)(B)

Gutachten und eine Stellungnahme besagen: Das ist zu-stimmungspflichtig; die Länder müssen beteiligt wer-den.

In unserem Änderungsantrag fordern wir, wie gesagt,aufgrund der Sachverständigenanhörung eine Fallober-grenze von 40. Außerdem sollte die Anhörung des Ju-gendlichen in dem Verfahren zwingend vorgeschriebenwerden, sofern das aufgrund des Alters und des Ent-wicklungsstandes möglich ist. Ein ganz wesentlicherFaktor ist: Das Personal sollte aus sozialpädagogischenFachkräften bestehen. Dazu hieß es: Das kommt in derzweiten Stufe. Ebenso haben wir gesagt: Es müssen Inte-ressenskonflikte vermieden werden, das heißt, derVormund darf nicht gleichzeitig Leistungsträger für Sozial-leistungen sein, um hier Interessenskonflikte zu vermeiden.Es hieß: Das kommt auch erst in der zweiten Stufe.

Durch das Inkrafttreten – Frau Granold hat es ange-sprochen; ich habe das auch schon gesagt – wird ein un-gemeiner Druck entstehen. Denn wie wollen Sie einemAmtsvormund des Jugendamtes klarmachen: „Du hast200 oder 250 Mündel – die Zahlen sind ja schon genanntworden –, bekommst von jetzt auf gleich einen erweiter-ten Aufgabenkreis zugewiesen und bist für die Pflegeund Entwicklung dieser 200 oder 250 Mündel letztlichpersönlich haftbar, die Strukturen, um das zu gewährleis-ten, bieten wir dir aber nicht, die lassen wir erst in einemJahr in Kraft treten, wobei wir nicht geklärt haben, wiedas Ganze finanziell zu leisten ist“? Deshalb denkt dieLinke, dass man den Jugendämtern insgesamt ein JahrZeit geben müsste, um dieses Gesetz dann tatsächlichauch strukturell umzusetzen.

Alles in allem bedeutet der Gesetzentwurf eine Ver-besserung der gesetzlichen Vorgaben, wobei diese wohlkaum tatsächlich umsetzbar sein werden. Deshalb kannvonseiten der Linken keine Zustimmung erfolgen, undwir werden uns bei der Abstimmung über diesen Gesetz-entwurf enthalten.

An Frau Granold und Herrn Thomae gerichtet: HättenSie dem Änderungsantrag der Linken in den Bericht-erstattergesprächen zugestimmt, dann hätten wir mit denLändern die Finanzierung klären können, dann hättenwir die Personalbedarfe klären können, dann würde hierFachpersonal tätig werden, dann hätten wir in diesemHaus wirklich eine breite Zustimmung, vielleicht sogareine Einstimmigkeit, zu diesem Gesetzentwurf und dannwäre ein wirklich deutliches Signal an die betroffenenJugendlichen ausgesendet worden.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat die Kollegin Ingrid Hönlinger von Bündnis 90/DieGrünen das Wort.

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir debattieren heute über Änderungen imVormundschaftsrecht. Zentrale Frage ist, wie wir den

Schutz des Mündels realistisch verbessern und die Qua-lität der Vormundschaft sichern können.

Der erste Ansatzpunkt dafür ist die Begrenzung derFallzahlen für die Vormundschaft. Die Bundesregierungsieht in ihrem Gesetzentwurf eine Sollvorschrift vor. DieAmtsvormundschaften sollen auf 50 Mündel pro Vor-mund beschränkt werden. Im Einzelfall ist es also mög-lich, dass ein Vormund übergangsweise mehr als50 Mündel betreut.

Meine Fraktion unterstützt in der jetzigen Lage denGesetzentwurf. Er gibt den Kommunen eine klareGrenze nach oben vor, und er berücksichtigt auch, dassdie Kommunen Zeit und Raum brauchen, Herr KollegeWunderlich, um ihre finanzielle und personelle Situationan die Neuregelung anzupassen.

In dem zweiten Schritt, den die Bundesregierung an-gekündigt hat, sollte aber unbedingt klargestellt werden,wie wir die Sollvorschrift zu einer Mussvorschrift umge-stalten können. Denn es ist auf Dauer unerlässlich, dassdie Fallzahlen auf 50 beschränkt werden. Das habenauch alle Sachverständigen in der Anhörung bestätigt.Hier müssen wir handeln, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIELINKE])

Ein zweiter wichtiger Ansatzpunkt ist die Verpflich-tung des Vormunds zum persönlichen Kontakt mit demMündel. In der Regel, so der Gesetzentwurf, soll der per-sönliche Kontakt zwischen Vormund und Mündel einmalim Monat stattfinden. Dieser monatliche Kontakt wirdauch dem Schutz und den Interessen des Mündels ge-recht. Missstände können frühzeitig erkannt und hel-fende Maßnahmen rechtzeitig ergriffen werden. Die Ge-richte haben auch einen klaren Maßstab für dieÜberprüfung der vormundschaftlichen Tätigkeit.

Laut Gesetzentwurf kann der Besuchsabstand in Aus-nahmefällen verkürzt oder verlängert werden. Das kannfür die Individualität der vormundschaftlichen Arbeitsinnvoll sein. Allerdings sollte die Bundesregierungauch über ein geeignetes Instrumentarium nachdenken,um eine Überprüfung bzw. einen Nachweis zu ermög-lichen. Das könnte zum Beispiel eine Berichtspflicht desVormunds gegenüber dem Gericht oder auch eine Zu-stimmungspflicht des Gerichts für längere Besuchs-abstände sein.

Frau Kollegin Granold, wir Grünen haben tatsächlichProbleme damit, dass auch Änderungen im Betreuungs-recht vorgesehen sind. Wir meinen, dass wir grund-legend über das Betreuungsrecht nachdenken müssenund dass sogar die UN-Behindertenrechtskonventioneine grundlegende Reform erfordern könnte. Wir mei-nen, dass Regelungen zum Betreuungsrecht nicht amRande anderer Gesetze getroffen werden sollten. An die-sem Punkt können wir dem Gesetzentwurf nicht zustim-men.

Insgesamt begrüßen wir den Gesetzentwurf der Bun-desregierung, soweit er das Vormundschaftsrecht be-trifft. Für eine umfassende Reform ist der angekündigte

Page 144: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ingrid Hönlinger

(A) (C)

(D)(B)

zweite Schritt dringend erforderlich. Zu den bereits ge-nannten Punkten der zwingenden Begrenzung der Fall-zahlen auf 50 und der Kontrolle des persönlichen Kon-takts zwischen Vormund und Mündel kommen ausunserer Sicht drei weitere hinzu.

Erstens. Interessenkollisionen innerhalb der Jugend-ämter sollten überprüft werden. Zum Beispiel solltenFachkräfte, die finanzielle Aufgaben des Jugendamts alsSozialleistungsträger wahrnehmen, von der Führung vonAmtsvormundschaften ausgeschlossen sein, soweit siedie Person ihres Mündels betreffen.

Zweitens. Dem Vormund sollte ein eigenes Anhö-rungsrecht im familiengerichtlichen Verfahren einge-räumt werden, um eine umfassendere Beurteilung zu er-möglichen.

Drittens sollte geprüft werden, inwieweit dem Mün-del gegen Entscheidungen seines Vormunds eine Be-schwerdemöglichkeit eingeräumt werden kann.

Meine Damen und Herren von der Koalition und vonder Regierungsbank, wir werden Sie an die offenenPunkte erinnern.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderungdes Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Der Rechts-ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5512, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3617 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beiEnthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mitdem Titel „Änderung des Vormundschaftsrechts undweitere familienrechtliche Maßnahmen“. Der Ausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/5512, den Antrag der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/2411 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion DieLinke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten GünterGloser, Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Für einen Neubeginn der deutschen und euro-päischen Mittelmeerpolitik

– Drucksache 17/5487 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Günter Gloser von der SPD-Fraktiondas Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Günter Gloser (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Erst vier Monate sind vergangen, seit derjunge Arbeitslose Mohammed Bouazizi am 17. Dezem-ber 2010 mit seiner Selbstverbrennung den Anlass fürdie Jasmin-Revolution in Tunesien gab. Gespannt ver-folgen wir seither den mutigen Aufstand der Bevölke-rung vieler arabischer Staaten gegen die korrumpiertenMachthaber und für die Verbesserung der eigenen Le-bensperspektiven. In Tunesien und Ägypten gibt es be-reits hoffnungsvolle politische Reformen, und in der ge-samten Region wird um politische Teilhabe und ummehr Demokratie gerungen. Die arabische Welt, ja dieWelt insgesamt, ist jedenfalls nicht mehr dieselbe wievor dem 17. Dezember 2010.

Und wir Europäer? Müssen wir uns nicht angesichtsder neuen politischen Situation bei unseren südlichenNachbarn schnell und grundsätzlich neu positionieren?Ich meine: Ja. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktionist ein Beitrag zu diesem Prozess und ruft zu einemwirklichen Neubeginn der deutschen und europäischenNachbarschaftspolitik gegenüber der südlichen Mittel-meerregion auf. Ich schließe mich einer Botschaft an, dielautet: Wir glauben an die Zukunft der Region. – Das hatvor wenigen Tagen ein deutscher Unternehmer bei einerDebatte im Haus der Wirtschaft gesagt. Er hat hinzuge-fügt, dass wir etwas für diese Region tun müssen. Ichglaube, dass auch wir aus mindestens drei Gründen et-was tun müssen:

Erstens, weil wir selbst in der Vergangenheit dieChancen für die Verbesserung der Menschenrechte undfür eine demokratische Entwicklung in der Region falscheingeschätzt haben. Damit meine ich Vertreter aller EU-Staaten und Politiker jeder politischen Couleur.

Page 145: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12075

Günter Gloser

(A) (C)

(D)(B)

Zweitens, weil die Menschen in unserer Nachbar-schaft verdient haben, dass sie nach ihrem mutigenKampf für die Freiheit nicht im Stich gelassen werden.

Und drittens, weil eine jetzt unterlassene Unterstüt-zung für die Entwicklung im Norden Afrikas uns selbstin Zukunft sehr teuer zu stehen kommen würde und wirbesser zum gegenseitigen Vorteil handeln sollten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Man-fred Grund [CDU/CSU]: Und was machen wirkonkret?)

Nur wenn es uns gelingt, gemeinsam mit den Men-schen in dieser Region eine soziale und wirtschaftlicheLebensperspektive zu entwickeln, wird es auch für dengesamten Mittelmeerraum und letztlich die ganze EUeine stabile und friedliche Zukunft geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)Wir haben also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die

einmalige historische Chance, einen Beitrag zu Frieden,Freiheit und Entwicklung im Norden Afrikas zu leisten.Wir haben aber auch die einmalige Chance, unsere eige-nen politischen und wirtschaftlichen Interessen in derRegion im Wettstreit mit anderen Entwicklungsmodellenzu verfolgen.

In dieser Zeit ist nicht Kleinmütigkeit gefragt. Des-halb wiederhole ich die Idee, die Frank-Walter Stein-meier und ich schon vor einigen Wochen in einer erstenReaktion genannt haben, nämlich einen Marshallplan fürden Mittelmeerraum aufzulegen. Natürlich nicht etwasVergleichbares zu dem, den es nach dem Zweiten Welt-krieg gab, aber wir müssen deutlich machen, welche Di-mension der Unterstützung notwendig ist, und den epo-chalen Wandel mit einem angemessenen, großeneuropäischen Projekt begleiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die friedlichen Revolutionen in der arabischen Weltmüssen erfolgreich weitergehen. Den Menschen muss esgelingen, die Forderung nach mehr Freiheit, mehr Ge-rechtigkeit und mehr Wohlstand auch umzusetzen. Dasist ja keinesfalls gesichert, wie wir in den letzten Wo-chen verfolgen konnten. In manchen Ländern sind dieherrschenden Eliten verlockt, die Diktatur fortzusetzen,selbst wenn die Diktatoren entmachtet sind.

Die Region und die Welt stehen vor einer historischenSystementscheidung. Wird der Wandel zu Demokratieund Freiheit gelingen, oder werden nur andere, wiederautoritäre Regime an die Macht kommen? Orientierensich die Menschen in Zukunft an Europa, oder wählensie lieber das chinesische Modell, das autoritäre Führungmit wirtschaftlicher Liberalisierung verbindet? – Ichglaube, das wäre der falsche Weg; das ist ein Holzweg.Was sich in den letzten Tagen in Syrien zugetragen hat,zeigt es wieder: Allein mit wirtschaftlicher Liberalisie-rung kann man keine politische Liberalisierung herbei-führen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Entscheidung liegt also bei den Menschen vor Ort.

Wir dürfen in der Situation nicht abseitsstehen. Wirmüssen vielmehr alles tun, um die friedlichen Revolutio-nen zu unterstützen. Europa darf nicht in Kleinmut ver-harren, Europa muss der historischen Herausforderungdurch neue Konzepte gerecht werden. Leider ist von die-sen Konzepten bisher nicht viel zu erkennen. Zwar hatdie Europäische Kommission in einer Mitteilung zur Re-form der Nachbarschaftspolitik gezeigt, dass sie die Her-ausforderungen erkannt hat; die EU bleibt aber in ihrenbisherigen Instrumenten genauso gefangen wie in dersehr engen Budgetplanung; diese ist ja von 2007 bis2013 festgeschrieben. Aber wir brauchen nicht nur neueKonzepte, wir brauchen auch zusätzliche Mittel, zumBeispiel für einen regionalen Entwicklungsfonds.

Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang istnatürlich, dass der deutsch-französische Motor in dieserFrage sehr stark stottert. Frankreich geht einen nationa-len Weg, Deutschland hat sich durch die Enthaltung imSicherheitsrat der Vereinten Nationen einige Sympathienbei den Reformern im arabischen Raum verscherzt. Ins-gesamt gibt die EU kein gutes Bild ab. Und um EuropasGlaubwürdigkeit in der Region steht es momentan nichtzum Besten. Ich denke aber, mit dem Projekt einer kohä-renten Nachbarschaftspolitik könnte Europa in der Mit-telmeerregion zerschlagenes Porzellan wieder zusam-menfügen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was müssen wir also tun?

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Gute Frage!)

Ich denke, wir müssen gemeinsame Wege mit den Staa-ten Nordafrikas gehen.

(Iris Gleicke [SPD]: Dafür interessiert sich dieBundesregierung überhaupt nicht! Die Bänkesind leer!)

Ich greife hier ganz bewusst und deutlich, weil dieseDiskussion in den letzten Tagen etwas an Dynamik ge-wonnen hat, den Vorschlag von Experten auf, Tausendebefristete EU-Arbeitsvisa für arabische Akademiker aus-zustellen. Diese könnten nach einer befristeten Beschäf-tigung in der Europäischen Union günstige Kredite fürExistenzgründungen in ihrer Heimat erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit würde der Perspektivlosigkeit gut ausgebildeterjunger Menschen in der Region etwas entgegengesetzt,aber auch dem Fachkräftemangel in der EU. Das ist auchfür uns wieder von Bedeutung. Selbst aus der deutschenWirtschaft höre ich positive Signale, die besagen: Das istein Beispiel für eine neue Partnerschaft. – Wir solltenkeine Angst haben, aber wir sollten auch nicht mit klei-nen Zahlen hantieren. Auch der Ruf nach Hilfe zurSelbsthilfe wird nicht reichen, um die Probleme in derarabischen Welt – insbesondere auf dem Arbeitsmarkt –zu lösen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Page 146: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Günter Gloser

(A) (C)

(D)(B)

Ein weiteres Projekt ist die Energiepartnerschaft. Daskönnte gerade im Hinblick auf die Katastrophe vonFukushima ein ganz wichtiger Punkt zwischen der EUund Nordafrika sein. Dezentral erzeugte, erneuerbareEnergie und qualifizierte Arbeitsplätze in der Regionkönnen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen.Stromimporte in die EU können dazu beitragen, die am-bitionierten Klimaschutzziele zu erreichen.

Deshalb, weil es eine epochale Herausforderung ist– ich wiederhole eine Forderung –, wäre es auch an derZeit, dass die EU endlich einen Sondergipfel mit den re-formbereiten arabischen Staaten organisiert und damitihren Willen zur Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt.

Ein weiterer Punkt ist die auswärtige Kulturpolitik.Auch hier müssen in den nächsten Jahren mehr Mitteleingesetzt werden, um die Reformbestrebungen in denarabischen Ländern zu unterstützen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auch das wiederholt, aber dennoch wichtig – heutevielleicht eineinhalb Stunden früher als bei der letztenDebatte –: Wir müssen auch die Handelshemmnisse auf-heben, damit diese Länder auch Zugang zu Dienstleis-tungen und Agrarprodukten bekommen.

Als Letztes noch ein Wort zur aktuellen Flüchtlings-frage: Es ist ein Trauerspiel, wie hier die EuropäischeUnion vorgeht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Man muss sich das einmal vorstellen: Es ist gegenübereinem Land wie Tunesien, das bei 10 Millionen Einwoh-nern 240 000 Flüchtlinge aufgenommen hat, blamabel,wenn seitens der EU mit ihren über 500 Millionen Ein-wohnern behauptet wird, sie sei nicht in der Lage,25 000 Flüchtlinge, die sich derzeit auf Lampedusa auf-halten, vorübergehend unterzubringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das versteht in Tunesien und auch in Ägypten keinMensch. Sonntagsreden helfen diesen Menschen nicht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wirvon der Bundesregierung und der EU-Kommission anVorschlägen zur Mittelmeernachbarschaftspolitik bishergesehen und gehört haben, reicht nicht aus. Wir müsseneinen wirklichen Neubeginn wagen. Die Region ist zunahe und die Chance ist zu groß, als dass wir untätigoder kleinmütig bleiben dürften. In diesem Sinne fordereich Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Hörster von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Joachim Hörster (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

mit großer Aufmerksamkeit die Ausführungen des Kol-legen Gloser verfolgt, mit dem ich auch auf andererEbene – nämlich in den Parlamentariergruppen – gut zu-sammenarbeite.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt keine Fra-ternisierung!)

Ich finde, es gibt einen Punkt, in dem sich unsereAuffassungen gravierend unterscheiden: Sie suchen dieSchuld für Fehlentwicklungen vorwiegend bei der Euro-päischen Union. Sie lassen der Europäischen UnionSchuldzuweisungen zukommen, ohne dass auf der ande-ren Seite danach gefragt wird, was die betroffenen arabi-schen Länder mit den Chancen und Möglichkeiten ma-chen, die die Europäische Union angeboten hat.

Vielleicht stört es einen Sozialdemokraten ein biss-chen, dass auf dem Europäischen Rat in Essen imJahre 1994 unter dem Vorsitz von Helmut Kohl derGrundstein für die Mittelmeerpolitik der EuropäischenUnion gelegt worden ist

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gipfel ist gescheitert!)

und dass daraus der Barcelona-Prozess entstanden ist.

(Günter Gloser [SPD]: Essen ist eine schöne Stadt!)

– Ich empfehle Ihnen, Herr Kollege Gloser, sich aus pu-rer Kollegialität etwas zurückzuhalten. – Es stört Sievielleicht außerdem, dass es dann, nachdem imJahre 1995 der Barcelona-Prozess in Gang gesetzt wor-den war, in Stuttgart die Europa-Mittelmeer-Konferenzder EU-Außenminister gegeben hat.

All diese Veranstaltungen haben in Deutschland statt-gefunden. Mithilfe von Deutschland sind also von derEuropäischen Union eine ganze Reihe von Initiativen er-griffen worden. Wir haben den Barcelona-Prozess einge-leitet. Diesen haben wir auch ernst gemeint. Wir habenin einer ganzen Reihe von Fällen echte Fortschritte inden arabischen Ländern erreicht. Wir haben eine ge-meinsame Sicherheits- und Stabilitätspolitik für den ara-bischen Raum betrieben. Wir haben eine gemeinsameHandelspolitik betrieben.

Schwierigkeiten hatten wir – darüber haben wir unsoft genug unterhalten – damit, dass der Korb III, die Ent-wicklung der Zivilgesellschaft, etwa in Tunesien, Alge-rien, Ägypten oder Syrien, massiv abgebremst wordenist. Wir haben beim Abschluss des Vertrages zum Barce-lona-Prozess durchgesetzt, dass Syrien auf Massenver-nichtungswaffen verzichtet. Dass es sich aber zur Demo-kratie verpflichtet, haben wir nicht durchgesetzt. Da hates eine Reihe von Schwachpunkten gegeben. Es mussteallerdings eine Güterabwägung vorgenommen werden.So mussten wir uns fragen: Welche Möglichkeiten habenwir, um auf diese Länder einzuwirken? Und: Führt eineEinwirkung zur Destabilisierung der Region oder nicht?

Bei all den Vorgängen, die jetzt stattfinden – im Gan-zen halten wir sie für sehr sympathisch und wollen sie

Page 147: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12077

Joachim Hörster

(A) (C)

(D)(B)

auch unterstützen –, wissen wir nicht, wie sie enden wer-den. Das sollte uns nicht daran hindern, zu handeln, aberes sollte uns dazu veranlassen, klug zu handeln. Wir ha-ben seinerzeit verlangt, dass in Palästina freie, allge-meine und geheime Wahlen stattfinden. Dann ist gewähltworden, und die Hamas hat 64 Sitze im Parlament erhal-ten. Damit hatte sie einen Sitz mehr, als für die absoluteMehrheit notwendig ist. Die Folge war, dass die Verei-nigten Staaten und die Europäer unisono gesagt haben:Ihr habt zwar demokratisch gewählt, mit den neuen Re-gierungsvertretern verhandeln wir aber nicht; das istnicht unser Feld.

Wir müssen uns fragen: Sind wir bereit, jede Ent-wicklung in einem dieser arabischen Länder zu akzeptie-ren, selbst wenn nach demokratischen Wahlen Personenan die Macht kommen, die gar nicht daran denken, ihreMacht wieder abzugeben? Das alles sind Überlegungen,die wir in dem Zusammenhang anstellen müssen. Essind deswegen nicht Schnellschüsse gefragt, sondernkluge Überlegungen.

Ich finde, die im Barcelona-Prozess angelegte Ent-wicklung der Zusammenarbeit war gar nicht so falsch.Was sich in der Mittelmeerunion später herauskristalli-siert hat – auch aufgrund der Vorschläge, die Sarkozygemacht hat –, ist auch nicht so schlecht.

Zu all diesen Vorgängen gibt es eine bedeutende Redevom 19. Juni 2009, die der damalige Staatsminister Glo-ser in der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Mittelmeerdia-log gehalten hat. Er hat da ausgeführt:

Und den zentralen Verdienst des Barcelona-Prozes-ses dürfen wir nicht unterschätzen: Das ist die Fort-setzung des Dialogs zwischen allen Beteiligtentrotz der immer wiederkehrenden Schwierigkeitenim Nahostfriedensprozess.

Ich teile diese Meinung vollinhaltlich, und sie gilt auchheute noch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Herr Gloser hat weiter ausgeführt:

Wir wollen mit unseren Partnern gemeinsam oblie-gende Herausforderungen angehen. Ich nenne nurbeispielhaft den Schutz des Klimas und der Um-welt, die Auswirkungen der Migration oder die de-mographische Entwicklung in unseren Ländern.

Wir haben also die Probleme erkannt, und die Pro-bleme sind auch behandelt worden. Wir waren aufgrundder politischen Strukturen in den arabischen Ländernaber nicht in der Lage, so Einfluss zu nehmen, dass sichdie gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend entwi-ckelt hätten.

Herr Gloser, Sie haben dann lobende Worte dafür ge-funden, dass Ägypten gleichberechtigt mit Frankreich inAbstimmung mit der tschechischen EU-Ratspräsident-schaft der Union für das Mittelmeer vorsteht. – Ägyptenwar damals Mubarak. Ich werfe Ihnen, Herr Gloser,nicht vor, dass Sie das lobend erwähnt haben. Wir hattenja keinen anderen; das gebe ich zu. Ob Sie regiert haben

oder ob wir regiert haben: Wir haben doch versucht, ausder Situation das Beste im Interesse dieser Länder zumachen.

(Lachen bei der LINKEN – Sevim Dağdelen[DIE LINKE]: Im Interesse des deutschen Ka-pitals! In dem Interesse haben Sie gehandelt!)

Diesen Erfolg würde ich ungern unter den Scheffel stel-len; den würde ich ungern leugnen.

Ich glaube, dass wir diese Zusammenarbeit fortsetzenkönnen, auch unter den veränderten Bedingungen, wenn– hoffentlich – Demokratie entsteht. In Ägypten mussman ja im Augenblick befürchten, dass das nicht gelingt,da nur zwei politische Organisationen das Organisati-ons-Know-how zur Bildung von politischen Parteien ha-ben, die bisherige Regierungspartei und die Muslimbrü-der, die nicht dafür bekannt sind, dass sie demokratischeWerte besonders respektieren oder fördern.

(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen Sie doch garnicht! Sie haben doch nicht mit den MuslimBrothers geredet!)

– Doch, habe ich, mehrfach. Es war politisch zwar nichterwünscht, aber ich habe mir die Freiheit genommen.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das glaube ich!)

Wenn ich all diese Entwicklungen sehe, komme ichzu dem Schluss: Wir sollten versuchen, einen positivenEinfluss darauf zu nehmen unter der Maßgabe, dass dieMenschen dort im Prinzip selbst bestimmen müssen, wiesie es haben wollen. Wir sollten uns allerdings nicht indie Ecke der Schuldigen und der Büßer bringen lassen,

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Doch!)

weil wir da nicht hingehören.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben uns nämlich gewaltig angestrengt, aber dieanderen haben die Angebote nicht angenommen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Jetzt hören Sie mal gut zu!)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Kaum hatte die im Juli 2008 in Paris gegründete Mittel-meerunion vor einem Jahr ihre Arbeit aufgenommen, dawurde sie durch die Dynamik des demokratischen Auf-begehrens in Nordafrika eigentlich schon zur Makulatur.Erneut bestätigte sich, dass im Ernstfall, wenn es um dieEinforderung demokratischer Teilhabe in Afrika geht,die EU uns Schweigen als Gold serviert.

Page 148: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Das ist auch kein Zufall. Die Mittelmeerunion richtetesich nämlich nicht, wie eben gesagt wurde, an die gesell-schaftlichen Akteure in der Region, sondern war vonAnfang an ein rein zwischenstaatliches Forum. Als Ga-ranten für die europäischen Interessen und Werte galtendabei der Tunesier Ben Ali als Präsident dieser Unionund dessen ägyptischer Kollege Mubarak als Vizepräsi-dent dieser Union.

(Niema Movassat [DIE LINKE]: Genau!)

Der französische Präsident Sarkozy besaß mehr Witz alsVerstand, als er damals noch um die Teilnahme Gaddafisbuhlte.

(Niema Movassat [DIE LINKE]: Illustre Runde!)

In dem vorliegenden Antrag der Kolleginnen undKollegen von der SPD findet sich leider kein Wort dazu.Mit keinem Wort wird erwähnt, dass beide, Ben Ali undMubarak, jahrzehntelang ihren Platz in der sozialdemo-kratischen Internationale an der Seite der SPD hatten.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber wirklich eine olle Kamelle!)

Es findet sich kein Wort dazu, dass man diese Diktatorenjahrzehntelang mit Waffen, Ausbildungs- und Ausstat-tungshilfe beliefert hat. Es ist – das muss ich schon sa-gen – an Heuchelei kaum zu überbieten, wenn Sie beimThema Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum den Sa-mariter mimen. Wir unterstützen ja den Willen, Flücht-linge aufzunehmen. Aber wenn Sie in Ihrem Antrag anRückübernahme – sprich: einem Abschiebeabkommender EU – festhalten, geht das meines Erachtens nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, die Menschen in Nord-afrika können sich von Sympathiebekundungen nichtskaufen. Das Versagen Europas angesichts der Umbrüchein der arabischen Welt darf nicht nachträglich in eine Tu-gend umformuliert werden. Die Zukunft Afrikas darfnicht weiterhin auf Konferenzen in Paris, Berlin oderBrüssel entschieden werden. Diese Politik muss ein fürallemal der Vergangenheit angehören.

(Beifall bei der LINKEN)

Der SPD-Antrag beweist, dass aus der Vergangenheitkeine Lehren gezogen wurden. Es geht nicht darum, wieSie in Ihrem Antrag schreiben, europäische Werte undZiele in der unmittelbaren südlichen Nachbarschaft poli-tische Praxis werden zu lassen. Ihr Antrag entspricht ei-nem Doppeldenk frei nach George Orwell zwischenFeststellungs- und Forderungsteil. Sie sprechen vonSympathie, Demokratie und Werten und meinen ledig-lich strategische Interessen Europas, besser gesagt derEuropäischen Union. Das haben Sie hier ja auch weiterausgeführt. Sie sprechen von Unterstützung und be-schäftigen sich nur mit der Lösung europäischer Pro-bleme wie der Energieversorgung und der Außen- undSicherheitspolitik der EU. Sie sprechen von Demokratieund Wohlstand und meinen Freihandelszone. Sie spre-chen von Freiheit und meinen Migrationskontrolle in

Form von Rückübernahmeabkommen. Das lehnt dieLinke ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei all den guten Vorschlägen stecken Sie somit im-mer noch mit beiden Füßen in der Vergangenheit. Dervon Ihnen vorgeschlagene Neustart ist in Wirklichkeitder Versuch der Wiederbelebung einer Politik, der derdemokratische Aufbruch längst einen klinischen Tod be-scheinigt hat. Diese Politik ist gescheitert, weil sie sichan den nationalen Kapitalinteressen in Europa und nichtam Gemeinwohl der betroffenen Menschen in Nord-afrika orientierte. Es muss um die Menschen in Nord-afrika mit ihren Bedürfnissen und Interessen gehen undnicht um die Steigerung der Profite der Großkonzerne inEuropa und der deutschen Unternehmen, der Sie so un-missverständlich zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN – Dietmar Nietan[SPD]: Das steht nun wirklich nicht in demAntrag! – Iris Gleicke [SPD]: Man muss da-von ausgehen, dass Sie nicht lesen können!)

So ist es auch kein Zufall, dass Sie die Zivilgesell-schaft in Nordafrika noch nicht einmal fragen, sondernden Menschen mit einem fertigen Konzept regelrechtdrohen. In Ihrem Antrag ist denn auch die Rede von ei-nem „wirksamen Hebel“, der bei richtiger Anwendungvorhanden ist.

Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Der wahreMaßstab für einen Neubeginn wäre die Einlösung desFreiheits- und Demokratieversprechens und des Verspre-chens eines sozialen Europas gegenüber den Menschenin den arabischen Staaten.

(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund[CDU/CSU]: Es fehlen nur noch die Mindest-löhne!)

Dass Sie dazu nichts beizutragen haben, überrascht nichtwirklich. Dass Sie dies aber für alle offensichtlich auchnoch aufschreiben, überrascht dann schon. Es scheintnoch ein weiter Weg zu sein, bis Sie wieder zu einer So-zialdemokratie zurückgekehrt sind,

(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Mach dir mal keine Sorgen!)

die einst unter internationaler Solidarität nicht Marktöff-nung und Konzerninteresse verstand. Die Menschen inNordafrika brauchen keine neuen einseitigen Verträge.Die Menschen in Nordafrika brauchen echte und ehrli-che Solidarität.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Rainer Stinner (FDP):Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich meine das ganz

ernst: Es ist schon ein Fortschritt, dass wir uns bei dieser

Sevim DaðdelenSevim Dağdelen

Page 149: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12079

Dr. Rainer Stinner

(A) (C)

(D)(B)

Debatte nicht um ein weiteres Land kümmern müssen,wie wir es bedauerlicherweise in den letzten Wochen imWochenrhythmus erlebt haben. Das gibt uns Gelegen-heit, uns damit zu beschäftigen, wie es weitergeht undwas wir tun können.

Ich glaube, wir sind alle der Meinung, dass es richtigist, die Instrumente zu überprüfen, die in den letzten Jah-ren eingeführt worden sind. Die SPD macht das in ihremAntrag sehr ausführlich. Manchmal grenzt das, was Sieda betreiben, an Selbstgeißelung, wenn man bedenkt,wer in den letzten Jahren Verantwortung gehabt hat.Aber Herr Hörster hat ja völlig zu Recht ausgeführt: ImPrinzip haben wir alle gleichermaßen daran mitgewirkt,diese Rahmenbedingungen zu schaffen, und deshalbbrauchen wir uns hier auch nicht gegenseitig die Augenauszuhacken. Wir müssen aber daraus lernen und unsüberlegen, wie wir in Zukunft vorgehen wollen.

Die Bundesregierung hat, wie ich finde, schnell undunbürokratisch gehandelt. Ich will Ihnen einige Zahlenpräsentieren:

Die Bundesregierung hat für den demokratischenÜbergang 17 Millionen Euro zur Unterstützung verarm-ter Regionen in Tunesien und 30 Millionen Euro zur De-ckung der dringendsten humanitären Bedürfnisse derFlüchtlinge bereitgestellt.

Die politischen Stiftungen sind gestärkt worden: Siebekommen mehr Geld und sollen stärker einbezogenwerden.

Minister Niebel hat in seinem Ministerium einenFonds in Höhe von 40 Millionen Euro aufgelegt, mitdem die Mittelmeerländer in den Bereichen Demokratie-förderung, Bildung und Wirtschaftsförderung unterstütztwerden.

Die Europäische Union hat am 8. März einen Maß-nahmenkatalog verabschiedet.

Der Kollege Lischka von der SPD hat eine Anfragean die Bundesregierung gerichtet, was denn mit demGeld gemacht worden sei. Er hat als Antwort darauf ei-nen dicken Katalog vorgelegt bekommen, in dem seiten-lang die Projekte beschrieben werden, die die Bundes-regierung unterstützt; wobei es gar keine Frage ist, dassdas zum Teil auch unter Ihrer Ägide angestoßen wurde.

All das zeigt, dass finanziell schon sehr viel getanwird. Ich glaube deshalb, dass wir mit dem Ruf nachmehr Geld nicht weiterkommen. Lieber Herr Gloser, ichbin auch hinsichtlich Ihres Vorschlages bezüglich einesMarshallplans skeptisch; denn mit dem Begriff„Marshallplan“ verbinden wir zunächst einmal – ichsage es einmal platt – fette Kohle. Der Marshallplanhatte damals ein Volumen von ungefähr 11 MilliardenDollar. Das entspricht einem heutigen Wert – klugeLeute haben das ausgerechnet – von 75 Milliarden Dol-lar. Herr Gloser, der Unterschied zu damals ist, dass dieAbsorptionskapazität in den Ländern, um die es geht,eine völlig andere ist als die, die es damals in Europa ge-geben hat. Ich meine das in zweierlei Hinsicht: zum ei-nen infrastrukturell und zum anderen in Bezug auf diegesellschaftlichen Strukturen und auf das Staatswesen.

Diese besitzen nicht die entsprechende Absorptionska-pazität. Ich glaube daher, dass wir allein mit Geld nichtweiterkommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unsere Bemühungen werden einen langen Atem er-fordern. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass die Bun-desregierung schon in den nächsten zwei oder drei Jah-ren wesentliche Dinge in der Region so verändern kann,dass man dort nachhaltige Erfolge sehen wird. Wir wis-sen aber, dass wir schnell an den richtigen Hebeln anset-zen müssen. Diese Hebel sind bekannt:

Erstens. Humanitäre Maßnahmen – auf diese Weisehandelt die Bundesregierung bereits; da sind wir uns alleeinig – müssen dort, wo sie notwendig sind, im Vorder-grund stehen.

Zweitens. Wir müssen den Aufbau von politischenStrukturen unterstützen; diese sind ja die Voraussetzungfür einen politischen Wandel. Dazu hatte ich ja bereitsvorhin im Zusammenhang mit dem Marshallplan etwasgesagt. Wir können nicht erwarten, dass sich etwas ent-wickelt, wenn es keine entsprechenden Strukturen, Ent-scheidungsprozesse etc. gibt. Das betrifft sowohl die ad-ministrativen Strukturen als auch die grundlegendenInfrastrukturen wie Straßen, Stromversorgung etc., dienoch aufgebaut werden müssen.

Drittens. Natürlich ist es völlig richtig, dass die lokaleWirtschaft aufgebaut werden muss. Es wird Sie nichtverwundern, dass ich als Vertreter der FDP darauf be-sonderen Wert lege. Unser liberales Credo – ich sagedas, auch wenn man es nicht hören mag – lautet: Wirt-schaft ist nichts alles, aber ohne Wirtschaft ist leider sehrvieles nichts.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das gilt auch insbesondere für diese Region. Deshalbmüssen wir schauen, wie wir schnell einen Beitrag dazuleisten können, dass sich die Wirtschaft entwickelt. Dazugehören die Unterstützung des Mittelstandes und derAufbau von Unternehmen.

Natürlich ist genauso wichtig, zur Kenntnis zu neh-men – Sie haben es vorhin gesagt; da liegen wir gar nichtweit auseinander –, dass sich die Bundesregierung in dennächsten Wochen und Monaten innerhalb der Europäi-schen Union in einen ziemlich harten Kampf begebenmuss, um dafür zu sorgen, dass die EU ihre Märkte öff-net. Wirtschaftliche Entwicklung heißt: Wandel undHandel zwischen Ländern. Unser Credo ist: Uns geht esbesser, wenn es diesen Ländern ebenfalls besser gehtund umgekehrt. Ich wünsche der Bundesregierung beider Auseinandersetzung um diese Frage viel Glück undDurchhaltevermögen. Wir alle wissen, dass es schwerwird. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam die Bundes-regierung unterstützen und sie nicht kleinteilig kritisie-ren.

Viertens. Wir müssen gesellschaftliche Strukturenaufbauen. Das ist leichter gesagt als getan. Die Stiftun-gen können dazu einen Beitrag leisten. Sie werden dafür

Page 150: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Rainer Stinner

(A) (C)

(D)(B)

auch allenthalben gelobt. Aber lassen Sie uns auch da re-alistisch sein, meine Damen und Herren: Die Stiftungenerreichen nur einen geringen Anteil, zum Teil im Promil-lebereich, der Bevölkerung in den einzelnen Ländern.Schauen Sie sich einmal Ägypten an. Dort sind alle gu-ten Willens, aber natürlich können wir nicht erwarten,dass die Arbeit der deutschen Stiftungen allein einen we-sentlichen Umschwung bewirkt und für den Aufbau ge-sellschaftlicher Strukturen sorgt. Da würden wir unsüberheben. Aber wir müssen es natürlich versuchen.

Fünftens. Wir müssen Strukturen für die Ausbildungschaffen. Hier ist von Ihnen angeregt worden – ich be-grüße das –, einmal zu überlegen, ob wir nicht jungenausgebildeten Leuten eine zeitweilige Lern- und Arbeits-phase in Deutschland ermöglichen. Das ist völlig richtig.Auch hier müssen wir uns dessen bewusst sein: Daskann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. DieFlüchtlinge, die uns jetzt entgegenkommen, sind nichtdiejenigen, von denen wir jetzt gesprochen haben. Auchdas müssen wir fairerweise zur Kenntnis nehmen.

Meine Damen und Herren, es ist in unserem Interesse,dass sich diese Region entwickelt. Das entspricht derLeitlinie der Europäischen Union für die europäischeNachbarschaftspolitik, in deren Rahmen zwischen 2007und 2013 immerhin 7 Milliarden Euro in die Region ver-bracht werden: Es geht uns besser, wenn es dieser Re-gion besser geht. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, da-für zu sorgen. Das wird schwer sein; wir werdenschrittweise vorgehen müssen. Die Bundesregierung hatdamit angefangen; wir werden sie dabei unterstützen.Wir alle wissen aber: Es bedarf eines langen Atems, umdorthin zu kommen, wohin wir wollen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Viola von Cramon-Tauba-

del vom Bündnis 90/Die Grünen.

Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich möchte kurz vorwegschicken: Ich bin mit derUhrzeit, zu der wir über dieses Thema diskutieren, nichtganz einverstanden. Ich hätte mir gewünscht, wir hätteneinen Platz am frühen Morgen gehabt, nicht erst am spä-ten Abend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Uta Zapf [SPD])

Ich bin aber mit dem Zeitpunkt der Einbringung die-ses Antrags sehr einverstanden – er ist absolut richtig –:Es ist ein historischer Zeitpunkt, also genau der richtigeZeitpunkt, um hier im Deutschen Bundestag über dasThema zu reden.

Ich möchte auch betonen, dass die Notwendigkeit ei-ner neuen Politik gegenüber den Ländern Nordafrikasvon allen Fraktionen in diesem Haus gesehen wird; dasist sicherlich gut. Es ist auch gut, dass sich die Bundes-

regierung im März dazu bekannt hat, dass sie eine klareAntwort auf die Umbrüche in diesen Ländern liefernwill. Wir bitten daher alle Mitglieder der Bundesregie-rung, nicht wieder in alte Reflexe zu verfallen, also nichtdie Flüchtlingsabwehr an den Anfang der neuen Zusam-menarbeit zu stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Uta Zapf [SPD])

Das wäre ein vollkommen falsches Signal, wenn es da-rum geht, die Aufbruchstimmung in diesen Ländern auf-zunehmen.

Wenn wir Partnerschaften anbieten wollen – das be-schreiben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, in Ihrem Antrag in der Tat sehr gut –, dann müssenwir die Instrumente der Partnerschaft nutzen. Eine Rhe-torik, bei der man von „Schleusen“ und Ähnlichem re-det, hilft da sehr wenig.

Der SPD-Antrag verweist auf die drei Dimensionendes Barcelona-Prozesses, an die sich jetzt mit verstärkterIntensität anknüpfen lässt. Richtig ist ebenfalls, dass eseinen signifikanten Unterschied zu den Umbrüchen inMittel- und Osteuropa nach 1989 gibt, denn wir könnenden Ländern Nordafrikas kaum eine Beitrittsperspektivebieten. Daher müssen wir die anderen Möglichkeiten derZusammenarbeit voll ausschöpfen.

In den Ländern Nordafrikas ist das Wort „Stabilität“inzwischen ein Schimpfwort. Ich bin gerade heute ausKairo zurückgekommen. Dort habe ich erfahren, dasssich die Menschen dort, vor allem jene, die die Revolu-tion maßgeblich mitgetragen haben, eine ideelle und in-stitutionelle Anerkennung ihres Mutes wünschen. Dennden haben sie über Wochen hinweg bewiesen: Sie warenunendlich mutig und haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt,um Ägypten von Mubaraks Herrschaft zu befreien. Jetztgilt es, ihnen eine solche Anerkennung und kontinuierli-che Unterstützung zukommen zu lassen. Da bin ich mirnicht sicher, ob ein Marshallplan die richtige Antwortist.

Die Anerkennung kann aus unserer Sicht auf ver-schiedene Weise zum Ausdruck gebracht werden:

Zunächst einmal ist es wichtig, dass alle politischenEntscheidungsträger – angefangen bei Lady Ashton, dieab heute für zwei Tage Kairo besucht – immer auch dieNGOs, also die Nichtregierungsorganisationen, dieMenschenrechtsanwälte und die treibenden Revolutions-kräfte aus der Jugend treffen. Das war bei Lady Ashtonserstem Besuch nicht der Fall und scheint erstaunlicher-weise auch dieses Mal nicht geplant zu sein.

Zweitens müssen die westlichen Politikerinnen undPolitiker bei Besuchen die Rolle des Militärs und seineeigenen Interessen stärker hinterfragen.

Drittens müssen dringend die Voraussetzungen fürfreie und faire Wahlen in Ägypten geschaffen werden:Parteien müssen zugelassen werden. Dabei ist es ent-scheidend, dass die Barrieren für die Registrierung vonneuen Parteien möglichst niedrig gehalten werden. DieBürgerinnen und Bürger müssen über ihre Rechte undPflichten als Wähler informiert werden. Da leisten alle

Page 151: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12081

Viola von Cramon-Taubadel

(A) (C)

(D)(B)

Stiftungen hervorragende Arbeit; das sollten wir nichtunterschätzen.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Nein, das unter-schätzen wir nicht! Auf keinen Fall!)

Wir müssen an genau dieser Stelle ansetzen.

Wahlkommissionen müssen geschult werden. DieMenschen dürfen am Ende nicht das Gefühl haben, un-sichtbare Mächte oder das Militär hätten ihnen durchFälschung der Wahlen die Errungenschaften der Revolu-tion entzogen. Das wäre ein fataler Rückschlag.

Ägypten besitzt in der arabischen Welt eine Vorbild-funktion für viele andere Staaten, deren Bevölkerungnoch schwankt, ob sich ein Weiterkämpfen lohnt odernicht. Wenn das ägyptische Modell nicht überlebt, wer-den viele Demonstrantinnen und Demonstranten in an-deren Ländern den Mut, für die Freiheit zu kämpfen,schnell verlieren.

Wichtig ist – darauf beziehen Sie sich auch in IhremAntrag –: Wir müssen die Ebenen der interparlamentari-schen Zusammenarbeit von Demokratien nutzen. Einejunge Demokratie mit vielen neuen und unerfahrenenParlamentarierinnen und Parlamentariern ist äußerst ver-letzlich. Wir sollten insbesondere unseren Kollegen nachder Wahl Unterstützung in jeder Form zukommen lassen.

Dann muss selbstverständlich – ich glaube, es ist unsnoch nicht ganz klar, was das bedeutet – die Rehabilitie-rung vieler Inhaftierter der Revolution, die derzeit inschwierigen und undurchsichtigen Prozessen abseits jeg-licher Öffentlichkeit und meist ohne rechtlichen Bei-stand vor einem Militärgericht stehen, unbedingt vonuns, von westlichen Politikern angemahnt werden. DerMilitärrat scheint ein starkes Eigenleben zu führen, ohnesich mit anderen innerhalb der Übergangsregierung ab-zustimmen. Durch diese Entwicklung, wird sie nicht ge-nau beobachtet, besteht die Gefahr, dass viele der erstenErrungenschaften wie die Presse-, die Medien- und dieVersammlungsfreiheit wieder aufs Spiel gesetzt werden.Nur durch eine enge Kooperation, die auf Dauer ange-legt ist, können wir das verhindern.

Die EU und auch die deutsche Außenpolitik könntenjetzt an dieser Stelle viel Glaubwürdigkeit zurückgewin-nen, indem sie die Demokratisierungsbemühungen undden gesellschaftlichen Wandel in Nordafrika unterstüt-zen. Die Nachricht von der Festnahme Mubaraks ist si-cherlich eine gute, reicht aber allein noch nicht aus. Fürden weiteren Verlauf der Umwälzungen ist auch die kri-tische wirtschaftliche Lage von Bedeutung, die die poli-tischen Gestaltungsspielräume in Tunesien und Ägyptenstark einengt.

Europa hat deshalb auch eine Verantwortung, sozialeund ökonomische Reformen in diesen Ländern zu unter-stützen. Auch da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die ausunserer Sicht noch deutlicher hätte ausfallen können,richtig. Wir sind gern bereit, Menschen mit guter Ausbil-dung eine Migration – auch mit einer Arbeitsperspektive –anzubieten. Eine richtig konzipierte zirkuläre Migrationkann hier eine Lösung darstellen.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die Nützli-chen wollen Sie reinholen! Der Rest kann er-saufen!)

Wir müssen uns in der EU darüber verständigen, wie einPakt für Arbeit, Ausbildung und Energie zwischen derEU und den Staaten Nordafrikas aussehen soll.

Vizepräsident Eduard Oswald:Das wäre ein guter Schlusssatz gewesen.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und derSPD)

Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Wir brauchen eine Euro-Mediterrane Mobilitätspart-nerschaft mit Weitblick, die die Vergabe von Visa er-leichtert, Bildungschancen ermöglicht und den Arbeits-markt gezielt für junge Menschen aus Nordafrika öffnet.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht

für die Fraktion der CDU/CSU unser KollegeDr. Wolfgang Götzer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Inzwischen vergeht keine Woche, in der wir uns nichtmit den Umbrüchen in der arabischen Welt beschäftigen.Letzte Woche hatten wir im Auswärtigen Ausschuss einesehr interessante Anhörung, die uns einmal mehr sehrdeutlich gezeigt hat, wie unübersichtlich und differen-ziert die Lage in den einzelnen Länder in der Region ist.Nach wie vor ist unklar, wohin sich die einzelnen Länderentwickeln. Nur in Tunesien und Ägypten hat bisher einMachtwechsel, eine Entmachtung der alten Regimestattgefunden. Was am Ende des Prozesses in beidenLändern steht – etwa eine rechtsstaatliche Demokratie –,ist noch offen. In den übrigen Ländern ist nur eines klarund den Aufständischen gemeinsam, nämlich die Forde-rung nach besserer Zukunftsperspektive und einer Ent-machtung der alten Regime.

Deshalb glaube ich, dass es noch zu früh ist, eine um-fassende Neuausrichtung unserer Politik gegenüber derarabischen Welt zu konzipieren, wie es in dem Antragder SPD anklingt. Sie verwenden in der Überschrift dasWort „Neubeginn“. Wie gesagt, ich halte das für verfrühtund vor allem auch für etwas vollmundig – wenn Sie mirdiese Bemerkung erlauben.

(Günter Gloser [SPD]: Ist erlaubt!)

Im Moment ist wichtig – das haben wir, die Koaliti-onsfraktionen, in dem Antrag zum Ausdruck gebracht,

Page 152: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Wolfgang Götzer

(A) (C)

(D)(B)

der am 24. März beschlossen wurde –: Wir unterstützenden demokratischen Wandel in der arabischen Welt. Wirtun dies zum einen, weil die Menschen dort ein Rechtauf ein Leben in Freiheit und in Würde haben, und zumanderen, weil es auch in unserem Interesse liegt, dass indiesen Ländern Rechtsstaatlichkeit herrscht und sichWohlstand entwickelt. Denn diese Region ist von strate-gischer Bedeutung für unsere innere und äußere Sicher-heit. Wir brauchen also die Unterstützung des Transfor-mationsprozesses durch uns und durch alle EU-Staaten– das ist eine gesamteuropäische Aufgabe –, aber auchdie Klarstellung, dass die Eigenverantwortung der Län-der in der arabischen Region entscheidend ist. Wohin derWeg wirklich führt, können wir nicht beeinflussen.

Wir leisten nicht nur beim Aufbau von Demokratie,Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit humanitäreHilfe. Wir schaffen auch Zukunftsperspektiven für dieMenschen, vor allem für die jungen Menschen in der Re-gion. Herr Kollege Gloser, ich rede von Hilfe vor Ortund nicht in Europa. Diese kommt in Ihrem Antrag lei-der nicht zum Ausdruck.

(Beifall bei der CDU/CSU – Viola von Cra-mon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Warum das denn nicht? Das ist dochQuatsch!)

Wir brauchen Arbeitsplätze in den Heimatländern undnicht in der Europäischen Union.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Viola von Cramon-Taubadel[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen dieAmerikaner demnächst auch: Lassen Sie dochdie deutschen Studenten an deutschen Unisstudieren!)

Die Maßnahmen zur Hilfe und Förderung des Trans-formationsprozesses müssen nach Spielregeln von GoodGovernance erfolgen. Wir haben keinen Zweifel daran,dass die bisherige europäische Nachbarschaftspolitik be-züglich der südlichen Nachbarn der EU hinter der strate-gischen Zielsetzung zurückgeblieben ist. Das gilt auchfür die Mittelmeerunion.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das können Sie doch vergessen!)

Da muss sich einiges verbessern. Es muss sich aber auchin bilateraler Hinsicht mehr tun. Denn es ist erfahrungs-gemäß nicht leicht, alle Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union in dieser Frage auf eine Linie zu bekom-men.

Da die Formulierung in Ihrem Antrag nicht eindeutigund daher missverständlich ist, möchte ich noch eineKlarstellung anbringen: Es gibt keine EU-Beitritts-perspektive für die Länder Nordafrikas. Ich weiß nicht,ob Sie das mit Ihrem Antrag verklausuliert gemeint ha-ben. Wir stellen das jetzt jedenfalls klar.

Abschließend ein letztes Wort zur Flüchtlingsfrage:

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: „Abschot-tungsfrage“ meinen Sie!)

Es ist in den letzten Tagen viel von der eingefordertenSolidarität Deutschlands die Rede. Wir zeigen durch dieAufnahme von Flüchtlingen, die beispielsweise in Maltaangekommen sind, dass wir solidarisch sind.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 100!)

Wenn etwas unsolidarisch ist, dann ist es das VerhaltenItaliens. Herr Kollege Gloser, Ihre Aufforderung imSPD-Antrag zu solidarischem Verhalten ist nicht an dieBundesregierung zu richten, sondern an Italien.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Günter Gloser [SPD]: An die EU!)

– Sie fordern aber die Bundesregierung auf; den Antraghabe ich gelesen.

Dass Italien die rund 25 000 Flüchtlinge aufnehmensoll, ist gerecht unter dem Gesichtspunkt der fairen Las-tenverteilung. Die Zahlen der Asylbewerberzugänge zei-gen, dass im Jahr 2010 auf Deutschland mehr als 40 000und auf Italien 6 500 Asylbewerber entfallen sind.Deutschland hat allein infolge des Balkan-Krieges etwazwanzigmal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie jetztItalien. Da kann man weiß Gott nicht von unsolidari-schem Verhalten Deutschlands sprechen, vielmehr vondem Italiens.

(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es ist eine faire Lasten-verteilung, wenn wir 100 nehmen?)

Ich möchte an dieser Stelle – damit möchte ich schlie-ßen – dem Bundesinnenminister Dr. Friedrich für seineklare Haltung in dieser Frage ausdrücklich danken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5487 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Hol-meier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz, Mi-chael Link (Heilbronn), Heinz Golombeck, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Strategie der Europäischen Union für denDonauraum effizient gestalten

– Drucksache 17/5495 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das ebenfalls so beschlos-sen.

Page 153: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12083

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieserDebatte ist unser Kollege Karl Holmeier für die Fraktionder CDU/CSU. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben dasWort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Karl Holmeier (CDU/CSU):Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktionenzur Strategie der Europäischen Union für den Donau-raum.

Was ist das eigentlich? Wozu ist diese Strategie not-wendig? Und warum brauchen wir dazu einen Antrag?Am 8. Dezember 2010 hat die EU-Kommission einenVorschlag für die Donauraumstrategie vorgestellt, undzwar in Form einer 16-seitigen Mitteilung sowie eines89 Seiten umfassenden Aktionsplans.

Die Donaustrategie ist die zweite makroregionaleStrategie der Europäischen Union und befasst sich mitder Zukunft einer Region, die fast 115 Millionen Ein-wohner zählt und von der Fläche etwa ein Fünftel derEuropäischen Union ausmacht. Sie umfasst acht EU-Mitgliedstaaten und sechs Nichtmitgliedstaaten.

Die Donaustrategie ist nach dem Vorbild der Ostsee-strategie eine Initiative zur nachhaltigen Entwicklungdes Donauraums durch eine bessere Koordinierung derMitgliedstaaten in verschiedenen Politikbereichen undvor allem durch eine verbesserte grenzüberschreitendeZusammenarbeit. Wir sind daher als nationale Parlamen-tarier gefordert, uns zu dieser umfangreichen Strategiezu positionieren. Ich freue mich, dass ich Ihnen heutediesen Antrag der Koalitionsfraktionen vorstellen darf.

Aus unserer Sicht müssen bei der Verabschiedung derStrategie folgende Punkte dringend beachtet werden: Anoberster Stelle steht dabei die strikte Einhaltung der so-genannten drei Neins; das heißt, es darf keine neuen In-stitutionen geben, keine neuen Rechtsetzungsakte undvor allem keine zusätzlichen Finanzmittel.

Mindestens ebenso wichtig wie die Einhaltung derdrei Neins ist die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips. Inunserem Antrag machen wir daher klar, dass die Donau-strategie nicht in Bereiche hineinragen darf, die genausogut auf nationaler Ebene geregelt werden können. Viel-mehr muss sie sich auf Handlungsfelder konzentrieren,in denen ein echter Mehrwert – ich betone: ein echterMehrwert – für den Donauraum erzielt werden kann.Hierzu gehört beispielsweise die dringend notwendigeVerbesserung der grenzüberschreitenden Verkehrsinfra-struktur, sowohl im Bereich Schiene als auch in den Be-reichen Straße und Wasserstraße, sowie die Vernetzungdieser Verkehrsträger.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Spatz [FDP])

Besonders die Stärkung des grenzüberschreitendenGüterverkehrs ist für die wirtschaftliche Entwicklungdes Donauraums von enormer Bedeutung. Neben dem

Güterverkehr darf aber auch der Personenverkehr nichtvernachlässigt werden. Ich begrüße daher ausdrücklichden Vorschlag der Europäischen Kommission, die Reise-zeiten im Personenverkehr zwischen Großstädten zu ver-kürzen. Auch hier haben wir einiges nachzuholen. Sogibt es beispielsweise leider immer noch keine attraktiveBahnverbindung zwischen den europäischen MetropolenMünchen und Prag. Beide Städte liegen im direkten Ein-zugsbereich der Donau. Beide Städte haben eine heraus-ragende europäische Bedeutung, sind aber nur sehr un-zureichend miteinander vernetzt.

Im Rahmen eines neuen transeuropäischen Verkehrs-projekts von Prag über die Donaustadt Regensburg überMünchen bis zur Adriaküste könnte diese Lücke im eu-ropäischen Netz geschlossen werden. Weitere Hand-lungsfelder der Donaustrategie sind unter anderem dieFörderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung,die Förderung von Austauschprogrammen vor allem imBereich der Berufsausbildung, die gegenseitige Aner-kennung von Abschlüssen, die Stärkung des interkultu-rellen Dialogs zwischen jungen Menschen und die Un-terstützung von Austauschprogrammen für Studentenund Wissenschaftler.

Meine Damen und Herren, kürzlich hat der Europa-ausschuss eine Delegationsreise nach Ungarn unternom-men. Ich darf Ihnen berichten, dass zum Beispiel bei derdeutschsprachigen Andrassy-Universität in Budapest dasVorhaben auf Gründung eines Donaujugendwerks nachdem Vorbild des Deutsch-Französischen und desDeutsch-Polnischen Jugendwerks vorgestellt wurde. Au-ßerdem plant die Universität die Etablierung eines neuenDonaustudiengangs. Diese Projekte finden sich in derDonaustrategie wieder und leisten auf diese Weise einenbedeutenden Mehrwert für die europäische Integrationund den Zusammenhalt im Donauraum.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein kleiner Beitrag konnte aufgrund dieser Reise zwi-schenzeitlich geleistet werden: Die Studenten baten da-mals um ein Abonnement von deutschen Zeitungen. Ichdanke der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, diesich bereit erklärt hat, die Kosten der Abos für die Uni-versität zu übernehmen.

Abschließend möchte ich auf zwei Punkte eingehen,die aus meiner Sicht im Vorschlag der EuropäischenKommission zur Donaustrategie zu kurz kommen: dieEntwicklung des ländlichen Raums und die Stärkung derLandwirtschaft.

Der Donauraum ist maßgeblich ländlich geprägt.Viele Vorhaben der Donaustrategie haben daher indirektmit der Förderung ländlicher Regionen zu tun. Die Stär-kung und Entwicklung des ländlichen Raums als Zielsucht man in der Strategie der Europäischen Union je-doch vergebens. Aus meiner Sicht ist es unerlässlich, ei-nen eigenen Schwerpunktbereich zum ländlichen Raumaufzunehmen, der sich mit allen für den ländlichenRaum typischen Belangen befasst.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Page 154: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Karl Holmeier

(A) (C)

(D)(B)

Gleiches gilt für die Landwirtschaft als ein wichtigerWirtschaftsfaktor im ländlichen Raum. Hier erwarten dieKoalitionsfraktionen eine stärkere Gewichtung.

An der Themenbreite der Donaustrategie sehen Sie,wie wichtig die Auseinandersetzung und die Befassungdes Deutschen Bundestages mit diesem Thema ist. Ichkonnte bei weitem nicht alle Themen aufgreifen.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Schade!)

Dafür hätte ich nicht 7, sondern 70 Minuten gebraucht.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Um Got-tes willen!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir haben Verständnis dafür, dass Sie das nicht bean-

tragt haben, Herr Kollege.

(Heiterkeit)

Karl Holmeier (CDU/CSU):Ich danke allen, die an der Einbringung dieses umfas-

senden Antrags beteiligt waren, für ihre Unterstützung.Ich bitte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, denProzess bis zur endgültigen Verabschiedung der Donau-strategie beim Europäischen Rat im Juni dieses Jahreskritisch und konstruktiv zu begleiten und unserem An-trag zur Strategie für den Donauraum zuzustimmen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir haben zu danken, Kollege Karl Holmeier. – Jetzt

spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kol-lege Dietmar Nietan. Bitte schön, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Viola vonCramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Dietmar Nietan (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass dieStrategie für den Donauraum für diese Makroregion einegroße Chance bedeuten kann. Ich sage ausdrücklich „be-deuten kann“, weil ich glaube, dass diese Strategie derEuropäischen Union noch präzisiert werden muss. Ichglaube, dass sie konsistent in andere Politiken eingebautwerden muss, damit sie ihre Wirkung entfalten kann.

Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir heute im Parla-ment darüber diskutieren; denn das ist eine wichtigeStrategie, die ein großes Entwicklungspotenzial in sichbirgt. Ich halte es auch für richtig, dass im Koalitionsan-trag gefordert wird, dass die Entwicklungspotenziale, diein dieser Makroregion schlummern, gehoben werden.Allerdings möchte ich auch dies betonen: Ob uns das amEnde des Tages gelingt, hängt nicht allein davon ab, wiedie Donaustrategie formuliert ist – in dem Aktionsplanfinden wir teilweise sehr gute und konkrete Projekte –,sondern das hängt am Ende auch davon ab, wie mutig

die Europäische Union und damit wir alle sind, wenn esdarum geht, auf wichtigen, großen Politikfeldern der EUReformen vorzunehmen. Das ist erforderlich, damit dieDonaustrategie eingebunden in andere Politiken undStrategien eine Chance hat. Ich nenne in diesem Zusam-menhang die Nachbarschaftspolitik, die GemeinsameAgrarpolitik, die Kohäsionspolitik und letztlich auch dieFrage der zukünftigen Haushaltsgestaltung. Die Ent-wicklung in diesen Politikfeldern darf man nicht ge-trennt sehen von dem, was wir gemeinsam an positiverEntwicklung für den Donauraum erreichen wollen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU])

Ich finde es hervorragend, dass sich die Donaustrate-gie, die nach ihrer derzeitigen Ausgestaltung 14 Staatenumfasst, nicht nur auf EU-Mitgliedstaaten und direkteAnrainer der Donau bezieht, sondern auch Länder be-rücksichtigt, die nicht oder noch nicht Mitglied der Eu-ropäischen Union sind. Ich finde es auch sehr gut, dassin dem Antrag von CDU/CSU und FDP ausdrücklich un-terstrichen wird, dass die Expertise nichtstaatlicher Ak-teure eine große Rolle bei der Entwicklung und Umset-zung der Donaustrategie spielen soll. Allerdings hätteich mir gewünscht, dass an der einen oder anderen Stelledes Antrags der Koalitionsfraktionen noch etwas stärkerherausgearbeitet worden wäre – das steht ohne Zweifeldrin –, dass im Zusammenhang mit den nichtstaatlichenAkteuren nicht nur die Unternehmensverbände undIHKs eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch dieZivilgesellschaft

(Beifall bei der SPD)

und die Donaustrategie daher in der Zivilgesellschaftverankert sein muss und sie den Austausch und die Zu-sammenarbeit der Zivilgesellschaften im Donauraumfördern muss.

Ich möchte deshalb ausdrücklich betonen, dass ich esfür eine hervorragende Idee halte, ein Donaujugendwerkzu installieren. Das ist, glaube ich, genau der richtigeWeg, um gerade auch die nächste Generation für diesesProjekt zu begeistern und dazu zu befähigen, in der Re-gion eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zubetreiben. Abseits der Frage, wie man ein solches Ju-gendwerk am Ende institutionalisiert, halte ich es fürwichtig, dass man sehr schnell damit beginnt, dieses Ju-gendwerk zu gründen und es mit Leben zu füllen. Denndas wäre, glaube ich, ein Symbol für die nach vorne ge-richtete Donaustrategie.

(Beifall bei der SPD)

Eine entscheidende Frage, die sich mir stellt, ist na-türlich: Wie gelingt es uns, der gesamten Makroregionmit der Donaustrategie eine gute Perspektive zu geben?Wie kann man einen Mehrwert für eine nachhaltige Ent-wicklung in der Region schaffen? Ich möchte noch ein-mal aufgreifen, was ich gerade schon angeführt habe. Ichglaube, nur wenn sich die europäische Donaustrategiekonsistent in eine Weiterentwicklung wichtiger EU-Poli-tikfelder einfügt, wird sie am Ende erfolgreich sein. Des-halb müssen wir uns die Fragen stellen – das ist einPunkt, der in diesem Antrag zu kurz kommt; über diesen

Page 155: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12085

Dietmar Nietan

(A) (C)

(D)(B)

Punkt müssen wir sicherlich über diesen Antrag hinausauch hier im Parlament weiter ringen –: Welche Initiati-ven werden aus Deutschland kommen, um die Kohä-sionspolitik, die Strukturpolitik weiterzuentwickeln, dieRolle der Regionen zu stärken und die grenzüberschrei-tende Zusammenarbeit mit neuen zielführenden Instru-menten zu bestücken, nicht nur die grenzüberschreitendeZusammenarbeit zwischen EU-Mitgliedstaaten, sonderngerade auch zwischen EU-Mitgliedstaaten und Nicht-EU-Mitgliedstaaten? Welche Ziele geben wir der Kohä-sionspolitik in Zukunft? Wie präzisieren wir die Instru-mente? Wie statten wir sie mit Mitteln aus? Ich glaube,nur wenn sich die Kohäsionspolitik weiterentwickelt,wird es einen Rahmen geben, in dem sich die Donaustra-tegie erfolgreich entfalten kann.

Ebenfalls zu Recht betonen die Koalitionsfraktionen,dass die Entwicklung im ländlichen Raum ein ganz ent-scheidender Punkt ist. Aber wenn man das so betont,wird man nicht um folgende Fragen herumkommen: Wiewerden wir uns als Bundesrepublik Deutschland in dieDiskussion über die grundsätzlich notwendigen Refor-men der Gemeinsamen Agrarpolitik einbringen? Wieschaffen wir es, noch stärker als bisher von den direktenSubventionen hin zur Förderung einer nachhaltigen Ent-wicklung im ländlichen Raum zu kommen?

Ebenfalls geht es darum – darauf wird rekurriert –,das Ganze in die EU-Strategie 2020 einzubinden. Aberdas kann nur gelingen, wenn die EU-Strategie 2020nicht allein auf Wettbewerbsfähigkeit achtet, sondernauch Wohlstand und Prosperität für die gesamte Regionund nicht nur für die EU-Mitgliedstaaten beinhaltet. Ichhabe den Finanzrahmen angesprochen. Wir werden si-cherlich auch darüber diskutieren müssen, wie die ein-zelnen Politiken im Finanzrahmen von 2014 bis 2020neu strukturiert werden, damit die benötigten Mittel mitentsprechenden Prioritäten versehen zur Verfügung ge-stellt werden können.

Zum Schluss erlauben Sie mir noch den Hinweis aufzwei Politiken, die ich bisher nicht genannt habe, aberjetzt noch einmal betonen möchte. Wir haben mit derDonaustrategie den großen Vorteil, dass wir damit zumBeispiel auch die Staaten des sogenannten Westbalkansansprechen. Ich glaube, die Donaustrategie ist am Endenur glaubwürdig, wenn wir in der europäischen Erweite-rungspolitik deutlich machen, dass die Perspektive derEU-Erweiterung für diese Staaten weiterhin besteht,

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Link [Heilbronn] [FDP])

dass nach Kroatien nicht Schluss ist, sondern dass wiruns ernsthaft darum bemühen, diesen Staaten diese Pers-pektive zu geben. Ich glaube, wenn das konsistent derFall ist, ist auch die Donaustrategie für diese Staateneine glaubwürdige Strategie, eine Strategie, in die siesich sicherlich gerne einbringen werden.

Wir werden nicht nur im Zusammenhang mit den Ent-wicklungen in Nordafrika – darüber haben wir hier imPlenum ja gerade eine Diskussion geführt –, sondernauch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in derRepublik Moldau, in der Ukraine und in Belarus darüber

diskutieren müssen, wie wir die europäische Nachbar-schaftspolitik so reformieren, dass sie sich entfaltet undzu Stabilität, Prosperität und Entwicklungschancen fürdie Menschen in den Nachbarstaaten führen kann. Ichglaube, das ist der entscheidende Punkt: Haben wir denMut, diese wichtigen EU-Politiken über die Donaustra-tegie hinaus so zu reformieren, dass sie den Menschendienen? Ich glaube, nur wenn wir beides tun, wird dieDonaustrategie Erfolg haben. Das sollten wir uns allegemeinsam wünschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege Dietmar Nietan. – Jetzt

spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege JoachimSpatz. Bitte schön, Kollege Spatz.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Joachim Spatz (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde

verschiedentlich schon gesagt: Der alte Kulturraum Bal-kan/Donau ist ein wesentlicher Bestandteil der europäi-schen Geschichte und der europäischen Zukunft. Des-halb ist es wichtig und folgerichtig, dass sich dieEuropäische Union um diesem Raum ähnlich wie umden Ostseeraum, der auch eine gewachsene Kulturregionist, kümmert. Eines möchte ich gleich zu Beginn betonen– auch der Kollege Nietan hat dies angesprochen –: Na-türlich ist diese Strategie nur glaubwürdig, wenn auchder Westbalkan eine Perspektive innerhalb der Europäi-schen Union hat. Allerdings glaube ich, dass daran nie-mand in diesem Hause zweifelt. Entschlossene Schrittein diese Richtung gehen wir jedenfalls.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich finde es richtig und wichtig, dass sich die Europä-ische Union und ihre Mitgliedstaaten dieser Aufgabestellen. Dabei will man keine neue Institution schaffen,keine neuen, zusätzlichen Mittel rekrutieren und ohneneue Rechtsetzungsakte auskommen. Das heißt, manstellt sich dieser Aufgabe, ohne sofort nach dem Füll-horn der zentralen Umverteilung zu rufen. Das ist in Zei-ten wie diesen, in denen wir über Stabilisierungsmecha-nismen und Ähnliches diskutieren, ein bemerkenswerterund unterstützenswerter Vorgang. Auch dies sei betont.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

An der Strategie für den Donauraum sind nicht nurEU-Mitgliedstaaten, sondern auch sechs Nichtmitglied-staaten beteiligt. Dies zeigt ganz deutlich, dass Europa inder Lage ist, über seine Grenzen hinaus zu denken unddie Anrainerstaaten an der ökonomischen Prosperität,die diese Region durch die engere Kooperation mit derEU erfahren wird, teilhaben lassen will. Wir begrüßenausdrücklich, dass das Prinzip der Subsidiarität auch hier

Page 156: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Joachim Spatz

(A) (C)

(D)(B)

gelten soll. Dies hat zur Folge, dass Bundesländer wieBaden-Württemberg und Bayern die Expertise, die siebei diesem Thema seit vielen Jahren haben, einbringenkönnen.

Vier Säulen sind wichtig: die Anbindung des Donau-raums an den zentraleuropäischen Raum, der Umwelt-schutz im Donauraum – auch dies ist ein wichtigesThema –, der Aufbau von Wohlstand und die Stärkungder inneren Sicherheit, Stichwort „Bekämpfung organi-sierter Kriminalität“; dies ist besonders wichtig, wennman die Aufnahme der Staaten des Westbalkans in dieEU weiter vorantreiben will. Diese vier Säulen sindKernbestandteile der Strategie.

Ein zentraler Punkt ist die Befähigung der Länder desWestbalkans zur Wettbewerbsfähigkeit. Es sei daran er-innert: Das ist kein Nebenkriegsschauplatz, Herr Kol-lege Nietan, sondern ein Hauptkriegsschauplatz. DenkenSie nur an die Diskussionen, die wir in Bezug auf andereLänder der Euro-Zone führen. Ich denke, eine zentraleWeichenstellung für die nächsten Jahre besteht darin, dieLänder des Donauraums zu befähigen, aufgrund eigenerwettbewerbsfähiger Strukturen wirtschaftlichen An-schluss an Zentraleuropa zu finden. Am Ende der Reisesollte natürlich ihre Mitwirkung an der EuropäischenWirtschafts- und Währungsunion stehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wurde bereitsangesprochen. Der wesentlichste Punkt ist meiner Mei-nung nach allerdings der Ausbau der Infrastruktur beimEnergietransfer. Wenn der Donauraum im Hinblick aufden Austausch von Strom, Gas und anderen Energieträ-gern an Zentraleuropa gut angebunden wird, ist zu er-warten, dass sich dort eine vernünftige Infrastruktur ent-wickelt. Auch für diesen Raum wird es unumgänglichsein, seine Energiewirtschaft umzustellen.

Das Jugendwerk und der Austausch von Studierendenwurden bereits angesprochen. In diesem Bereich kannman bereits den ersten greifbaren Erfolg vermelden:Schon bevor die Strategie zu Papier gebracht wird, wur-den entsprechende Aktivitäten eingeleitet. So wird dieStaatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper,morgen in Budapest den Partnerschaftsvertrag zwischenBayern, Baden-Württemberg, der Bundesrepublik Deutsch-land und der deutschen Andrassy-Universität in Buda-pest unterzeichnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschsprachig! Siediskriminieren sonst die Schweiz und das Tes-sin!)

– Ja, es ist eine deutschsprachige Universität in Buda-pest.

Ich finde, dass wir im Übrigen – vielleicht weil wiram Rande dieser Region liegen – nicht unterschätzensollten, für wie wichtig die betreffenden Länder dieseStrategie halten. Es ist ein wichtiges Zeichen für die

europäische Integration, dass wir die partnerschaftlicheHand in fairer Art und Weise ausstrecken.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. – Als Nächster

hat unser Kollege Dr. Diether Dehm das Wort. Bitteschön, Kollege Diether Dehm, für die Fraktion DieLinke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Donau-

strategie bzw. das, was die Kommission da will, stelltwirtschafts- und verkehrspolitische Ziele über den Erhaltvon Ökosystemen und verschärft außerdem die vorhan-denen sozioökonomischen Gegensätze zwischen denacht EU-Staaten und den sechs Donauanrainern weiter.Der Koalitionsvertrag fällt noch hinter den Vorschlag derKommission zurück. Bis 2020 sollen die Kapazitäten fürden Güterschiffsverkehr verdoppelt werden. Dazu sollenbestehende Engpässe für die Schifffahrt beseitigt wer-den. Die Donau soll ganzjährig für große Binnenschiffemit einem Tiefgang von bis zu 2,50 Metern schiffbarsein. Das bedeutet Flussbegradigung, Vertiefung vonFahrrinnen und Aufstauungen. Die Engpässe, die da ein-betoniert werden sollen, sind aber auch Auenlandschaf-ten. Wir halten Güterschiffe durchaus für eine zukunfts-fähige Verkehrsform. Sie sollte aber kein Bauplan für einsoziales und ökologisches Desaster sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Umweltziele bleiben unkonkret. Aber es gibt be-reits eine konkrete Finanzierung für NAIADES und dieTEN-Projekte bzw. für den Straßen- und Schienenver-kehr. Bayern plant so den Donauausbau mit Staustufenim einzig unverbauten Abschnitt zwischen Straubingund Vilshofen. Die Linke ist dagegen und steht an derSeite der Umweltinitiativen vor Ort.

(Beifall bei der LINKEN)

In Mittel- und Südosteuropa ist die Wirtschaft nochstärker eingebrochen als sonst in Europa. Das gilt beson-ders für Ungarn und Rumänien, die im Gegenzug fürIWF-Kredite brutale Verarmungsprogramme einleitenmussten. Das Wiener Institut für Internationale Wirt-schaftsvergleiche rechnet zwar ab diesem Jahr mitWachstumsraten von durchschnittlich 3 Prozent, unter-streicht aber, dass diese Staaten fünf bis sieben Jahre ansozioökonomischer Entwicklung verloren haben. Wiesollen mit den brutalen Sparprogrammen der Europa-2020-Strategie, auf die die Kommission als Ausweg ver-weist, Bildung und Beschäftigung ausgebaut werden?

Die Kommission veranschlagt die Gesamtkosten derDonaustrategie auf rund 100 Milliarden Euro, die 2014bis 2020 durch Einschnitte im Kohäsionsfonds, beimEuropäischen Fonds für regionale Entwicklung und beimSozialfonds aufgebracht werden sollen. Der Förderfokuswird weiter auf Privatisierung und Wettbewerbsfähigkeit

Page 157: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12087

Dr. Diether Dehm

(A) (C)

(D)(B)

zulasten von nötigen sozialen Ausgleichsprogrammeneingeengt. Monopolkapitalistische EU-Politik beantwor-tet nirgendwo die Frage: Wie sind Wirtschafts- und Bin-nennachfrage anzukurbeln, wenn man sie gleichzeitig– an der Donau, in Griechenland, Portugal und letztlichauch in Deutschland – kaputtkürzt?

(Zuruf von der CDU/CSU: Seit wann fließt die Donau in Kuba?)

– Ich habe schon intelligentere Zwischenrufe gehört. –So profitieren von diesem gigantischen Infrastrukturpro-gramm in erster Linie Konzerne und Großbanken ausKerneuropa – besonders deutsche und österreichische –,die die Märkte bereits beherrschen.

Eine nachhaltige soziale und ökologische Integrationder Region kann nur mit der von Gewerkschaften unduns geforderten sozialen Fortschrittsklausel sowie dergrundlegenden Revision der Lissabon-Verträge erreichtwerden.

(Beifall bei der LINKEN)

Die EU muss ihre Grundrichtung komplett ändern, so-zial und ökologisch werden und nicht nur in der Donau-region endlich zu den Menschen kommen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Dr. Dehm. – Jetzt spricht als

Nächste auf unserer Rednerliste für die FraktionBündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Viola von Cra-mon-Taubadel. Bitte schön, Sie sind erneut im Einsatz.

Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Die Donau verbindet. Sie verbindet EU-Mitglied-staaten wie Deutschland mit EU-Anwärtern wie Kroa-tien und mit den Ländern der EU-Nachbarschaftspolitik,der Ukraine und Moldau. Es ist daher folgerichtig – wirunterstützen das sehr –, dass die EU-Kommission einegemeinsame Strategie für diese Region entworfen hat.Ich glaube, schon gestern haben die EU-Außenministergenau diese Strategie beschlossen. Aber vielleicht habenSie eben über eine andere Vereinbarung gesprochen,Herr Spatz.

(Joachim Spatz [FDP]: Das war in der Tat eine andere Vereinbarung!)

Die Umsetzung soll nun schnell beginnen, damit die Le-bensqualität der etwa 115 Millionen Menschen in die-sem Gebiet, wie Sie auch geschrieben haben, langfristigverbessert werden kann.

Was haben wir uns nun unter dieser Donaustrategievorzustellen? Es heißt dort: Eine dynamische Donau-region unter Beachtung des Naturschutzes und der Bio-diversität soll gefördert werden.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das muss Ihnen doch gefallen!)

Dafür hat die EU-Kommission selbstverständlich dievolle Unterstützung von uns Grünen.

(Joachim Spatz [FDP]: Da hättet ihr applaudieren müssen!)

Weiterhin wird betont, für die Strategie keine neuen EU-Gelder zu erheben, keine neuen EU-Vorschriften zu er-lassen und keine neuen EU-Strukturen zu schaffen. Viel-mehr soll es zu einer verstärkten regionalen Kooperationkommen. Auch diesen Ansatz unterstützen wir.

Es gibt allerdings einen Knackpunkt, auf den ich Siegerne hinweisen möchte. Das Hauptproblem der Donau-strategie liegt – Herr Dehm hat das eben schon angespro-chen – in den eklatanten Widersprüchen, also in einemZielkonflikt. So soll auf der einen Seite die Donauschiffbarer gemacht werden. Die Zielvorgabe lautet, denFrachtverkehr bis 2020 um mindestens 20 Prozent zusteigern. Damit verbunden sind die geplanten Begradi-gungen und Staustufen, um den flachen Fluss für diegroßen Frachtkähne befahrbar zu machen. Gleichzeitig– ich denke, das liegt uns Grünen wirklich besonders amHerzen – soll das Erreichen des anderen Ziels, die Bio-diversität, gefördert werden.

Wer sich einmal die Statistiken anschaut und sieht,wie viele Arten täglich verloren gehen, der oder dieweiß, wie wichtig die Erreichung genau dieses Zielsnicht nur für das Donaugebiet, sondern für den gesamteneuropäischen Kontinent ist.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!)

– Ich meine das ernst.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Gut, dass Sie das dazusagen!)

Die Natur im Donaugebiet ist ein besonders schützens-werter und einmaliger Naturraum hier in Europa

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

– das wissen Sie aus Bayern wahrscheinlich noch besserals ich –; denn mehr als 300 Vogelarten leben hier, undviele von ihnen sind sehr selten.

Nun zurück zur Schlüsselfrage, wie dieser Zielkon-flikt zu überwinden ist. Sogar die Bundeskanzlerin hat ineinem Statement genau diese Herausforderung als dasSpannungsfeld der Strategie ausgemacht: Wie lassensich Naturschutz und Gütertransport auf dem Fluss ver-einbaren? Antworten darauf, wie dieses Spannungsver-hältnis aufzulösen ist, finden wir in Ihrem Antrag keine.Das ist das Bedauerliche, weswegen wir uns am Endeauch enthalten werden.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Oh! Das ist ja überraschend!)

Sie sagen nur, was nicht geschehen darf, bieten in IhremAntrag allerdings keine Lösungsvorschläge an.

Für uns Grüne ist klar: Ein Schutz des Donauraumsüber die Grenzen der 14 Anrainerstaaten hinweg ist drin-gend nötig. Aber eine Flussbegradigung und Staustufensind unnötige Eingriffe. Vielmehr sollten wir darin in-

Page 158: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Viola von Cramon-Taubadel

(A) (C)

(D)(B)

vestieren, die Schiffe dem Fluss anzupassen – nicht um-gekehrt. Ingenieure werden Ihnen sagen, dass es durch-aus möglich ist, Schiffe so zu konstruieren, dass diegleichen Lasten getragen werden können und die Donaudennoch in ihrem ursprünglichen, natürlichen Zustandbefahren werden kann. Ich begrüße es daher ausdrück-lich, dass sich die deutsche Delegation beim Treffen desRates der Europäischen Union am 8. April gegen die Be-seitigung der Engpässe der Donau ausgesprochen hat.Sie sehen: Ab und zu erkennen wir es sogar an, wennsich die Regierung richtig verhält. Der Schutz der Um-welt muss aus unserer Sicht Priorität behalten. Nur wennder Umweltschutz gelingt, werden auch die anderenZiele der Strategie erreicht.

Am Ende komme ich nun zu den großen Chancen derStrategie. Die größte Chance liegt für uns im nachhalti-gen, grenzüberschreitenden Tourismus. Das ist ein Pro-jekt mit großer Priorität. Als eine wichtige Vorausset-zung genau hierfür – damit komme ich wieder auf denNaturschutz zurück – muss es eben eine Verbesserungdes Naturschutzes und vor allem auch eine Verbesserungder Wasserqualität geben. Die biologische und kulturelleVielfalt des Donauraums bietet ein enormes Potenzialund hat eben auch eine existenzielle Bedeutung für denÖkotourismus. Nachhaltiger Tourismus kann maßgeb-lich – auch das wissen Sie – zur Wirtschaftsförderungbeitragen. Natürliche und kulturelle Ressourcen werdengeschützt, indem auf die umweltgerechte Gestaltung vontouristischer Infrastruktur gesetzt wird. Genau daraufkommt es aus unserer Sicht in der Donauregion und indieser Strategie an.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir haben zu danken. – Der letzte Redner in dieser

Debatte ist der Kollege Gunther Krichbaum für die Frak-tion der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieDonau hat viele Gesichter: Für die einen ist sie eineGrenze, für die anderen eine lebensnotwendige Ver-kehrsader und für Dritte ohne jeden Zweifel auch ein tol-les Naherholungsgebiet.

Was die Grenze angeht – damit sind wir schon mitten-drin –, wird ersichtlich, dass es letztlich darauf an-kommt, was wir aus der Donau machen. Allein zwischenBulgarien und Rumänien erstreckt sich der Grenzverlaufentlang der Donau über eine Länge von 380 Kilometern.Aber es gibt nur eine einzige Brücke. Schon daraus wirdersichtlich, dass diese beiden Länder so gut wie nichtsmiteinander zu tun haben. Sie haben weder ein gutesnoch ein schlechtes Verhältnis zueinander; sie haben garkein Verhältnis zueinander. Genau an dem Punkt kanndie Donaustrategie ansetzen.

Was die Verkehrskapazitäten angeht, muss sich in dernächsten Zeit in der Tat erheblich mehr tun. Dazu nurzwei Zahlen: Während sich der schiffbare Verlauf desRheins über 700 Kilometer erstreckt, sind es auf der Do-nau immerhin 2 200 Kilometer. Was die Frachtgüter an-geht, fällt aber auf, dass auf der Donau 60 Millionen bis70 Millionen Tonnen im Jahr befördert werden, währendes auf dem Rhein bei einem Drittel der Länge immerhin350 Millionen Tonnen sind. Das entspricht einem Ver-hältnis von circa 1 zu 20.

(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Rotterdam an die Donau!)

Das bedeutet, dass es zum einen in den Anrainerstaatenunterschiedliche Voraussetzungen gibt und dass es zumanderen an schiffbaren Abschnitten fehlt. Deswegenwerden wir langfristig nicht darum herumkommen, dar-über zu diskutieren, inwieweit die Donau vertieft werdenmuss. Die Transportkapazitäten müssen schon deswegenausgebaut werden, weil wir zunehmend auch im Stra-ßenverkehr an unsere Kapazitätsgrenzen kommen. Unteranderem daran zeigt sich die Wichtigkeit.

Die Donau ist auch Energieträger und Energiebringer.Das wird vor allem in Österreich deutlich. In Österreichhat die Donau auf ihrer Gesamtlänge ein Gefälle voncirca 10 Metern. Das heißt, sie ist faktisch ein Gebirgs-fluss. Das ermöglicht es, dass zahlreiche Wasserkraft-werke zur Deckung des Strombedarfs in Österreich bei-tragen. Auch hier gibt es Möglichkeiten des Ausbaus,nicht unbedingt entlang der Donau in Österreich, wohlaber bei den Zuflüssen. Das spielt für eine Energiestrate-gie in Europa eine zunehmend wichtige Rolle.

Es gibt in der Tat sehr viele Facetten, bis hin zu derkulturellen Verbindung. Das ist der eigentlich Charmeder Donauraumstrategie, die von Ländern wie Baden-Württemberg und Bayern entwickelt wurde. Die Initia-tive ging damals von der EU-RegionalkommissarinDanuta Hübner und dem damaligen MinisterpräsidentenGünther Oettinger aus. Ich erwähne das deswegen, weiles zeigt, dass sehr wohl auch die Bundesländer dafürSorge tragen können, dass aus solchen Ideen eines Tageseine gesamteuropäische Strategie entstehen kann. DieBundesländer können sich in Europa durchaus aktivereinbringen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Donauraumstrategie hat aber – das haben mancheRedner bereits erwähnt – ihren besonderen Charme da-rin, dass sie Nicht-EU-Länder mit EU-Ländern verbin-det. Ja, es wäre deutlich zu kurz gesprungen, wenn mandie Donauraumstrategie nur als ein Infrastrukturprojektdefinieren würde. Sie muss eine Anstoßwirkung haben,als Katalysator wirken, insbesondere was die Erweite-rungspolitik der Europäischen Union angeht. Länder wiedie Republik Moldau und Serbien brauchen eine Pers-pektive in dieser Richtung. Für die Gesamtentwicklungsolcher Länder ist dies unabdingbar. Diese Länder rü-cken näher zusammen. Das ist von unserer Seite zu be-grüßen. Wir wollen deswegen die Donauraumstrategiedahin gehend fördern, dass sie ein Ansporn zur soge-

Page 159: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12089

Gunther Krichbaum

(A) (C)

(D)(B)

nannten Good Governance ist, dass sie eben die gute Re-gierungstätigkeit in den Ländern zu befördern hilft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube, es sollte nicht nur eine Binnenstrategie derEuropäischen Union sein, sondern insbesondere auch ei-nen Beitrag dazu leisten, dass die Bürgerinnen und Bür-ger enger zusammenrücken und Städtepartnerschaftenentstehen. Dazu ein letztes Beispiel. Wir stellen fest, dassBaden-Württemberg über 490 Städtepartnerschaften mitFrankreich hat, während Gesamtdeutschland mit Serbiengerade einmal drei Städtepartnerschaften hat. Auch dassollte uns zu denken geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Gunther Krichbaum. – Gunther

Krichbaum war der letzte Redner in dieser Debatte.

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP aufDrucksache 17/5495 mit dem Titel „Strategie der Euro-päischen Union für den Donauraum effizient gestalten“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Dieser Antrag ist angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)zu dem Antrag der Abgeordneten BurkhardLischka, Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Ra-abe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD

Stärkung der humanitären Lage in Afghani-stan und der partnerschaftlichen Kooperationmit Nichtregierungsorganisationen

– Drucksachen 17/1965, 17/4628 –

Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeBurkhard LischkaHarald LeibrechtHeike HänselUte Koczy

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten TomKoenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs-und Hochschulsystems in Afghanistan

– Drucksachen 17/3866, 17/4629 –

Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderJohannes PflugPatrick Kurth (Kyffhäuser)Wolfgang GehrckeDr. Frithjof Schmidt

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Na-men der Redner liegt dem Präsidium vor.

Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-nungspunkt 13 a. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/4628, den Antragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1965 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist somit angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-nungspunkt 13 b. Der Auswärtige Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4629,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/3866 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen und die Linksfraktion. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. DieBeschlussempfehlung ist somit angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesgegen den Handel mit illegal eingeschlagenemHolz (Holzhandels-Sicherungs-Gesetz – Holz-SiG)

– Drucksache 17/5261 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz (10. Ausschuss)

– Drucksache 17/5498 –

Berichterstattung:Abgeordnete Alois GerigPetra CroneDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannCornelia Behm

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) –Alle Kolleginnen und Kollegen sind einverstanden, wieich sehe. Die Liste der Namen der Redner liegt uns vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürErnährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/5498, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/5261 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das

1) Anlage 42) Anlage 5

Page 160: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Handzeichen. – Gegenstimmen? – Keine. Enthaltun-gen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Keiner. Enthaltungen? – Keine.Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleGohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln –Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Mas-terstudiengängen sichern

– Drucksache 17/5475 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen.1) –Sie sind alle einverstanden. Die Liste der Namen derRedner liegt uns vor.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5475 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HelmutHeiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Rat-jen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Illegale Landnahme verhindern, Eigentums-freiheit schützen, Ernährungsgrundlage inEntwicklungsländern sichern

– Drucksache 17/5488 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten NiemaMovassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel Troost,

1) Anlage 6

weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Hunger bekämpfen – Spekulation mit Nah-rungsmitteln beenden

– Drucksache 17/4533 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namender Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.

Helmut Heiderich (CDU/CSU): In den vergangenen drei Jahren haben Investoren aus

Industrie- und Schwellenländern in Afrika rund 20 Mil-lionen Hektar Ackerland gepachtet bzw. gekauft. DieseLandnahme, auch „Land Grabbing“ oder „OffshoreFarming“ genannt, ist gerade in Afrika besonders aus-geprägt, da dort sowohl ausreichend landwirtschaftli-che Flächen als auch genügend preiswerte Arbeitskräftezur Verfügung stehen.

Die Herkunft der zum Teil privaten, aber auch staat-lichen Investoren ist so vielfältig wie ihre Beweggründe.Sie stammen zum Beispiel aus der arabischen Welt, diebesonders mit Wasser- und Ackerlandmangel zu kämp-fen hat, aber vor allem aus asiatischen Ländern, wieChina und Indien, die ihrem rasanten Bevölkerungs-wachstum und dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise(um 15 Prozent zwischen 2007 und 2009) begegnenmüssen. So kostet etwa Weizen international heute mitgut 330 Dollar pro Tonne über 50 Prozent mehr als nochvor einem Jahr. Auch die Spekulationen mit Nahrungs-mitteln führen zu massiven Preissteigerungen, deren Ra-ten von Wissenschaftlern auf 20 Prozent bis 40 Prozenteingeschätzt werden. Finanzinvestoren suchen verstärktnach Anlagemöglichkeiten in vermeintlich sicheren undprofitablen Sachwerten, und dazu gehören nicht nurGold, sondern zum Beispiel auch Weizen, Mais, Soja undZucker. Die steigende Nachfrage treibt die Preise in dieHöhe – mit fatalen Folgen für arme Bevölkerungs-schichten in Entwicklungsländern. Daneben macht sichder steigende Lebensstandard vieler Einwohner vonSchwellenländern, die verstärkt höherwertige Nah-rungsmittel wie Fleisch und Milch nachfragen, bemerk-bar. Der daraus entstehende größere Bedarf an Getreidefür Tierfutter lässt zusätzlich die Preise für Grundnah-rungsmittel klettern.

In der Tat kann eine ausländische Investition inAgrarflächen mit enormen Chancen für die einheimi-sche Bevölkerung verbunden sein: Investitionen in dieLandwirtschaft sowie der Einsatz moderner Technikkönnen zu deutlichen Steigerungen der Nahrungsmittel-produktion führen. Außerdem können zusätzliche Ein-nahmen durch Verkaufserlöse, Pachterträge und Steuernerzielt werden; es können neue Märkte entstehen, unddie Zahl der Beschäftigten kann deutlich ansteigen,

Page 161: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12091

Helmut Heiderich

(A) (C)

(D)(B)

wenn die Investition mit einer Strategie zur Armutsbe-kämpfung verbunden ist. Es gibt diese positiven Fälle,wie beispielsweise in Malawi, wo Tausende ortsansäs-sige Arbeiter beschäftigt werden und ein Großteil derWertschöpfung im Land verbleibt.

Die Realität sieht aber oftmals anders aus: Tatsäch-lich finden Investitionen vor allem in den Ländern statt,in denen diktatorische und korrupte Regierungen herr-schen. Es gibt Beispiele, wo bestechliche Beamte Land-flächen als unfruchtbar eingestuft haben, nur um diesebesser an ausländische Investoren verkaufen zu können.Andererseits lassen sich viele Länder auf diese Ge-schäfte ein, weil sie sich in den ländlichen Regionen In-vestitionen in Schulen, Krankenhäuser und Verkehrs-infrastruktur erhoffen. Außerdem möchte man vomKnow-how der ausländischen Fachkräfte profitieren.

So kommt es häufig vor, dass Länder, die im besonde-ren Maße vom Hunger betroffen sind, Investoren gegen-über am großzügigsten mit ihrem Ackerland umgehen.Die betroffenen Kleinbauern werden dann aber bei derLandverteilung nicht berücksichtigt und damit oftmalszu Opfern von Vertreibung und Ausbeutung. In Äthio-pien gibt es zum Beispiel kein Privateigentum an Land –alles Land gehört dem Staat. Die Regierung kann es soproblemlos an Investoren vergeben. 3,6 Millionen Hek-tar – das entspricht der Größe Belgiens – hat Äthiopienfür Investoren inzwischen bereitgestellt. Der „Tages-spiegel“ berichtete am 3. April 2011 von enttäuschtenäthiopischen Kleinbauern: „Als die Behörden ihnen daserste Mal von den ausländischen Investoren erzählten,hätten sie Strom, bessere Gesundheitsversorgung, Schu-len, Straßen und Wasser versprochen, doch nichts davonsei gekommen. Stattdessen habe man ihnen das Landweggenommen, auf dem sie Sesam und Mais anbautenund auf denen ihr Vieh weidete.“

Nicolas Sarkozy hat das Problem der Rohstoffpreiseund der Lebensmittelsicherheit zu einer Priorität derG 20 in diesem Jahr erklärt. Die Steigerung der Nah-rungsmittelproduktion, neue Anbaumethoden und dieVerbesserung bei Marktzugang und Infrastruktur sindHerausforderungen, denen sich jedes Land stellen muss,wenn es dauerhaft Hunger und Armut beseitigenmöchte. Genau dies verfolgen wir mit unserem Antrag.Besserer Zugang der Bauern zu den Märkten kann dazubeitragen, die Effizienz der Lebensmittelversorgung zusteigern. Eine bessere staatliche Verwaltung ist Voraus-setzung, damit Investitionsprogramme der einheimi-schen Bevölkerung zugutekommen. Eine verbesserteInfrastruktur für Lagerung und Transport kann hoheVerluste vermeiden.

Deshalb müssen wir in Zukunft Verstöße gegen dasRecht auf Besitz und Eigentum noch gezielter themati-sieren, insbesondere im Menschenrechtsrat der Verein-ten Nationen. Im Rahmen der Entwicklungszusammen-arbeit wollen wir die Partnerländer noch stärker beieiner zukunftsorientierten Landbewirtschaftungspolitikunterstützen, um die Ernährung der Bevölkerung vorOrt und global zu verbessern und auch um das Klimaund die Ressourcen für nachkommende Generationen zuschonen. Mangelnde Rechtsstaatlichkeit und kaum funk-

tionierende Institutionen, insbesondere in vielen afrika-nischen Ländern, machen die Durchsetzung von Land-rechten lokaler Gruppen jedoch oft schwierig, manch-mal sogar unmöglich. Daher wollen wir die Etablierungvon Beschwerdemechanismen und die Stärkung bereitsvorhandener Menschenrechtsinstitutionen vor Ort för-dern.

Vor dem Hintergrund des riesigen globalen Interessesan Land müssen wir so zu einer Stärkung von Good-Go-vernance-Strukturen beitragen. Es kann doch nicht sein,dass internationale Investoren auf Kosten der einheimi-schen Bevölkerung Millionengewinne machen und wirparallel dazu als Industrieländer die Ausgaben bei derNahrungsmittelhilfe andauernd drastisch erhöhen müs-sen.

Die deutschen Auslandsvertretungen in den betreffen-den Ländern müssen künftig noch stärker darauf hinwir-ken, dass Staaten, die über keine ausreichenden gesetzli-chen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Eigentumverfügen, einen verbindlichen Rechtsrahmen schaffen.Im Zuge der Entwicklungszusammenarbeit und desRechtsstaatsdialogs wollen wir Unterstützung bei derAusgestaltung dieses Gesetzgebungsprozesses – etwa inden Bereichen Immobiliarrecht, Sachenrecht, Grund-buch- und Katasterwesen, Staatshaftungsrecht oder Ent-schädigungsregelungen – geben. Um Korruption undMenschenrechtsverstöße zu verhindern, wollen wir beider Gestaltung der Verträge von ausländischen Investo-ren mit Regierungen künftig darauf hinwirken, dass siebeim Verkauf oder der Verpachtung von Flächen die Be-lange der betroffenen ortsansässigen Bauern und dieRisiken für die Umwelt berücksichtigen.

Die Entwicklung und Stärkung der Zivilgesellschaftist für uns von zentraler Bedeutung, ebenso wie die Auf-klärung der Bevölkerung über ihre Rechte. InsbesondereFrauen soll Hilfestellung für die Bewirtschaftung vonEigentum und Besitz angeboten werden. Gemeinsam mitunseren EU-Partnern treten wir zudem bei den VereintenNationen für ein Zusatzprotokoll ein, das den Schutz desEigentums vor unberechtigten Eingriffen durch privateDritte oder den Staat garantiert und angemessene Ent-schädigungen im Falle von Enteignungen vorschreibt.Wenn wir konsequent und mit langem Atem auf dieEinhaltung dieser Standards drängen, stellen FDIs– Foreign Direct Investments – kein Risiko oder eine Be-drohung dar, sondern können eine wirkliche Chance fürEntwicklungsländer und die Bekämpfung des Hungersin der Welt sein.

Johannes Röring (CDU/CSU): Die Nutzung von Grund und Boden für die Erzeugung

von Lebensmitteln stand schon 1992 bei der „Agenda 21“-Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiroganz oben auf der Tagesordnung. In Kapitel 14 derAgenda werden bedeutende Themen für die Zukunftsfä-higkeit der Agrarwirtschaft besonders in Schwellen- undEntwicklungsländern genannt, darunter auch die Bo-denordnung, Eigentumsfragen und die Bodenerhaltung.

Aktuell sehen wir in vielen Entwicklungs- undSchwellenländern einen zunehmenden Wettbewerb um

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 162: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Johannes Röring

(A) (C)

(D)(B)

die Nutzung von Grund und Boden. Grund dafür ist,dass wir eine stark wachsende Weltbevölkerung und diedamit einhergehende gestiegene Nachfrage nach Roh-stoffen erkennen. Wir sehen ein verändertes Konsumver-halten in den sich entwickelnden Regionen der Welt, be-sonders in Asien. Auch die Nachfrage nach Bioenergiesowie der Klimawandel, durch den immer mehr Flächendurch Erosion und Wüstenbildung unfruchtbar werden,sind Faktoren für diese Entwicklung. Wie dramatischdieser Entwicklungszustand ist, zeigen die Nahrungsmit-telkrisen der letzten Jahre und eine zunehmende Anzahlvon hungernden Menschen auf der Welt.

Eine Folge dieser Entwicklung, die je nach Bewer-tung entweder mit „Land Grabbing“ oder „Direct In-vestment in Land“ überschrieben wird, ist der Kauf oderdie Anpachtung von Flächen in Entwicklungs- undSchwellenländern. Wir sehen, besonders in Afrika, aberauch in Teilen Asiens, meist zwei Arten von Käufern vonLandbesitz, die zu unterscheiden sind. Auf der einenSeite stehen Länder wie etwa Saudi-Arabien, China, Ja-pan oder Südkorea, die vor allem daran interessiertsind, Nahrung für deren eigene Bevölkerung in den kom-menden Jahren und Jahrzehnten zu sichern. All dieseLänder leiden unter einem Mangel an Wasser undfruchtbaren Ackerböden.

Auf der anderen Seite sind jedoch auch vermehrt Pri-vatkonzerne, Finanzinvestoren und Hedgefonds in das„Land Grabbing“ eingestiegen. Diese Käufer kaufenAgrarland oftmals aufgrund der in den nächsten Jahrenzu erwartenden Verknappung und erhoffen sich dadurchhohe Renditen durch ihre Investitionen. Wir sehen beidieser Landnahme sowohl positive als auch negativeEntwicklungen für die betroffenen Staaten, die wir in un-serem Antrag ja auch ausführlich beschrieben haben.Allerdings sollten wir uns viel mehr die Frage stellen,warum diese Staaten ihre Flächen nicht selber nutzen.

Die große Herausforderung von unserer Seite bestehtnun eigentlich darin, Unterstützung anzubieten, damitinsbesondere afrikanische Staaten in der Lage sind, dielandwirtschaftliche Produktion in den eigenen Händenzu behalten. Eine Modernisierung und erhöhte Effektivi-tät und Effizienz der ortsansässigen Landwirtschaftwürden dabei helfen, „Land Grabbing“ unattraktiv zumachen. Dabei denke ich insbesondere an Know-how-Transfer, Verbesserung von Anbaumethoden und Unter-stützung bei der Ausbildung von Fachkräften. Dieswürde die Unabhängigkeit von der Praxis des „LandGrabbing“ ermöglichen.

Die politische Umsetzung, hin zu einer erfolgreichenLandwirtschaft, hängt auch entscheidend von einer gu-ten Regierungsführung ab, weshalb wir auch besonderesAugenmerk auf diesen Bereich legen. MangelndeRechtssicherheit im Bezug auf Besitzverhältnisse sehenwir als wichtigen Hinderungsgrund einer erfolgreichenEntwicklung der am wenigsten entwickelten Länder an.Die Bundesregierung setzt sich aktiv für den Aufbau vonrechtsstaatlichen Normen in Ländern der Dritten Weltein. Wir hoffen dadurch, unseren Partnerländern nichtnur die Möglichkeit zu eröffnen, die Versorgung der ei-genen Bevölkerung sicherzustellen, sondern auch das

landwirtschaftliche Potenzial ihres Landes selbstständignutzen zu können.

Landwirtschaft ist ein Wirtschaftsfaktor, der auch undbesonders in Afrika Wohlstand in ländlichen Räumenmehren kann. Denn perspektivisch müssen diese Länderdie Vorteile von ihrem fruchtbaren Grund und Bodenselber nutzen. Sie sollten zunächst in der Lage sein, sichselbst zu versorgen, um dann im nächsten Schritt Über-schüsse zu produzieren, mit denen sie Handel treibenkönnen, um so die wirtschaftliche Entwicklung, beson-ders in den ländlichen Gebieten, antreiben zu können.

Durch die Zunahme von Investitionen in die Res-source Boden ergeben sich politische Handlungsfelder,die besonders auf den Gebieten der Land- und Wasser-rechte, der sinnvollen Förderung und der notwendigenInvestitionen in die Landwirtschaft und in den ländli-chen Raum liegen. All diese Aspekte betonen wir in un-serem Antrag. Wir wollen verantwortungsvoll getätigteund notwendige Investitionen in den Agrarsektor, bei de-nen die lokalen, nationalen Rechte und der Schutz derdort lebenden Menschen und der dort verfügbaren Res-sourcen sichergestellt werden müssen. Wir wollen nicht,dass der Ackerboden in den Ländern der Dritten WeltSpekulationsobjekt ist. Das Ziel unserer Politik muss essein, den Stellenwert der Landwirtschaft zu erhöhen undso den Menschen die Möglichkeit zu geben, Ernährungs-sicherheit zu gewährleisten und langfristig Strukturenaufzubauen, die Wohlstand ermöglichen.

Dr. Sascha Raabe (SPD): Heute diskutieren wir zwei Anträge, die sich inhalt-

lich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen, im We-senskern aber ein immer wieder auftretendes Phänomenaus unterschiedlicher Perspektive beleuchten. Es gehtum Spekulationen, Spekulationen um landwirtschaftli-ches Nutzland und um Nahrungsmittel, die an den gro-ßen Warenterminbösen dieser Welt gehandelt werden.Gemein ist beiden Themenfeldern, dass die jeweiligenSpekulationen – sofern sie keinen Regelungen unterle-gen sind und unkontrolliertes Ausmaß annehmen – ver-heerende Folgen für die Menschen in den Entwicklungs-ländern haben. Hieß es früher noch: „Mit Lebensmittelnspielt man nicht“, müsste es heute heißen: „Mit Lebens-mitteln spekuliert man nicht.“ Denn Hunger und Armutentstehen, weil an anderer Stelle mit dem Essen speku-liert wird.

Im Februar 2011 erreichten die Lebensmittelpreisenach Angabe der Welternährungsorganisation der Ver-einten Nationen, UN Food and Agricultural Organisa-tion, FAO, einen neuen Rekordhöchststand. Innerhalbeines Jahres schnellten die Preise für Grundlebensmittelwie Weizen mit 74 Prozent oder Mais mit sogar 87 Pro-zent unkontrolliert in die Höhe. Welche Auswirkungendiese Preisexplosionen für die Menschen in den Ent-wicklungsländern haben, lässt sich schnell beantworten,wenn man weiß, dass die meisten Menschen in den Ent-wicklungsländern bis zu 80 Prozent ihres Einkommensfür Nahrungsmittel aufwenden müssen. Solche rasantenPreisentwicklungen sind dann fast nicht mehr zu stem-men und ziehen gravierende Folgen nach sich. Schon

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 163: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12093

Dr. Sascha Raabe

(A) (C)

(D)(B)

nach der enormen Preisexplosion im Frühjahr 2008stellte die Weltbank fest, dass über 150 Millionen Men-schen aufgrund der Preisentwicklungen der Grundnah-rungsmittel unter die Armutsgrenze gefallen sind. Aberauch ein Einbruch wirtschaftlichen Wachstums verbun-den mit Unruhen und politischen Turbulenzen resultie-ren aus dem mangelnden Zugang zu Lebensmitteln. Wel-che Auswirklungen der diesjährige erneute Preisanstieghaben wird, lässt sich schnell erahnen.

Die Ursachen dieser Preisentwicklungen sind vielfäl-tig. Zum einen führen die stetig wachsende Weltbevölke-rung und die veränderten Ernährungsgewohnheiten –vorwiegend der steigende Fleischkonsum der Menschenin asiatischen Schwellenländern – zu einem erhöhtenLebensmittelbedarf. Zum anderen tragen der vermehrteAnbau von Bioenergieträgern, die durch Erosion undVersalzung für die Landwirtschaft unwirtschaftlich ge-wordenen Flächen und die zunehmenden Ernteausfälle,bedingt durch vom Klimawandel verursachte Naturka-tastrophen, zu einer Verringerung der fruchtbaren Land-flächen und Produktionsmengen von Nahrungsmittelnbei.

Diese vorwiegend strukturellen Faktoren führen ers-tens zu einem erhöhten Bedarf an begrenzten Ressour-cen wie Lebensmittel und pflanzliche Energieträger.Zweitens wird fruchtbares Land zu einem noch kostbare-ren Gut. Begehrte Güter rufen Spekulanten auf die Ta-gesordnung, die versuchen, sich am Bedarf knapper Gü-ter zu bereichern. Leider ist das nicht nur an denFinanzmärkten der Fall, sondern auch an den zur Er-mittlung des Preises für Grundnahrungsmittel zuständi-gen Warenterminbörsen.

Viel wurde in den letzten Wochen und Monaten überWarenterminbörsen geredet, geschrieben und diskutiertund dabei versucht herauszufinden, welchen Anteil dieSpekulationen in Bezug auf die hohe Volatilität der Preis-entwicklung haben. Hier teile ich die Meinung derNichtregierungsorganisation Oxfam, die exzessiven Spe-kulationen mit Agrarrohstoffen seien für die extremenPreissprünge mitverantwortlich. Selbst die Weltbankgeht in einem Papier von 2010 davon aus, dass Index-fonds einen wesentlichen Anteil an den Preisexplosionenhaben. Grundsätzlich geht es nicht darum, den Handelund die Spekulationen an den Warenterminbörsen zu un-terbinden. Das wäre falsch und marktwirtschaftlichnicht dienlich. Genauso falsch wäre es aber, alles so zubelassen, wie es ist. Denn aktuell „funktionieren“ dieWarenterminbörsen im Sinne der Steuerung von waren-interessiertem Angebot und Nachfrage nicht. Daher be-darf es klarer Regelungen und einer erhöhten Transpa-renz in den und abseits der Warenbörsen. Es musseindeutig feststellbar sein, welche Akteure am Markt zuwelchen Konditionen aktiv sind. Die Einführung von Po-sitionslimits ist dabei nur eine von vielen notwendigenMaßnahmen, um der maßlosen Spekulation Einhalt zubieten. Daher haben wir als SPD-Bundestagsfraktionmit einem Antrag – Drucksache 17/3413 – gegen dieseSpekulationen ein Zeichen gesetzt.

Bei der Spekulation mit agrarischer Landfläche ste-hen wir vor einem ähnlichen Problem. Staatliche Ak-

teure – vorwiegend aus Schwellenländern und arabi-schen Ländern –, insbesondere aber private Investorenaus Industrie- und Schwellenländern versuchen, mitlangfristigen Pacht- oder Kaufverträgen großer Agrar-flächen in Entwicklungsländern die Eigenversorgungmit Nahrungsmitteln und Energiepflanzen zu sichern.Fast 90 Prozent der Investitionen im Bereich „LandGrabbing“ werden von privaten Kaufinteressenten – dieInvestoren sind zum einen dem Bereich Agrobusiness,zum anderen der Finanzindustrie zuzuordnen – getätigt,die dabei auch mit der Erwartung steigender Landpreisein Agrarflächen als Spekulationsgut investieren, und dasaus gutem Grund: Die Welthungerhilfe stellt in einemBericht fest: „Bis 2030 müsste die heute verfügbarelandwirtschaftliche Fläche um 515 Millionen Hektarwachsen, um eine ausreichende Produktion von Agrar-Energie- und Forsterzeugnissen zu sichern.“ Das ent-spräche ungefähr der Hälfte der Fläche Europas. Geradedie in Deutschland aufkeimende Debatte um die Bio-kraftstoffbeimischung E10 zeigt, dass der Anbau vonBiokraftstoffen in Konkurrenz zum Anbau von Nah-rungsmitteln steht und damit unbewusst auch vermehrtzum Kauf von Landflächen beiträgt. Das kann politischnicht gewollt sein.

Zwar hat es schon immer ausländische Landpachtoder Landkäufe gegeben, und neben der zu Recht ange-brachten Kritik gibt es bei Direktinvestitionen in Landauch viele positive Effekte, auf die im Einzelnen einzuge-hen ich verzichte. Neu sind jedoch das Ausmaß und dieGeschwindigkeit dieses Landerwerbs, und das ist unge-sund. Laut einer Studie von FAO/IFAD wurden allein seit2004 in nur fünf afrikanischen Ländern Vereinbarungenüber mehr als 2,5 Millionen Hektar Land abgeschlos-sen. Schätzungen des International Food Policy Re-search Institut, IFPRI, gehen davon aus, dass innerhalbder letzten 5 Jahre Verkäufe und Verpachtungen von 15bis 20 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarerFläche in Entwicklungsländern getätigt wurden. Dochdiese Einschätzung erscheint recht konservativ. DieWeltbank hat in ihrer neuesten Studie ermittelt, dass esin über 450 Projekten mit insgesamt 46,6 MillionenHektar weltweit bereits weit großflächigere Landak-quise gibt als angenommen. Mit ein Grund für diese ra-sante Entwicklung sind die auf den Finanzmärkten alsInvestment getätigten Land-Deals. Die Erwartung stei-gender Renditen bei Investitionen in Land scheint Anle-ger zu locken, die auf den Kaufpreis spekulieren. Invest-menthäuser wie Morgan Stanley oder Goldman Sachssind dick im Geschäft, so dick, dass in einem Artikel inder „Wirtschaftswoche“ unreflektiert den Lesern die In-vestition in Landfläche schmackhaft gemacht wurde,ohne auf die möglichen negativen Folgen der Investitio-nen in Ackerfläche hinzuweisen – und die können ver-heerend sein.

Oftmals werden beim Erwerb von Landflächen – be-wusst oder unbewusst – Landrechte der lokalen Bevölke-rung missachtet, die Einbindung oder eine Beteiligungder ansässigen Dorfgemeinschaften oder Kleinbauernfindet so gut wie nicht statt. Das Recht auf Eigentum istin vielen dieser Länder nur selten einklagbar – sodassKleinbauern, die jahrzehntelang ihren Acker bewirt-

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 164: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Sascha Raabe

(A) (C)

(D)(B)

schafteten, von ihrem Land vertrieben werden. MöglicheAusgleichszahlungen liegen meist ein Vielfaches unterdem Wert des verkauften oder verpachtenden Landes.Dabei bildet vor allem in Afrika für viele Haushalte dieVerfügbarkeit über Land die eigentliche Lebensgrund-lage. Trotz dieser existenziellen Relevanz fehlen klaregesetzliche Grundlagen, die die Menschen vor meist il-legitimen Landverlusten schützen. In Sambia beispiels-weise ist ein Viertel der ländlichen Bevölkerung landlos.

Daher ist es richtig und wichtig, die Verbesserung dergesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Ei-gentum in den jeweils betroffenen Staaten einzufordern.Allerdings muss dabei sehr sensibel vorgegangen wer-den, wenn es gilt, festzustellen, welches Land legal undwelcher Besitztum illegal erworben wurde. Hier müssenaus dem jeweiligen spezifischen historischen Kontextdie ursprünglich vorhandenen Besitztümer mit den aktu-ellen Besitzansprüchen in Einklang gebracht werden. Sowie ein nicht vorhandener Landtitel den Anspruch aufLandbesitz nicht zwangsläufig auszuschließen hat, be-deutet es im Umkehrschluss nicht, dass ein bereits er-worbener Landtitel legalen Landbesitz definiert. Dennin vielen Entwicklungsländern existiert seit Jahrzehnteneine himmelschreiende Ungerechtigkeit bei der Land-verteilung. Viele Großgrundbesitzer haben zwar Landti-tel, diese sind aber nicht gerecht erworben worden. Des-wegen müssen Landreformen teils gegen den Willen derGroßgrundbesitzer auch künftig möglich sein. Deshalbist an dieser Stelle die zweite Forderung des Koalitions-antrages zumindest sehr missverständlich.

Bei einer neuen Vergabe von Landtiteln ist somit sehrsensibel abzuwägen, wem das Recht auf Eigentum zuge-sprochen werden kann und wem nicht. Genauso wichtigwäre es aber auch, auf mehr Transparenz beim Vertrags-abschluss von Landkäufen oder Pachtverträgen zu po-chen – so wie es im Bereich der extraktiven Rohstoffedurch Extractive Industries Transparency Initiative,EITI, bereits eingefordert wird. Der Antrag der Koaliti-onsfraktionen ist daher in seinen Forderungen nichtfalsch, jedoch einseitig und unzureichend, unzureichenddeshalb, weil die Forderungen nur auf die Stärkung lo-kaler Regelungen abzielen. Die Umsetzung solcher Ge-setzesvorhaben ist jedoch meist langwierig und seltenerfolgreich. Wichtig wäre, an die Verantwortung unter-nehmerischen Handelns – insbesondere der westlichenund arabischen Investoren – zu appellieren. Die Selbst-verpflichtung von Investoren ist ein zusätzliches geeig-netes Instrument, bei dem die Einbindung der lokalenBevölkerung in für sie relevante Entscheidungsprozessemöglich ist. Die FAO arbeitet aktuell an einer neuenVersion der Voluntary Guidelines, die in den kommendenTagen veröffentlicht werden soll.

Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden diesen Pro-zess begleiten und uns dafür einsetzen, dass durch dieAnerkennung solcher freiwilligen Leitlinien der öffentli-che Druck dazu führt, beispielsweise das Menschenrechtauf Nahrung durchzusetzen. Neben diesen flankierendenfreiwilligen Maßnahmen wäre es jedoch noch wichtiger,die lokale Bevölkerung durch verbindliches internatio-nales Recht vor den negativen Auswirkungen von Agar-investitionen zu schützen. Diese Perspektive findet sich

in den Forderungen des Koalitionsantrages nicht. ImRahmen der G-20-Verhandlungen bestünde die Mög-lichkeit, gegen sittenwidrigen und menschenverachten-den Landraub vorzugehen. Die Verankerung internatio-naler Regelungen gilt es auch deshalb zu forcieren,damit die durchaus vorhandenen positiven Effekte vonInvestitionen in Land in die richtigen Bahnen gelenktwerden und dort ankommen, wo sie benötigt werden: beiden Menschen vor Ort.

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Die Preisexplosion bei Grundnahrungsmitteln ist

dramatisch: Allein der Preis für Weizen lag im März2011 um mehr als die Hälfte über dem Niveau von 2010.Russland hat sein im August 2010 eingeführtes Export-verbot von Weizen bis heute noch nicht zurückgezogen.

Die Nahrungsmittelpreise liegen seit langem aufschwindelerregenden Höhen: Der VN-Index für dieweltweiten Nahrungsmittelpreise stand im ersten Halb-jahr 2010 nur rund 14 Prozent unter seinem Rekordwertdes Krisenjahres 2008 und war damit fast doppelt sohoch wie noch im Jahr 2000.

Eine Milliarde Menschen leiden weltweit an Hunger.Jedoch ist im letzten Jahr diese Zahl um 98 Millionengesunken. Das entspricht der Bevölkerung Deutsch-lands, Österreichs und der Schweiz zusammen.

Das energische und fordernde Handeln von einzelnenStaaten wie Deutschland und der Weltgemeinschaft ha-ben erfolgreich dazu beigetragen, den drastischen An-stieg der Zahl der hungernden Menschen zu stoppen.Aber dies bedeutet nicht, dass wir uns zurücklehnen kön-nen. Immerhin leiden immer noch knapp eine MilliardeMenschen an Hunger. Wir müssen den Hunger weiterbekämpfen, um Stabilität und den Weltfrieden zu sichernund um das Leben und die Würde der Menschen zuschützen. Die Tatsache, dass alle sechs Sekunden einKind an Unterernährung oder den damit verbundenenProblemen stirbt, bleibt die größte Tragödie in der Welt.

Die Ursachen des Hungers sind vielseitig: Anhalten-des Bevölkerungswachstum, Klimawandel und die ohne-hin steigende Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermit-teln sowie nach Agrarrohstoffen zur Energiegewinnunghaben eine völlig neue Epoche eingeleitet. Land ist eineimmer knapper werdende Ressource, die in Konkurrenzmit den verschiedensten Nutzungsinteressen steht: Diewachsende Weltbevölkerung, steigende Nachfrage nachNahrungs- und Futtermitteln, ökologische Belastungen,die Energiepolitik verschiedener Staaten und der Klima-wandel sorgen für eine starke Rivalität der verschiede-nen Bevölkerungsgruppen. Seit dem Jahr 2010 über-steigt die weltweite Nachfrage nach Getreide fast jedesJahr das Angebot. Das Zeitalter der weltweiten Nah-rungsmittelüberschüsse ist vorbei.

Insgesamt hat dies zu einer Entwicklung geführt, dieje nach Bewertung entweder als „Land Grabbing“ oderals „Direct Investment in Land“ bezeichnet wird. Staat-liche Akteure, private Investoren aus Industrie- undSchwellenländern sowie inländische private Investorensichern sich mittels langfristiger Pacht- oder Kaufver-

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 165: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12095

Dr. Christiane Ratjen-Damerau

(A) (C)

(D)(B)

träge große Agrarflächen in Entwicklungsländern, umdort Nahrungsmittel oder Energiepflanzen für denExport anzubauen. Landwirtschaft wird zunehmendnicht mehr nur zur Nahrungsmittelgewinnung betrieben.

Vor allem finanzschwache Länder in Afrika undAsien, vereinzelt auch osteuropäische Staaten haben dieverstärkte Nachfrage nach Ackerflächen erfahren müs-sen. Zu beobachten ist dieser Prozess insbesondere inStaaten mit schwachen demokratischen Strukturen undintransparenter Verwaltung.

Dringend benötigte Investitionen haben in der Land-wirtschaft der Entwicklungsländer jahrzehntelanggefehlt. Daher kann der derzeitige Trend zu mehr aus-ländischem Engagement im Agrarsektor der Entwick-lungsländer grundsätzlich auch als große Chance be-griffen werden. Kapital- und Technologietransfer unter-stützen landwirtschaftliche Produktionssteigerung undsorgen für eine Verbesserung beim Marktzugang und derInfrastruktur.

Werden Direktinvestitionen in Land und Landwirt-schaft in Strategien der Armutsreduzierung eingebun-den, können zusätzliche Beschäftigungs- und Einkom-mensmöglichkeiten für die Bevölkerung geschaffenwerden. Es gibt viele positive Beispiele nachhaltiger In-vestitionen in den Agrarsektor in Entwicklungsländern.So profitieren beispielsweise bei der „Cotton made inAfrica“-Initiative, die von dem Hamburger Unterneh-mer Michael Otto gegründet wurde, Farmer in Afrikagenauso wie europäische Firmen – die einen, da hoheUmwelt- und Sozialstandards wie die Förderung vonSchulbesuchen der Kinder eingehalten werden, und dieanderen, da sie zuverlässig hochwertige Ware erhalten.

Doch es gibt auch zahlreiche negative Fälle: Bauernwerden von ihrem Land vertrieben, ohne sich dagegenwehren zu können. Sie haben entweder keine formalenBesitztitel, oder korrupte Behörden verwehren ihnen dieDurchsetzung ihrer Rechte. Entschädigungs- oder Aus-gleichszahlungen bleiben den enteigneten Bauern ver-wehrt. Damit verlieren ganze Dörfer ihre Lebensgrund-lage. Verschärfend kommt hinzu, dass auf diesenFlächen häufig Monokulturen angebaut werden, sodassKonflikte um die Nutzungsrechte für das oftmals knappeWasser oder Umweltbelastungen vorprogrammiert sind.

Was müssen wir nun verändern, damit wir die positi-ven Seiten der Investitionen nutzen und die negativenAuswirkungen verringern können?

Als Erstes müssen wir uns alle des Problems bewusstwerden. Daher gilt es, sich kohärent in der Außen- undEntwicklungspolitik für den Schutz von Besitz und Ei-gentum einzusetzen.

Ich denke, damit sind wir mit unseren beiden Bundes-ministern Herrn Dr. Westerwelle und Herrn Niebelschon ein sehr gutes Stück vorangekommen. Auf dasMenschenrecht auf Nahrung und das Menschenrecht aufEigentumsfreiheit haben beide im Rahmen ihrer Politik,ob im Inland, im Ausland oder bei internationalen Orga-nisationen, erfolgreich einen Fokus gesetzt.

Zum Zweiten müssen wir sowohl bei Staaten als auchbei Unternehmen, die an offizieller Landnahme beteiligtsind, offiziell protestieren. Gerade deutsche Unterneh-men müssen hier sensibilisiert und in die Verantwortunggenommen werden!

Und zum Dritten müssen wir Staaten und Unterneh-men bei der Umsetzung einer nachhaltigen Investitions-politik aktiv unterstützen. Wir müssen beraten, begleitenund beim Aufbau der Verwaltung, des Justiz- und Poli-zeiwesens und eines funktionierenden Vergabesystemsmit unserem Wissen assistieren.

Partnerländern müssen wir bei einer zukunftsorien-tierten Landnutzungsplanung behilflich sein und ihnenbeim Abbau von Defiziten bei der tatsächlichen Durch-setzung von Recht und Eigentum helfen. Damit wird dieErnährung der Bevölkerung erheblich verbessert sowiedas Klima und die Ressourcen für nachkommende Gene-rationen geschont. Good Governance ist der Schlüsselzu einem fairen Wirtschaftssystem, das alle Menschenpartizipieren lässt und Wohlstand für die gesamte Bevöl-kerung schafft.

Als Berichterstatterin der FDP-Bundestagsfraktionfür Frauen in Entwicklungsländern möchte ich hieraufnoch einmal besonders eingehen: Frauen besitzen inEntwicklungsländern trotz ihrer bedeutenden Rolle inder Landwirtschaft und bei der Versorgung ihrer Fami-lien nur 10 Prozent der Anbauflächen und nur 1 Prozentaller Landtitel. Jedoch produzieren sie 80 Prozent derGrundnahrungsmittel. Oftmals haben sie keine oder nurmangelhafte Besitzrechte. Sicherer Zugang zu Land ver-bessert nicht nur ihre ökonomische Situation, sondernstärkt auch ihre soziale und politische Stellung in derGesellschaft. Daher müssen wir Staaten dabei unterstüt-zen, gerade Frauen einen gerechten Zugang zu Eigen-tum zu verschaffen.

Auch müssen wir weiter im Rahmen der Welternäh-rungsorganisation FAO und anderen internationalen In-itiativen konstruktiv mitarbeiten und die Ausgestaltungfreiwilliger Leitlinien zum Eigentumsrecht vorantreiben.Und wir müssen uns mit noch mehr internationalenPartnern für die Eigentumsfreiheit verbünden und ver-bindliche Verträge mit anderen Staaten abschließen.

Was wir aber nicht dürfen, ist, bevormunden undübergehen. Wir müssen die Menschen, die Unternehmenund die Staaten bei dem Kampf gegen den Hunger mit-nehmen. Wir müssen sie mit unseren Argumenten über-zeugen und einen gemeinsamen Pakt für die Eigentums-freiheit schließen!

Daher bitte ich Sie ganz herzlich um Unterstützungfür unseren Antrag.

Niema Movassat (DIE LINKE): Niemals waren Nahrungsmittel so teuer wie derzeit.

Der Preisindex der Welternährungsorganisation FAOliegt aktuell bei mehr als 230 Punkten, dem höchstenWert seit der Einführung im Jahr 1990. Dies ist keinWunder, schließlich sind die Preise für Grundnahrungs-mittel in den letzten zwölf Monaten explosionsartig ge-stiegen: für Weizen zum Beispiel, welches zusammen mit

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 166: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Niema Movassat

(A) (C)

(D)(B)

Mais und Reis das meistangebaute Getreide der Welt ist,um 45 Prozent, für Mais um 42 Prozent und für Öl undFette sogar um 56 Prozent. Dies bedeutet nichts ande-res, als dass Millionen Menschen in den Hunger getrie-ben werden.

Proteste gegen diese Entwicklung gibt es weltweit. Inder indischen Hauptstadt Delhi gingen Ende Februarbis zu 200 000 Menschen auf die Straße, um gegen dieexplodierenden Nahrungsmittelpreise und ungenügendeGegenmaßnahmen zu protestieren. Im Norden Afrikasbegehren die Menschen nicht nur gegen autoritäreRegime auf. Sie demonstrieren auch gegen Hunger undArmut. Die Bilder gleichen denen der mexikanischenTortilla-Revolte von 2007.

Ein neuer preistreibender Faktor sind die Spekulatio-nen mit Nahrungsmitteln. Diese treiben die Preise fürLebensmittel immer höher. Dies trifft die Menschen na-türlich auch hierzulande, insbesondere die ärmerenTeile der Bevölkerung. Wesentlich stärker betroffen abersind die Menschen in den Entwicklungsländern, die biszu 70 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausge-ben. Steigen die Preise für Nahrungsmittel dort an, be-deutet das Hunger und Tod für die Bevölkerung.

Laut UNCTAD-Chefvolkswirt Heiner Flassbeck be-wegen sich die Preise von Nahrungsmitteln, die an denBörsen gehandelt werden, im Gleichschritt mit Aktien,Währungen oder Öl. Da aber nur Finanzmarkttitel un-tereinander so stark korrelieren können, sind die hohenSoja- oder Weizenpreise eine Folge spekulativer Investi-tionen. Mit ihren Erwartungen, mit ihren Wetten auf dieZukunft, treiben die Spekulanten die Preise hoch undmachen Profite auf Kosten der Ärmsten. Die Beispieledafür sind zahlreich. Im Jahr 2008, dem Jahr der letztengroßen Nahrungsmittelkrise, kauften Finanzinvestorendie komplette Weizenproduktion der kommenden zweiJahre auf. Damit heizten sie die Preisspirale massiv an.2010 wurde der Kakao zum Spielball der Spekulanten.Ein Londoner Handelshaus und Hedge-Fonds-Betreiberkaufte binnen kürzester Zeit nahezu alle Warenbeständean Kakao auf und trieb den Preis pro Tonne schlagartigum mehr als 300 Dollar in die Höhe. Allein GoldmanSachs machte 2009 mit Rohstoffderivaten 5 MilliardenDollar Gewinn, darunter in steigendem Maße durchAgrarrohstoffderivate. Ähnlich war es bei Merrill Lynchund der Deutschen Bank.

Diese Preissteigerungen lohnen sich auch für die gro-ßen Lebensmittelkonzerne. So konnte Nestlé seinenReingewinn 2010 auf 26 Milliarden Euro mehr als ver-dreifachen, auch Danone und Unilever machten glän-zende Geschäfte. Börsenblätter und Banken wie dieDeutsche Bank rieten postwendend explizit zum Invest-ment in Nahrungsmittelfirmen. Dabei mutet es schonfast zynisch an, dass gerade die Unternehmen, die sichder Nahrungsmittelproduktion verschrieben haben,durch ihr Profitstreben direkt an der Bedrohung der Er-nährungssicherheit eines Großteils der Menschheit mit-wirken. Nicht zuletzt deswegen fordern wir in unseremAntrag zum Verbot der Spekulation mit Nahrungsmit-teln, die Erzeugung und den Handel von Agrarrohstof-fen mittelfristig vollständig von den Finanzmärkten zu

entkoppeln und stattdessen politisch auf der Grundlageinternationaler Abkommen und im Interesse von Ernäh-rungssicherheit und -souveränität zu regulieren.

Verlierer in puncto hohe Nahrungsmittelpreise warenund sind gerade diejenigen, die von Experten als derSchlüssel zur globalen Ernährungssicherung gesehenwerden: die Kleinbauern. Sie besitzen zu kleine Anbau-flächen, um ausreichend Nahrung zu produzieren, undsie sind zu schlecht an lokale Märkte angebunden, umGewinne zu erwirtschaften. Ihre Erträge reichen oftmalsnoch nicht einmal für die Selbstversorgung aus. Sobalddie eigenen Ernteerträge aufgebraucht sind, müssenKleinbauern wie auch Landlose Nahrungsmittel auf demMarkt kaufen. Wer jedoch mit weniger als einem Dollarpro Tag seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, kannsich bei hohen Nahrungsmittelpreisen selbst die Grund-nahrungsmittel kaum noch leisten.

Eines wird bei alledem klar: Mit einem „Weiter so!“und mit nur marginalen Änderungen an den herrschen-den Strukturen lässt sich die Ernährung in den Entwick-lungsländern nicht sichern. Um die Grundnahrungsmit-telpreise stabil zu halten und den Hunger in der Weltwirksam zu bekämpfen, müssen sich die Regierungenendlich durchringen, die Gier an den Märkten nachhal-tig einzudämmen. Dafür müssen die Agrarbörsen umge-hend streng reguliert und transparent gemacht werden.

Da auch die aktuellen Zahlen für europäischeFleischexporte, für illegale Landnahme und den Anbauvon Agrotreibstoffen alle Rekorde brechen, muss sich dieBundesregierung endlich gegen die aggressive Freihan-delspolitik der EU gegenüber den Ländern des Südensstellen, gegen Agrarexportsubventionen, gegen Land-raub und gegen die Produktion von Agrotreibstoffen. Siemuss aktiv eintreten für die Stärkung regionaler Märkte,für die Entwicklung ländlicher Regionen und für umfas-sende Landreformen – wie die Fraktion Die Linke es seitlangem fordert. Die Durchsetzung des Menschenrechtsauf Nahrung und damit die ernsthafte Bekämpfung vonArmut und Hunger kann nur gelingen, wenn die Ge-schäfte mit dem Hunger beendet werden.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist erfreulich, dass sich die Fraktionen der Union

und FDP nun auch dem überaus wichtigen Thema dergroßflächigen Landnahme in Entwicklungsländern an-nehmen. Bereits vor zwei Jahren hatten wir Grünenhierzu einen Antrag eingereicht und durch diverse Fach-veranstaltungen, Pressemitteilungen und Anhörungenauf die Dringlichkeit der Problematik hingewiesen. End-lich scheinen wir die Regierungskoalition überzeugt zuhaben.

Dennoch greift der Antrag in vielen Punkten zu kurz.Die menschenrechtliche Frage wird sehr einseitig be-leuchtet. So wird das Recht auf Nahrung nur ein einzigesMal erwähnt, während das Recht auf Eigentum den gan-zen Text wie einen ultimativen Imperativ durchzieht. Da-bei geht es bei dem Phänomen – neben zahlreichen an-deren ökonomischen, sozialen und ökologischen Aus-wirkungen – im Besonderen um die Frage der Ernäh-rungssicherheit der lokalen Bevölkerung. Werden rie-

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 167: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12097

Thilo Hoppe

(A) (C)

(D)(B)

sige Landstriche von ausländischen oder nationalen In-vestoren aufgekauft oder gepachtet und stehen somitnicht mehr für den Anbau von Nahrungsmitteln zurSelbstversorgung der dort wohnenden Menschen zurVerfügung, dann ist das eine eklatante Beschneidung desRechts auf Nahrung. Auch die „Grundprinzipien undLeitlinien zu Zwangsräumungen und Zwangsvertreibun-gen“ des UN-Menschenrechtsrats werden nicht er-wähnt, obwohl groß angelegte Landinvestitionen häufigdie zwangsweise Vertreibung von Kleinbäuerinnen und-bauern nach sich ziehen.

Wie bereits erwähnt, preist der Antrag stattdessen dasRecht auf Besitz und Eigentum als Allheilmittel imKampf gegen „Land Grabbing“ an. Gewiss kann dieVerbriefung von Landnutzungsrechten in einigen FällenKleinbäuerinnen und -bauern mehr Planungssicherheitgeben, zumal sich heute viele der von Landnahme Be-troffenen nicht wehren können, da sie über keine offiziel-len Titel verfügen, obwohl ihre Familien das Land überGenerationen hinweg bewirtschafteten. Allerdings isthier große Vorsicht geboten. Denn allein die juristischeAbsicherung von Landbesitz bedeutet noch keine nach-haltige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und Er-nährungssituation der neuen Titelhalterinnen und -hal-ter. Werden nicht gleichzeitig andere ungerechte lokaleund globale Wirtschaftsstrukturen angegangen, ist eswahrscheinlich, dass die Betroffenen schnell wieder indie Schuldenfalle geraten und aus der Not heraus ihrLand an Investoren verkaufen oder verpachten. Durchdie Formalisierung des Landbesitzes wird der Ausver-kauf von Land in solchen Fällen sogar erleichtert. EinAusbrechen aus dem Teufelskreis aus Land- und Arbeits-losigkeit, Verstädterung, Verelendung und politischerOhnmacht ist damit jedenfalls nicht in Sicht.

Ein besonderes Augenmerk ist auch auf nomadischlebende Viehhirten zu legen. Bei der Ausstellung formel-ler Landtitel kann es hier leicht zur Benachteiligung die-ser Gruppen kommen, da die exakten Ausmaße derLandflächen, die sie für ihre Herden benötigen, schwerabzustecken sind. Des Weiteren gehen die Antragstelle-rinnen und -steller nicht darauf ein, wie mit kollektiv ge-nutztem Land, das auf Gewohnheitsrecht basiert, umge-gangen werden soll. Dass hier zwei grundsätzlichverschiedene Verständnisse von Land – einerseits dieIdee von Land als Allgemeingut, das auch kulturelle undsoziale Dienste erfüllt, und andererseits von Land alsreine Ware – aufeinanderprallen, wird schlichtweg unterden Teppich gekehrt. Das ist ein nicht unerheblichesVersäumnis, da diese Formen von Landnutzung in gro-ßen Teilen des globalen Südens eine bedeutende Stellungeinnehmen. Umso wichtiger ist die Einbeziehung der Zi-vilgesellschaft und der betroffenen Landbevölkerung beijedem Land-Deal. Der vorliegende Antrag hält dieswohl nicht für nötig; Regierungen sollen nur dahingehend beraten werden, dass „die Belange der betroffe-nen ortsansässigen Bevölkerung und die Risiken für dieUmwelt berücksichtigt werden“. Das ist eindeutig unzu-reichend.

Erfahrungen aus Landtitelprogrammen in Südosta-sien zeigen, dass in jenen Regionen, die nicht unter dieProgramme fielen, die Lebensgrundlage von Kleinbäue-

rinnen und -bauern ohne solche verbrieften Rechte so-gar eher gefährdet als geschützt wurde. Denn nun war esfür Großplantagenbetreiber leichter, das Land an sich zureißen – schließlich gehöre es offiziell niemandem.

Die rechtliche Eintragung von Besitz und Eigentumkann ohne vorherige Umverteilung sogar zu einer Ze-mentierung extremer Verteilungsungleichheiten führen.In unserem Antrag fordern wir Agrarreformen, die auchUmverteilung einschließen, da diese einen essenziellenBestandteil für eine gerechtere Landpolitik vor allem inländlichen Regionen darstellen. In dem Antrag der Re-gierungskoalition geht eine Umverteilung völlig unter –außer mit dem Vermerk, dass „ein transparentes undrechtsstaatliches Vergabesystem zu errichten sei, das esermöglicht, Eigentum und langfristige Bewirtschaf-tungsrechte zu erwerben“. Dabei bleibt unklar, ob hier-mit ein rein marktwirtschaftliches System angestrebtwird, was wiederum ein Schlag ins Gesicht der Ärmstender Armen ist, die sich auf diesem Weg niemals eigenesLand leisten können.

Was die Forderung zum Engagement auf internatio-naler Ebene angeht, bleibt die Formulierung schwam-mig. Es wäre gut zu wissen, zu welchen „anderen inter-nationalen Initiativen“ neben den freiwilligen Leitliniender FAO genau beigetragen werden soll. Vermutlichwird hier auf die Weltbank-Prinzipien zu verantwortli-chem Investment angespielt, also auf die RAI-Prinzi-pien. Beide Prozesse in gleichem Maße zu unterstützen,halten wir für wenig sinnvoll, da so Parallelstrukturengeschaffen werden und die Autorität der freiwilligenLeitlinien aufgeweicht wird. Wir sprechen uns klar fürdie FAO-Richtlinien aus, für deren weitere Ausgestal-tung die Bundesregierung dringend mehr finanzielle undorganisatorische Kapazitäten zur Verfügung stellensollte.

Insgesamt lässt sich sagen, dass trotz des Hinweisesauf die Gefahren von ausländischen Direktinvestitionen– dieser Begriff wird trotz des Antragstitels bevorzugt –die Landnahmen in ein unangemessen mildes Licht ge-stellt werden. Die bisher größte Konferenz zu demThema, zu der sich 150 Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler vor wenigen Tagen in Sussex versammelten,kam zu dem Schluss, dass der Hunger nach Land gewal-tige und unumkehrbare negative Auswirkungen auf Um-welt und Menschen der betroffenen Länder hat.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/5488 und 17/4533 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Siesind damit einverstanden? – Widerspruch erhebt sichnicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten SabineZimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers,

Page 168: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeitschaffen, bessere Bildung ermöglichen,vorhandene Qualifikationen anerkennen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Po-thmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Strategie statt Streit – Fachkräftemangelbeseitigen

– Drucksachen 17/4615, 17/3198, 17/5100 –

Berichterstattung:Abgeordneter Johannes Vogel (Lüdenscheid)

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Na-men der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialesauf Drucksache 17/5100. Der Ausschuss empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung dieAblehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/4615. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenprobe! – Die Fraktion Die Linke. –Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Beschlussempfeh-lung angenommen worden.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/3198. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Das ist dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Dassind die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung istsomit angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Koordinierung der Systeme der sozialenSicherheit in Europa und zur Änderung ande-rer Gesetze

– Drucksache 17/4978 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)

– Drucksache 17/5509 –

Berichterstattung:Abgeordneter Anton Schaaf

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/5513 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert Barthle

1) Anlage 7

Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschPriska Hinz (Herborn)

Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werdendie Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Na-men der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Seit vielen Jahrzehnten ist die Europäische Union ein

Garant für Freiheit, Sicherheit und wirtschaftlichen Er-folg in ganz Europa. Als exportorientierte und größteVolkswirtschaft in Europa profitiert Deutschland in be-sonderem Maße vom freien Welthandel, vom europäi-schen Binnenmarkt und der EU-Erweiterung. Einestarke Europäische Union ist die beste Voraussetzungfür Wachstum, Wohlstand und soziale Sicherheit in unse-rem Land. Daher brauchen wir die richtigen Rahmen-bedingungen für unternehmerische Initiativen, für Inno-vationen in Wissenschaft und Technik und einleistungsfähiges Bildungssystem. Nur so können wir aufDauer neue Arbeitsplätze auch in Deutschland schaffenund den Erhalt unserer sozialen Sicherheit gewährleis-ten.

Wohlstand und Stabilität sind aber keine Selbstver-ständlichkeit. Das haben die Finanz- und Wirtschafts-krise sowie die Schuldenkrise der Mitgliedstaaten ge-zeigt. Europas Rahmenbedingungen im wirtschaftlichenund sozialen Bereich sind einem ständigen Prozess vonVeränderung, Verwerfung und Neuorientierung unter-worfen. In weniger als drei Wochen fallen auch inDeutschland die letzten Zugangsbarrieren zu EuropasArbeitsmärkten, und die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeitgilt auch für uns uneingeschränkt. Viele Stimmen inDeutschland warnen schon seit langem vor einer „Bil-ligkonkurrenz“ aus den Nachbarländern und vor „So-zialdumping“. Diese Panikmache halte ich für nicht be-rechtigt. Denn alle Experten sagen uns, dass mit einem„Massenansturm“ und gravierenden Verwerfungen fürunseren Arbeitsmarkt nicht zu rechnen ist. Sorgen undÄngste in Deutschland, aber auch in unserem Nachbar-land Polen, in Bezug auf die bevorstehende Öffnung desArbeitsmarktes nehmen wir ernst. Ich plädiere jedochfür mehr Gelassenheit und für eine offene Willkommens-kultur.

Gäbe es keine Gemeinschaftsvorschriften über diesoziale Sicherheit, so wäre die Freizügigkeit der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer bedroht. Denn es be-stünde die Gefahr, dass Wanderarbeitnehmer und ihreFamilienangehörigen im Hinblick auf die soziale Si-cherheit unzureichend geschützt wären. Personen, dievon ihrem Recht Gebrauch machen, sich frei innerhalbder Europäischen Union zu bewegen, werden mit vielfäl-tigen Fragen und Problemen im Hinblick auf ihre sozi-ale Sicherheit konfrontiert: Wie ist es um die Rentenan-sprüche eines Arbeitnehmers bestellt, der mehrere Jahrelang in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet hat?Welcher Mitgliedstaat ist zur Zahlung von Fami-lienleistungen für Kinder verpflichtet, die in einem an-deren Mitgliedstaat wohnen? Welcher Mitgliedstaat ist

Page 169: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12099

Dr. Johann Wadephul

(A) (C)

(D)(B)

zur Zahlung von Arbeitslosenleistungen für Grenzgän-ger verpflichtet? Die nationalen Sozialgesetze geben aufdiese Fragen oft nur unzureichende oder überhauptkeine Antworten: Viele Arbeitnehmer liefen Gefahr, dasssie in zwei Mitgliedstaaten gleichzeitig oder gar nichtversichert wären oder erworbene Ansprüche auf Sozial-leistungen verlören, ohne neue Ansprüche aufbauen zukönnen.

Aus diesem Grund sind gemeinsame Regelungen in-nerhalb der Europäischen Union notwendig, die einenwirksamen und umfassenden Schutz gewährleisten. DieGemeinschaftsvorschriften für den Bereich der sozialenSicherheit ersetzen die bestehenden nationalen Sozial-versicherungssysteme nicht durch ein einheitliches eu-ropäisches System. Eine derartige Harmonisierungwäre unmöglich, da die Unterschiede im Lebensstan-dard zwischen den Staaten der Europäischen Union unddes Europäischen Wirtschaftsraums zu groß sind. Aberauch Staaten mit vergleichbarem Lebensstandard wei-sen unterschiedliche Sozialversicherungssysteme auf,die auf etablierte Traditionen zurückgehen, die fest inder nationalen Kultur und den nationalen Gepflogenhei-ten verwurzelt sind. Daher kann jeder Mitgliedstaatselbst darüber entscheiden, wer nach den innerstaatli-chen Rechtsvorschriften zu versichern ist, welche Leis-tungen zu welchen Bedingungen gezahlt werden, wiediese Leistungen berechnet werden und welche Beiträgezu zahlen sind.

Anstelle einer Harmonisierung der einzelstaatlichenSozialversicherungssysteme sehen die Gemeinschafts-vorschriften über die soziale Sicherheit lediglich eineKoordinierung der Systeme vor. In den Gemeinschafts-vorschriften über die Koordinierung der sozialenSicherheit sind gemeinsame Regeln und Grundsätzefestgelegt, die von allen nationalen Behörden, Sozialver-sicherungsträgern und Gerichten beachtet werdenmüssen. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die An-wendung der unterschiedlichen innerstaatlichen Rechts-vorschriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat,die von ihrem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht in-nerhalb der Europäischen Union und des EuropäischenWirtschaftsraums Gebrauch machen. Es geht also nichtdarum, die besonderen Merkmale der Systeme der ein-zelnen Mitgliedstaaten zu beseitigen, sondern darum,einzelne Aspekte der innerstaatlichen Rechtsvorschrif-ten zu korrigieren, die sich für Wanderarbeitnehmer undihre Familienangehörigen ungünstig auswirken können.

Die einschlägigen Regelungen, die es seit mehr als30 Jahren gibt, sind in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71und der zugehörigen DurchführungsverordnungNr. 574/72 enthalten. Diese Verordnungen wurden seitihrer Verabschiedung im Jahre 1971 mehrfach ange-passt, um den Änderungen in den nationalen Rechtsvor-schriften Rechnung zu tragen, eine Reihe von Bestim-mungen zu verbessern, Unzulänglichkeiten zu behebenoder die besondere Situation bestimmter Personengrup-pen zu berücksichtigen. Im Jahr 1998 legte die Kommis-sion einen Vorschlag zur Modernisierung und Vereinfa-chung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vor, um sie„effizienter und nutzerfreundlicher“ zu machen. Der Ratund das Europäische Parlament haben die Beratungen

über diesen Vorschlag bis jetzt noch nicht abgeschlos-sen.

Die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71stellen in dreifacher Hinsicht sicher, dass die Anwen-dung der verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvor-schriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat,die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb derEuropäischen Union Gebrauch machen. Dies geschiehtin folgender Weise: Die Gleichbehandlung allerStaatsangehörigen der Mitgliedstaaten ist in den einzel-staatlichen Rechtsvorschriften gewährleistet. Alle erfor-derlichen Versicherungs-, Aufenthalts- und Beschäfti-gungszeiten werden berücksichtigt, nämlich durch dieZusammenrechnung der Versicherungszeiten. Wenn einWanderarbeitnehmer eine Beschäftigung in einem ande-ren Mitgliedstaat aufnimmt, werden die Zeiten berück-sichtigt, die nach den Rechtsvorschriften über die sozi-ale Sicherheit in anderen Mitgliedstaaten erworbenwurden. Auf diese Weise gehen erworbene Leistungsan-sprüche nicht verloren. Schließlich werden Sozialleis-tungen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigenungeachtet des Beschäftigungs- oder Wohnorts garan-tiert.

Der durch die Gemeinschaftsbestimmungen vorgese-hene Personenkreis ist umfassend geschützt. Die Ge-meinschaftsbestimmungen gelten für alle europäischenBürger, die sich in einem anderen Mitgliedstaat bewe-gen, und zwar unabhängig vom Grund und der Dauerihres Aufenthalts. Diese gemeinschaftlichen Regeln gel-ten für alle gesetzlichen Leistungen bei Krankheit undMutterschaft – für Geld- und für Sachleistungen –, beiArbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Invalidität,bei Alter und im Todesfall, bei Arbeitslosigkeit sowie fürFamilienleistungen. Dagegen werden Sozialhilfe, Kran-kengeld, Leistungen an Kriegsversehrte und deren Hin-terbliebene, Betriebsrenten und Vorruhestandsregelun-gen nicht durch Gemeinschaftsvorschriften abgedeckt.

Wie ich schon in der Debatte zur ersten Lesung diesesGesetzentwurfes ausgeführt habe, hat die EuropäischeUnion im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bereits einenganzen Sockel verbindlicher Mindeststandards im Ar-beits- und Gesundheitsschutz sowie im Arbeitsrecht ver-abschiedet. Die Europäische Union hat auch Regeln fürdie Beteiligung der Arbeitnehmer und die Mitwirkungder Sozialpartner geschaffen. Der Europäische Be-triebsrat gehört ebenso dazu wie der „soziale Dialog“.Bereits mit der Lissabon-Strategie haben sich die Mit-gliedstaaten verpflichtet, die Beschäftigungs- und So-zialpolitiken besser zu koordinieren.

Um mehr und bessere Arbeitsplätze in Europa zuschaffen, arbeiten die Mitgliedstaaten und die Gemein-schaft seit langem an einer koordinierten Beschäfti-gungsstrategie und stimmen ihre Beschäftigungspolitikaufeinander ab. Diese Koordinierung hat über die Lis-sabon-Strategie ein ganz starkes Momentum bekommen.Kernstück dieses Prozesses sind die beschäftigungspoli-tischen Leitlinien als wesentlicher Bestandteil der EU-2020-Strategie, die die Lissabon-Strategie abgelöst hat.Wir können also festhalten: Es gibt durchaus einenSockel von sozialen Standards, Regeln für die Beteili-

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 170: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Johann Wadephul

(A) (C)

(D)(B)

gung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Re-geln für die Koordinierung der sozialen Sicherheit,finanzielle Hilfen zur Unterstützung der sozialen Kohä-sion und europäische Ziele im Bereich der Koordinie-rung der Beschäftigungs- und Sozialpolitiken.

Der Koordinierung der sozialen Sicherung in denMitgliedstaaten kommt daher eine erhebliche Bedeutungzu. Die soziale Sicherung in der Europäischen Union istin den neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 undNr. 987/2009 zur Koordinierung der sozialen Sicherheitgeregelt. Ziel dieser Verordnungen ist es, die sozialen Si-cherungssysteme der Mitgliedstaaten zu koordinieren,damit niemand, der von seinem Recht auf Freizügigkeitin der Europäischen Union Gebrauch macht, hierdurchunangemessene sozialrechtliche Nachteile hat.

Diese Verordnungen sind ein wichtiges Beispiel fürein Handlungsfeld der europäischen Sozialpolitik. Dennnur durch verbindliche Regelungen auf europäischerEbene kann sichergestellt werden, dass das Recht aufFreizügigkeit – eine der großen europäischen Grund-freiheiten – im Hinblick auf die soziale Absicherung derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Selbst-ständigen bei ihren erworbenen Anwartschaften ange-messen flankiert wird. Zahlreiche Zuständigkeitsfragenwurden nicht mehr in den Anhängen der Durchführungs-verordnung geregelt, sondern sollen in eine öffentlichzugängliche Datenbank eingetragen werden. Aus Grün-den der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sollenentsprechende Aufgabenzuweisungen durch innerstaat-liche Regelungen vorgenommen werden. Auch bedingtdie Ablösung der bisherigen Verordnungen entspre-chende Änderungen im Sozialgesetzbuch und anderenGesetzen sowie der darin enthaltenen Verweisungen.

Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-wurf zur Koordinierung der Systeme der sozialen Si-cherheit in Europa regelt diese verwaltungsmäßigeDurchführung der neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 zur Koordinierung der Systemeder sozialen Sicherheit in Europa. Insbesondere werdendamit künftig pflichtversicherte Rentner auch mit ihrerausländischen Rente zur Beitragszahlung herangezo-gen. Im Fall von Entsendungen werden dabei die Be-schäftigungsländer durch den Spitzenverband Bund undKrankenkassen oder die Deutsche VerbindungsstelleKrankenversicherung benachrichtigt. Mit diesen Maß-nahmen wird dem Grundsatz der Gleichstellung vonLeistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissenim Bereich der Krankenversicherung von Rentnern ent-sprochen. Wesentlicher Zweck des Gesetzentwurfes istdie Feststellung der zuständigen Behörden, Träger so-wie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der Anwen-dung und Durchführung der EU-Verordnungen.

Verbindungsstelle für den europaweiten Datenaus-tausch berufsständischer Versorgungseinrichtungen solldie Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versor-gungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwaltungs-hilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschreiten-den Sachverhalten koordinieren. Des Weiteren sind eineVerbindungsstelle für Familienleistungen sowie eineKoordinierungsstelle für die Systeme der Beamtenver-

sorgung vorgesehen. Insgesamt sollen fünf Zugangsstel-len als Kontaktstellen für grenzüberschreitenden Daten-austausch geschaffen werden, die alle in der EU-Verordnung Nr. 883/2004 geregelten Bereiche abdecken.Im Gesetz sind auch Anpassungen des Dritten, Sechsten,Siebten und Elften Buches Sozialgesetzbuch sowie desGesetzes über die Altersversicherung der Landwirte ver-merkt, die sich aus der Umsetzung der EU-Verordnun-gen ergeben.

So wie sich Europa also nach außen neu ausrichtet,so muss es das auch nach innen schaffen. Denn die Si-cherung von Wohlstand, Wachstum, Beschäftigung undsozialer Sicherheit – kurz: die Erhaltung und Entwick-lung unseres europäischen Sozialstaatsmodells, undzwar unter den Bedingungen der Globalisierung – istdas, was die Bürger von Europa und von ihren Regie-rungen erwarten. Mit der EU-2020-Strategie wollen wirdie Europäische Union zu einem Wirtschaftsraum ma-chen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstummit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größe-ren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.

Anton Schaaf (SPD): Mit dem Gesetz zur Koordinierung der Systeme der

sozialen Sicherheit in Europa und der damit verbunde-nen Änderung anderer Gesetze soll eine innerstaatlichegesicherte Rechtsgrundlage hergestellt werden, die denzuständigen Behörden, Trägern und Verbindungsstellenzu mehr sozialer Sicherheit verhelfen soll. Mit dem Ge-setz werden die zuständige Behörde, die Verbindungs-stellen für berufsständische Versorgungseinrichtungenund für Familienleistungen sowie die Zugangsstellen fürden grenzüberschreitenden elektronischen Datenaus-gleich festgelegt. Außerdem wird die Benachrichtigungder Träger des Beschäftigungslandes im Fall von Ent-sendungen geregelt.

Bei den Änderungsanträgen geht es um ein Rückkehr-recht in die gesetzliche Krankenversicherung der bei ei-ner internationalen Organisation Beschäftigten, die ver-waltungsinterne Beteiligung von Verbindungstellen beider Festlegung des anwendbaren Rechts, die Daten-übermittlung und die Urlaubs- und Lohnausgleichs-kasse der Bauwirtschaft sowie um Folgeänderungenaufgrund des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedar-fen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften BuchesSozialgesetzbuch.

Durch die Herausnahme der vom Gesundheitsaus-schuss beantragten Änderungen bei Übernahme in dasGesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes undweiterer Gesetze können wir dem vorliegenden Gesetzzustimmen. Das Gesetz dient dem bereits verankertenGrundsatz der Gleichstellung von Leistungen, in diesemFall den Beziehern einer ausländischen Rente. Diesesoll künftig zur Beitragsfinanzierung der Kranken- undPflegeversicherung herangezogen werden. Ab dem1. Juli 2011 sollen in Deutschland damit auch für Rentenaus dem Ausland Beiträge zur Kranken- und Pflegever-sicherung gezahlt werden.

Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherteMitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 171: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12101

Anton Schaaf

(A) (C)

(D)(B)

mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinnevon § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenversi-cherung der Rentner, nicht aber mit ihren ausländischenRenten im Sinne von § 228 SGB V. Bei pflichtversicher-ten Rentenbeziehern, die sowohl eine deutsche als aucheine ausländische Rente beziehen, wurde deshalb bis-lang lediglich die deutsche Rente zur Berechnung derBeiträge zu ihrer Kranken- und Pflegeversicherung her-angezogen. Dieses eher technische Gesetz soll es er-leichtern, die Verfahren der Leistungen in grenzüber-greifenden Sachverhalten besser zu koordinieren.

Die Einbeziehung ausländischer Renten in die Bei-tragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung derRentner führt zu geringfügigen Mehreinnahmen der ge-setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Insbeson-dere durch die Einführung des elektronischen Datenaus-tauschs wird mit Mehrausgaben bei den zuständigenLeistungsträgern – das sind die gesetzliche Krankenver-sicherung, die gesetzliche Unfallversicherung, die ge-setzliche Rentenversicherung, die Bundesagentur fürArbeit, örtliche Familienkassen und örtliche Elterngeld-stellen – sowie bei den Verbindungsstellen gerechnet,die sich in den Jahren 2011 und 2012, in denen die benö-tigte Software entwickelt wird, schätzungsweise auf rund2 bis 3 Millionen Euro und in den Folgejahren auf circa1 Million Euro belaufen werden. Sich hieraus ergebendeMehrbelastungen für den Bundeshaushalt werden in denjeweiligen Einzelplänen im Rahmen der bestehendenAnsätze aufgefangen. Den Mehraufwendungen stehenEffizienzzuwächse in der Zusammenarbeit zwischen deninländischen und den ausländischen Stellen gegenüber.

Für Bürgerinnen und Bürger werden durch das Ge-setz keine Informationspflichten eingeführt, geändertoder aufgehoben. Für Unternehmen wird durch das Ge-setz eine neue Informationspflicht eingeführt. Unterneh-men müssen der Bundesagentur für Arbeit im Fall derArbeitslosigkeit ehemaliger beschäftigter Grenzgängerund anderer Personen, die im Ausland Leistungen beiArbeitslosigkeit beantragen wollen, die für deren Leis-tungsanspruch maßgeblichen Tatsachen mitteilen. Fürdie Verwaltung wird eine Meldepflicht neu eingeführt.Da die vorgesehene Übermittlung der in den Entsende-bescheinigungen enthaltenen Daten in einem automati-sierten Verfahren über den GKV-Spitzenverband, Deut-sche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland,erfolgt, wird sich der Mehraufwand in überschaubarenGrenzen halten.

Klar ist, dass Neuregelungen nicht kostenlos umzu-setzen sind. Natürlich ist der Gleichstellung der europä-ischen Bürger und Bürgerinnen in Form der Koordinie-rung der Systeme der sozialen Sicherheit in EuropaRechnung zu tragen, wenn es um Neuregelungen geht.Dies darf aber nicht mit dem Ziel einhergehen, insge-samt in Europa eine schrittweise Durchsetzung einesniedrigen Niveaus der sozialen Sicherheit zu etablieren,was an vielen Stellen der europäischen Handlungen lei-der allzu deutlich wird. Die SPD-Fraktion begrüßt, dassdie EU-Kommission eine Gleichstellung der Europäerin den Blick nimmt. Da es in allen Mitgliedstaaten im-mer mehr ältere Menschen gibt, stehen die aktuellenSysteme für die Alterssicherung unter massivem Druck.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat diesen Druck nochweiter verstärkt. Unabhängig von der Koordination dersozialen Sicherheit in Europa ist es für die SPD einGrundsatz, dass die Finanzierung und Bereitstellungvon Renten in der Zuständigkeit der Mitgliedstaatenbleiben muss. Wir werden es nicht zulassen, dass euro-paeinheitliche Standards zu einer Verschlechterung gu-ter Systeme einiger Mitgliedstaaten führen. Im Konflikt-fall müssen die sozialen Belange der Menschen Vorranghaben.

Ich begrüße die Bereitschaft, die Änderungen aufzu-nehmen, die es ermöglicht haben, den Gesetzentwurf imAusschuss für Arbeit und Soziales einstimmig anzuneh-men.

Sebastian Blumenthal (FDP): Zum 1. Mai wird die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit

in der EU hergestellt. Um diesen Prozess sozialpolitischauf nationaler Ebene zu flankieren, werden wir mit demheute zu verabschiedenden Gesetz unseren nationalenBeitrag dazu leisten, die sozialen Sicherungssysteme inEuropa zu koordinieren. Im vorliegenden Entwurf einesGesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialenSicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetzewerden von der Bundesregierung die Detailregelungenformuliert, um die entsprechenden EU-Vorgaben innationales Recht umzusetzen.

Seitens der christlich-liberalen Koalition haben wirunser Hauptaugenmerk darauf ausgerichtet, die Sicher-heit unserer sozialen Versorgungssysteme zu erhaltenund zu stärken. Im Bereich der Alterssicherungssystemewerden Rentnerinnen und Rentner endlich gleichgestellt– unabhängig davon, ob sie Renten aus dem Inland oderaus dem Ausland beziehen. Die gesetzliche Krankenver-sicherung und die soziale Pflegeversicherung werdendamit gestärkt, indem pflichtversicherte Rentnerinnenund Rentner künftig auch mit ihrer ausländischen Rentezur Beitragsfinanzierung ihrer Kranken- und Pflegever-sicherung herangezogen werden. Die Versichertenge-meinschaft wird dadurch dauerhaft und nachhaltig ge-schützt. Die Höhe der zu zahlenden Beiträge wird dabeiderart festgelegt, dass die Leistungsempfänger von Al-terssicherungssystemen im Ausland keine höhere Belas-tung erfahren als die Bezieher von gleich hohen Renten-zahlungen im Inland.

Wir haben als christlich-liberale Koalition dafürSorge getragen, zum einen die Versicherten – und damitdie Beitragszahlerinnen und Beitragszahler – zu schüt-zen und zum anderen die Gesamtheit der Bürgerinnenund Bürger vor zusätzlichen Bürokratie- und Kostenbe-lastungen zu schützen. Von daher erachten wir es als au-ßerordentlich wichtig, wie der nationale Normenkont-rollrat den Gesetzentwurf im Hinblick auf Bürokratie-kosten bewertet, die sich durch Informationspflichten er-geben. Nach aktuell vorliegenden Kostenschätzungenentstehen auf Verwaltungsseite Bürokratiekosten inHöhe von rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Da die vor-gesehene Übermittlung von Daten im automatisiertenVerfahren erfolgen soll und die daraus resultierendenBürokratiekosten nachvollziehbar abgebildet werden,

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 172: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sebastian Blumenthal

(A) (C)

(D)(B)

wird sich die Kostensteigerung in sehr engen Grenzenhalten. Und für uns als FDP ist am allerwichtigsten:Der Normenkontrollrat stellt klar, dass mit dem Entwurf„für Bürgerinnen und Bürger keine Informationspflich-ten neu eingeführt, geändert oder aufgehoben werden“.Von daher werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmenund hoffen auf eine breite Zustimmung – auch von denKolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionenin diesem Haus.

Mit dieser Debatte kommt das parlamentarische Ver-fahren zum vorliegenden Gesetzentwurf zum Abschluss.In diesem Sinne wünsche ich Ihnen friedliche und ereig-nisreiche Feiertage – gleich, ob Sie die Osterfeiertageim Kreise der Familie und Freunde verbringen oder den1. Mai gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aufKundgebungen zubringen.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Mit ihrem Gesetzentwurf legt die Bundesregierung

Detailregelungen zur Umsetzung der EU-Verordnungenzur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheitund zur Festlegung der Modalitäten zur Durchführungdieser Verordnung fest. Die EU-Verordnung zur Koordi-nierung der Systeme der sozialen Sicherheit regelt dieAnwendung der nationalen Sozialversicherungssystemein Europa, konkret in den 27 Mitgliedstaaten der EUplus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz,„Europäischer Wirtschaftsraum“. Die nationalen Siche-rungssysteme werden durch die Verordnung nicht er-setzt, sondern zueinander kompatibel gemacht.

Ursprünglich wurde ein diskriminierungsfreier Zu-gang von EU-Ausländerinnen und Ausländern zu dennationalen Sozialversicherungssystemen festgelegt. Mit-tlerweile ist dieser Grundgedanke durch die VO 883/04weitergeführt worden. Es gelten dabei vier Grundprinzi-pien:

Erstens. Menschen unterliegen zu jedem Zeitpunktimmer nur den Vorschriften eines Landes und zahlen nurin einem Land Beiträge. Die substanziellen Rechtsvor-schriften werden in dem jeweiligen Land festgelegt.

Zweitens. Es gilt der Grundsatz der Gleichbehand-lung und Nichtdiskriminierung. Das heißt: Von der Ko-ordinierung umfasste Personen haben dieselben Rechteund Pflichten wie die jeweils Einheimischen.

Drittens. Wenn eine Leistung beansprucht wird, wer-den Versicherungs-, Beschäftigungs- und Aufenthalts-zeiten in anderen Ländern gegebenenfalls berücksich-tigt.

Viertens. Wenn ein Anspruch in einem Land besteht,kann dieser auch in einem anderen Land ausgezahltwerden – Leistungen sind also „exportierbar“.

Ich möchte einen Aspekt herausgreifen. Künftig sol-len Grenzgängerinnen und Grenzgänger auch auf ihreausländischen Renten Beiträge an die Krankenversiche-rung entrichten. Die Linke hält das für richtig, und zwaraus einem einfachen Grund: Wir sind der Auffassung,dass alle Bürgerinnen und Bürger mit allen ihren tat-sächlichen Einnahmen im vollen Umfange einen Beitragzur gesetzlichen Krankenversicherung leisten sollen, der

ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit entspricht. WirLinken wollen eine solidarische Kranken- und Pflege-versicherung einführen. Mit dieser Bürgerinnen- undBürgerversicherung wird die Bemessungsgrundlage aufalle Einnahmen ausgedehnt und die Versicherungs-pflichtgrenze ebenso abgeschafft wie die Beitragsbemes-sungsgrenze. Unsere Vorstellungen zu einer solidari-schen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung haben wirEnde März 2010 in den Bundestag eingebracht.

Die Linke hat also an der Koordinierung der sozialenSysteme in Europa nichts auszusetzen. Die konkret indiesem Gesetz vorgesehenen Änderungen erscheinenunproblematisch. Wer allerdings ein wirklich sozialesEuropa will, also ein Europa auch der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer, der muss mehr tun, als hier undda zu koordinieren. Wir brauchen endlich eine sozialeFortschrittsklausel im Vertragswerk der EuropäischenUnion, die klarstellt, dass alle EU-Bürgerinnen undBürger soziale Grundrechte haben und nicht einfach nurRangiermasse von Kapitalinteressen sind.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Stärkere Personenfreizügigkeit innerhalb der Mit-gliedsländer der Europäischen Union erfordert aucheine stärkere Abstimmung der sozialen Sicherungssys-teme. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu einem „sozia-len Europa“, in dem mobile Arbeitskräfte ausreichendeund vor allem lückenlose Schutzrechte und Absicherun-gen erhalten. Sofern grundlegende datenschutzrechtli-che Belange beachtet werden, kann der Abgleich vonVersichertendaten auch ein wichtiger Baustein imKampf gegen Schwarzarbeit und Sozialversicherungs-betrug sein. Die eher technische Aufgabenstellung wirddurch den vorliegenden Entwurf insgesamt recht ordent-lich gelöst, deshalb werden wir dem Gesetzentwurf zurKoordinierung der sozialen Sicherheit in Europa zustim-men.

Allerdings habe ich den Eindruck, dass es den Koali-tionsfraktionen nicht gut bekommt, wenn die Oppositionzu wenig Anlass zur Kritik sieht. Nach den fraktionsü-bergreifend im Grundsatz positiven Debattenbeiträgenlegten CDU/CSU und FDP einen Änderungsantrag zurBeratung in den Ausschüssen vor. Dieser Änderungsan-trag sollte unter anderem einen neuen § 295 a im Sozial-gesetzbuch V schaffen, durch den die Datenverarbeitungbei besonderen Versorgungsformen geregelt werdensollte, unter anderem bei der hausarztzentrierten Ver-sorgung. Die Aufnahme dieses Punktes war völlig dane-ben.

Erstens handelt es sich dabei um ein komplexesThema, das seit Jahren auf eine Lösung wartet. Die Ein-schätzungen über die Rechtssicherheit und Zulässigkeitder vorgeschlagenen Regelung gehen allerdings untersachkundigen Experten auseinander. Dies zeigt auch dieDebatte zwischen dem Bundesbeauftragten für Daten-schutz und Informationsfreiheit und seinem Amtskolle-gen aus dem Land Schleswig-Holstein. Damit be-schleicht einen das Gefühl, hier solle unbemerkt eineseit Monaten ausstehende Regelung durchgewunken

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 173: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12103

Beate Müller-Gemmeke

(A) (C)

(D)(B)

werden. So geht das natürlich nicht. Für uns hat der Da-tenschutz einen besonderen Stellenwert.

Genau deshalb ist es aber – zweitens – ein Unding,dieses Regelungsvorhaben als Unterpunkt eines Ände-rungsantrages zu einem gänzlich anderen Thema einzu-bringen. Ohne Not, ohne begründeten Zeitdruck undohne zwingenden inhaltlichen Grund sollte der vorlie-gende Gesetzentwurf quasi als „Omnibus“ für sonstigeRegelungsbedarfe verwendet werde. Ich finde, das wirdder Sache nicht gerecht. Es ist handwerklich wirklichschlecht, wenn die Ablehnung einer an sich nichtschlechten Vorlage in Kauf genommen wird, weil mansie mit anderen Themen überfrachtet. Das zeigt – drit-tens – auch mangelnden Respekt vor dem Parlament undseinen Ausschüssen. Die Strukturen und Verfahren desDeutschen Bundestages sind darauf angelegt, zwischenden Lesungen die parlamentarischen Initiativen durchBeratung und Änderungsanträge zu verbessern. Aber siesind nicht dafür gedacht, gänzlich neue Themen hinzu-zustellen. Sachgerechte Beratung sieht anders aus.

Am Ende haben CDU/CSU und FDP ihr hemdsärmeli-ges Vorgehen offenbar eingesehen. Der besagte Punkt 1ddes Änderungsantrags wurde gestrichen. Die verblei-benden Punkte sind insgesamt unproblematisch undhaben in den Ausschüssen auch die Zustimmung derGrünen gefunden. So sollen Rückkehrende aus internati-onalen Organisationen demnach unter den gleichen Vo-raussetzungen wie Auslandsrückkehrende Zugang zurGKV erhalten, wenn sie innerhalb von zwei Monateneine neue Beschäftigung im Inland aufnehmen. Demsteht nichts entgegen.

Die „Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versor-gungseinrichtungen“ soll bei der Festlegung des anzu-wendenden Rechts beteiligt werden, soweit der von ihrbetreute Personenkreis betroffen ist. Auch gegen dieseAnregung vonseiten des Bundesrates ist nichts einzu-wenden. Schließlich soll die zuständige Datenstelle ge-gebenenfalls Informationen an die Urlaubs- und Lohn-ausgleichskasse der Bauwirtschaft zum Zwecke derEinziehung von Beiträgen und der Gewährung von Leis-tungen übermitteln. Dies ist als Schritt zur Verhinderungvon Schwarzarbeit und zur Gewährleistung sozialer Ar-beitnehmerrechte zu begrüßen.

Wir, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, wer-den dem Gesetzentwurf daher auch in seiner geändertenForm zustimmen. Als überzeugte Europäerinnen undEuropäer werden wir uns Regelungen nicht entgegen-stellen, welche die europaweite Mobilität von Arbeitneh-menden durch eine bessere Koordinierung sozialer Ab-sicherung ergänzt. In diesem Zusammenhang möchte ichauch nochmals sagen: Hier gibt es noch einiges zu tun.Beispielsweise sollte die Bundesregierung dafür Sorgetragen, dass auch Ansprüche aus Betriebsrenten in einanderes europäisches Land mitgenommen werden kön-nen. Kollege Wadephul hat diesen Aspekt in seiner Redezur Einbringung des Gesetzentwurfes ebenfalls erwähnt.Nun müssen den Worten allerdings noch Taten folgen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir kommen somit zur Abstimmung. Der Ausschuss

für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5509, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4978 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Niemand. Enthaltungen? – Niemand. Somit istder Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Auch keine. Der Ge-setzentwurf ist somit einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Steinkohlefinanzierungsge-setzes

– Drucksache 17/4805 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-schuss)

– Drucksache 17/5511 –

Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/5514 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerUlrike FlachRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)

Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Na-men der Kolleginnen und Kollegen liegt dem Präsidiumvor.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürWirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/5511, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4805anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Dassind die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und Bünd-nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Ein Kollegestimmt dagegen. Enthaltungen? – Das sind die Fraktionder Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Der Ge-

1) Anlage 8

Page 174: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommenworden.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Das sind dieFraktion der SPD und die Linksfraktion. Der Gesetzent-wurf ist somit angenommen.1)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, DIELINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Deutschland im UN-Sicherheitsrat – Nationa-len Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzterstellen

– Drucksache 17/5044 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses(3. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

10 Jahre UN-Resolution 1325 „Frauen, Frie-den und Sicherheit“

– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaMöhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verpflichtung zur UN-Resolution 1325„Frauen, Frieden und Sicherheit“ einhalten –Auf Gewalt in internationalen Konfliktenverzichten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Mül-ler (Köln), Katja Keul, Ute Koczy, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

10 Jahre UN-Resolution 1325 – Frauen,Frieden und Sicherheit – Nationaler Akti-onsplan für eine gezielte Umsetzung

– Drucksachen 17/3176, 17/3205, 17/2484,17/5092 –

Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderEdelgard BulmahnDr. Bijan Djir-SaraiSevim DağdelenKerstin Müller (Köln)

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) –Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Na-men der Kolleginnen und Kollegen liegt uns hier vor.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/5044 mit dem Titel„Deutschland im UN-Sicherheitsrat – Nationalen Akti-

1) Erklärungen nach § 31 GO siehe Anlage 22) Anlage 9

onsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen“. Werstimmt für diesen Antrag? – Das sind die FraktionenBündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke. Werstimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen CDU/CSUund FDP. Enthaltungen? – Keine. Der Antrag ist abge-lehnt.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-wärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/5092. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/3176 mit dem Titel„10 Jahre UN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Si-cherheit‘“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Das sind die Fraktionen CDU/CSU, FDP und Die Linke.Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen SPD undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. DieBeschlussempfehlung ist angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/3205 mit dem Titel „Verpflichtung zurUN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Sicherheit‘einhalten – Auf Gewalt in internationalen Konfliktenverzichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemo-kraten. Gegenprobe! – Die Linksfraktion und ein Abge-ordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? –Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung istangenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unterBuchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/2484 mit dem Titel „10 Jahre UN-Resolution 1325 – Frauen, Frieden und Sicherheit – Na-tionaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind dieKoalitionsfraktionen und die Linke. Gegenprobe! – SPDund Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine.Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs ei-nes Neunundzwanzigsten Gesetzes zur Ände-rung des Abgeordnetengesetzes – Einführungeines Ordnungsgeldes

– Drucksache 17/5471 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.3) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Auch hier ver-zichte ich auf das Vorlesen der Namen der einzelnenRedner.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/5471 an den Ausschuss fürWahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorge-

3) Anlage 10

Page 175: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12105

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

schlagen. – Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann istdas somit beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteGroth, Katrin Werner, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Nein zur Todesstrafe – Hinrichtung von TroyDavis verhindern

– Drucksache 17/5476 –

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namender Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor.

Michael Frieser (CDU/CSU): Für uns Deutsche und die große Mehrzahl der euro-

päischen Länder ist die Todesstrafe Geschichte, keinThema mehr, über das wir in Pro und Kontra diskutie-ren. Nach unserer Vorstellung, nach unserem christlichgeprägten Menschenbild ist die Todesstrafe eine grau-same und unmenschliche Strafe. Der Mensch kann nichtRichter über Leben und Tod anderer Menschen sein,ohne immer auch über sich selbst zu richten. Die Todes-strafe verstößt gegen das Grundrecht auf Leben und dieunantastbare Würde des Menschen.

Aber gerade hier erleben wir in bedrängender Weisedie Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit der politi-schen und kulturellen Verhältnisse in unserer Welt. Nochimmer gibt es eine Vielzahl von Ländern, die an der To-desstrafe festhalten.

Wir sehen aber auch, wenn die jeweils von einem kon-kreten Fall ausgelöste Welle von Emotionen wieder einStück weit abgeebbt ist, dass in den letzten Jahren nichtnur hier in Europa, sondern weltweit erhebliche Fort-schritte erreicht worden sind. Auch in den Ländern, diezurzeit noch an der Todesstrafe festhalten, beginnen un-sere Argumente zu wirken. Kein System ist vor einemFehler sicher. Die Angst vor einem öffentlichen, weltweitdiskutierten Justizirrtum ist groß. Eine Gesellschaft, die– und sei sie noch so rechtstaatlich und demokratisch le-gitimiert – für sich das Recht in Anspruch nimmt, überLeben und Tod eines Menschen zu entscheiden, stellt mitjedem konkreten Fall ihre eigenen Existenzgrundlageninfrage. Niemand kann den Fehler korrigieren, wenneinmal doch ein Unschuldiger getötet wurde. Ein Todes-urteil, einmal vollstreckt, kann nicht mehr revidiert wer-den. Dies sollte letztlich jeden Menschen, sei er auchnoch so sehr durch ein schreckliches Verbrechen aufge-wühlt, überzeugen und seinen Ruf nach harter Strafemäßigen.

Troy Davis wurde für den Mord an einem Polizeibe-amten zum Tode verurteilt. Die Verurteilung beruhteausschließlich auf Aussagen von Augenzeugen. Seitherhaben sieben von neun Belastungszeugen ihre Aussagenwiderrufen. Der Zeuge, der Davis‘ Tat zur Anzeige ge-bracht hatte, war zwar am Tatort, stand aber ursprüng-lich selbst unter dem Verdacht, den Mord begangen zuhaben. Das allein zeigt schon, auf welch unsicherer

Grundlage hier ein Mensch zum Tode verurteilt werdensoll.

In den Grundsätzen, Argumenten und Zielen unsererMenschenrechtspolitik sind wir uns über die Fraktionenhinweg einig. Weniger einig sind wir uns dagegen in derEinschätzung, dass auch Menschenrechte etwas Dyna-misches sind, dass man sie politisch nur mit Augenmaß,nur durch das behutsame, aber hartnäckige Bohren di-cker Bretter durchsetzen kann, vor allem aber, dass eineMenschenrechtspolitik, die sich – in den Begriffen MaxWebers – von einer Verantwortungsethik leiten lässt, diesich auf den konkreten nächsten Schritt konzentriert undauch Teilerfolge akzeptiert, letztlich zu besseren Ergeb-nissen führt als eine gesinnungsethische Alles-oder-Nichts-Politik, die ihren Anhängern zwar das Gefühlmoralischer Überlegenheit gibt, aber mehr Porzellanzerschlägt, als ihnen selbst lieb sein kann.

Der hier vorliegende Antrag akzentuiert diejenigenpolitischen Handlungsmuster, welche in der Sicht vonUnion und FDP als der Sache nicht dienlich, tendenziellkontraproduktiv und letztlich parteipolitischer Instru-mentalisierung dienend angesehen werden: die Bindungpolitischer Einflussnahme und Aufklärungsarbeit anEinzelfälle; die Auswahl der Einzelfälle nach Ländern inder Weise, dass das Thema Todesstrafe mit einer Kritikder deutschen Außenbeziehungen zu bestimmten Staatenverbunden werden kann. Einen Antrag zur Aufhebungeiner Todesstrafe im Libanon oder im Iran scheint dieLinke dagegen stets zu vermeiden.

Vor allem Punkt 5 der Feststellung, dass der Deut-sche Bundestag seine Überzeugung bekräftigen solle,dass sich die Einhaltung der Menschenrechte und diegleichzeitige Verhängung der Todesstrafe mit Hinweisauf die USA zwingend gegenseitig ausschließen, kann indieser Form nicht die Zustimmung von Union und FDPfinden. Schließlich sind die USA diejenigen, die erstmalsdie Menschenrechte in der Bill of Rights proklamiert ha-ben. Sie jetzt aufgrund eines einzigen Problempunkts mitdiktatorisch regierten Unrechtsstaaten in eine Ecke derMenschenrechtsverletzer mit Staaten wie Nordkorea,China oder auch dem Iran zu stellen, ist absurd.

Aber auch die Forderung, sich in Gesprächen auf bi-lateraler Ebene und im Rahmen der EU gegenüber denUSA für ein umgehendes Moratorium als ersten Schrittzur Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen, sollte hiernicht ernsthaft aufgestellt werden. Die Empfehlung andie USA, die Todesstrafe abzuschaffen, ist seitens derBundesrepublik wie auch der EU stets ausgesprochenworden. Aber wie die USA dies umsetzt und wann, ist Sa-che dieses souveränen Staates. Die Forderung nach demMittel (Moratorium) und der Zeit (unmittelbar, sofort)halte ich für eine unzulässige Einmischung in die Innen-politik dieses Staates.

Um es hier erneut klarzustellen: Der Bundestag hatbereits unter anderem mit der Drucksache 17/257 vom16. Dezember 2009 beschlossen, sich weltweit für denSchutz der Menschenrechte einzusetzen. Die Abschaf-fung von Todesstrafe und Folter waren Kernbestandteiledieses Beschlusses.

Page 176: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Michael Frieser

(A) (C)

(D)(B)

Ich möchte aus unserem früheren Antrag und Be-schluss „Menschenrechte weltweit schützen“ zitieren:Gleich zu Anfang nehmen wir klar und unmissverständ-lich zur Todesstrafe Stellung:

Unveräußerliche Prinzipien wie körperliche undgeistige Unversehrtheit, Gedanken- und Meinungs-freiheit und die Freiheit von Diskriminierung sindin vielen Teilen der Welt gefährdet. Die grausamsteund unmenschlichste Form der Bestrafung, dieTodesstrafe, wurde in vielen Staaten der Welt abge-schafft. Darunter sind alle Staaten der Europäi-schen Union. Doch immer noch wird die Todes-strafe verhängt bzw. vollstreckt, und dies nicht nurin autoritären Regimen wie Iran, China oder Su-dan, sondern auch in Demokratien wie den USAund Japan. Es gibt keinen rechtsstaatlichen Grund,der die Todesstrafe rechtfertigt; zudem könnenFehlurteile nie ganz ausgeschlossen werden. EinGrundanliegen deutscher Menschenrechtspolitikbleibt deshalb die Aussetzung und in letzter Konse-quenz die Abschaffung der Todesstrafe.

Damit haben wir die Todesstrafe klar abgelehnt.Menschenrechtliche, rechtsstaatliche und humanitäreGründe sprechen mit einer Stimme gegen die Todes-strafe. Aber wir wissen auch, dass wir hier einen langenund schweren Weg angetreten haben. Unser Antragheute geht einen weiteren Schritt in eine Richtung, diewir alle für richtig halten – zur weltweiten Abschaffungder Todesstrafe.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der FraktionDie Linke, ich verstehe Ihr Engagement und schätze Ih-ren guten Willen. Aber aufgrund dieser Gleichmachereivöllig unterschiedlicher Länder und Regierungsformenmüssen Union und FDP Ihren Antrag in der vorliegen-den Form ablehnen.

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die SPD tritt seit langem für die weltweite Bekämp-

fung der Todesstrafe ein. Als Abgeordnete und Men-schenrechtspolitikerin ist dies für mich eine der wich-tigsten menschenrechtlichen Aufgaben.

Deshalb hatte die SPD-Bundestagsfraktion im Juni2010 gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen den An-trag „Todesstrafe weltweit abschaffen“ eingebracht.Die Regierungskoalition hatte unseren Antrag – obwohlwir gerne einen interfraktionellen Antrag daraus ge-macht hätten – aus nicht nachvollziehbaren Gründenabgelehnt, um dann schnell noch einen eigenen, in we-sentlichen Teilen von uns abgeschriebenen Antrag ein-zubringen. Deutsche Wirtschaftspartner, die ziemlich ex-zessiv die Todesstrafe verhängen, wie die USA oderChina, sind in der Version Ihres Antrages allerdings ausder kritischen Würdigung rausgeflogen – ebenso wie derIran. Damit aber nicht genug: Auch den gemeinsam mitden Grünen und Linken eingebrachten Antrag zu der da-mals von der Steinigung bedrohten Iranerin SakinehAshtiani haben Sie abgelehnt. Verehrte Kollegen undKolleginnen von der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion,wir haben es Ihnen damals schon ins Stammbuch ge-schrieben: Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre persön-

lichen Befindlichkeiten auch in diesem Fall über die Sa-che stellen, nämlich über den Kampf gegen dieTodesstrafe.

Dieser Kampf bleibt aktuell. Zwar gibt es einen welt-weiten Trend zur Abschaffung der Todesstrafe, doch58 Staaten halten noch an der Todesstrafe fest, undcirca 25 von ihnen vollstrecken sie auch noch heute. Indem kürzlich erschienenen Jahresbericht von AmnestyInternational „Todesstrafen und Hinrichtungen 2010“ist China wieder der grausame Rekordhalter. China exe-kutiert mehr Menschen als alle anderen Staaten zusam-men. Im Reich der Mitte sind Todesstrafen Staatsge-heimnis. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dassallein in China jährlich bis zu 5 000 Menschen hinge-richtet werden. Diejenigen, die sich aufgrund kleinsterVergehen in den Arbeitslagern zu Tode arbeiten, werdenda noch nicht mitgerechnet. Außerhalb Chinas sindweltweit im Jahr 2010 mindestens 527 weitere Men-schen der Todesstrafe zum Opfer gefallen. Auf den vor-deren Plätzen dieser grausamen Hitliste der Todes-urteile verhängenden und vollstreckenden Staaten sindder Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die USA und der Je-men. Weltweit warten noch mehr als 17 800 Menschenauf den Tod durch den Staat. Drei davon sind übrigensDeutsche. Sie wurden wegen Mordes in den USA zumTode verurteilt.

Staaten sprechen ihnen das Recht auf Leben ab. Siewerden enthauptet, vergiftet, erschossen, gesteinigt oderverschwinden einfach. Die Delikte muten bisweilen gro-tesk an: In Laos und einer Reihe anderer Länder stehtbeispielsweise auf Drogenbesitz die Todesstrafe, in zahl-reichen muslimischen Ländern auf Ehebruch, Apostasieoder die Beleidigung des nationalen Ehrgefühls. In derchinesischen Provinz Guangdong müssen selbst Hand-taschendiebe um ihr Leben fürchten. Und vor ein paarTagen wurde das Gerücht verbreitet, dass im ugandi-schen Parlament erneut versucht wird, Homosexualitätunter bestimmten Bedingungen mit der Todesstrafe zu„bestrafen“.

Troy Davis, der in dem Linken-Antrag thematisierteTodeskandidat aus den USA, steht in diesen Tagen zumwiederholten Mal vor der Vollstreckung seines Todes-urteils. Und er könnte – so die Vermutung vieler Exper-ten – unschuldig sein. Seit er 1991, also vor 20 Jahren,ausschließlich auf der Grundlage von Zeugenaussagenwegen des Mordes an einem weißen Polizisten zum Todeverurteilt wurde, sitzt er in der Todeszelle. Weder eineTatwaffe noch DNA-Spuren oder andere stichhaltige Be-weise wiesen auf ihn hin. Im Laufe seiner bereits drei an-gestrengten Berufungsverfahren – das letzte wurde erstkürzlich vom Obersten Bundesgerichtshof abgelehnt –zogen sieben der insgesamt neun Zeugen ihre Aussagenzurück. Sie hätten im Prozess gegen einen angeblichenPolizistenmörder Angst bei ihren Aussagen gehabt. Ichbin generell gegen die Todesstrafe, aber selbst wenn siefür die USA rechtsstaatlich legitim ist, so dachte ich,auch in den USA gilt „in dubio pro reo“, im Zweifel fürden Angeklagten. Ich kann die Ablehnung eines neuenVerfahrens beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 177: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12107

Angelika Graf (Rosenheim)

(A) (C)

(D)(B)

Bürgerrechte, Freiheitsrechte, Menschenrechte, dassind die Stichworte, die viele Amerikaner persönlich alsdie Maxime ihres Handelns bezeichnen. Aber auch dieUSA als Staat möchte Vorbild sein für die Welt. Nichterst seit heute zweifle ich daran, wie diese Grundsätzemit der Exekution von Menschen, mit Guantanamo odermit der grausamen und unmenschlichen Behandlung desWiki-Leaks-Informanten Bradley Manning zusammen-gehen.

Was den Antrag der Linken betrifft, werden wir unsbei aller Zustimmung zur Abschaffung der Todesstrafeund zum Einsetzen von Moratorien enthalten. Ihre For-derung an die Bundesregierung, den USA das Angebotzu machen, Troy Davis in Deutschland aufzunehmen,halte ich nicht für den richtigen Weg. Was im Falle derUriguren aus Guantanamo zweifellos richtig gewesenwäre, wollen Sie hier offensichtlich als Regelfall einfüh-ren. Ich bin der Ansicht, dass die USA selbst die Verant-wortung für den Fall übernehmen müssen. Unsere Auf-gabe ist es, in den diplomatischen Beziehungen mit denUSA stetig für die Einsetzung eines Moratoriums zuwerben. Das Ziel muss die Abschaffung der Todesstrafesein.

Der Menschenrechtsbeauftragte im AuswärtigenAmt, Markus Löning, hat den weltweiten Kampf gegendie Todesstrafe zu seinem „persönlichen Schwerpunkt“erklärt. Dafür hat er meinen hohen Respekt. Er solltediesen Fall zu „seinem“ machen.

Pascal Kober (FDP): Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antrag

der Linken zur drohenden Hinrichtung von Troy Davis.Die FDP lehnt die Todesstrafe unter allen Umständenab – völlig unabhängig von der Frage der Schuld oderUnschuld der dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktio-nen dieses Hauses sind sich in diesem Punkt einig. DieTodesstrafe ist mit der Würde des Menschen unverein-bar, sie verletzt das unveräußerliche Grundrecht auf Le-ben. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Weder hat sieeine abschreckende Wirkung bei der Verbrechensbe-kämpfung noch kann sie aus dem Motiv der Sühne oderder Gerechtigkeit heraus begründet werden.

Dass im Fall von Troy Davis, wie von Menschen-rechtsorganisationen berichtet wird, sieben von neunZeugen mittlerweile ihre Zeugenaussage widerrufen ha-ben sollen, erinnert uns daran, dass kein Justizsystemdieser Welt und kein Gerichtsverfahren gegen Irrtümergefeit ist. Vor diesem Hintergrund ist die Todesstrafeschon allein wegen ihrer Unumkehrbarkeit mit unseremliberalen Rechtsstaatsverständnis nicht vereinbar.

In den letzten Jahren war ein wachsender Widerstandgegen die Todesstrafe zu verzeichnen, sodass sich mit-tlerweile 65 Staaten zu ihrer vollständigen Abschaffungverpflichtet haben und 150 Staaten auf ihre Anwendungverzichten. Dass auch die Generalversammlung der Ver-einten Nationen die Resolution über ein Moratorium zurVollstreckung der Todesstrafe vergangenes Jahr mit gro-ßer Mehrheit verabschiedet hat, bestätigt den Trend inRichtung ihrer weltweiten Abschaffung.

In zahlreichen Ländern sind Todesurteile und dieHinrichtung von Menschen jedoch noch immer Realität.47 Staaten sehen die Todesstrafe noch als Strafform vor.Dazu gehören auch die USA, einer unserer engsten Ver-bündeten. Dort existiert sie weiterhin in 33 Bundesstaa-ten als grausames und unmenschliches rechtliches Re-likt in einer ansonsten so modernen Nation. Ich bin zwarein großer Freund der USA, aber diese Tatsache machtmich immer wieder aufs Neue fassungslos. VergangenesJahr wurden 46 Menschen in den USA hingerichtet. Da-mit gehört das Land gemeinsam mit China, Iran, Saudi-Arabien, Pakistan, Nordkorea und Irak zu den siebenStaaten, die derzeit für 95 Prozent aller Hinrichtungenweltweit verantwortlich sind. Wollen die USA in SachenMenschenrechte eine Vorbildfunktion für andere Länderübernehmen, müssen sie zu Hause für eine möglichstkonsequente Ächtung der Menschenrechte sorgen. Teilunserer Menschenrechtspolitik gegenüber den USAmuss es sein, sie auf diesem Weg zu unterstützen.

Die weltweite Ächtung und Abschaffung der Todes-strafe ist ein erklärtes Ziel liberaler Menschenrechtspo-litik und ein Arbeitsschwerpunkt dieser Bundesregie-rung. Schon unser Koalitionsvertrag hält dieses Zielschriftlich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine ak-tive Politik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diesePraxis in einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um aufAussetzung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwir-ken.

In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweisedaran erinnern, dass Gesundheitsminister Philipp Rös-ler im Januar für einen Lieferboykott des häufig in To-desspritzen enthaltenen Wirkstoffs Thiopental geworbenhat. Er warnte vor dem möglichen Missbrauch diesesNarkosemittels zur Hinrichtung und appellierte an denGroßhandel, solchen Lieferungsersuchen aus den USAnicht nachzukommen. Auch Markus Löning, der Men-schenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, war An-fang Februar in den USA, um sich über die aktuelle Dis-kussion zur Todesstrafe zu informieren und sich mitihren Verfechtern zu treffen. Mit seiner Kritik ist er mit-nichten auf taube Ohren gestoßen. Wie er uns berichtethat, existiert dort selbst in konservativen Kreisen eineDebatte über die Todesstrafe, die nicht frei von Skepsisist.

Wir begrüßen auch die Entscheidung von Pat Quinn,Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois, der am9. März die Todesstrafe in diesem Bundesstaat abge-schafft hat. Die Tatsache, dass die Debatte um die Ab-schaffung der Todesstrafe in Illinois von einer Gruppevon Studenten 1999 angestoßen worden ist, zeigt, wiewichtig das Engagement der Zivilgesellschaft bei derDurchsetzung von Menschenrechten ist. Diese Entschei-dung in Illinois ist geeignet, einen Bewusstseinswandelauch in den anderen 33 US-Bundesstaaten, die bis heutean der Todesstrafe festhalten, herbeizuführen. Hier denDialog mit Menschenrechtsaktivisten in den USA auf-recht zu halten verspricht eher Erfolge, als nur mit demmoralischen Zeigefinger über den Atlantik zu winken.

Ich denke, ich habe damit deutlich gemacht, dass dieFDP das grundsätzliche Anliegen, die Todesstrafe welt-

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 178: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Pascal Kober

(A) (C)

(D)(B)

weit abzuschaffen, nicht nur teilt, sondern sich auch ak-tiv dafür einsetzt. Insofern kann ich dem ersten Teil desAntragstitels „Nein zur Todesstrafe!“ voll zustimmen.

In einem anderen Punkt widerspricht dieser Antragjedoch einem unserer Grundsätze. Nach unserer Auffas-sung sollte nämlich kein einzelnes Todesurteil und keineHinrichtung einer einzelnen Person herausgestellt wer-den. Denn jede Hinrichtung, auch jene der TausendenNamenlosen, ist eine zu viel. Schließlich wenden wir unsnicht nur in diesem Fall gegen die Todesstrafe, sondernverfolgen deren gänzliche Abschaffung in den USA undweltweit. Dies geht weit über Ihren Antrag hinaus. In-dem Sie hingegen Einzelpersonen herausstellen, werdenSie einerseits der Tragweite dieser Problematik nichtgerecht. Andererseits ist es uns als Bundestag nichtmöglich, Abgrenzungen vorzunehmen, für welche vonder Hinrichtung konkret bedrohte Person wir uns einset-zen und für welche nicht. Die Entscheidung gegen IhrenAntrag ist ausdrücklich keine Entscheidung gegen TroyDavis. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun,der weltweiten Ächtung und einem völkerrechtlichenVerbot der Todesstrafe näher zu kommen.

Annette Groth (DIE LINKE): Für viele von uns war die Nachricht, dass der Supreme

Court das Berufungsverfahren des seit 20 Jahren inhaf-tierten Häftlings Troy Davis aus dem Bundesstaat Geor-gia abgelehnt hat, sehr erschütternd. Mehrmals hat TroyDavis vergeblich beantragt, dass sein Verfahren wiederaufgenommen wird, da er neue, entlastende Beweisevorlegen möchte. Dies wurde ihm immer verweigert. Mitder Ablehnung durch den Supreme Court ist eine Neu-verhandlung nun definitiv ausgeschlossen.

Die letzten zwanzig Jahre der Haft von Troy Daviswaren von traumatischen Erlebnissen geprägt. Dreimalwurde ein Termin für die Hinrichtung von Troy Davisfestgesetzt und jeweils erst in letzter Minute verschoben.Jedes Mal musste sich Davis mit seinem unmittelbar be-vorstehenden Tod auseinandersetzen und konnte dannwieder Hoffnung schöpfen. In diesen zwanzig Jahrenseiner Haft hat sich Troy Davis zu einem Symbol für denKampf gegen die menschenverachtende und inhumaneTodesstrafe entwickelt. Troy Davis war im Jahr 1991 al-lein aufgrund von Zeugenaussagen wegen Mordes andem Polizisten Mark McPhail zum Tode verurteilt wor-den, obwohl niemals eine Tatwaffe, DNA-Spuren oderandere konkrete Tathinweise gefunden wurden. Viele ha-ben sich für das Leben von Davis eingesetzt: das Euro-päische Parlament, der ehemalige US-Präsident JimmyCarter, der südafrikanische FriedensnobelpreisträgerDesmond Tutu sowie Papst Benedikt XVI.

Laut Amnesty International gibt es nur in China, demIran, Saudi-Arabien und Pakistan mehr Exekutionen alsin den Vereinigten Staaten. Angehörige von Minderhei-ten und sozial Benachteiligte werden in den USA über-proportional häufig zum Tode verurteilt und hingerich-tet. Weltweit gibt es seit einigen Jahren einen Trend zurÄchtung der Todesstrafe. Die Annahme der Resolutiongegen die Todesstrafe durch die 62. Generalversamm-lung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 2007 hat

deutlich gezeigt, dass die Abschaffung der Todesstrafevon der Mehrzahl der Staaten unterstützt wird.

Der dänische Pharmakonzern Lundbeck, Herstellerdes Präparates Nembutal Pentobarbital Sodium, kurzPentobarbital, weigert sich, in seine Verträge eine Klau-sel einzufügen, mit der ausgeschlossen wird, dass Pento-barbital an die Todeskammern in den US-Bundesstaatenweitergegeben werden darf. Pentobarbital soll das bis-her in den USA eingesetzte Narkosemittel Thiopentalder US-Firma Hospira für die Vollstreckung der Todes-strafe ersetzen. Eine solche Ausschlussklausel verwei-gert die Firma Lundbeck mit dem Argument, man könne„das komplexe Vertriebssystem letztendlich nicht kon-trollieren“. Es ist völlig inakzeptabel, dass eine Firma inder Europäischen Union, in der alle Staaten die Ächtungder Todesstrafe vereinbart haben, mit diesem Mittel zurVollstreckung der Todesstrafe beiträgt. Dafür sollte dieFirma Lundbeck boykottiert werden.

Trotz der seit vielen Jahren über ihm schwebendenHinrichtung hat Troy Davis seine Hoffnung auf ein fairesVerfahren niemals verloren. Wir befürchten, dass dieVollstreckung der Todesstrafe jetzt unmittelbar droht.Wir freuen uns sehr, dass sich weltweit viele Menschengegen die Hinrichtung von Troy Davis engagieren undhier in Deutschland ein breites Bündnis von Organisati-onen und Initiativen einen Aktionstag für die Rettungvon Troy Davis plant. Auch in den letzten Jahren habenHunderttausende Menschen gezeigt, dass sie gegen dieTodesstrafe kämpfen. Alleine im Jahr 2009 haben in einerMail-Aktion mehr als 200 000 Menschen an den Gou-verneur von Georgia geschrieben, um gegen die Verhän-gung der Todesstrafe gegen Troy Davis zu protestieren.

Wir alle können Druck auf die Regierung der USAausüben. Deshalb bitten wir Sie, dem Antrag der Frak-tion Die Linke zuzustimmen, um für die Begnadigungvon Troy Davis ein starkes Zeichen zu setzen. Die Frak-tion Die Linke unterstützt die Haltung der Bundesregie-rung, wonach die Todesstrafe weder ethisch noch rechts-politisch zu rechtfertigen ist. Deshalb bitten wir Sie, sichweiterhin weltweit für die Ächtung und die Abschaffungder Todesstrafe einzusetzen.

Wir wollen uns nicht in die Verfahren der US-Ge-richtsbarkeit einmischen. Wir appellieren jedoch an dieVerantwortlichen, im Rahmen der Möglichkeiten desUS-Rechts eine Begnadigung oder die Umwandlung derTodesstrafe von Troy Davis in eine Haftstrafe zu erwir-ken. Vom Deutschen Bundestag wünschen wir uns, dasser – als klares Zeichen gegen die Todesstrafe – den USAauch ausdrücklich anbietet, Troy Davis in DeutschlandAufnahme zu gewähren.

Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit nunmehr 20 Jahren wartet der US-Amerikaner

Troy Davis nach mehreren kräfteaufreibenden Gerichts-verfahren darauf, dass sein Todesurteil vollstreckt wird,das 1991 wegen des Mordes an einem Polizisten gegenihn verhängt wurde.

Aber nicht erst die Fraktion Die Linke hat mit ihremAntrag auf eklatante Mängel im Verfahren hingewiesen.

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 179: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12109

Tom Koenigs

(A) (C)

(D)(B)

Es sind vielmehr die Familie des Verurteilten, die vielenfreiwilligen Freunde und Helfer, die Menschenrechts-organisationen und -verteidiger, die sich mit all ihrenKräften, ihren Ängsten und in ihrer Verzweiflung erweh-ren und dem Verurteilten beistehen.

Mit der Ablehnung eines Antrages zur Wiederauf-nahme des Verfahrens durch den Supreme Court am28. März 2011 scheint der letzte Funken Hoffnung erlo-schen: Die Behörden des Bundesstaates Georgia sindnun berechtigt, einen endgültigen Termin zur Vollstre-ckung des Urteils anzuberaumen. Davis kann jetzt nurnoch hoffen, dass ein Begnadigungskomitee die Todes-strafe in lebenslange Haft umwandelt. Und ich hoffesehr, dass diese Umwandlung vorgenommen wird. Dennsolange man an der Todesstrafe festhält, lässt sich dasRisiko, Unschuldige hinzurichten, nicht ausschließen. Inder Causa Davis scheint das Risiko, einen Unschuldigenzu töten, besonders hoch zu sein. Im Antrag der Linkenwerden die Zweifel am Verfahren ja hinreichend ange-sprochen. Gerade in einer solchen Frage ist es ange-zeigt, sich auf das rechtstaatliche Prinzip „in dubio proreo“ zurückzubesinnen.

Einem Bericht von Amnesty International zufolgesind seit 1973 in den USA 139 zum Tod verurteilte Ge-fangene aus der Todeszelle entlassen worden, nachdemin Revisionsverfahren ihre Unschuld festgestellt wurde.Diese Menschen saßen viele Jahre unschuldig im Todes-trakt. Einige standen nur wenige Stunden vor ihrer dro-henden Hinrichtung. Andere Gefangene werden hinge-richtet, obwohl starke Zweifel an ihrer Schuld bestehen.

Letztlich speist sich die Kritik an der Todesstrafe ausder Wahrung und Achtung der allgemeinen Menschen-rechte. In Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Men-schenrechte ist das Recht auf Leben verbürgt. Das Rechtauf Leben ist das fundamentalste Menschenrecht, weildas Leben des Menschen die notwendige Bedingung fürseine körperliche und psychische Integrität darstellt. Esist eine Vorbedingung, um alle anderen Menschenrechtegenießen zu können. Selbst die Würde einer Person istohne den Eintritt in das Leben undenkbar.

Hinrichtungen sind dagegen archaische, vormoderneund anti-aufklärerische Methoden des Strafvollzuges.Der Staat muss sich vielmehr zum Leben bekennen. Erist dafür da, das Leben und die Rechte seiner Bürgerin-nen und Bürger zu schützen. Die Freiheitsstrafe ist einMittel, mit dem der Staat die Gesellschaft vor jenen zubewahren versucht, von denen eine Gefahr ausgeht. DieTodesstrafe ist hingegen ein Akt der Rache. Mit Ab-schreckung ist sie nicht zu begründen: Zahlreiche empi-rische Studien widerlegen die Annahme, dass die Todes-strafe als Kriminalsanktion eine präventive Wirkungentfaltet. Kurzum: Die Todesstrafe ist irrational und einanti-aufklärerisches Übel.

Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregie-rung dazu auf, an die USA zu appellieren, sich für eine

Begnadigung Troy Davis‘ einzusetzen, bilaterale Ge-spräche mit den USA zu suchen, um unter Hinweis aufunkalkulierbare Risiken und menschenrechtliche Beden-ken für die Abschaffung der Todesstrafe einzutreten, undin ihrer Arbeit gegen die Todesstrafe weltweit nichtnachzulassen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5476. Werstimmt für diesen Antrag? – Das ist die Fraktion DieLinke. Wer stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktionen.Enthaltungen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/DieGrünen. Der Antrag ist somit abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicherRichtlinien der Europäischen Union und zurAnpassung nationaler Rechtsvorschriften anden EU-Visakodex

– Drucksache 17/5470 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger AusschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Ich sehe, Sie sind einverstanden. Die Liste der Namender Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/5470 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esandere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.

Wir sind damit – Sie werden es nicht glauben, aber esist wahr – am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.Der eine oder andere hätte vermutlich hier noch gernweitergearbeitet,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

aber es gibt ja noch die Bürotätigkeit.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 15. April 2011, 9 Uhr,ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 22.05 Uhr)

1) Anlage 11

Page 180: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
Page 181: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12111

(A) (C)

(B)

Anlagen zum Stenografischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

(D)

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Arnold, Rainer SPD 14.04.2011

Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Becker, Dirk SPD 14.04.2011

Binding (Heidelberg), Lothar

SPD 14.04.2011

Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Brinkmann (Hildesheim), Bernhard

SPD 14.04.2011

Dr. Danckert, Peter SPD 14.04.2011

Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Friedhoff, Paul K. FDP 14.04.2011

Friedrich, Peter SPD 14.04.2011

Gerster, Martin SPD 14.04.2011

Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Kampeter, Steffen CDU/CSU 14.04.2011

Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Lange (Backnang), Christian

SPD 14.04.2011

Leutert, Michael DIE LINKE 14.04.2011

Möller, Kornelia DIE LINKE 14.04.2011

Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates

Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO

zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-zes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungs-gesetzes (Tagesordnungspunkt 18)

Michael Groß (SPD): Nach den Versäumnissen derBundesregierung, rechtzeitig für den deutschen Stein-kohlebergbau eine Regulierung im europäischen Beihil-ferecht bei der EU-Kommission in Brüssel zu erwirken,folgte ein schlechter Kompromiss, nachdem nun die Re-visionsklausel ersatzlos gestrichen werden soll. Damitmüssen die wenigen noch bestehenden deutschen Stein-kohlebergwerke einen Stilllegungsplan und einen kon-

Roth (Esslingen), Karin SPD 14.04.2011

Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 14.04.2011

Schmidt (Eisleben), Silvia

SPD 14.04.2011

Schuster, Marina FDP 14.04.2011*

Süßmair, Alexander DIE LINKE 14.04.2011

Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Ulrich, Alexander DIE LINKE 14.04.2011

Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Weinberg, Harald DIE LINKE 14.04.2011

Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 14.04.2011*

Werner, Katrin DIE LINKE 14.04.2011*

Dr. Westerwelle, Guido FDP 14.04.2011

Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.04.2011

Wolff (Wolmirstedt), Waltraud

SPD 14.04.2011

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Page 182: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

kreten Stilllegungszeitpunkt vorlegen, damit weiterhinBeihilfen gewährt werden können. Mit der jetzigen Lö-sung der derzeitigen Regierungspolitik müssen Stein-kohlebergwerke nicht nur rentabel und beihilfefrei arbei-ten wie andere Unternehmen, sondern sind zusätzlichverpflichtet, die Beihilfen aus den vergangenen Jahrenzurückzuzahlen.

Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass ange-sichts weltweiter Rohstoffknappheit, steigenden Ener-giebedarfs und des Ausstiegs aus der Atomkraft inDeutschland die Rentabilität deutscher Steinkohleberg-werke durchaus in naher Zukunft realistisch sein kann.Die deutschen Bergbaumaschinentechnologie ist welt-marktführend und genießt hohes internationales Anse-hen. Der Technologieexport kann einen sinnvollen Bei-trag zur Wirtschaftlichkeit unserer Steinkohlebergwerkeleisten. Die Sicherheitsstandards sind weltweit vorbild-lich.

Die heimische Steinkohleförderung liegt zurzeit bei23 Prozent des bundesweiten Verbrauchs. Zukünftigwird dieser Bedarf ausschließlich durch Importkohle ge-deckt werden, die über weite klimaschädliche Transport-wege nach Deutschland gelangt, Kohle, die billiger aufden Markt gelangt, da sie in vielen Förderländern untermenschenunwürdigen und unsicheren Lebens- und Ar-beitsbedingungen gefördert wird. Die heimische Stein-kohle weist Lagerstätten hochwertiger Kokskohle auf. Inder Stahlerzeugung ist Kokskohle nicht zu substituieren.Etwa 18 Prozent des deutschen Stroms wird mit Stein-kohle produziert. Als Brücke in das Zeitalter der erneu-erbaren Energien sind hocheffiziente, lastflexible Kohle-kraftwerke derzeit nicht verzichtbar, bis die Maßnahmenzu Energieeffizienz greifen und der Strombedarf aus er-neuerbaren Energien vollständig abdeckt wird.

Im Bergbau und in der Wertschöpfungskette des Stein-kohlebergbaus bestehen mehr als 10 000 Arbeitsplätzeund kaum ersetzbare Ausbildungsplätze, hauptsächlichim Kreis Recklinghausen, die jetzt infrage gestellt sind.Die Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes wirdautomatisch zu massiven weiteren sozial- und arbeits-marktpolitischen Verwerfungen im Kreis Recklinghau-sen führen.

Dieter Jasper (CDU/CSU): Ich erkläre hiermit, dassich dem Gesetz zur Änderung des Steinkohlefinanzie-rungsgesetzes in der vorliegenden Form nicht zustimme.Dies möchte ich folgendermaßen begründen:

Mit dem heutigen Gesetzentwurf erfüllt die christlich-liberale Koalition eine normative Voraussetzung, damitaus europäischer Sicht in Deutschland ein subventionier-ter Steinkohlenbergbau bis ins Jahr 2018 ermöglichtwird und sichergestellt werden kann. Inhaltlich bedeutetdieser Gesetzentwurf, dass die sogenannte Revisions-klausel ersatzlos gestrichen wird.

Zum Hintergrund:

Im Jahr 2007 wurde eine kohlepolitische Verständi-gung getroffen, in der die Bundesregierung, das LandNRW, das Saarland, die RAG und die IGBCE den sozial-verträglichen und geordneten Ausstieg aus dem subven-

tionierten Steinkohlebergbau bis zum Jahr 2018 regelten.Diese Vereinbarung beinhaltete auch die sogenannte Re-visionsklausel, die festlegte, dass dieser Beschluss imJahr 2012 noch einmal überprüft werden sollte. Völligüberraschend forderte die Europäische Kommission imletzten Jahr einen früheren Ausstieg aus der Kohleförde-rung bis zum Jahr 2014.

Dies hätte für Deutschland und gerade auch für meineHeimatregion dramatische wirtschaftliche und sozialeKonsequenzen gehabt. In Ibbenbüren im TecklenburgerLand liegt eine der letzten Steinkohlenzechen in Deutsch-land. Hier wird schon seit langer Zeit hochwertige An-thrazitkohle gefördert. Diese wird zu einem großen Teilim direkt anliegenden hocheffizienten Kohlekraftwerkverfeuert und zum anderen Teil für den regionalen Wär-memarkt verwendet.

Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Berg-baus für die Stadt Ibbenbüren und die umliegenden Berg-baugemeinden Mettingen, Recke, Hopsten, Hörstel undWesterkappeln ist enorm. In der Bevölkerung und überalle gesellschaftlichen Gruppierungen hinweg herrschteine hohe Akzeptanz. Im Bergbau sind derzeit direkt über2 300 Menschen beschäftigt, im Bereich der Zulieferbe-triebe sind im Laufe der Zeit mehrere Tausend Arbeits-plätze entstanden. Auch im Bereich der Ausbildung leis-tet die Zeche ganz hervorragende und unverzichtbareArbeit.

Als der Vorschlag der EU-Kommission bekannt wurde,führte dies natürlich zu großer Unruhe und Irritation inunserer Region. Ein Ausstieg aus dem Steinkohlebergbaubereits im Jahr 2014 hätte dazu geführt, dass es zu be-triebsbedingten Kündigungen gekommen wäre und auchsonst massive wirtschaftliche und soziale Probleme ent-standen wären.

In dieser Situation habe ich mich unmittelbar an un-sere Bundeskanzlerin gewandt und um Hilfe und Unter-stützung gebeten. Unter Einsatz aller Kräfte und durchtatkräftige Unterstützung des Parlamentarischen Staats-sekretärs Peter Hintze konnte erreicht werden, dass derBeschluss der EU revidiert wurde. Die Unterstützungder heimischen Steinkohlenförderung bis ins Jahr 2018wurde unter bestimmten Bedingungen auf europäischerEbene akzeptiert.

Eine dieser Bedingungen für die notwendige europäi-sche Regelung war, dass die Revisionsklausel aus demnationalen Gesetz gestrichen und der Ausstieg somit un-umkehrbar gemacht wird. Dieser Forderung wird mitdem heutigen Gesetzentwurf Genüge getan. Aus euro-päischer Sicht darf es nach 2018 keinen subventioniertenSteinkohlenbergbau in Deutschland mehr geben, sodasses auch keiner weiteren Prüfung im Jahr 2012 bedarf.

Hier handelt die christlich-liberale Regierungskoali-tion konsequent und richtig, da es an vorderster Stelledarum geht, die auf europäischer Ebene gefundene Eini-gung nicht zu gefährden, die nur unter größten Mühengefunden werden konnte.

Für mich persönlich stellt sich die Situation aber et-was komplexer dar: Die Revisionsklausel ist juristischüberflüssig geworden, und ihre Streichung dient dem

Page 183: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12113

(A) (C)

(D)(B)

Zweck der Bestandssicherung auch des Steinkohlen-bergbaus bei uns im Tecklenburger Land. Politisch ge-hört sie aber meines Erachtens auf die Tagesordnung derzukünftigen Energiepolitik, und deshalb kann ich einerStreichung nicht zustimmen.

Ich möchte ein deutliches Signal setzen, dass die Zu-kunftschancen der Steinkohle nicht nur jetzt, sondernauch nach 2018 erkannt und genutzt werden müssen.Dazu müssen wir die weitere Entwicklung im Fokus ha-ben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die heimi-sche Steinkohle weiterhin als nationale Energiereservebenötigen und somit den Zugang zu den Lagerstätten er-halten sollten.

In einem zukunftsorientierten Energiemix brauchenwir neben den regenerativen Energien auch hochmo-derne und effiziente Kohlekraftwerke, in denen dannauch die heimische Steinkohle verströmt werden kann.

Gerade jetzt, wo alle möglichen Energieformen aufdem Prüfstand stehen und wir uns fragen müssen, wieeine sichere und bezahlbare Energieversorgung für unserLand zukünftig gestaltet werden kann, dürfen wir unsdiese Möglichkeit eines heimischen Energieträgers nichtverbauen.

Grundsätzlich ist es richtig, die jetzt gefundene euro-päische Vereinbarung endgültig zu ratifizieren.

Aber wir dürfen die weitere wirtschaftliche Entwick-lung nicht aus den Augen verlieren und müssen uns be-wusst sein, dass wir in unserem rohstoffarmen Land mitder Steinkohle einen der ganz wenigen grundlastfähigenEnergieträger verfügbar haben. Diesen sollten wir nichtvorschnell aufgeben.

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Prä-implantationsdiagnostik (PID)

– Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten Zu-lassung der Präimplantationsdiagnostik (Prä-implantationsdiagnostikgesetz – PräimpG)

– Entwurf eines Gesetzes zur Regelung derPräimplantationsdiagnostik (Präimplanta-tionsdiagnostikgesetz – PräimpG)

(Tagesordnungspunkt 3 a bis c)

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Angesichts der anspruchsvollen Debatte will ich nurkurz mit einigen Bemerkungen begründen, warum ichein Verbot der Präimplantationsdiagnostik ethisch undverfassungsrechtlich für geboten halte.

In der Debatte wurden gewichtige Gesichtspunktevorgetragen, wie zuvörderst der Wunsch der Eltern nacheinem gesunden Kind oder die Gefahr eines Rutsch-bahneffektes, wenn wir die PID bei bestimmten Erb-

krankheiten zulassen. Gerade das Schicksal der betroffe-nen Familien treibt uns alle um.

Verfassungsrechtlich und ethisch muss aber meinesErachtens der Schutz des menschlichen Lebens im Mit-telpunkt stehen und die Frage beurteilt werden, ob erggf. mit anderen Rechtsgütern abgewogen werden muss.

Mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle ent-steht menschliches Leben und ist genetisch die Identitäteines Menschen individuell festgelegt. Und jedesmenschliche Leben ist zu schützen. Dies entspricht nichtnur christlicher Überzeugung, es entspricht – und daraufkommt es hier an – meines Erachtens der Logik der ers-ten drei Artikel unserer Verfassung und der Logik derbisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richtes hierzu.

Oft wird ja die PID-Problematik mit der Abtreibungverglichen. Dies verbietet sich hier genauso wie bei derDiskussion um embryonale Stammzellen. Die PID istdie bewusste und gewollte künstliche Erzeugung vonacht Embryonen zum Zwecke des Aussortierens undkein existenzieller Konflikt.

In meiner Rede zur Stichtagsregelung für den Importembryonaler Stammzellen hatte ich ausgeführt:

Bei der Frage der Abtreibung steht das Leben derMutter mit dem Leben des Kindes in einem direk-ten, unauflösbaren Konflikt. … Die Abtreibungbleibt auch nach dem Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts zum § 218 StGB Unrecht, auch wennsie nicht in jedem Fall strafrechtlich verfolgt wird.Das ist eine ganz klare ethische Linie. Lediglich beiden Instrumenten, also dabei, wie wir das menschli-che Leben in diesen Situationen schützen, hat dasBundesverfassungsgericht uns, dem Gesetzgeber,erlaubt, nicht in jedem Fall zum Mittel des Straf-rechts zu greifen.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsund die Vorgabe des Grundgesetzes sind klar. BeimLuftsicherheitsgesetz hat das Bundesverfassungs-gericht uns als Gesetzgeber noch einmal ermahnt:Leben ist nicht gegen Leben abzuwägen; nicht ein-mal Leben, das wir dem Tod geweiht glauben, darfgeopfert werden, um anderes menschliches Lebenzu retten.

Nun geht es aber bei der PID um eine Abwägung Le-ben gegen Leben Es geht eben nicht um Paare, die ihrenKindern das Leid durch eine von ihnen vererbte Krank-heit ersparen. PID ist keine Diagnose, die eine Behand-lung zum Ziel hat. Sie wendet nicht Leid von Eltern oderihrem Kind ab, sondern wendet das Kind selbst ab.

Es geht um den Wunsch eines Paares oder einer Frau,ein Kind zu bekommen, das bestimmte genetische Anla-gen nicht aufweist. Es geht um den Wunsch und nichtdas Recht auf ein Kind. Dieser Wunsch verdient unserenRespekt, und die Situation der Betroffenen hat unser al-ler Mitgefühl. Dieser Wunsch darf aber nicht um jedenPreis realisiert werden, nicht um den Preis, dass mensch-liches Leben zur Disposition gestellt wird und Men-schen, die Abgeordneten, die Ärzte oder Mitglieder von

Page 184: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Ethikkommissionen darüber entscheiden, welches men-schliche Leben noch gelebt werden kann und welchesnicht. Menschen dürfen sich nicht zum Richter über dasLebensrecht anderer aufschwingen. Wir dürfen nichteine Debatte über lebenswertes und weniger lebenswer-tes Leben bekommen. Deshalb bin ich dafür, die PID ge-nerell nicht zuzulassen.

Ich verkenne nicht, dass es im Antrag von Priska Hinzund René Röspel unter anderem um einen anderen An-satz geht. Man hat dort versucht, die PID auf nicht le-bensfähiges Leben zu beschränken. Gesetzgeberisch istder Vorschlag meines Erachtens in dieser Hinsicht abernicht ganz gelungen, und es erscheint mir auch nicht ge-klärt, ob diese Unterscheidung medizinisch so überhauptmöglich ist.

Michael Brand (CDU/CSU): Weil wir heute eineDebatte über eine sehr zentrale Grundsatzfrage mit gro-ßem Engagement führen, muss es um Klarheit auch beiden Grundsätzen gehen. Die Argumente werden nachbestem Wissen und Gewissen vorgetragen.

Dies tue ich heute in großer Klarheit und mit großemEngagement, weil wir doch alle um uns herum sehen,was sich aus einer sogenannten begrenzten Ausnahmere-gelung entwickeln kann. Wer sich heute mit Hinweis aufdie derzeit noch nicht flächendeckenden Risiken in Eu-ropa optimistisch zeigt, der muss nur einen Blick in dieProspekte von Reproduktionskliniken mit der Darstel-lung von Wunschmerkmalen der gewünschten Kinderwerfen. Dort erhält man einen Blick in die Zukunft, undes ist ein sehr skeptischer Blick.

Es ist zweifelsfrei eine große Belastung, einen Kin-derwunsch nicht gefahrlos erfüllt zu bekommen. Es istaber eine weit größere Belastung, ein Menschenlebenabzutöten, weil es Risiken in sich birgt, und zwar solche,die entweder in dessen Lebenszyklus geheilt werdenkönnen oder teils gar nicht eintreten, während dieses Le-ben eben auch mit diesen Merkmalen ein ebenso wert-volles ist wie das eines jeden Einzelnen von uns.

Wir sprechen bei der PID über jährlich 200 bis300 Fälle bei einer Bevölkerung von über 80 Millionen.

Wollen wir einen Grundpfeiler des Schutzes fürmenschliches Leben für Millionen von ungeborenenKindern aufweichen, hier sozusagen als Einfallstor fürdie Selektion menschlichen Lebens, mit dem Risiko,dass dies schwere Folgen hinsichtlich einer weiterenVerschlechterung des Schutzes von menschlichem Le-ben bedeuten kann? Finden wir keine anderen Optionen,zum Beispiel die Erleichterung von Adoptionen, Hilfefür Menschen mit Behinderung, psychologische Hilfeund weitere Ansätze, um diesem Personenkreis zu hel-fen, eben ohne die Büchse der Pandora zu öffnen, mit al-len großen Risiken?

Es wird hier immer wieder verlangt, das medizinischMögliche zu unternehmen. Ja, es stimmt, und das gehörtzu einer modernen und menschlichen Gesellschaft: Wirwollen, wir sollten das medizinisch Mögliche ermögli-chen. Aber nie, ich wiederhole: nie dürfen wir das mora-

lisch-ethisch Unmögliche nur deshalb möglich machen,weil es inzwischen medizinisch möglich geworden ist.

Dabei geht es nicht nur um den Druck auf die Frauen,sich vor einem möglicherweise behinderten Kind durchdessen Selektion zu schützen – übrigens oftmals untersanften oder auch massiven Druck gesetzt aus dem eige-nen Umfeld oder auch vom Partner. Das gilt auch für denRechtfertigungsdruck nach der Geburt eines behindertenKindes.

Es geht auch um die Frage, ob wir unsere Kinderwün-sche über alles stellen und dabei noch die Kinder nachgewünschten Eigenschaften auswählen. Niemand ver-kennt das Leid von Eltern. Unser Respekt, unsere Zunei-gung geht aber auch zu den Eltern, die sich ihrer Kinderso annehmen, wie diese Kinder sind, die sie im echtenSinne bedingungslos, das heißt ohne Anspruch auf Voll-kommenheit lieben. Wir dürfen aus behinderten Kindernnie ein solches Problem machen, dass gar die Selektiondieser Kinder in Kauf genommen wird.

Es bleibt unverrückbar, dass mit einer weiteren Zulas-sung der Selektion und der damit unvermeidlich, ichwiederhole: unvermeidlich verbundenen Tötung desnicht zum Überleben ausgewählten menschlichen Le-bens eine Büchse der Pandora nicht mehr geschlossenwird. Wir haben als Parlamentarier, als Christen, alsMenschen die Möglichkeit, diese Büchse der Pandorawieder zu schließen. Wir sollten diese Kraft aufbringen.

Jeder hier hat sicher Kontakt mit behinderten Mit-menschen, mehr oder weniger. Ich selbst habe diesenKontakt regelmäßig. Haben Sie sich vor diese Menschenschon mal hingestellt und ihnen gesagt, dass sie eventu-ell in einer nicht allzu fernen Zukunft zu einer kleinerwerdenden Minderheit zählen werden, weil es immermehr Menschen geben wird, deren Leben vor der Geburtbeendet werden wird, weil ihre Nachteile unerwünschtsind?

Es gibt die Warnungen der Ethiker, der Kirchen, vonÄrzten, Wissenschaftlern, Verbänden wie Lebenshilfe,VdK, von Betroffenen selbst, in der Tat viele warnendeStellungnahmen – und es gibt die normalen, menschli-chen Reaktionen. Zu den zutiefst menschlichen Eigen-schaften und Reflexen gehört, menschliches Lebenschützen zu wollen, retten zu wollen. Dieser zutiefstmenschliche Reflex würde durch die Aufweichung die-ser Schutzfunktion für das menschliche Leben bedroht,und wir brauchen diesen Reflex und diesen Schutz.

Ob dies, wie bei mir, auch aus christlichem Funda-ment oder von anderen Quellen her gespeist wird, das istnicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, dass wir dieAchtung vor uns Menschen nicht verlieren. Das ge-schieht nicht mit einem lauten Knall, es geschieht meistStück für Stück. Die Relativierung ist bereits unterwegs,und wir müssen uns ihr mit Kraft entgegenstemmen, umdie Achtung vor dem menschlichen Leben und seinenSchutz aktiv zu bewahren. Nicht nur wir Christen wis-sen: Der Mensch wird nicht, er ist es von Anfang an. Erhat uneingeschränkte Würde von Anfang bis zum Ende,ohne jede Einschränkung.

Page 185: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12115

(A) (C)

(D)(B)

Die Diagnostik soll helfen, um zu heilen, nicht um zutöten. In meiner Heimat treffe ich vielfach Menschen mitBehinderung, die mit all ihrer Verschiedenheit uns allesehr bereichern. Wir beschließen die UN-Konvention fürInklusion, um Behinderte nicht aus unserem Alltag aus-zuschließen.

Wer hier bei PID mit Kriterien eingrenzt, der grenztauf der anderen Seite natürlich auch aus. Diese Verant-wortung kann man nicht wegdrücken auf Kommissio-nen; das ist unsere Verantwortung hier im Parlament,dies zu entscheiden und das Leben zu schützen. Wir ha-ben mit dem Embryonenschutzgesetz bewusst eine be-sonders hohe Hürde gesetzt; die dürfen wir nicht reißen.Denn es muss auch hier deutlich gesagt werden: Die Öff-nung würde nicht beim ersten Schritt stehen bleiben, eswürde – wie immer bisher – ausgeweitet. Wir müssendas Ende bedenken, bevor wir den Beginn der Einfüh-rung der PID beschließen können.

Ich will, dass wir mit allen Menschen zusammenle-ben. Ich will, dass auch behinderte Menschen in ihremmenschlichen Reichtum, ihrer Passion und ihrem unver-äußerlichen Recht von uns allen als Gesellschaft ange-nommen werden. Ich verkenne das Leid des Personen-kreises von 200 bis 300 Personen nicht. Aber ich kannund ich will lieber diese um Verzicht bitten, als die Se-lektion behinderter Menschen zuzulassen.

Der Gesetzgeber würde mit der Zulassung der PIDden fatalen Weg nach unten, zu immer weniger Schutzdes menschlichen Lebens weiter fortsetzen. Der frühereBundespräsident Johannes Rau hat 2001 zu Recht ge-sagt: „Wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensun-wert zu unterscheiden, ist in Wirklichkeit auf einer Bahnohne Halt.“

Gerade in den großen Grundfragen müssen wir es unszu Recht sehr schwer machen. Das habe ich getan. Undeine schwere, eine schwerwiegende Entscheidung ge-troffen habe ich auch: Die Würde des Menschen ist un-antastbar, auch von großem Leid anderer unantastbar.

Schützen wir die Würde von uns Menschen, lassenwir hier keine Ausnahmen zu! In voller Kenntnis undAnerkenntnis des Dilemmas schützen wir die elementa-ren Rechte von uns Menschen. Und wir sollten uns auchhier nicht zum Richter über Leben und Tod aufschwin-gen. Denn wir sollten nicht und dürfen nicht Gott spie-len.

Norbert Geis (CDU/CSU): Das menschliche Lebenbeginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzel-len, unabhängig davon, ob sich die Verschmelzung in dernatürlichen Begegnung von Mann und Frau ereignetoder ob sie im Reagenzglas künstlich herbeigeführtwird. Die Technizität des Vorganges ändert nichts am Er-gebnis: Beide Male beginnt das Leben des Menschen mitder Vereinigung von Ei- und Samenzellen.

Es gibt den Einwand, der Embryo im Reagenzglas be-ginne sein menschliches Leben erst dann, wenn die Im-plantation und die Einnistung erfolgt sei. Diese Behaup-tung, die Einnistung sei neben der Vereinigung von Ei-und Samenzellen gleichrangig kausal für den Beginn des

Lebens, ist nicht zu halten. Das wird an der Situation derLeihmutter deutlich. Sie gilt nach unserer Rechtsord-nung nicht als Mutter des Kindes. Mutter bleibt die Frau,die das Ei „spendet“. Ebenso bleibt Vater, der den Samen„spendet“. Allein von diesen beiden kommt die gene-tische Bestimmung des neuen menschlichen Lebens. DieGene sind es, die den einzelnen Mensch von jedem an-deren unterscheiden und ihn sein Leben lang bestimmen.Dass viele weitere Schritte dazukommen müssen, damitder Mensch heranwachsen kann, steht außer Frage. Fürden Embryo sind diese ersten Schritte die Implantationund die Einnistung. Diese sind aber nicht der Ursprungdes Lebens.

Wir alle haben als Embryo begonnen. Wären wir indiesem Stadium getötet worden, wären wir heute nichtda. Uns gäbe es nicht.

Das hat zur Folge, dass dieses menschliche Leben,das in einer besonderen Weise schutzbedürftig ist, auchgeschützt werden muss.

In der Tat steht der Mensch von Anfang an, ab derVereinigung von Ei- und Samenzelle, unter dem Schutzder Verfassung. Im ersten Urteil zum Abtreibungsrechtvom 25. Februar 1975 stellt das Bundesverfassungsge-richt klar, dass der Schutz der Verfassung dort gilt, „womenschliches Leben existiert“. Von Anfang an, so stelltdas Verfassungsgericht fest, kommt dem MenschenWürde zu. Dies, weil er Mensch ist, unabhängig davon,ob er sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst auchwahren kann. Die Wahrung der Würde des Menschenheißt, dass der Mensch im innersten Kern seines Wesensunantastbar und unverfügbar ist. Der Mensch kann nichtals Sache behandelt werden.

Weil der Embryo Mensch ist, hat er das Recht auf Le-ben und körperliche Unversehrtheit. Nach Art. 2 Abs. 2Grundgesetz hat jeder Mensch, auch der ungeboreneMensch und der Embryo im Reagenzglas dieses Recht.Auch dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinemUrteil vom 25. Februar 1975 klargestellt, dass nämlichder Staat unabhängig vom Status des Menschen ver-pflichtet ist, dieses Leben zu schützen, vom Anfang biszum Ende.

Auch der Schutz vor Diskriminierung gemäß Art. 3Abs. 3 Grundgesetz gilt nicht nur für jeden Erwachse-nen, sondern auch für den Embryo. Die Tötung des Em-bryos verstößt also auch unter diesem Gesichtspunkt ge-gen die Verfassung.

Weil der Staat verpflichtet ist, die Grundrechte zuwahren, hat er mit dem Embryonenschutzgesetz Rege-lungen getroffen, die das Leben und die Integrität desEmbryos schützen sollen.

Die PID verstößt gegen die Regelungen des Embryo-nenschutzgesetzes. Mit der PID wird danach geforscht,welche der im Reagenzglas befruchteten Eizellen gene-tisch belastet sind. Es geht dabei allein darum, die mitgenetischen Fehlern behafteten Embryonen auszusortie-ren und sie nicht in den Uterus der Frau zu übertragen,sondern sie zu vernichten oder sonst wie dem Unterganganheimzugeben. Zu keinem anderen Zweck wird diePID eingesetzt. Sie ist, wenn sie Erbkrankheiten fest-

Page 186: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

stellt, das Todesurteil für den Embryo. Deshalb galt diePID in Deutschland gemäß dem Embryonenschutzgesetzals verboten.

Der Bundesgerichtshof hat jedoch mit seinem Urteilvom 6. Juli 2010 entschieden, dass die PID nicht gegendas Embryonenschutzgesetz verstößt. Die PID sei viel-mehr darauf gerichtet, eine Schwangerschaft herbeizu-führen. Dies ist jedoch eine völlige Verkennung der Ab-sicht, mit der die PID durchgeführt wird. Sie hat keinenanderen Sinn und Zweck, als die „schlechten Embryo-nen“ von den „guten“ zu trennen und sie dann zu ver-nichten. Es ist völlig unerklärlich, wie die Richter zu ei-ner solchen Verkennung der Logik der PID kommenkönnen. Ein falsches Urteil!

Ebenso ist der Hinweis des Gerichtes, dass es, weil esnach dem Embryonenschutzgesetz auch erlaubt sei, Sa-menzellen auszusondern, wenn Erbkrankheiten festge-stellt wurden, deshalb auch erlaubt sein müsse, Embryo-nen mit Erbfehlern auszusondern, nicht nachvollziehbar.Die Samenzelle ist kein Embryo. Zu dieser Unterschei-dung müsste der BGH eigentlich fähig sein.

Das Urteil des BGH zwingt aber dazu, gesetzlichklarzustellen, dass die PID in Deutschland verboten ist.Dabei kann aus Achtung vor dem Leben des Embryos imReagenzglas nur ein striktes Verbot der PID infragekommen. Durch die PID wird das Tor zu einer Qualitäts-kontrolle eröffnet. Am Ende geht es dann nicht mehr nurum die Aussonderung von erbkranken Embryonen, son-dern der Weg führt dann hin zur Geschlechtskontrolleoder zur Frage, welches Baby mit welchem Design esdenn sein darf.

Sicherlich will keiner der vorgelegten Gesetzentwürfeeine solch abartige Entwicklung gestatten. Man sollte je-doch den Anfängen wehren.

Das gilt auch für den Gesetzentwurf, der für eine engbegrenzte Zulassung der PID plädiert, wie von dem Gut-achten der Leopoldina vom 18. Januar 2011 vorgeschla-gen wird. Wer die Tötung zulässt, auch nur im begrenz-ten Umfang, öffnet das Tor, wie dies die Erfahrung ausder Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch lehrt.Dann ist kein Halten mehr. Was heißt schon „eng be-grenzte“ Zulassung der PID! Wo ist die Zulassung be-grenzt, und wo geht sie zu weit? Aber selbst wenn dieFälle der möglichen Zulassung gesetzlich genau festge-schrieben werden könnten, bliebe doch die Tatsache,dass ein unschuldiges menschliches Leben getötet wird.Niemandem aber darf das Leben genommen werden, nurweil er behindert ist.

Das Argument wird immer wieder bemüht, zwischendem Verbot der PID und dem Abtreibungsstrafrecht be-stehe ein „Wertungswiderspruch“. Der Embryo im Re-agenzglas werde besser geschützt als das Kind im Mut-terleib. Diese Argumentation ist falsch. Nach demAbtreibungsrecht existiert, wie bei dem Verbot der PIDauch, keine Erlaubnis, ein Kind, nur weil es behindertist, abzutreiben. Außerdem ist es sehr fraglich, ob diesehr problematische Abtreibungsregelung als Maßstabherangezogen werden darf.

Die Tötung eines unschuldigen Kindes durch Abtrei-bung kann nicht in irgendeiner Weise als ein „Wert“ an-gesehen werden, zu dem der Schutz des Embryos imReagenzglas im Wertungswiderspruch stehen kann. DieTötung eines unschuldigen Menschen und der Schutzdes Lebens sind unüberbrückbare Gegensätze, die sichin ihrem „Wert“ nicht widersprechen können, weil dieTötung eines Unschuldigen unter keinem Aspekt einWert ist. Dies wäre sonst ein Widerspruch zu unserer ge-samten Rechtsordnung.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Paare wün-schen sich eigene gesunde Kinder. Wir sollten respektie-ren, dass dies auch für Paare gilt, bei denen ein PartnerÜberträger einer schweren Erbkrankheit ist. Die Prä-implantationsdiagnostik (PID) kann für diese Paare eineHilfe darstellen, gesunde Kindern zu bekommen. Sie istgleichwohl keine Garantie dafür, denn niemand kann ge-sunde Kinder garantieren.

Der Bundesgerichtshof hat im Sommer des vergange-nen Jahres entschieden, dass in Deutschland nach dembis jetzt noch geltenden Recht die Präimplantations-diagnostik zulässig ist. Gleichzeitig hat der Gerichtshofden Bundestag aufgefordert, eine eigenständige recht-liche Regelung zu verabschieden. Das Gericht hatte auf-grund der Selbstanzeige eines Berliner Arztes entschie-den. Dieser hatte in 2005 bei drei Paaren, die mit demWunsch nach einem gesunden Kind zu ihm gekommenwaren, eine Präimplantationsdiagnostik durchgeführt.Einem Paar konnte er helfen.

Die Selbstanzeige des Berliner Arztes war ein Hilfe-ruf im Namen von Paaren, bei denen ein Partner Über-träger einer schweren Erbkrankheit ist. Ich bin froh, dassder Deutsche Bundestag jetzt auf dem Weg ist, über denzukünftigen Umgang mit der PID zu entscheiden. Ichsetze mich dafür ein, dass klare rechtliche Regelungenzur Zulassung der PID in begründeten Einzelfällen for-muliert werden. Die seit der Verabschiedung des Em-bryonenschutzgesetzes erfolgten Entwicklungen der Re-produktionsmedizin müssen im Gesetz berücksichtigtwerden.

Im Jahr 2009 wurden in Deutschland etwa 650 000Kinder geboren und 110 000 Schwangerschaftsabbrüchevorgenommen, darunter einige Hundert Spätabtreibun-gen als Folge der Ergebnisse der genetischen Pränatal-diagnostik. Schon 1999 hat die Bioethik-Kommissionvon Rheinland-Pfalz ausgeführt:

Es wäre ein Wertungswiderspruch, den Paaren, beidenen das Risiko der Übertragung eines Gendefektsfestgestellt wurde, die PID aus Rechtsgründen zuverwehren und dann diesen Paaren gleichwohl dieDurchführung der Pränataldiagnostik zu erlauben,die im Fall einer festgestellten Indikationslage zumSchwangerschaftsabbruch führen kann.

Eine humangenetische Beratung von Paaren hat esschon gegeben, als noch niemand an Untersuchungsme-thoden, die auf der Analyse des Genoms beruhen, über-haupt gedacht hat. Mit der Methode der Stammbaum-untersuchung ist schon vor mehreren Jahrzehnten

Page 187: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12117

(A) (C)

(D)(B)

festgestellt worden, dass bestimmte Krankheiten vererbtwerden und welcher Erbgang ihnen zugrunde liegt.Menschen aus Familien, in denen eine solche Disposi-tion gegeben ist, wissen in aller Regel darüber Bescheid.Deshalb meine ich, dass es keinen grundsätzlichen Un-terschied gibt zwischen der Entscheidung eines Paares,nach einer Pränataldiagnostik aufgrund einer festgestell-ten Erbkrankheit einen Schwangerschaftsabbruch durch-zuführen, und seiner Entscheidung, zur Vermeidung ei-nes erbkranken Kindes eine PID durchzuführen.

Die befruchtete Eizelle, die Zygote, kann sich nurdann zu einem Menschen entwickeln, wenn sie sich er-folgreich in der Gebärmutter einnistet. Menschliches Le-ben entsteht nur in enger Beziehung mit seiner Mutter.Die Zygote allein ist nicht lebensfähig, sie ist nicht auto-nom. Nur etwa 30 Prozent der menschlichen Zygotenüberleben unter natürlichen Bedingungen, die übrigensterben ab. Eine Zygote, die sich noch nicht in der Ge-bärmutter eingenistet hat, ganz unabhängig davon, ob sieunter natürlichen Bedingungen oder in der Petrischaleentstanden ist, kann daher nicht mit der Würde desGrundgesetzes ausgestattet sein.

In Großbritannien, Frankreich, Belgien und Polen istdie PID erlaubt. Dortige Erfahrungen zeigen, dass dieFurcht vor dem Designerbaby unbegründet ist. Ich kannnicht erkennen, warum dies in Deutschland anders seinsollte.

Menschen mit Behinderung sind in unserer Gesell-schaft willkommen und sollen auch in Zukunft willkom-men sein. Daran hat die Nutzung der Pränataldiagnostiknichts geändert und wird auch der Einsatz der Prä-implantationsdiagnostik nichts ändern.

Ich sehe keinen Grund, warum wir die PID verbietensollten. Ich meine, wir sollten die PID auch in Deutsch-land unter bestimmten Bedingungen zulassen. Ange-sichts der emotionalen Not von Paaren mit einer erb-lichen Belastung, die sich eigene Kinder wünschen,sollten wir für die Anwendung der PID einen rechtlichenRahmen schaffen. Die Eingrenzung der Zulassung derPID ist schwierig, aber diese Schwierigkeit kann keineBegründung für ein vollständiges Verbot sein. Ich binvielmehr dafür, mit dieser inzwischen entwickelten me-dizinischen Möglichkeit Paaren einen Weg zu öffnen,auf dem sie gesunde Kinder bekommen können, auchwenn sie Überträger schwerer Erbkrankheiten sind. Ichmeine, wir können Vertrauen in den verantwortungsvol-len Umgang von Eltern und Ärzten mit der PID haben.Deshalb gehöre ich zu den Mitunterzeichnern des Ge-setzentwurfs zur Regelung der Präimplantationsdiagnos-tik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG).

Maria Michalk (CDU/CSU): Die Präimplantations-diagnostik ist ein Verfahren zur technischen Optimie-rung der künstlichen Befruchtung. Medizinisch gesehenwürde die PID nach meinem Verständnis zu einem In-strument der Qualitätskontrolle für Embryonen werdenund zur Selektion führen – gewollt oder ungewollt.

Gesunde Kinder zu haben, ist ein uralter Mensch-heitswunsch. Deshalb hat sich medizinischer Fortschritt

von jeher auch mit Fragen der Optimierung von Schwan-gerschaft und Geburt befasst. Diesem Streben verdankenwir grundsätzlich auch heute noch unseren gewohntensehr hohen Standard in all diesen Fragen.

Doch der Mensch will immer mehr. Ich bin fest davonüberzeugt, dass die Entscheidung für oder gegen PID einMeilenstein für das Leben von uns Menschen hier aufdieser Erde sein wird.

Das Ringen um die bestmögliche Lösung wird strittiggeführt. Das ist gut so. Es geht letztlich darum, ob eineGesellschaft, in der der Staat darüber entscheidet oderandere, letztlich Fachleute, darüber entscheiden lässt,welches Leben gelebt werden darf und welches nicht,ihre Menschlichkeit verliert. Deshalb steht auch dieFrage dahinter, ob medizinischem Optimierungsbestre-ben Grenzen gesetzt werden müssen oder nicht.

4 bis 5 Prozent aller Kinder, die geboren werden,kommen mit einer chronischen Erkrankung oder Behin-derung zur Welt. Deren Existenzberechtigung verhan-deln wir hier. Diese Kinder würden bei einer einge-schränkten Zulassung der PID keine Chance haben, dasLicht der Welt zu erblicken. Ich kann mir gut vorstellen,dass Menschen, die mit einer Behinderung zur Welt ge-kommen sind und vielleicht heute unsere Debatte verfol-gen, unsere Argumente nicht nachvollziehen können.Denn sie müssen sich die Frage stellen, ob sie selbst un-ter diesen Umständen überhaupt auf dieser Welt wärenund nicht vorher aussortiert worden wären. Diese Frageist nicht nur schmerzhaft, sondern schlichtweg diskrimi-nierend.

Ich bin für die Positionierung des Deutschen Behinder-tenrates dankbar, denn wir wissen, dass auch unter denMenschen mit Behinderung eine sehr ernste und differen-zierte Diskussion geführt wird. Es darf keine Einteilungin lebenswertes und lebensunwertes Leben geben. Lebenmit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen isteine selbstverständliche Lebenswirklichkeit. Behinderungist kein persönliches Problem. Deshalb darf es keineSchuldzuschreibungen und Diskriminierungen von Men-schen mit Behinderung geben, auch nicht gegenüber denEltern.

Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe vonMenschen mit Behinderung in unserer Gemeinschaftmuss Selbstverständlichkeit werden und geht uns alle an.Familien mit behinderten Kindern, behinderte, chronischkranke und alte Menschen müssen selbstverständlichihre selbstbestimmte Lebensführung haben und dabeiunterstützt werden. Ihr Leben muss deutlich einfacherwerden. Notwendige Hilfen müssen individuell, passge-nau und vor allem ohne bürokratischen Aufwand erfol-gen. Auf diese Themen müssen wir uns noch viel mehrkonzentrieren.

Eine offene, tolerante Gesellschaft, die Menschen mitBehinderung von Anfang an in alle Lebensbereiche ein-bezieht – und das ist in Deutschland durchaus Realität –,muss am Ende dieser Debatte die Frage, ob und wie dieGeburt von Kindern mit einer möglichen Behinderungfrühzeitig verhindert wird, nach meiner festen Auffas-sung mit einem eindeutigen Nein beantworten.

Page 188: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Für mich persönlich steht das Nein zur PID fest. Ichlasse mich davon leiten, dass Leben mit der Verschmel-zung von Ei- und Samenzelle beginnt. Deshalb sind Ex-perimente ab diesem Stadium nach meiner christlichenÜberzeugung unzulässig. Trotzdem bleibt für die Wis-senschaft und Medizin ein großes Feld für mögliche Er-kenntnisse zum Wohl des Menschen.

Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Der Mann istschwerstkrank. Die Krankheit ALS zerfrisst sein Ner-vensystem. Die Gliedmaßen sind wie nutzlose Gewichte.Ein Luftröhrenschnitt nahm ihm die Stimme. Mimik undGestik sind erlahmt. Professor Stephen Hawking ist derbekannteste Astrophysiker der Welt. Sein gefesselterLeib ist ein schwerer Pflegefall. Aber sein Geist kannmühelos fliegen. Viele Millionen Menschen verehrenihn weltweit.

Mediziner vermuten hinter ALS eine Erbkrankheit.Sie nehmen an, dass mehrere defekte Genabschnitte fürdas Leiden verantwortlich zeichnen. Hawking wurde imJahre 1942 geboren. Zu jener Zeit war die Weitergabevon Erbinformationen noch nicht ausreichend begriffen.Niemand konnte wissen, dass Hawking einmal ALS be-kommen würde. Keiner wollte das verhindern. ZumGlück. Was wüssten wir heute über das Weltall, wennman Hawkings Erbanlagen aus einer Petrischale in denMüll geworfen hätte?

Genau das geschieht bei der Präimplantationsdiag-nostik (PID), über deren Zulässigkeit derzeit der Deut-sche Bundestag berät. Fraktionsübergreifend hat diesderzeit zu zwei Gruppenanträgen geführt. Der eine wirbtfür eine beschränkte Zulassung. Der zweite, den auchder Verfasser unterstützt, strebt ein Verbot der PID an.

Viele Paare sehnen die Legalisierung des PID-Verfah-rens herbei. Manche von ihnen haben bereits ein krankesoder behindertes Kind. Die PID kann ihnen den Wunschnach gesundem Nachwuchs erfüllen. Bei dem Verfahrenwerden mehrere Eizellen der Mutter künstlich mit denSpermien des Vaters befruchtet und dann nach drei Ta-gen untersucht. Nur die gesunden „Wunscheizellen“werden dann der Mutter zur Austragung verpflanzt. Al-les andere landet im Abfall. Befürworter des Verfahrensfinden dafür Argumente: Der Embryo sei in seiner Ur-form nicht mehr als ein Zellhäuflein. Doch das war Pro-fessor Hawking im Jahre 1941 auch. Jeder Mensch istschon am Anfang ein unersetzbares Unikat. Könnte ersich schon wehren, würde er sich Urteile über seinenWert und Unwert gefälligst verbitten.

Ein weiteres Argument lautet: Die PID sei gegenübereiner späteren Abtreibung der wesentlich schonerendeWeg. Die Mutter erhalte eine ziemliche Gewissheit aufein gesundes Kind und müsse später nicht ein krankesabtreiben. Das Argument ist kraftvoll, aber unlogisch.Dass Abtreibungen rechtlich möglich sein müssen, liegtan der notwendigen Abwägung zwischen dem seelischenLeid der schwangeren Mutter und der staatlichenSchutzpflicht gegenüber dem Embryo. Doch bei einerVorfelduntersuchung liegt noch gar keine Schwanger-schaft vor, die eine Frau belasten könnte. In der Petri-schale herrscht damit allein das ethische Gebot, das wer-

dende Leben zu schützen. Wer die PID mit denAbtreibungsregeln des Strafgesetzbuches rechtfertigenwill, begründet ein vermeidbares ethisches Desaster miteiner ganz anderen, unvermeidbaren ethischen Konflikt-lage. Ethik funktioniert anders. Sie strebt nach einerStärkung des ethischen Verhaltens, nicht nach der Recht-fertigung von mehr „Unethik“.

Befürworter der PID argumentieren schließlich, dierechtlichen Grenzen des Verfahrens seien in ihrem Ent-wurf klar abgesteckt. Die PID sei nur zulässig bei einer„hohen Wahrscheinlichkeit“ einer „schweren Erbkrank-heit“ oder im Falle der Verhinderung einer Tot- oderFehlgeburt. Doch offene Rechtsbegriffe sind die natür-lichen Feinde klarer ethischer Grenzen. Was ist eine„schwere“ Erbkrankheit? Wann ist eine Wahrscheinlich-keit „hoch“? Rechtsbegriffe, die man nur begreift, wennman über ihren Inhalt streitet, führen nicht selten zuDammbrüchen. Ist die PID einmal legal, wird sich „ge-ringe Wahrscheinlichkeit“ zu „ausreichender Wahr-scheinlichkeit“ aufschwingen. Was heute keine„schwere“ Erbkrankheit ist, wird morgen noch eine wer-den. Aus dem „Wunschkind“ wird schrittweise das „er-wünschte Kind“. Mit der Pipette gestaltet der Menschdie Evolution.

Alle Eltern wünschen sich starke, kluge, gutausse-hende und intelligente Kinder. Wir alle meinen zu wissen,was wir damit meinen. Dabei sind unsere Vorstellungenvon „unseren“ Kindern kulturell geprägt. Kultur ist demWandel unterworfen. Viele Jahrhunderte dominierte diemanuelle Arbeit. Folglich wünschten sich Eltern starkenund männlichen Nachwuchs. Heute schätzen wir weibli-chen und männlichen Nachwuchs gleichermaßen mit ho-her Intelligenz und Einfühlungsvermögen. Ein Jahrhun-dert zuvor wäre Hawking vermutlich verhungert. Heutenutzt er modernste Technik, um der Welt von seinen Ideenzu berichten.

Dazu kommt: Unser Wissen von den Erbanlagen istbestenfalls lückenhaft. Gene tragen in ihren Kombinatio-nen immer viele verschiedene Informationen. JederMangel kann eine Stärke zur Kehrseite haben. Mituntermendeln sich diese Stärken erst in vielen Folgegenera-tionen heraus – es sei denn, wir bewirken, dass schonihre ersten Träger nie das Licht der Welt erblicken.

Der Maler und Dichter Khalil Gibran schrieb: „DeineKinder sind nicht Deine Kinder. Sie sind die Söhne undTöchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Siekommen durch Dich, aber nicht von Dir, und obwohl siebei Dir sind, gehören sie Dir nicht. (…) Du bist [nur] derBogen, von dem Deine Kinder als lebende Pfeile ausge-schickt werden.“

Jeder Embryo, der eine PID-Untersuchung nicht über-steht, ist wie ein zerbrochener Pfeil.

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): In der heutigenersten Lesung wird das Gesetz zur Präimplantationsdia-gnostik beraten. Nachdem der BGH am 6. Juli 2010 ent-schieden hat, dass die gesetzliche Regelung im Embryo-nenschutzgesetz nicht hinreichend konkret ist, um einestrafrechtliche Verurteilung herbeizuführen – über ein

Page 189: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12119

(A) (C)

(D)(B)

generelles Verbot der Präimplantationsdiagnostik konnteder BGH gar nicht entscheiden –, hat der Gesetzgebernun die Verpflichtung, eine hinreichend konkrete Rege-lung zu schaffen. Bis zu dem Urteil des BGH war dieherrschende Meinung der Rechtswissenschaft, aber auchder Medizin und der Politik davon ausgegangen, dass diePräimplantationsdiagnostik in Deutschland verboten ist.Wenn dies nun nicht mehr klar ist, kann nach meinerMeinung eine Klärung dieser Situation nur durch einVerbot der Präimplantationsdiagnostik im Embryonen-schutzgesetz erfolgen, denn die Präimplantationsdia-gnostik ist mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar.

Das Recht auf Leben beginnt schon vor der Geburt,nämlich mit der Vereinigung von Ei- und Samenzelle.Ein Embryo ist selbstverständlich als Mensch anzuse-hen, ob im Mutterleib oder vor der Einschwemmung.Wer dies bezweifelt, zettelt eine Diskussion an, dieethisch und moralisch nach meiner Meinung unhaltbarist, da sie in Bezug auf den Wert von Menschenlebendifferenziert. Für mich darf es keine Abstufung zwi-schen dem Wert menschlichen Lebens geben.

Art. 1 Abs. 1 GG verbietet, einen Menschen wie eineSache zu behandeln. Der Artikel gilt auch für ungebore-nes Leben. Damit gilt die Menschenwürdegarantieebenso für Embryonen. Durch die Bevorzugung vonEmbryonen mit passenderen Eigenschaften werden dieseals bloßes Objekt behandelt, was mit der Menschenwür-degarantie nicht vereinbar ist. Erst recht werden die Em-bryonen zur Sache gemacht, die nicht genutzt wird, son-dern – wie es dann heißt – verworfen wird. Gemeint ist,sie wird vernichtet.

Weiterhin wird nicht nur gegen das Recht auf Lebenund körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1GG verstoßen, sondern auch gegen Art. 3 Abs. 3 GG, derdas Diskriminierungsverbot von Behinderten festlegt:Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligtwerden. Dabei dient die Präimplantationsdiagnostik demZweck, Embryos, bei denen eine Krankheit oder Behin-derung festgestellt wurde, zu verwerfen und ihnen dasRecht auf Leben zu verwehren. Lebenswertes und ver-meintlich lebensunwertes Leben werden bewusst un-gleich behandelt. Diese offenkundige Ungleichbehand-lung von gesunden und behinderten Menschen sowie dieDiskriminierung von Behinderten ist nicht mit unseremGrundgesetz vereinbar.

Somit bleibt für die Beantwortung der Frage, ob Prä-implantationsdiagnostik verboten werden soll oder nicht,aus verfassungsrechtlicher Sicht kein Spielraum. Dennletztlich treffen die Eltern und die verantwortlichen Me-diziner eine unumkehrbare Entscheidung über das Lebenoder den Tod eines Kindes. Wenn wir der Präimplanta-tionsdiagnostik die Tür auch nur einen Spalt öffnen, se-lektieren wir Leben nach seiner Qualität und werden einAusdehnen der Selektion auch in zukünftigen Diskussio-nen nicht mehr verhindern können.

Wenn die Präimplantationsdiagnostik zugelassenwird, bedeutet dies ein Legalisieren der Unterscheidungmenschlichen Lebens aufgrund einer Behinderung. EinSchwangerschaftsabbruch allein aufgrund einer Behin-derung ist nach der Reform des § 218 a StGB im Jahre

1995 verboten worden, um eine solche Diskriminierungzu verhindern. Der Gesetzgeber hat auch im Stammzell-gesetz festgelegt, dass es untersagt ist, embryonaleStammzellen einzuführen und zu verwenden, wenn derVerdacht einer genetischen Auswahl besteht und dieseEmbryonen verworfen werden.

Die Spirale, die „Pille danach“ und Schwanger-schaftsabbrüche generell werden häufig mit der Präim-plantationsdiagnostik verglichen. Dabei gibt es eineneindeutigen Unterschied: Die Spirale, die „Pille danach“und der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölfWochen selektieren nicht. Sie beenden eine Schwanger-schaft nicht aufgrund der möglichen Behinderung desKindes. Eine Gleichsetzung dieser unterschiedlichen Le-benssachverhalte ist einfach falsch, genauso wie ein sol-ches „Erst-recht-Argument“ insgesamt falsch ist. Eswürde schließlich bedeuten, wenn schon Abtreibungenmöglich sein sollen, dann ist es auch egal, dass Embryo-nen erzeugt werden, um einen erheblichen Teil von ih-nen zu töten. Statistische Erhebungen haben nämlichgezeigt, dass bei Anwendung der Präimplantationsdia-gnostik 33,7 Embryonen selektiert und verworfen wer-den und nur ein Embryo tatsächlich geboren wird.

Genauso bei Spätabbrüchen. Diese dürfen nicht auf-grund der Behinderung des Kindes durchgeführt werden,sondern werden nur noch in akuten Notsituationendurchgeführt. Besteht zum Beispiel akute körperlicheund seelische Gefahr für die Mutter, so ist ein Spätab-bruch der Schwangerschaft erlaubt. Diese Konfliktsitua-tion – Mutter oder Kind – ist im Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GGin den Vordergrund gerückt. Das ist keineswegs ver-gleichbar mit der Unterscheidung, wie sie bei der Prä-implantationsdiagnostik durchgeführt wird.

Wenn wir die Präimplantationsdiagnostik verbieten,dann werden die Forscher und Mediziner andere Wegefinden, um Familien die Geburt eines gesunden Kindeszu ermöglichen, etwa über die Polkörperchendiagnostik,bei der nicht Embryos, sondern Eizellen untersucht undselektiert werden.

Das ist ein Unterschied, denn dann würde kein Em-bryo – und damit ein Mensch im frühen Stadium – ver-worfen, also zerstört. Ich sehe hier eine vergleichbareEntwicklung wie bei der embryonalen Stammzellfor-schung, die nun auch keiner in der Wissenschaft mehrzwingend fordert.

Ich werbe aus all diesen Gründen nachdrücklich fürein Verbot der Präimplantationsdiagnostik. UnterstützenSie daher bitte mit mir den entsprechenden Antrag.

Jens Spahn (CDU/CSU): Ich weiß, dass es – wiegerade deutlich geworden ist – in diesem Hause ganz un-terschiedliche Auffassungen zum Thema Präimplanta-tionsdiagnostik gibt. Daher bin ich dankbar dafür, dasswir uns dafür mit der nötigen Zeit darüber austauschenkönnen und diese Debatte auch mit der nötigen Ernsthaf-tigkeit führen.

Wer mit Paaren, mit Frauen und Männern, die einegenetische Veranlagung zu schwersten Erkrankungenhaben, über ihren Kinderwunsch, ihr Schicksal, ihre Ver-

Page 190: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

zweiflung gesprochen hat, der kann und der darf sicheine solche Entscheidung heute nicht leicht machen. Erwird, er muss fast mit dieser Entscheidung hadern. Erweiß aber auch, dass er um diese Entscheidung nicht he-rumkommt, dass er diese Entscheidung treffen muss.

Aus meiner Sicht muss der über allem stehendeGrundsatz dabei sein, dass im Zweifel für das Leben ent-schieden wird und bei Unsicherheit größtmögliche Si-cherheit für das Leben gesucht wird.

Hier gibt es viele Zweifel. Einige sind schon ange-sprochen worden, Ich habe zum einen Zweifel, dass esbei dem einmal definierten Ausnahmekatalog bleibt. Esist ja schon gefragt worden: Wer soll ihn definieren? DerBundestag? Oder soll dieser die Entscheidung auslagernund an andere delegieren? Sich für bestimmte Kriterienzu entscheiden, heißt, andere auszuschließen. Ich unter-stelle niemandem – ich glaube, darum geht es auchnicht –, dass es ihm um Designbabys, um die Frage derAugenfarbe oder ähnliche Dinge geht. Ich habe aberschon die Sorge, dass eine positive Entscheidung zwarnicht zu einem Dammbruch, aber doch zu einem lang-sam anschwellenden Fluss führt, sodass wir, wenn wirheute einmal das Tor geöffnet haben, die Dinge am Endenicht mehr werden aufhalten können.

Ich habe zum Zweiten Zweifel – das ist auch schonangeklungen – weil auch die PID keine hundertprozen-tige Sicherheit bringt. Trotz PID besteht das Risiko, dassdas Kind später krank ist. Ist der Druck, ist das Leid ineinem solchen Fall nicht noch viel größer und noch vielstärker?

Ich habe auch Zweifel, weil für eine PID bis zu40 Embryonen gebraucht werden. Was passiert mit denanderen, die nicht eingepflanzt werden? Wer wollte da-rüber entscheiden?

Ich bin der Überzeugung: Was manchmal als Zell-klumpen bezeichnet wird, das hat das Potenzial, ja, dasist aus meiner Sicht menschliches Leben, und wer wollteüber die Chance, die Wertigkeit dieses Lebens entschei-den? Ich jedenfalls – egal, was andere Länder da ent-schieden haben – will das nicht, und ich denke, es ist ei-nem anderen, Höheren vorbehalten, das zu entscheiden.

Im Übrigen denke ich auch, dass gerade der Embryoin der Petrischale, weil sein Potenzial, sein Leben-Seineben nicht augenfällig ist, vielleicht nicht auf den erstenBlick zu erkennen ist, einen noch höheren Schutzbraucht, ein noch größeres Maß an Sicherheit und Zu-rückhaltung in der Frage, was wir regeln. Gerade deswe-gen sollten wir an die PID mit größter Bedachtheit he-rangehen.

Auch sehe ich da keinen Wertungswiderspruch zurAbtreibung, wie er hier schon mehrfach angesprochenworden ist. Bei der PID geht es voll und ganz und unmit-telbar um den Schutz des Embryos in der Petrischale,dessen Leben-Sein – ich habe es schon gesagt – nicht au-genfällig ist. Beim Schwangerschaftsabbruch geht es imKern um die konflikthafte Situation, um die schwierigeLebenslage der Mutter, wo der Embryo natürlich mittel-bar auch eine Rolle spielt; aber es ist eine andere Aus-gangslage. Muss nicht eigentlich die Entwicklung, die

wir beim Schwangerschaftsabbruch haben, die ja aucheinmal mit strengsten und striktesten Kriterien begonnenhat, muss nicht diese Praxis, wie wir sie heute beimSchwangerschaftsabbruch zum Teil haben, wenigerleuchtendes Beispiel als vielmehr Mahnmal dafür sein,was passiert, wenn man einmal bei der Entscheidung, diewir heute treffen, die Tür geöffnet hat?

Deswegen: In dubio pro vita, im Zweifel für das Le-ben. Ich möchte Sie bitten, heute für ein Verbot der PIDzu stimmen.

Stephan Thomae (FDP): In der ethisch heiklenFrage der Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, treffenin diesem Hohen Hause gegensätzliche Auffassungenaufeinander. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom5. Juli 2010 macht deutlich, dass die PID nicht notwen-digerweise gegen das Embryonenschutzgesetz verstößt.Ich möchte ausdrücklich den Antrag unterstützen, denmaßgeblich meine Fraktionskollegin Ulrike Flach aufden Weg gebracht hat, und der insbesondere von denKolleginnen Dr. Carola Reimann (SPD), Dr. Petra Sitte(Linke) und den Kollegen Staatssekretär Peter Hintze(CDU) und Jerzy Montag (Bündnis 90/Grüne) mitgetra-gen wird. Bei allem Respekt vor anderen Standpunktensprechen viele Gründe für diese Position:

Ziel der PID ist, was das Embryonenschutzgesetz for-dert, nämlich eine Schwangerschaft herbeizuführen. In-sofern fördert die Zulassung der PID den Entschluss vonEltern, die sich ohne eine solche Untersuchungsmethodegegen ein Kind oder – weil sie vielleicht bereits ein Kindmit einer ererbten Krankheit oder Behinderung habenoder aufgrund dessen bereits ein Kind verloren haben –gegen ein weiteres Kind entscheiden würden. VielePaare, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, aber auf-grund erblicher Vorbelastung Angst vor einer Tot- oderFehlgeburt oder vor der Geburt eines todkranken Kindeshaben, sehen in der PID eine Chance. Bislang konntensolche Paare allenfalls auf dem Wege der Pränataldia-gnostik, kurz PND, feststellen, ob der Embryo im Mut-terleib an einem genetischen Defekt leidet. In solchenFällen waren die Eltern vor die Wahl gestellt, dieSchwangerschaft abzubrechen oder nicht. Ein Schwan-gerschaftsabbruch aufgrund einer PND-Diagnose ist ins-besondere für die Schwangere jedoch mit wesentlichschwereren psychischen und physischen Belastungenverbunden als die Verwerfung einer Blastozyste in derPetrischale. Bislang bot sich allenfalls für solche Paare,die es sich leisten können, die Möglichkeit zur PID imAusland. Die Zulassung der PID beseitigt deshalb auchden Widerspruch, dass zwar Präimplantationsdiagnoseeiner Blastozyste in der Petrischale verboten, aber derSchwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Schwanger-schaftswoche und unter bestimmten Voraussetzungensogar die Spätabtreibung nach einer Pränataldiagnosezulässig ist. Dieser Widerspruch kann weder moralischnoch juristisch aufgelöst werden.

Auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes ungebo-renen Lebens ist es nicht die PID, die einem Lebenskeimdas Lebensrecht entzieht oder zu einer Verschlechterungdes Embryonenschutzes führt. Die Blastozyste ist außer-

Page 191: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12121

(A) (C)

(D)(B)

halb des Mutterleibes nicht in der Lage, sich zu einemEmbryo weiterzuentwickeln. Schon heute aber steht esder Mutter auch ohne PID frei, zu entscheiden, ob siesich die Blastozyste einpflanzen lässt oder den Keimverwirft.

Genauso wenig kann Bedenken gefolgt werden, diePID gefährde die Bereitschaft der Gesellschaft, Kindermit Behinderungen zu akzeptieren. Weder ist eine solcheEntwicklung in Ländern zu beobachten, welche die PIDkennen, noch hat in Deutschland die Zulassung desSchwangerschaftsabbruchs nach einer PND eine solcheWirkung hervorgerufen. Die Integration und Inklusionvon Menschen mit Behinderungen war – trotz PID undPND – nie so groß wie heute.

Erlauben Sie mir abschließend eine höchstpersönlicheSchlussbemerkung: Neben diesen eher vernunftgeleite-ten Überlegungen wurde ich selbst nicht zuletzt beimBesuch eines Kinderhospizes in meiner eigenen All-gäuer Heimat in meinem Entschluss bestärkt. Das Kin-derhospiz begleitet Kinder und deren Familien ab demZeitpunkt der Todesdiagnose eines Kindes oder Jugend-lichen bis zu dessen Tod. In einigen Fällen müssen El-tern schon das zweite, in einigen wenigen Fällen sogargleichzeitig zwei todgeweihte Kinder dort auf ihremletzten, manchmal langen Weg begleiten. Ich bin der tie-fen Überzeugung, dass das Recht Paaren mit erblicherBelastung zumindest die Möglichkeit einräumen muss,Ja oder erneut Ja zu einem Kind zu sagen, ohne ihnendieses Leid und diesen Schmerz zuzumuten oder einweiteres Mal zuzumuten.

Bei allem Respekt vor jeder anderen Überzeugunghabe ich mich aus diesen rechtlichen und ethischenÜberlegungen entschieden, für den Entwurf eines Geset-zes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik nachdem Entwurf meiner Fraktionskollegin Ulrike Flach zustimmen.

Johanna Voß (DIE LINKE): Meine grundsätzlicheÜberzeugung besteht darin, dass jedes Leben, auch das„behinderte“, ein Recht darauf hat, beschützt zu werden.

Bei der PID geht es aber nicht um das Recht auf Le-ben. Vor allem geht es auch nicht um die Abwägung ver-schiedener Rechtsgüter, wie zum Beispiel den Schutzder Mutter, so wie das bei einem Schwangerschafts-abbruch der Fall wäre. Und selbst beim Schwanger-schaftsabbruch dürfen mit Recht eventuelle Behinderun-gen des Kindes nicht die entscheidende alleinige Rollespielen. Da geht es nur um die Abwägung der Rechte derMutter gegenüber dem Kind.

Die Präimplantationsdiagnostik ist die extremsteForm der Selektion, da möglichst viele Embryonen er-zeugt werden, um wenigstens einige transplantierbareauslesen zu können. Der einzige Zweck der PID ist aber,Leben zu eliminieren, das weniger wert zu sein scheint;wir hatten in der deutschen Geschichte dafür schon ein-mal den Begriff des „unwerten Lebens“. Die PID spie-gelt wider, wie Leben heute in der Gesellschaft bewertetwird: Den vollen Wert hat da nur der Mensch, der imVollbesitz aller nutzbaren Kräfte ist. Für Behinderungen

ist kein Platz, und dementsprechend miserabel ist auchdie Fürsorge und Hilfe für Behinderte und deren Eltern.

Insofern geht die PID von der völlig falschen Seite andie Problematik heran. Ja, für Eltern, die sich gegen PIDentscheiden und für ein eventuell behindertes oder kran-kes Kind, wird das Leben noch schwerer werden. Zu denohnehin zu erwartenden Einschränkungen wird starkersozialer Druck hinzukommen: Man hätte das Leben die-ses Kindes ja schon in der Petrischale beenden können.Die Folge wird sein: noch weniger Mittel und Hilfen,noch größere Ausgrenzung für Kinder und deren Eltern.

Andere negative Aspekte der PID will ich hier nurkurz erwähnen. Die Beteuerung der Befürworter, PIDnur in Ausnahmefällen zulassen zu wollen, ist längst vonder Realität überholt worden. In der Praxis werden ganzandere Bedürfnisse als die ursprünglich behaupteten ge-schürt. In Fachzeitschriften wie Human Reproduction istnachzulesen (Nr. 1 von 2002), dass PID zum Beispielsehr häufig allein der Geschlechtsbestimmung dient,ohne dass ein erhöhtes Risiko zur Übertragung einervererbbaren Krankheit vorlag. Man nennt das „socialsexing“. Die Begehrlichkeiten der Industrie zeigen sichjetzt schon in den weiterentwickelten Verfahren vonPID, wenn untersuchte Zellen mit „entkernten“ Maus-eizellen geklont werden. Es fehlt nur noch die Herstel-lung von Embryonen als „Ersatzteillager“. Selbst wennForscher nur die Gesundheit des Kindes im Auge haben,dann vergessen sie zu leicht, dass die PID und die Wei-terentwicklung des „therapeutischen Klonens“ den Men-schen aufs Gröbste instrumentalisiert. Selbst wenn dasZiel ethisch zu rechtfertigen wäre, der Weg ist es auf kei-nen Fall.

Wir müssen völlig neu bedenken, welchen Irrweg wirmit dieser Bevorzugung des perfekten Menschen be-schreiten, und dann auch mehr Hilfe bereitstellen für die,die Hilfe brauchen; denn jeder Mensch, der in diemenschliche Gesellschaft hineingeboren wird, hat An-recht auf ihren Schutz und auf ihre Hilfe.

Die PID scheint mir nur ein weiterer Schritt zu seinauf dem Weg, sich aus der besonderen Verantwortungfür den Menschen, nicht nur für den behinderten, zu ver-abschieden.

Wolfgang Zöller (CDU/CSU): In der Frage über denkünftigen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik,PID, geht es um eine politische Grundsatzentscheidung.Es geht vor allem um die Frage, ob wir ein elementaresMenschenrecht, das Recht auf Leben auch für ungebo-rene Kinder, zur Disposition stellen – aber auch darum,dass wir den staatlichen Schutzauftrag gegen die Diskri-minierung von Menschen mit Behinderung infrage stel-len. Mit einer Zulassung der PID würde dies meinerMeinung nach geschehen. Es würde unser Wertgefügenachhaltig beschädigen. Nicht alles technisch Machbaredient letztendlich einer menschlichen Gesellschaft.

Ich setze mich seit vielen Jahren für den Schutz desungeborenen Lebens ein. Denn für mich ist das sich ent-wickelnde Leben von Anfang an schützenswert. Undnach meiner Auffassung hat niemand das Recht, über die

Page 192: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Existenz eines ungeborenen Kindes zu entscheiden, auchnicht wenn eine genetische Erkrankung droht.

Jeder Abgeordnete steht in der Tat vor einer Gewis-sensentscheidung. Als zweifacher Familienvater unddreifacher Großvater verstehe ich den verständlichenWunsch betroffener Paare nach einem eigenen gesundenKind nur zu gut. Für mich hat jedoch das uneinge-schränkte Lebensrecht eines jeden Menschen, ob gebo-ren oder ungeboren, ganz klar Vorrang.

Wer die PID zulässt – und sei es auch nur begrenzt –,der eröffnet zwangsläufig damit eine Diskussion über le-benswertes und nicht lebenswertes Leben. Für mich gibtes jedoch kein lebensunwertes Leben – egal ob vor derGeburt, ob als behinderter, ob als alter oder schwerkran-ker Mensch.

Eine Öffnung der PID für bestimmte Diagnosen istkeine Lösung. Die Erfahrungen aus dem Ausland zeigendie dann einsetzende Ausweitung der Anwendungsberei-che der PID.

Eine solche Bewertung würde sich erheblich auf dasgesamte gesellschaftliche Zusammenleben und auf dieEinstellung anderer Menschen auswirken. Es wirdhöchste Zeit, dass wir uns wieder mehr auf christlicheGrundwerte besinnen und auch danach handeln.

Die durch Legalisierung der PID gesetzlich legiti-mierte Selektion vor Beginn der Schwangerschaft wäreein Paradigmenwechsel. Die Akzeptanz für das Verfah-ren, auf Probe erzeugte Embryos mit einer bestimmtenErkrankung oder Behinderung aussortieren zu können,stellt damit einen Angriff auf die Würde eines jedenMenschen mit Erkrankungen oder Behinderungen dar.

Eine Zulassung der PID würde auf potenzielle Elterngroßen sozialen Druck ausüben, diese Möglichkeit inAnspruch zu nehmen. Ansonsten müssten sie sich ja zu-nehmend rechtfertigen, wenn sie die PID zunächst ab-lehnen und dann ihr Kind mit Beeinträchtigungen zurWelt kommt. Bereits jetzt berichten Eltern von schwerkranken oder behinderten Kindern von Diskriminierun-gen, mit denen sie konfrontiert sind.

Krankheiten sowie körperliche und geistige Beein-trächtigungen sind jedoch ein Bestandteil des Lebensund werden dies auch künftig sein. Der Staat hat diePflicht, vor Diskriminierung zu schützen und das Le-bensrecht zu verteidigen.

Aus all diesen Gründen werde ich für ein striktesPID-Verbot stimmen.

Willi Zylajew (CDU/CSU): Jede und jeder in diesemHohen Haus ist sich der Tragweite unserer heutigen De-batte und der anstehenden Abstimmung in einigen Wo-chen bewusst. Einleitend möchte ich sagen, dass ich inder Sache eine klare Position habe, die ich vor meinemGewissen, vor Gott und den Menschen, dem geborenenund ungeborenen Leben verantworten kann. Diese festePosition in einer bedeutenden Entscheidung schmälertaber nicht meinen Respekt vor den Mitmenschen, diesich in der Sache anders entscheiden.

Meine Einstellung wurde untermauert in Gesprächenmit Eltern von Kindern mit Behinderungen, Ärzten,Geistlichen und Fachkräften aus der Schwangerschafts-beratung. Seit einigen Jahrzehnten beschäftigt mich alsFamilienvater und Sozialarbeiter, Politiker und Christdie Frage der Verschiebung von Werten beim Schutz desungeborenen Lebens. Diese Verschiebung von Werten,die Verschiebung von gesetzlichen Schutzvorschriftenist ein bedeutendes Thema, vor allem, wenn ein Teil derBetroffenen seine Position nicht darstellen kann. WieMenschen mit Behinderungen zu den Änderungsvorstel-lungen stehen, die auf Grundlage einer Reduzierung vonSchutzvorschriften für ungeborenes Leben, wie es nunzur Beratung steht, nicht das Licht der Welt erblickt hät-ten, bleibt weitgehend unberücksichtigt.

Wir stehen in der Pflicht, das ungeborene Leben vorder Verringerung seiner Rechte zu schützen. Die Selek-tion von menschlichem Leben ist für mich völlig inak-zeptabel, weder in einem frühen Stadium noch in einemspäteren. Daher stimme ich für ein umfassendes gesetzli-ches Verbot der Präimplantationsdiagnostik.

Dabei bin ich mir des Leidensdrucks von Paaren mitder individuellen Erfahrung einer eigenen Erkrankungoder von Tot- oder Fehlgeburten bewusst. Aber eine Le-galisierung der PID ermöglicht eine gesetzlich legiti-mierte Selektion bereits vor Beginn der Schwanger-schaft. Unsere Gesellschaft verliert ihre Menschlichkeit,wenn sie einen Paradigmenwechsel zulässt, der darüberentscheidet, welches Leben gelebt werden darf und wel-ches nicht.

Das medizinisch Machbare zur Gesundung von kran-ken und behinderten Mitmenschen ist das eine, das me-dizinisch Mögliche als Grundlage für die Auswahl vonlebenswerten und nicht lebenswerten Embryonen das an-dere. Und genau dort liegt für mich die Grenze. EineGrenze, die wir nicht überschreiten dürfen.

Lassen Sie uns mit der gebotenen Ruhe und Sachlich-keit das Für und Wider bedenken. Es mag sein, dass diePID für manch einen nur ein kleiner Schritt bei der wei-teren Nutzung medizinischer Möglichkeiten zu seinscheint. Für mich wäre eine Zulassung der PID, auch un-ter engen Beschränkungen, ein überaus großer Verstoßgegen den Wert und die Unversehrtheit menschlichenLebens. Ich wiederhole, es wäre der Schritt über eineGrenze, die bislang von Staat und Gesellschaft bis zumSommer letzten Jahres anerkannt wurde. Ist dieseGrenze einmal überschritten, wird dies weitere Wünscheund Ansprüche zur Beseitigung von Lebensschutz zurFolge haben.

Meine Position möchte ich abschließend mit einemZitat meines Kreisdechanten Achim Brennecke aus demRhein-Erft-Kreis zusammenfassen:

Bereits seit meiner Schulzeit in den 60er Jahren hatsich mir der erste Satz unseres Grundgesetzes tiefeingeprägt: „Die Würde des Menschen ist unantast-bar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtungaller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 GG) Diese Würdedes Menschen beginnt nicht irgendwann, sondernbesteht bei allen Menschen seit Beginn des Lebens,

Page 193: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12123

(A) (C)

(D)(B)

wenn Ei und Samenzelle verschmelzen und zu ei-nem Menschen werden. Diese Würde behält derMensch auch bis zum Ende seines Lebens. Deshalbgilt es für Kirchen, Gesellschaft und Staat, dieseWürde von Anfang bis Ende zu schützen. Eine Prä-implantationsdiagnostik macht den Menschen zumObjekt und öffnet einer Selektion, gewollt oder un-gewollt, Tor und Tür, was die Würde des Menschenmehr als antastet. Es wäre ein Dammbruch, dessenAuswirkungen nicht abzusehen sind. Aus christli-chem Verständnis des Menschen als Ebenbild Got-tes lehne ich die zur Verhandlung stehende PID abund setze mich für die Verteidigung der Würde desMenschen ein.

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung:

– Beschlussempfehlung und Bericht: Stärkungder humanitären Lage in Afghanistan undder partnerschaftlichen Kooperation mitNichtregierungsorganisationen

– Beschlussempfehlung und Bericht: Für ei-nen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- undHochschulsystems in Afghanistan

(Tagesordnungspunkt 13 a und b)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Am 26. Februar 2010hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit einneues Mandat für den Afghanistan-Einsatz erteilt. Mitdiesem Mandat war ein Strategiewechsel verbunden, derdie zivilen Anstrengungen in Afghanistan besser einbettetund aufwertet. Dies ging einher mit einer Quasiverdoppe-lung der Gelder, die wir für den zivilen Aufbau Afghani-stans im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeitzur Verfügung stellen. Dadurch wird sehr deutlich, wirmeinen es ernst.

Dies alles ist eingebettet in die Vereinbarungen derLondoner Afghanistan-Konferenz vom Januar 2010, aufder sich die internationale Gemeinschaft zu einem besserabgestimmten und stärkeren Engagement beim langfris-tigen zivilen Aufbau Afghanistans verständigt hat.

Für diesen Strategiewechsel gab es gute Gründe. Af-ghanistans Entwicklung leidet unter den schwachen Or-ganisationsstrukturen, ausufernder Korruption, mangeln-den Monitoringinstrumenten und schwach ausgeprägtemVerantwortungsbewusstsein einiger Spitzen der Adminis-tration. Vieles von dem hatte ich bereits in meiner Redezur Regierungserklärung zum Fortschrittsbericht zurLage in Afghanistan am 21. Januar 2011 bemängelt; alldas wird auch im vorliegenden Antrag von der SPD be-mängelt, und dem stimmen wir natürlich zu.

Darüber hinaus finden sich im Antrag viele Allgemein-plätze und Forderungen, die von der Bundesregierung oh-nehin schon umgesetzt werden, wie beispielsweise zumProvincial Development Fund.

Und leider finden sich im Antrag auch einige Forde-rungen, die linker Ideologie geschuldet sind, aber mit derRealität in Afghanistan nichts zu tun haben. Im Gegen-teil: Sie sind für die Betroffenen vor Ort brandgefährlich!So heißt es im Antrag: „Eine erzwungene Vermischungvon humanitärer Hilfe und militärischem Einsatz lehnenwir ab.“ Oder an anderer Stelle: „Kontraproduktiv für dieEntwicklungszusammenarbeit [ist es]…, zivile Aufbau-arbeit und Militär stärker zu verknüpfen“.

Solche Vorwürfe sind polemisch, und BundesministerNiebel weist sie zurecht als „Desinformation“ zurück.Wer so etwas fordert, will damit in der Öffentlichkeit nurbillig punkten, hat aber nicht begriffen, worum es in Af-ghanistan eigentlich geht: Es geht darum, dass wir esschaffen müssen, dass Hilfsorganisationen schneller dortvor Ort sind, wo militärische Operationen zur Sicherungvon Gebieten stattgefunden haben. Nur so spüren dieMenschen in den geschützten Regionen eine Friedens-dividende, die ihnen hilft, mittel- und langfristig zu sta-bilen und gesicherten Lebensverhältnissen zu kommen.Das gelingt nur, wenn die NGOs auch über die entspre-chenden Operationen frühzeitig informiert werden, da-mit sie ihre Programme darauf ausrichten und in den ge-sicherten Gebiete arbeiten können.

Dieses Konzept wird von den NGOs nicht nur mitge-tragen, sondern auch angenommen und umgesetzt. Daswird allein schon daran deutlich, dass die 10 MillionenEuro, die für private Träger im Rahmen des vernetztenAnsatzes ausgeschrieben waren, schnell ausgeschöpftwurden. Daher werden für dieses Jahr weitere 10 Millio-nen Euro zur Verfügung gestellt, um diesen erfolgver-sprechenden Ansatz weiter zu unterstützen. Das sind wirnicht nur den Afghanen schuldig, sondern auch den Ent-wicklungshelfern selbst. Sie brauchen für eine erfolgrei-che Arbeit ein sicheres Umfeld. Daher ist die Entkoppe-lung von zivilem Aufbau und militärischem Engagementein denkbar schlechter Ansatz, um eine nachhaltige Ent-wicklung in Afghanistan zu unterstützen.

Noch mehr: Ich wüsste nicht, ob unser Land mit gutemGewissen das Engagement von Aufbauhelfern in Afgha-nistan weiter in Anspruch nehmen könnte, ohne die ohne-hin schon riskanten Arbeitsbedingungen unnötig zu ver-schärfen. Wie prekär diese sind, zeigt allein der Anschlagauf das UN-Hauptquartier im nordafghanischen Mazar-i-Scharif, dem am vorletzten Freitag elf Menschen zumOpfer gefallen sind.

Daher sollten wir alles tun, was erforderlich ist, umdie Sicherheit unserer Entwicklungsfachkräfte sicherzu-stellen. Realitätsferne und ideologiebeladene Debattenüber das Verhältnis unserer Soldaten und Entwicklungs-experten in Afghanistan bringen uns nicht weiter – imGegenteil: Wir tragen als Parlamentarier auch für die Si-cherheit unserer Fachkräfte vor Ort Verantwortung –,und mit solchen Debatten werden wir ihr nicht gerecht.

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Wie ich an die-ser Stelle bereits mehrfach ausgeführt habe, ist die engeVerzahnung ziviler und militärischer Mittel der Schlüs-sel zum Erfolg in Afghanistan. Beide sind zwei Seiteneiner Medaille, die ohne einander nicht denkbar sind.

Page 194: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Wenn wir die Voraussetzung dafür schaffen wollen, dieVerantwortung nach und nach in afghanische Hände zulegen, müssen wir den zivilen Aufbau weiterhin unter-stützen. Wir können unser militärisches Engagement nurdann zurückfahren, wenn wir unser ziviles Engagementverstärken. Darauf kommt es zunehmend an.

Der heute unter TOP 13 zur Debatte stehende Antragder SPD-Fraktion zur „Stärkung der humanitären Lagein Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperationmit Nichtregierungsorganisationen“ und der Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen „Für einen nachhalti-gen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Af-ghanistan“ behandeln beide die zivile Seite des Wieder-aufbaus. Da Kollegin Pfeiffer auf den Antrag der SPD-Fraktion eingeht, beschränke ich mich hier auf den An-trag von Bündnis 90/Die Grünen.

Ihr Antrag verlangt eine erhebliche Verstärkung desdeutschen Engagements in der Bildungsförderung. Siebemängeln, das deutsche Engagement bleibe in seinemUmfang hinter dem tatsächlichen Bedarf zurück. Des-halb fordern Sie eine Fülle von umfangreichen und kos-tenintensiven Einzelmaßnahmen zum Ausbau des Bil-dungs- und Hochschulsystems.

Lassen Sie mich dazu kurz festhalten: Ich stimme ab-solut mit Ihnen überein, dass Bildung der Schlüssel fürProsperität, Wachstum, Versöhnung und Stabilität in Af-ghanistan ist. Darüber sind wir uns alle einig.

Ihr Versuch, mit dem Antrag Defizite deutscher Poli-tik herbeizureden, geht jedoch an der Realität vorbei. Ichteile überhaupt nicht Ihre Ansicht, dass unser Engage-ment im Bildungsbereich defizitär ist.

Wir sollten uns noch einmal vor Augen führen, dassdas afghanische Bildungswesen in den Jahren des Bür-gerkriegs und unter den bildungsfeindlichen Talibanweitgehend kollabiert war. Zahlreiche Schulen wurdenzerstört. Mädchen und Frauen waren fast vollständigvom Zugang zu Bildungseinrichtungen ausgeschlossen.Dies hat sich grundlegend geändert. Seit dem Ende derTalibanherrschaft zeigen sich insbesondere im Bereichder Grundbildung beachtenswerte Erfolge.

Erlauben Sie mir den Verweis auf den Fortschrittsbe-richt der Bundesregierung zu Afghanistan: Die Einschu-lungsrate hat zwischen 2005 und 2007/08 von 37 Prozentauf 52 Prozent zugenommen, die Alphabetisierungsratebei den 15- bis 24-Jährigen von 31 Prozent auf 39 Pro-zent. Neben der Versiebenfachung der Anzahl der afgha-nischen Schülerinnen und Schüler von rund 1 Million imJahr 2001 auf rund 7 Millionen 2010 stieg der Anteil derSchülerinnen in Grundschulen von 0 Prozent im Jahr2001 auf 38 Prozent 2008. Der Frauenanteil der an allge-meinbildenden Schulen unterrichtenden Lehrkräfte liegtmittlerweile bei 29 Prozent. Sie finden heute Frauen inafghanischen Universitäten, im Parlament und im Kabi-nett.

Natürlich gibt es immer noch erhebliche Defizite.Dennoch sind die bislang erreichten Erfolge viel besserals erwartet und umfassendem internationalen Engage-ment zu verdanken. Gerade unser deutsches Engagement

hat zu diesen Erfolgen in entscheidendem Maße beige-tragen.

Die Bundesregierung engagiert sich unter anderem imSchulsektor, bei der Lehrerausbildung, bei der Förde-rung von Deutsch als Fremdsprache und bei der Alpha-betisierung und Erwachsenenbildung. Es gibt zahlreichePartnerschaften zwischen deutschen und afghanischenUniversitäten. Der Deutsche Akademische Austausch-dienst, DAAD, hat seit 2002 etwa 950 Stipendien verge-ben.

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, dasswir unser Engagement in Afghanistan als eine Aufgabevon besonderem nationalem Interesse verstehen. Diesgilt auch für unser Engagement im Bildungsbereich, daswir uns bereits heute einiges kosten lassen. Ich verdeutli-che Ihnen dies anhand folgender Zahlen:

Das BMZ hat von 2002 bis 2010 insgesamt rund70,5 Millionen Euro in die Grundbildung und rund29,5 Millionen Euro in die berufliche Bildung in Afgha-nistan investiert. Das AA hat seit 2002 über 30 Schulenaus Mitteln des Stabilitätspakts neu gebaut und Hundertevon Schulen mit Ausstattungsmaterial, Zelten sowie klei-nen Baumaßnahmen unterstützt. Allein im Jahr 2010konnte durch die Erhöhung der Mittel im Bildungsbe-reich der Bau von über 20 Schulen begonnen werden.2009 wurden dafür rund 1,15 Millionen Euro für die Aus-bildung afghanischer Lehrer bereitgestellt, zwischen2002 und 2009 insgesamt 12,4 Millionen Euro. Das BMZhat im Zeitraum 2009 bis 2010 einen signifikanten Bei-trag zum nationalen Bildungsprogramm der afghanischenRegierung in Höhe von 20 Millionen Euro geleistet. DerHochschulbereich wurde zwischen 2002 und 2009 mitrund 17 Millionen Euro aus dem Stabilitätspakt des AAunterstützt. 2010 sind es annähernd 4 Millionen Euro.Das sind keine Peanuts, sondern substanzielle Summen.

So wie Heidegger sagte, Sprache ist das Gehäuse desMenschen, gestaltet Bildung dieses Gehäuse aus. Geradewir Deutschen mit unserer großen bildungspolitischenKompetenz sind in der Verantwortung, an die jahrzehn-telang andauernde deutsch-afghanische Bildungspartner-schaft anzuknüpfen. Genau das machen wir aber bereitsdurch unser Engagement. Wir folgen deshalb der Be-schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses undlehnen Ihren Antrag ab.

Burkhard Lischka (SPD): Wir befassen uns heutemit einem Antrag, den wir als SPD-Bundestagsfraktionbereits vor zehn Monaten in den Deutschen Bundestageingebracht haben. Der zivile Aufbau Afghanistans, Ge-sundheit, Bildung, Beschäftigung, Lebensperspektiven,Menschen- und Frauenrechte, all das thematisiert dieserAntrag. Und wir wissen: All das sind Schlüsselbegriffe,wenn es um die Zukunft Afghanistans geht. Es warenSchlüsselbegriffe vor knapp einem Jahr, als wir diesenAntrag gestellt haben, und sie sind es bis heute geblie-ben.

Ja, es gibt Fortschritte in Afghanistan: bei der Infra-struktur, in der Bildung, bei der Gesundheitsversorgung.Aber wir treten eben auch in vielen Bereichen seit Jahren

Page 195: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12125

(A) (C)

(D)(B)

auf der Stelle. Und – wer wollte das leugnen? – es gibtauch Rückschritte.

Herr Niebel, als Sie vor einigen Wochen hier imDeutschen Bundestag eine Regierungserklärung zu Af-ghanistan abgegeben haben, da sagten Sie: „Wer heutean den Hindukusch kommt, der sieht: Die Kinder lassenwieder Drachen steigen.“ Die Lebensfreude fasse wiederFuß in Afghanistan, meinten Sie.

Ich weiß nicht, Herr Niebel, was Sie gedacht haben,als vor wenigen Tagen sieben UN-Mitarbeiter in Mazar-i-Scharif gelyncht wurden, als ein deutscher Entwick-lungshelfer Ende des vergangenen Jahres bei seiner Ar-beit getötet wurde. Ich weiß nicht, was Sie empfundenhaben, als wir vor einigen Wochen erfahren mussten,dass im vergangenen Jahr fast 3 000 Zivilisten – mehrals je zuvor – in Afghanistan ums Leben gekommensind. Mit „einer Fuß fassenden Lebensfreude“ hat all dassicherlich nichts zu tun.

Herr Niebel, ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie auchauf die Fortschritte, die wir in Afghanistan haben, ver-weisen. Nochmals: Ja, die gibt es. Ich verlange aber vonIhnen als verantwortlicher Minister, dass Sie schonungs-los und offen auch die Probleme und die Rückschrittebenennen, mit denen wir es auch in Afghanistan zu tunhaben, und dass Sie Strategien und Konzepte entwickelnund hier im Deutschen Bundestag vorlegen, wie wirdiese Probleme überwinden können. Das ist Ihre Auf-gabe als zuständiger Minister, Herr Niebel. Und da sindSie in der Vergangenheit leider vieles, vieles schuldiggeblieben. Wo ist Ihre zukunftsfeste Strategie, HerrNiebel? Ich sehe sie nicht.

Zehn Jahre nach Beginn des Einsatzes wissen wir:Viele Hoffnungen, die weite Teile der afghanischen Be-völkerung mit dem Beginn des Einsatzes verknüpft hat-ten, wurden enttäuscht. Die anfängliche Begeisterung istviel zu oft inzwischen umgeschlagen in Frustration, Ab-lehnung, teilweise sogar offene Feindschaft. Woran liegtdas? Was für Fehler haben wir in der Vergangenheit ge-macht? Wie können wir aus diesen Fehlern für die Zu-kunft lernen? Welche Maßnahmen und Projekte habensich demgegenüber als erfolgreich herausgestellt? Wiekönnen wir diese Ansätze verstärken und ausbauen?

Die Beantwortung dieser Fragen ist entscheidend,wenn wir mithelfen wollen, dass die Menschen in Af-ghanistan wieder Perspektiven für sich und ihre Kindersehen sollen, wenn sie wieder Hoffnung schöpfen sollen,wenn sie an ihre Zukunft denken.

Deshalb brauchen wir eine unabhängige und fachkun-dige Analyse und Evaluation unseres bisherigen Engage-ments. Das aber verweigern Sie bis zum heutigen Tag.Das werden Sie auch heute Abend wieder verweigern,wenn Sie unseren Antrag ablehnen, der genau dies ein-fordert. Angesichts der Rückschläge und der Probleme,die wir in Afghanistan haben, ist das unverständlich.Und ich sage deutlich: Es ist auch politisch verantwor-tungslos.

Politisch verantwortungslos ist es auch, Herr Niebel,wenn Sie jetzt immer noch einfordern, die in Afghanistantätigen Hilfsorganisationen müssten näher an das Militär

heranrücken und würden nur dann unterstützt, wenn siemit dem Militär zusammenarbeiten. Wissen Sie, HerrNiebel, ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn eine Or-ganisation aus freien Stücken für sich die Entscheidungtrifft, mit dem Militär zu kooperieren. Ich habe aber etwasdagegen, wenn Sie auch alle anderen Organisationen indieses Korsett zwingen wollen, selbst dann, wenn diesesagen: Das gefährdet unsere Projekte. Das gefährdet un-sere Mitarbeitet. Das gefährdet diejenigen Afghanen, diebei uns Hilfe suchen. – Und wenn Sie dann Hilfsorgani-sationen, die ihre Sorge öffentlich machen, auch nochDesinformation vorwerfen, dann ist das ein starkes Stück.

Desinformation, Herr Niebel, ist es, wenn Sie dieserTage im Tagesspiegel behaupten, Hilfsorganisationen,die frühzeitig über militärische Operationen informiertseien, könnten ihre Planungen darauf einstellen unddann schneller in Gebieten tätig werden, in denen vorherKampfhandlungen stattgefunden haben. So aber funktio-niert Entwicklungshilfe nicht, Herr Niebel, weil dieHilfsorganisationen gerade dann als Partei eines Bürger-krieges wahrgenommen werden und nicht als neutrale,unabhängige Helfer. Ihr Vorhaben, die Hilfsorganisatio-nen unter ein sicherheitspolitisches Primat zu stellen, istfalsch, Herr Niebel. Deshalb geben Sie es auf!

Wenn ein Antrag wie dieser fast ein Jahr durch dieGremien des Deutschen Bundestags unterwegs ist, dannkann zweierlei passieren:

Erste Möglichkeit: Der Antrag setzt Staub an. Oder,zweite Möglichkeit: Er kann – quasi unfreiwillig – sehrdeutlich machen, wie lange eine Sache schon im Argenliegt. So wie hier, wo Sie seit einem Jahr versuchen, un-abhängige Hilfsorganisationen in eine politische und mi-litärische Gesamtstrategie einzubinden. Nur, Herr Niebel:Das ist gefährlich. Denn die Hilfsorganisationen werdenauch dann noch auf Jahre und Jahrzehnte in Afghanistanarbeiten, wenn sich die Militärs längst zurückgezogen ha-ben. Aber sie sind dann darauf angewiesen, dass ihre Ar-beit in puncto Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeitnicht vorher diskreditiert wurde.

Deshalb: Hören Sie auf mit dieser Politik! Sie be-schwert und behindert den Aufbau Afghanistans über2014 hinaus, also in einer Zeit, wo Sie keine Verantwor-tung mehr tragen.

Harald Leibrecht (FDP): Die Bundesregierung hatmit Unterstützung der Koalitionsfraktionen eine Neujus-tierung des deutschen Afghanistan-Engagements vorge-nommen. Wir haben einen Wechsel hin zu einem stärke-ren zivilen Wiederaufbau vollzogen und haben uns auchauf internationaler Ebene mit dem Ansatz durchgesetzt,dass der Afghanistan-Einsatz nicht rein militärisch zugewinnen ist. Unser militärisches Engagement wird nurnachhaltig erfolgreich sein, wenn wir es mit größerenAnstrengungen zur Entwicklung des Landes verbinden.

Afghanistan ist ein Land, das jahrzehntelang vonKriegen gebeutelt wurde, in dem staatliche Strukturennur schwach ausgeprägt sind und das durch die Wirrendes Krieges in seiner Entwicklung weit zurückgeworfenwurde. Afghanistan belegt im aktuellen Index zur

Page 196: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen,HDI, den vorletzten Platz von 182 Ländern. Ein Großteilder Bevölkerung lebt in Armut. Deshalb kann ich Ihnennur zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, wenn Sie in Ihrem Antrag darauf aufmerksam ma-chen, dass die Herausforderungen in Afghanistan enormsind.

Deutschland stellt sich seiner Verantwortung für Af-ghanistan und die internationale Sicherheit. Wir habendie Mittel für das zivile Engagement in Afghanistan aufinsgesamt 430 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt unddamit im Vergleich zum Jahr 2008 verdoppelt. Wir solltendie Herausforderungen und Probleme in Afghanistannicht kleinreden, aber wir sollten auch die Fortschrittenicht ausblenden, die für viele Menschen spürbare Ver-besserungen in ihrem Alltag mit sich bringen. Die Kin-dersterblichkeit ist signifikant gesunken, und wir müssenuns weiter engagieren, damit sie weiter sinkt. Die Anzahlder Kinderheiraten (unter 15 Jahre) ist von 11 Prozent auf3 Prozent zurückgegangen. 7 Millionen Mädchen undJungen wurden eingeschult, darunter ein Drittel Mäd-chen. In den nordafghanischen Provinzen, wo die deut-sche Entwicklungszusammenarbeit schwerpunktmäßigtätig ist, haben wir die höchsten Einschulungsraten inganz Afghanistan. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommenhat sich seit Beginn des internationalen Einsatzes vonrund 175 auf circa 460 US-Dollar erhöht. Um diese Er-folge nicht zu gefährden, wird die deutsche Entwick-lungszusammenarbeit selbstverständlich auch nach Ab-zug der Bundeswehr weiter in Afghanistan aktiv sein.

Die Bundesregierung hat ihr Engagement in Afgha-nistan spürbar verstärkt, aber sie stellt auch Anforderun-gen an die afghanische Regierung, was beispielsweisedie Bekämpfung von Korruption und gute Regierungs-führung angeht. Der Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung Dirk Niebel hat beiseinem Besuch in Afghanistan vor knapp zwei Wochenzunächst nur Zusagen über die erste Hälfte der für 2011im BMZ-Haushalt vorgesehen Mittel in Höhe von240 Millionen Euro gemacht. Die Auszahlung der zwei-ten Tranche hat Dirk Niebel an messbare Fortschritte beider Regierungsführung geknüpft. Der Bundesentwick-lungsminister hat die ausdrückliche Unterstützung mei-ner Fraktion. Denn wir dürfen im Sinne der hilfebedürf-tigen Menschen in Afghanistan und der deutschenSteuerzahler Misswirtschaft und Korruption nicht dul-den.

Der hier vorliegende Antrag der SPD-Fraktion ist ineinigen Punkten bereits überholt. So haben wir mit demProvincial Development Fund mittlerweile ein Instru-ment, das sich dem Thema ländliche Entwicklung wid-met und gleichzeitig lokale demokratische Entschei-dungsverfahren fördert.

Ein weiterer Grund, weshalb die FDP-Fraktion demAntrag nicht zustimmen kann, ist, dass er sich grundsätz-lich gegen das Konzept der vernetzten Sicherheit aus-spricht. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenunterstützen dieses Konzept, weil die Entwicklungser-folge nachweislich dort am größten sind, wo die Sicher-heitslage stabil ist. Die SPD-Fraktion kommt ja selbst zu

dem Schluss, dass sich Sicherheit und Entwicklung ge-genseitig bedingen.

Nichtregierungsorganisationen leisten einen wichti-gen Beitrag zum Aufbau des Landes. Ihre Arbeit ist da-bei mit großen Risiken behaftet. Die Bundesregierungfördert deren Tätigkeiten deshalb vorrangig dort, wo derSchwerpunkt des deutschen Engagements liegt, also imNorden. Dabei geht es nicht um eine Unterordnung zivi-ler Kompetenzen unter militärische Prämissen, sondernum eine bessere Zusammenarbeit und Abstimmung vonzivilem und militärischem Engagement. Es gibt Organi-sationen, die dieses Potenzial erkannt haben, wie zumBeispiel die Stuttgarter Initiative Kinderberg Internatio-nal.

Die Bundesregierung hat die Unterstützung von Nicht-regierungsorganisationen im Jahr 2010 deutlich gestärkt.Mit dem NRO-Fazilitätsfonds wurden im Jahr 201010 Millionen Euro für die Förderung von Projekten pri-vater deutscher Träger zur Verfügung gestellt. Im letztenJahr wurden die bereitgestellten Mittel vollständig abge-rufen. Ich denke, dies zeigt, dass wir der Kooperation mitNichtregierungsorganisationen eine hohe Bedeutung zu-messen. Auch 2011 stellen wir erneut 10 Millionen Eurofür die NRO-Fazilität zur Verfügung.

Um in Afghanistan nachhaltige Erfolge zu bewirken,müssen alle beteiligten Akteure koordiniert und ziel-orientiert zusammenarbeiten. Dies gilt für die staatlicheEntwicklungszusammenarbeit, für die Bundeswehr undfür nichtstaatliche Akteure gleichermaßen. Wenn alle aneinem Strang ziehen, können wir in Afghanistan konkreteFortschritte erzielen, die den Menschen vor Ort zugutekommen.

Heike Hänsel (DIE LINKE): Im Parlament und inder Öffentlichkeit werden die Demokratiebewegungenin Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländernmit viel Sympathie begleitet. Kaum jemand aber sprichtüber die politische Situation in Afghanistan. Es wird inder Öffentlichkeit und den Medien übersehen und auchgezielt ignoriert, dass es auch in Afghanistan demokrati-sche und soziale zivilgesellschaftliche Kräfte gibt, diesich gegen das Karzai-Regime und die NATO-Besatzungwenden und dafür auch in immer größerer Zahl auf dieStraße gehen. So zum Beispiel Ende Februar, als in derProvinz Kunar durch eine NATO-Bombardierung63 Menschen getötet wurden, darunter 50 Zivilisten. Siesind davon überzeugt, dass diese Befreiung nur von denAfghaninnen und Afghanen selbst kommen kann undnicht durch Bomben. Diese zivilgesellschaftlichenKräfte sind keine bezahlten NGOs, sondern größtenteilsehrenamtliche Organisationen, Frauenrechtsbewegun-gen, Studentengruppen, Menschenrechtsgruppen undOpfervertreter und -vertreterinnen.

Im Januar dieses Jahres hatte die Fraktion Die Linkezehn Afghaninnen und Afghanen in Berlin zu Gast, umauf der Konferenz „Das andere Afghanistan“ Perspekti-ven für eine friedliche und demokratische Entwicklungzu diskutieren. Sie kritisierten, dass die westlichen Regie-rungen seit 2001 einseitig prowestliche fundamentalisti-sche Kräfte in ihrem Land gestärkt haben, die nach mili-

Page 197: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12127

(A) (C)

(D)(B)

tärischen und geostrategischen Interessen ausgesuchtwurden. Bei der Petersberger Konferenz 2001 und derKabuler Konferenz 2010 waren maßgeblich Kriegsver-brecher, Warlords und andere Personen eingeladen, dieBlut an den Händen haben; kritische zivilgesellschaftli-che Kräfte aber waren nicht beteiligt. Sie erfahren auchkeinen Schutz und keine Unterstützung, sondern sind Op-fer von Anschlägen, müssen oft im Geheimen agierenund bleiben bei wichtigen politischen Verhandlungen au-ßen vor. Dies ist ein Skandal!

Deshalb werden wir gemeinsam mit Friedensgruppenim Herbst anlässlich der zweiten Petersberger Konferenzdiese kriegskritischen Stimmen aus Afghanistan sichtbarmachen.

Seit zehn Jahren herrscht Krieg in Afghanistan, Mil-liarden von Euro fließen in diesen Krieg. Nach Berech-nungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschungvon 2010 kostet die Fortsetzung des Bundeswehreinsat-zes in Afghanistan Deutschland rund 3 Milliarden Europro Jahr. Insgesamt dürfte dem DIW zufolge die deut-sche Beteiligung am Afghanistan-Krieg etwa 36 Milliar-den Euro kosten.

Währenddessen ist die humanitäre Lage in Afghanistangleichbleibend schlecht. Afghanistan liegt auf Platz 181und damit auf dem vorletzten Platz des Human Develop-ment Index (HDI). Rund 80 Prozent der Frauen und60 Prozent der Männer sind Analphabeten, weniger als19 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu medizini-scher Versorgung und sauberem Wasser. Laut Weltbankliegt die Säuglingssterblichkeit bei 199 Kinder pro 1 000Geburten. Sie ist damit 50-mal so hoch wie in Deutsch-land. Die Armut wächst, Hunger bedroht mehr als einDrittel der afghanischen Bevölkerung.

Erfolge in der Entwicklungszusammenarbeit werdendurch den Krieg konterkariert. Die Zahl der zivilen Op-fer steigt seit 2006 dramatisch an. Auch die Zahl derMenschen, die vor den Kriegshandlungen fliehen, steigtweiter an. Im Human Development Index heißt es, dasssich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen – das istjeder zehnte Einwohner – auf der Flucht befinden, oftohne ausreichende humanitäre und gesundheitliche Ver-sorgung. Auch ein Bericht der International Crisis Groupbemängelt, dass der Krieg den Zugang der afghanischenBevölkerung zu Gesundheitsversorgung, Bildung undanderen sozialen Dienstleistungen stark eingeschränkthat. Angriffe auf Schulen, zum Beispiel das Abbrennenoder erzwungene Schließen von Schulen, die Verwen-dung von Schulen für militärische Zwecke sowie Dro-hungen gegen das Lehrerpersonal und Schülerinnen undSchüler nehmen zu.

In ihrem Antrag fordern die Grünen, dass der Aufbaudes afghanischen Bildungssystems unterstützt werdensoll und Mittel für Bildungsprojekte verdoppelt werdensollen.

Unsere Fraktion lehnt diesen Antrag ab. Der Bil-dungsansatz entspricht eher einer Elitenbildung und istdamit weit entfernt von dem Grundsatz „Bildung füralle“. Zudem wird der militärische Schutz von Bildungs-einrichtungen erwogen und trägt so zur gefährlichen

Vermischung zwischen Zivilem und Militärischem bei.Nach Angaben von NGOs sind zivile Projekte und Schu-len nämlich durch die Nähe des Militärs eher gefährdetdenn geschützt.

Die SPD-Fraktion kommt in ihrem Antrag zu der fa-talen Fehleinschätzung, dass der ISAF-Einsatz dazu bei-trage, in Afghanistan ein sicheres Umfeld für den zivilenAufbau und Entwicklung zu schaffen. Das Gegenteil istrichtig: Der Militäreinsatz muss beendet werden, damitsich überhaupt erst eine Perspektive für eine friedlicheund soziale Entwicklung eröffnen kann. Mit dem ISAF-Einsatz sind Wiederaufbau, Demokratie und Sicherheitin weite Ferne gerückt. Wir teilen allerdings die Forde-rung des SPD-Antrags, die humanitäre Hilfe stärker aufländliche Räume auszurichten und nicht nur auf die Re-gionen mit militärischer Bedeutung für die NATO-Trup-pen zu konzentrieren. Seit langem fordern wir: Entwick-lungshilfe muss dort stattfinden, wo Bedarf für dieBevölkerung besteht, nicht für die Bundeswehr! Es freutuns, dass mittlerweile auch die SPD-Fraktion zu dieserErkenntnis gekommen ist.

Die NATO ist ein Unsicherheitsfaktor in Afghanistan.Der Bombenangriff bei Kunduz im Jahr 2009 hat dies inaller Deutlichkeit gezeigt. Die Linke fordert deshalb densofortigen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan.Nur wenn die Waffen schweigen und die afghanischenKonfliktparteien in einen politischen Friedens- und Aus-söhnungsprozess eingebunden werden, kann der Wieder-aufbau erfolgreich sein.

Wir fordern dazu auf, die friedlichen zivilgesell-schaftlichen Kräfte endlich wahrzunehmen und ihre For-derungen zu unterstützen. Die Bundesregierung samt ih-rer Vorgängerregierungen hat jahrelang zahlreichediktatorische Regime im arabischen Raum unterstütztund militärisch aufgerüstet. Jetzt werden sie aufgrunddes starken Drucks aus der Bevölkerung nach und nachfallengelassen. Doch gleichzeitig geht die Unterstützungfür das korrupte Karzai-Regime und zahlreiche krimi-nelle Kriegsfürsten in Afghanistan weiter. Diese Politikist in höchstem Masse unglaubwürdig.

Wer also eine wirkliche Verbesserung der humanitä-ren Lage in Afghanistan erreichen will und die Interes-sen der Bevölkerung ernst nimmt, muss diesen Krieg be-enden und die Bundeswehr aus Afghanistan abziehen,nicht erst 2014 sondern sofort.

Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Siekönnen sich vorstellen, wie mich der Angriff auf die UNam vergangenen 1. April getroffen hat. Als ich dort gear-beitet habe, war es mein schlimmster Alptraum, dass ge-nau das passieren könnte, was jetzt in Mazar-i-Scharifpassiert ist. Ich trauere um meine ermordeten Kollegin-nen und Kollegen, die zivilen UN-Mitarbeiter und ihretapferen nepalesischen Guards. Mein Beileid gilt ihrenFamilien und Freunden, mein Respekt allen Kollegender UNAMA-Mission, die sich trotz allem weiter in Af-ghanistan für Menschenrechte und Frieden einsetzen.

Ich habe in Afghanistan und anderen UN-Missionenviele Reformen begleitet: Polizeiaufbau, Verwaltungs-

Page 198: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

aufbau, Justizreformen. Es gab auch viele Erfolge, aberdie Erfolge, die nachhaltig Wirkung erzielt hatten, warenalle Bildungserfolge. Das gilt auch in Afghanistan: Fastalles, was die Sowjets in ihren 20 Jahren Einfluss undzehn Jahren Besetzung errichtet haben, ist zertrümmert.Aber wenn man heute in Kabul einen Kinderarzt trifft,dann ist er in aller Regel unter den Sowjets ausgebildetworden. Von den vielen Modernisierungsprojekten derSowjets ist nur das geblieben.

Es ist nicht alles schlecht in Afghanistan. Wir habenimmer betont, was gut ist. Wer von den guten Dingen inAfghanistan spricht, der spricht von den Schulen. Das istein Ansatz, der gerade in der Grundbildung gelungen ist,der wichtig ist, der von uns erwartet wird und bei demwir Expertise bieten können. Ich kann nicht verstehen,dass wir diesem Ansatz nicht stärker und konsequenterverfolgen. Warum haben wir ein großes schönesEU-POL-Headquarter gebaut, aber in der Schule gegen-über ist seit Jahren das Dach undicht? Wie kann es sein,dass zwei von fünf Schülerinnen im Freien unterrichtetwerden müssen?

Wie erklären wir, dass wir für die Förderung der af-ghanischen Sekundarschulen von 2002 bis 2009 ebensoviel Geld ausgegeben haben, wie wir im Monat für denErhalt des Wehrmaterials? Warum lassen wir zu, dassdas Goethe-Institut und die Amani-Oberrealschule inKabul verfallen? In dieser Schule saßen seit 1924 dieKinder der Elite Afghanistans – und nicht nur die wirt-schaftliche, auch die intellektuelle Elite – auf der Schul-bank; jetzt verfällt das Gebäude. Andere Staaten reno-vieren und vergrößern ihre Bildungsinstitutionen inAfghanistan, wir machen nichts. Warum ist das Büro desDeutschen Akademischen Austauschdienstes in Kabulseit Monaten unbesetzt? Warum wird es jetzt offenbarganz geschlossen?

Warum kürzen wir die wenigen Stipendien- und Aus-tauschprogramme zwischen deutschen und afghanischenUniversitäten? Warum geben wir 430 Millionen Euro fürzivile Hilfe in Afghanistan aus, aber nur 2,3 Millionenfür die Hochschulförderung? Allein die University ofMassachusetts erhält von den USA 6,8 Millionen Eurofür die Austauschprogramme mit Afghanistan – also dasDreifache von dem, was wir für die gesamte Universi-tätskooperation ausgeben. Gerade bei den Universitätenist die deutsche Zurückhaltung unbegreiflich. Dort, anden Universitäten, wird die Bildungs- und Verwaltungs-elite Afghanistans ausgebildet. Von dort kommen dieMenschen, die bald den Staat lenken und die Gesell-schaft prägen werden. Doch auch zehn Jahre nach demFall der Taliban sind die Universitäten in einem erbärm-lichen Zustand. Laut dem zuständigem Ministerium sindnur 134 der 2 572 Lehrenden promoviert. Warum habenwir denen nicht schon längst Stipendien angeboten? An-dere Staaten sind da aktiver, der Iran allen voran.

Es gibt einzelne gute deutsche Projekte: zum Beispieldie Ausbildungsprogramme von Professor WilhelmLöwenstein, die Kooperationen zur Curriculum-Reformoder die IT-Projekte von Dr. Peroz. Warum man solcheAnsätze nicht vervielfältigt hat, das will ich nicht verste-hen. Dass man aber selbst diese Erfolgsprojekte nicht

angemessen finanziert, ist einfach empörend. Sie sindLeuchttürme, die das Elend der deutschen Hochschulför-derung beleuchten. Sie zeigen, was alles möglich wäre,wenn der politische Wille vorhanden wäre.

Jedes Mal, wenn ich in Afghanistan bin, fragt manmich, worauf wir eigentlich warten. Nicht nur dieNGOs, die Studentinnen und Studenten, die Lehrenden,sondern auch das Ministerium wünscht sich mehr Enga-gement Deutschlands. Wir gelten dort als Vorbild für dasakademische System, von uns will man lernen, wie manUniversitäten organisiert. Es geht dabei nicht nur umGeld. Die Afghanen wollen vor allem Beratung und Ex-pertise. Warum sträuben wir uns? Seit zehn Jahren wol-len wir in Afghanistan einen Staat, in dem die Menschenmehr Zeit in Schulen und Universitäten verbringen als inKasernen. Dieses Ziel sollte auch darin deutlich werden,wie wir unsere Förderungen gewichten. Der Erfolg derAfghanistan-Mission hängt nicht so sehr davon ab, obgenug und ausreichend qualifiziertes Personal für Armeeund Polizei vorhanden ist. Wichtiger ist, dass die Afgha-nen Tag für Tag friedlich und gerecht miteinander umge-hen – auch dann, wenn kein Polizist in der Nähe ist. Bil-dung ist hierfür eine entscheidende Voraussetzung.

Aus drei Gründen sind wir in Afghanistan aktiv: Wirwollen dort Frieden und Demokratie. Wir wollen verhin-dern, dass Terror wächst. Und wir wollen die Beziehun-gen zu unseren Bündnispartnern pflegen. Für alle dreiZiele ist Bildung ein sehr gutes Mittel. Wenn wir da wei-ter zaudern und knausern, bleibt nach 2014, dem Abzugunserer Kampftruppen, vom deutschen Engagement inAfghanistan so wenig wie von den großen Staudamm-projekten der 1930er- und 1960er-Jahre – nämlichnichts.

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes gegenden Handel mit illegal eingeschlagenem Holz(Holzhandels-Sicherungs-Gesetz – HolzSiG) (Ta-gesordnungspunkt 12)

Alois Gerig (CDU/CSU): Die weltweite Zerstörungder Wälder nimmt dramatische Ausmaße an: Jährlich ge-hen auf unserer Erde rund 13 Millionen Hektar Waldverloren; das entspricht mehr als der gesamten Waldflä-che Deutschlands. Durch Waldzerstörungen verschwin-den nicht nur wertvolle Lebensräume für Tiere undPflanzen; auch die für den Klimaschutz notwenige Koh-lenstoffspeicherung der Wälder wird erheblich abge-senkt. Waldzerstörungen tragen mit rund 20 Prozent zuden globalen Emissionen von Treibhausgasen bei.

Eine wichtige Ursache für die weltweiten Waldzerstö-rungen ist der illegale Holzeinschlag insbesondere in denTropen. In Deutschland und anderen Ländern Europasist der illegale Holzeinschlag in der Regel kein ausge-prägtes Problem. Wahr ist aber auch, dass Europa einwichtiger Markt für Holz aus anderen Teilen Welt ist –auch für Holz aus illegalem Einschlag. Das Johann-

Page 199: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12129

(A) (C)

(D)(B)

Heinrich-von-Thünen-Institut hat ermittelt, dass 10 bis18 Prozent des Holzes, das zwischen der EU und Dritt-ländern gehandelt wird, aus illegalem Einschlag stammt.Für Deutschland wird davon ausgegangen, dass 3 bis6 Prozent aller Holzeinfuhren illegaler Herkunft sind.

Damit unsere Nachfrage nach Holz nicht zu Waldzer-störungen anderswo beiträgt, müssen wir dem Handelmit illegal geschlagenem Holz einen Riegel vorschieben.Aufgrund der überragenden Bedeutung der Wälder fürdie Biodiversität und den Klimaschutz muss der Wald-zerstörung Einhalt geboten werden. Die EuropäischeUnion hat sich dieser Aufgabe angenommen: Mit demAktionsplan „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung undHandel im Forstsektor“, Forest Law Enforcement, Go-vernance and Trade – FLEGT, will die EU Holzimportebesser kontrollieren und den illegalen Holzeinschlag be-kämpfen.

Zentrale Bausteine des FLEGT-Aktionsplans sindzwei Verordnungen: Im vergangenen Jahr wurde vomEuropäischen Parlament und vom Rat die EU-Holzhan-delsverordnung beschlossen, die das Inverkehrbringenvon illegal geschlagenem Holz verbietet. Zudem werdenden Marktteilnehmern bestimmte Sorgfaltspflichten vor-geschrieben.

Bereits aus dem Jahr 2005 stammt eine weitere Ver-ordnung, die Holzeinfuhren aus den Partnerländern derEU regelt. Um die letztgenannte Verordnung in Deutsch-land umzusetzen, hat die Bundesregierung das Holzhan-dels-Sicherungs-Gesetz vorgelegt, das wir heute ab-schließend beraten.

Mit dem Holzhandels-Sicherungs-Gesetz wollen wirdie erforderlichen Regelungen schaffen, damit deutscheBehörden Holzlieferungen aus den Partnerländern derEU kontrollieren können. Partnerländer sind derzeitGhana, Kamerun, Kongo und die ZentralafrikanischeRepublik. Im Rahmen von freiwilligen Partnerschaftsab-kommen hilft die EU den Partnerländern dabei, dass nurlegal geschlagenes Holz auf den Markt gelangen kannund die Forstwirtschaft an den Prinzipien der Nachhal-tigkeit ausgerichtet wird. Im Gegenzug können die Part-nerländer nur noch Holz in die EU einführen, das legalgeschlagen wurde. Die Legalität wird durch eine soge-nannte FLEGT-Genehmigung nachgewiesen, die bei derEinfuhr in die EU von den zuständigen Behörden derMitgliedstaaten kontrolliert wird. Das Holzhandels-Si-cherungs-Gesetz sieht vor, dass die Kontrollen inDeutschland vom Bundesamt für Landwirtschaft und Er-nährung, BLE, und von den Zollbehörden durchgeführtwerden.

Aus meiner Sicht sind die freiwilligen Partnerschafts-abkommen und die Einführung des FLEGT-Genehmi-gungssystems der richtige Ansatz: Europa stellt nichteinseitige Gebote auf, sondern leistet Hilfestellung, umvor Ort eine legale und nachhaltige Waldbewirtschaf-tung aufzubauen. Dies ist eine wichtige Maßnahme ge-gen den Raubbau am Wald. Nur wenn sich eine legaleund nachhaltige Waldnutzung wirtschaftlich lohnt, be-stehen auch Anreize, die Wälder auf Dauer zu erhalten.Ziel muss es sein, dass die Holzwirtschaft in den Part-nerländern langfristig zur Existenzsicherung der Men-

schen beitragen kann, die im und vom Wald leben. FürHandel, Holzverarbeiter und Endverbraucher in Europabringt die Einführung der FLEGT-Genehmigung mehrSicherheit, dass Holz aus den Partnerländern legal ge-schlagen wurde.

Damit möglichst viele Holzeinfuhren in die EU unterdie FLEGT-Genehmigung fallen, ist es wünschenswert,dass mit mehr Holzlieferländern Partnerschaftsabkom-men geschlossen werden. Die Partnerschaftsabkommenmit Ghana, Kamerun, Kongo und der Zentralafrikani-schen Republik können nur ein Anfang sein. Sicher istnicht zu erwarten, dass mit allen Holzlieferländern Part-nerschaftsabkommen vereinbart werden können. Ausdiesem Grund ist es äußerst wichtig, die bereits ange-sprochene EU-Holzhandelsverordnung auch umzuset-zen. Um den illegalen Holzeinschlag einzudämmen,schreibt diese Verordnung den Marktteilnehmern in derEU bestimmte Sorgfaltspflichten vor, und zwar unab-hängig vom Herkunftsland des Holzes.

Neben der Hilfe zum Aufbau einer legalen und nach-haltigen Waldbewirtschaftung bieten die Partnerschafts-abkommen auch den Vorteil, dass durch die FLEGT-Ge-nehmigung bestimmte Nachweispflichten aus der EU-Holzhandelsverordnung entfallen. Es ist bereits jetzt er-kennbar, dass dies weitere Holzlieferländer motiviert,auch Partnerschaftsabkommen mit der EU anzustreben.Es ist erfreulicherweise damit zu rechnen, dass die EUbald mit fünf weiteren Holzlieferländern Partnerschafts-abkommen abschließen wird.

Im Holzhandels-Sicherungs-Gesetz ist vorgesehen,dass bei der Einfuhr von Holz aus Partnerländern nachDeutschland die Überprüfung der FLEGT-Genehmigun-gen durch das BLE sowie durch die Zollbehörden er-folgt. Um einen reibungslosen Datenaustausch zwischenden Behörden zu ermöglichen, ist die Anschaffung einesneuen IT-Systems geplant. Die Investitionskosten inHöhe von 500 000 Euro erscheinen auf den ersten Blickals viel Geld. Wenn man aber bedenkt, dass in absehba-rer Zeit weitere Länder hinzukommen werden und einesteigende Anzahl von Holzeinfuhren aus diesen Ländernzu überprüfen sein wird, so wird die Verhältnismäßigkeitder eingesetzten Finanzmittel schnell gegeben sein.

BLE und Zollbehörden müssen effektiv zusammenar-beiten, um Verstöße gegen das FLEGT-Genehmigungs-system aufzuspüren und illegal geschlagenes Holz vomMarkt zu nehmen. Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetzverleiht dem BLE die dafür erforderlichen Befugnisse: Sokönnen beispielsweise verdächtige Holzlieferungen si-chergestellt und untersucht werden. Entsprechen Liefe-rungen nicht den Anforderungen des FLEGT-Genehmi-gungssystems, so kann die Behörde diese Lieferungvöllig aus dem Verkehr ziehen. Zur Ahndung von Verstö-ßen gegen das FLEGT-Genehmigungssystem sind zudemStrafen und Bußgelder vorgesehen. Das Holzhandels-Si-cherungs-Gesetz macht deutlich, dass für uns in Deutsch-land der Handel mit illegal geschlagenem Holz kein Ka-valiersdelikt ist. Illegaler Holzeinschlag trägt nicht nurzur weltweiten Zerstörung der Wälder bei, er verzerrtauch erheblich den Wettbewerb auf dem Holzmarkt. Holzaus illegalem Einschlag muss so gut es geht vom Markt

Page 200: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

genommen werden, damit die Marktteilnehmer, die legalund nachhaltig erzeugtes Holz anbieten, nicht benachtei-ligt sind.

Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz ist ein wichtigerSchritt, um den Handel mit illegal geschlagenem Holzzu bekämpfen. Weitere Schritte müssen unbedingt fol-gen. Ich denke besonders an die Umsetzung der EU-Holzhandelsverordnung. Mit dem Holzhandels-Siche-rungs-Gesetz setzen wir im Internationalen Jahr derWälder ein wichtiges Signal, dass Deutschland entschie-den gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holzvorgeht und einen Beitrag zum weltweiten Schutz derWälder leistet.

Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetz zuzustimmen.

Petra Crone (SPD): Leider muss ich auch im Inter-nationalen Jahr der Wälder meine Rede mit dem Satz be-ginnen: Die illegale Abholzung ist in vielen waldreichenLändern der Welt immer noch gängige Praxis. Der ge-samte Verlust an Wald auf der Erde beläuft sich laut Be-rechnungen der Welternährungsorganisation FAO aufjährlich etwa 13 Millionen Hektar. Wir verlieren hierüberwiegend Flächen des tropischen Regenwaldes, undwir verlieren Herzstücke der Biodiversität. Ein Verlustvon 13 Millionen Kubikmeter hieße: Wir würden kom-plett unsere deutsche Waldfläche innerhalb eines Jahresverlieren.

Illegaler Holzeinschlag ist ein Problem, das in seinenAusmaßen nicht verheerend genug beschrieben werdenkann – vom Verlust der Artenvielfalt bis hin zu dennachteiligen sozialen Folgen für die dortige Bevölke-rung. Waldrodung ist zudem für rund 20 Prozent derTreibhausgasemissionen verantwortlich. Was nach demglobalen Raub an der Natur zurückbleibt, ist ein zerstör-ter Wald. Er ist kein Lebensraum mehr – weder für Men-schen noch für Tiere und Pflanzen.

Ein starker Motor für die Zerstörung der Wälder istdie internationale und die europäische Nachfrage nachbilligem Holz. Die Einfuhr illegalen Holzes nachDeutschland liegt schätzungsweise bei 3 bis 6 Prozent.Würden wir uns nur die Tropenholzimporte anschauen,läge der Anteil wohl um einiges höher. Es ist fast un-möglich, belastbare Zahlen über den Raubholzhandel zubekommen. Der Anteil an illegalem oder verdächtigemHolz wird bei Lieferungen aus Afrika oder Südostasienauf fast 50 Prozent geschätzt.

Es herrscht also dringendster Handlungsbedarf. ImJahr 2003 wurde auf europäischer Ebene der Aktions-plan „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handelim Forstsektor“, kurz FLEGT, ins Leben gerufen. EinEckstein dieser Politik sind die freiwilligen Partner-schaftsabkommen zwischen der EU und holzausführen-den Ländern. Sie bezwecken eine aktive Einbeziehungwaldreicher Länder, in denen sich der illegale Holzein-schlag jeden Tag vollzieht.

Das uns vorliegende Holzhandels-Sicherungs-Gesetzsetzt nun die europäische Verordnung zur Einrichtung ei-nes FLEGT-Genehmigungssystems für Holzeinfuhren indie Europäische Gemeinschaft in nationales Recht um.

Am Ende soll, vor allem für die Verbraucherinnen undVerbraucher, die Gewissheit stehen: Alle Hölzer undHolzprodukte aus dem Partnerland sind legalen Ur-sprungs. Hierzu wird die Fracht mit einer FLEGT-Ge-nehmigung versehen. Fehlt diese Genehmigung, ist dieEinfuhr von Holzprodukten aus dem Partnerland verbo-ten.

Als erstes Partnerland hat Ghana Ende 2009 ein Ab-kommen mit der EU unterzeichnet. Die RepublikenKongo und Kamerun werden folgen, später auch dieZentralafrikanische Republik. Die Ratifizierungen müs-sen abgewartet warten. Weitere Verhandlungen sind imGange. Ich hoffe auf viele belastbare Abschlüsse, beson-ders mit Malaysia und Indonesien. Im Herkunftslandselbst wird ein Rückverfolgungssystem für Holz einge-richtet. Dieses soll die definierte Legalität gewährleisten.Der erste und der wichtigste Kontrollpunkt ist unseresErachtens schon die Baumfällung. Die Vertragsparteienverpflichten sich zudem, eventuelle negative Auswir-kungen des Abkommens auf die Existenzgrundlagen derlokalen Gemeinschaften zu verhindern. Es werden bei-spielsweise Einkommensalternativen für Holzfäller ge-schaffen.

Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, dassder Erfolg der Partnerschaftsabkommen im Wesent-lichen von der politischen Situation in den Ländern ab-hängen wird. Bestehen stabile rechtsstaatliche Struktu-ren und eine Verwaltung, die die Einhaltung derLegalität sichert? Oder besteht erhöhtes Risiko, dasseine illegale Regelung durch einen Federstrich legalwird? Die Unterstützung von guter Regierungsführungauch im Rahmen der FLEGT-Maßnahmen bleibt dahervon zentraler Bedeutung.

Wie gestaltet sich nun die Kontrolle in Deutschland?Das wird durch das vorliegende Gesetz geregelt. Vorabwill ich anmerken: Ein Gesetz kann immer nur so gutsein, wie dessen Umsetzung gelingt. Als zuständige Be-hörde ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Er-nährung vorgesehen. Sie wird alle FLEGT-Zertifikateüberprüfen. Bei Zweifeln am FLEGT-Genehmigungs-schein dürfen Proben auf Kosten des Importeurs durch-geführt werden. Zur Untersuchung des Holzes müssenunserer Auffassung nach neben dem genetischen Finger-abdruck-Verfahren alle wissenschaftlich anerkanntenMethoden angewendet werden, vor allem die Stabile-Isotopen-Analytik. Jeder Ort der Welt besitzt durch dieEigenheiten von Geografie und Klima ein charakteristi-sches Isotopenmuster. Dank dieses einmaligen Musterskann überprüft werden, ob eine behauptete Herkunftsan-gabe auch stimmt. Was sich schon im Lebensmittelbe-reich bewährt hat, sollte ebenso für Holz Anwendungfinden.

Darüber hinaus erscheinen der SPD-Bundestagsfrak-tion 16 Stichproben beim Zoll, also bei nur 1 Prozent derLieferungen, zu gering. Wir nehmen aber die Bundesre-gierung beim Wort: Bei begründetem Verdacht werde dieAnzahl der Stichproben ausgeweitet. Der Zoll wird lautAuskunft des BMELV in der letzten AusschusssitzungLieferungen aus kritischen Regionen vermehrt unter dieLupe nehmen. Die gelieferten Daten und Erkenntnisse

Page 201: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12131

(A) (C)

(D)(B)

sollten in der Folge einem europaweiten Datenaustauschzugeführt werden. Er muss gegenseitig und unverzüglichstattfinden können. Der Handel mit illegalem Holz kenntschließlich auch keine Grenzen. Die Gefahr der Re-Im-porte über Transitländer in unsere Märkte bleibt weiterhinbestehen. Ein Manko werden auch die im FLEGT-Ab-kommen nicht erfassten Holzproduktgruppen bleiben:Möbel, Papier, Holzkohle und Brennholz werden nichtberücksichtigt.

Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem vorliegendenGesetzentwurf dennoch zustimmen. Der weitaus umfang-reichere Part erwartet uns bei der erforderlichen nationa-len Umsetzung des europäischen HolzhandelsgesetzesMitte bis Ende 2012. Mithilfe des FLEGT-Genehmi-gungssystems für Holzeinfuhren in die Europäische Ge-meinschaft kann die legale Nutzung der Wälder imFLEGT-Partnerland zumindest garantiert werden. Ich be-tone: Es geht um die Legalität. Zukünftig wird es aber da-rauf ankommen, dass wir der Legalität die Nachhaltigkeitan die Seite stellen. Gerade in der beginnenden Garten-möbelsaison möchte ich auf die legale, ökologisch undsozial verantwortliche Waldbewirtschaftung verweisen,die beispielsweise das FSC-Siegel garantiert. Ohne nach-haltige Waldnutzung wird es nicht gehen – das gilt im Üb-rigen auch für unseren deutschen Wald.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir wollen in-takte Primärwälder erhalten. Naturnahe Wälder sind diewichtigsten und größten Schatzkammern der Artenviel-falt. Sie sorgen für eine bessere Luftqualität und produ-zieren Sauerstoff. Für die Menschen vor Ort stellen in-takte Urwälder die Lebensgrundlage dar, sie schützen denBoden und das Wasser, liefern Nahrung und wertvollenachwachsende Rohstoffe. Sie sind zudem entscheidendan der Speicherung von atmosphärischem Kohlenstoffdi-oxid beteiligt. Laut IPCC, dem Intergovernmental Panelon Climate Change, stammen bis zu 30 Prozent der zu-sätzlichen Belastungen der Atmosphäre mit Kohlenstoff-dioxid aus der Zerstörung von Wäldern.

Nach Angaben der FAO gingen in den letzten zehnJahren jährlich 13 Millionen Hektar naturnaher Wälderverloren. Das ist mehr als die gesamte WaldflächeDeutschlands. Insbesondere die Rodung von Wäldernfür den Anbau von Soja, die Weidehaltung und die An-lage von Palmölplantagen, aber auch der illegale Holz-einschlag bedrohen die wertvollen Waldflächen. DerRaubbau ist in den Staaten der Tropen Afrikas, Südost-asiens und Südamerikas erheblich und die Satellitenbil-der machen es deutlich. An diesen Verlusten hat der ille-gale Holzeinschlag einen erheblichen Anteil. Die Zahlenaus dem „Global Forest Resources Assessment 2010“der FAO zeigen eindeutig: Außerhalb Europas wird nurein Bruchteil der Wälder nach den Kriterien der Nach-haltigkeit bewirtschaftet.

Deutschland gehört wie China, die USA und Japan zuden großen Importländern von Holz und Holzprodukten.Wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass bei derBekämpfung des illegalen Holzeinschlags und des Holz-handels Handlungsbedarf besteht. Etwa ein Drittel ihresRohholzbedarfs importiert die EU aus Drittstaaten. Des-

halb haben wir eine besondere Verantwortung, dass vonuns genutztes Holz nur aus legaler und selbstverständ-lich auch nachhaltiger Bewirtschaftung von Wäldernstammt. Wir sind uns einig, dass der Handel mit illegalgeschlagenem Holz und dessen Import in die EU unter-bunden werden muss. Die FDP unterstützt ausdrücklichden Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag und denHandel mit solchem Holz.

Ein wichtiger Baustein ist die im Jahr 2005 aufEU-Ebene beschlossene FLEGT-Verordnung (EG) 2173/2005; dabei steht FLEGT für Forest Law Enforcement,Government and Trade. Ziel der europäischen Initiativeist es, mithilfe von freiwilligen Partnerschaftsabkommen,von Voluntary Partnership Agreements oder VPAs, diewichtigen Herkunftsländer von Tropenholz zu einer bes-seren Überwachung und nachhaltigen Waldwirtschaft zuführen. Dazu müssen Einfuhrbeschränkungen in Krafttreten, sodass nur noch Hölzer mit gültiger FLEGT-Ge-nehmigung in die EU importiert werden dürfen. Wir un-terstützen die Bemühungen der Kommission, mit einermöglichst großen Zahl von Herkunftsländern Partner-schaftsabkommen auszuhandeln. Allerdings müssen wirfeststellen, dass derzeit VPA lediglich mit Kamerun, derDemokratischen Republik Kongo, Ghana und Kongo-Brazzaville abgeschlossen wurden. Somit ist bisher ledig-lich ein kleiner Teil der Holzimporte erfasst. Es ist ausunserer Sicht entscheidend, vorrangig die größten Expor-teure von Tropenholz wie Indonesien in das FLEGT-Sys-tem einzubinden. Nur so können die am stärksten bedroh-ten Wälder auch effektiv geschützt werden.

Die Regelungen im Holzhandels-Sicherungs-Gesetzbedeuten für die betroffenen Holzhandelsunternehmendie Erhöhung ihres wirtschaftlichen Risikos. Die Verant-wortung für fehlerhaft ausgestellte Zertifikate liegt alleinbei den Importeuren. Zudem erzeugen die FLEGT-Ver-ordnung, die Ende 2010 verabschiedete EU-Holzhan-delsverordnung (EU) 995/2010 und das vorliegende Ge-setz einen deutlichen bürokratischen Mehraufwand. Diesbetrifft die Wirtschaft wie die zuständige Bundesanstaltfür Landwirtschaft und Ernährung, die BLE, gleicherma-ßen. Auch wenn die genannten Maßnahmen zur Rettungder Tropenwälder ein sinnvoller Beitrag sein werden,sollte angesichts des bisher sehr geringen Liefervolu-mens aus Partnerländern insofern mit Bedacht vorgegan-gen werden. Allein die Investitionen in ein Datenaus-tauschsystem zwischen der BLE und den Zollbehördensoll laut Begründung des Gesetzes etwa eine halbe Mil-lion Euro kosten. Um diese erheblichen Investitionen zurechtfertigen, müssen zügig mit weiteren Ländern VPAsabgeschlossen werden. Es muss kritisch die Höhe der In-vestitionen überprüft werden.

Auf nationaler Ebene sind die zuständigen Behördendazu angehalten, für eine zügige Umsetzung des Holz-handels-Sicherungs-Gesetzes zu sorgen. Die Kontrollendurch die Zollbehörden müssen risikoorientiert und inAbstimmung mit den betroffenen Wirtschaftsbereichenerfolgen. Aus diesem Grund begrüßen wir die Initiativendes Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz, schnellere, zuverlässigere undpraktikablere Methoden zur Kontrolle zu entwickeln. Ausliberaler Sicht können neue wissenschaftliche Methoden

Page 202: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

helfen, Verdachtsfälle eindeutig aufzuklären und dieKontrollen wesentlich zu vereinfachen und zu beschleu-nigen. Beispiele sind das genetische Fingerprinting, dasam Institut für Forstgenetik des von-Thünen-Institutes inGroßhansdorf entwickelt wird, oder die Isotopenanalyse.Angesichts der erschwerten Beweisführung bei Ver-dachtsfällen und angesichts des wirtschaftlichen Risikosfür die Holzimporteure, die oft dem Mittelstand angehö-ren, sind wir auf moderne und effiziente Kontrollmetho-den angewiesen.

Die FDP-Fraktion unterstützt die Bemühungen derBundesregierung beim Kampf gegen den illegalen Holz-einschlag, und wir freuen uns, dass im Ausschuss für Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz alleFraktionen für den Gesetzentwurf gestimmt haben. Wirstimmen dem Holzhandels-Sicherungs-Gesetz im Bun-destag zu und setzen uns ausdrücklich dafür ein, weitereLänder in das FLEGT-System mit einzubeziehen.

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): IllegalerHolzeinschlag bedroht weltweit die Wälder. „Bei derErnte, Transport, Einkauf oder Verkauf des Holzes wirdgegen nationale oder internationale Gesetze verstoßen“,schreibt der WWF. Das ist inakzeptabel. Auch bis zu6 Prozent der Holzeinfuhren nach Deutschland sind ille-gal. Diese Zahl bezieht sich auf alle Hölzer, also auchEU-Holz. Bezogen auf Holz aus Drittländern dürfte derProzentsatz illegalen Holzes noch deutlich höher sein.Beispielsweise sollen 80 Prozent des Amazonasholzesaus Raubbau stammen. Das ist ein lukrativer kriminellerMarkt, der dringend geschlossen werden muss.

Zuletzt debattierte der Bundestag im Frühjahr 2010über das Thema, als eine EU-Verordnung über Holz undHolzerzeugnisse erarbeitet wurde. Bei allen Meinungs-verschiedenheiten in Detailfragen wurde dennoch klar:Europa kämpft gemeinsam gegen Holz aus Raubbau.Bereits 2003 verabschiedete die EU einen FLEGT-Ak-tionsplan. Mit diesem soll der illegale Holzhandel ver-hindert und freiwillige Partnerschaftsabkommen mitDrittstaaten gestärkt werden, die sich an überprüfbareForstgesetze halten. Die Linke begrüßt das ausdrücklich.Wir treten für eine nachhaltige, also soziale, ökologischeund wirtschaftliche, Forstwirtschaft ein. Dazu gehört,dass Holzabbau selbstverständlich nur in Gebieten erfol-gen darf, die für Holznutzung ausgewiesen sind. Natio-nalparke und andere Juwelen der Artenvielfalt müssentabu sein.

Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurfdient zunächst nur der Einrichtung eines nationalen Ge-nehmigungssystems für Holzeinfuhren aus Ländern, mitdenen ein Partnerschaftsabkommen geschlossen wurde.Damit wird eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2005 indeutsches Recht umgesetzt. Es geht dabei um Holz ausPartnerländern wie zum Beispiel Ghana, Kamerun oderder Republik Kongo. Diese Länder haben sich gegen-über der EU verpflichtet, dem illegalen Raubbau denKampf anzusagen. Sie haben eigene Forstgesetze erlas-sen und ein Prüf- und Kontrollsystem entwickelt. Damitwird das Holz aus diesen Ländern schon deutlich stärkerunter die Lupe genommen als das Holz aus anderen Im-

portländern. Trotzdem muss natürlich auch dieses Holzkontrolliert werden.

Was bringt das Gesetz? Erstens. Verbraucherinnenund Verbraucher können ihren Beitrag gegen den Raub-bau an Wäldern leisten. Dazu ein Beispiel: Ein deutscherBauhandel hat Gartenmöbel bei einem Möbelherstellerbestellt. Der baut diese aus Holzimporten aus Ghana.Bisher konnte man nicht sicher sein, dass der Stuhl auslegalem Holz gebaut wurde. Jetzt erhöht sich die Chanceder Legalität, denn Baumärkte können und werden da-rauf achten, nur noch Gartenmöbel von einem Herstellerzu kaufen, der keine krummen Geschäfte macht. Werwill schon Ärger mit dem Zoll – und damit die Kundenverschrecken? Der Hersteller muss die entsprechendenZertifikate des Partnerlandes besitzen. Stammt das Holzaus einer illegalen Quelle – wurde also zum Beispiel in ei-nem Naturschutzgebiet ohne Genehmigung geschlagen –,dann wird es aus dem Verkehr gezogen. Es droht einesaftige Strafe: ein Jahr Gefängnis oder 50 000 Euro.

Zweitens. Durch die Nachfrage nach legalem Holzund durch die Kampfansage an illegales Holz wird dieBiodiversität geschützt. Denn die forstlich nicht odernicht mehr genutzten Waldbereiche dieser Erde sind fürTiere und Pflanzen von großer Bedeutung. Sie stellen ei-nen Rückzugsraum für bedrohte Arten dar, sie gebenRaum für natürliche Entwicklungsprozesse und sind dasgenetische Sparkonto für die Zukunft. Denn nur wenngenetische Vielfalt vorhanden ist, können sich Arten anveränderte Umweltbedingungen anpassen. Darum trittdie Linke für 5 Prozent ungenutzte Waldflächen ein, üb-rigens nicht nur international, sondern auch in Deutsch-land. Drittens. Die EU gibt ein deutliches Zeichen an diePartnerländer: Sie definiert, was legale Forstwirtschaftist, und erarbeitet ein Kontrollsystem, damit die kom-plette Kette vom Baumarkt bis zum Herkunftsland zu-rückverfolgt werden kann.

Mit all dem geht der vorliegende Gesetzentwurf in dierichtige Richtung. Neben Licht gibt es allerdings auchSchatten zu erwähnen. Zum Beispiel soll nur 1 Prozentder Lieferungen stichprobenartig kontrolliert werden.Das betrifft nach Kalkulation des BMELV in den kom-menden Jahren nur circa 16 jährliche Stichproben. Dasist viel zu wenig. Die Kontrollen sollten sich an denRisiken der Produktkategorien und Herkünfte bemessen.Sobald ein begründeter Verdacht besteht, muss einge-griffen und kontrolliert werden. Insofern ist der Zoll inder Pflicht, begründeten kritischen Hinweisen auf mögli-che illegale Holzlieferungen nachzugehen.

Bedauerlich ist auch, dass nicht gleichzeitig die Holz-handels-Verordnung aus dem Jahr 2010 in nationalesRecht übernommen wird. Anscheinend soll noch auf dieDurchführungsbestimmungen gewartet werden, sodasswir das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz wohl erst 2013wieder im Bundestag debattieren werden. Man kann nurhoffen, dass dann wenigstens das Ergebnis den langenBeratungszeitraum rechtfertigt. Denn eigentlich dürfenwir keine Zeit mehr verlieren im konsequenten Kampfgegen den Raubbau am Wald. Dabei dürfen wir aberdurchaus auch vor der eigenen Tür kehren, denn dieWaldstrategie 2020 der Bundesregierung lässt ja leider

Page 203: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12133

(A) (C)

(D)(B)

weiter auf sich warten. Trotzdem stimmt die Linke demheute vorliegenden Gesetzentwurf zu.

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bünd-nis 90/Die Grünen begrüßen, dass die Bundesregierung esim Internationalen Jahr der Wälder endlich geschafft hat,diesen Gesetzentwurf vorzulegen, und stimmen ihm zu.Denn er ist die überfällige Umsetzung der FLEGT-Verord-nung, die die EU zur Bekämpfung des Handels mit illega-lem Holz bereits im Dezember 2005 beschlossen hat –übrigens seinerzeit noch unter Mitwirkung des Interims-Agrarministers Jürgen Trittin.

Man fragt sich, warum sich die Bundesregierung mitder Umsetzung so viel Zeit gelassen hat, wenn es vor al-lem darum ging, die für die Kontrolle von FLEGT-Holz-importen zuständigen Behörden zu benennen. Die Um-setzung hätte schon längst erfolgen können. Andererseitssind die Folgen dieser Trödelei begrenzt, weil es bis vorkurzem gar keine Partnerschaftsabkommen auf Grund-lage der FLEGT-Verordnung gegeben hat. Dementspre-chend waren auch keine FLEGT-Importe zu kontrollie-ren.

Nun darf man sich jedoch trotz des vielversprechen-den Namens keine Illusionen über die Reichweite desGesetzes hingeben: Das „Gesetz gegen den Handel mitillegal eingeschlagenem Holz“ wird vorerst nur für Im-porte aus Ländern gelten, mit denen die EU tatsächlichein FLEGT-Partnerschaftsabkommen abgeschlossen hat.Das sind laut gestriger Auskunft der Bundesregierungerst vier Länder: Ghana, Kongo-Brazzaville, Kamerunund demnächst auch die Zentralafrikanische Republik.

Nach Lage der Dinge wird es noch Jahre dauern, bisalle wichtigen Holzhandelsländer, in denen es illegalenHolzeinschlag gibt, ein Abkommen unterschrieben ha-ben werden. Bisher wird nur mit einem Teil der fragli-chen Länder verhandelt, immerhin aber mittlerweile mitden großen Urwaldländern Indonesien und Brasilien.Die Zeit drängt, denn jedes Jahr gehen 13 MillionenHektar Urwald verloren.

Daran erkennt man, wie falsch es von den Gegnern ei-nes Importverbotes für illegales Holz all die Jahre langgewesen ist, zu sagen: Wir brauchen kein Importverbotfür illegales Holz, weil wir FLEGT haben. – Wir habenuns hier im Bundestag jahrelang darüber gestritten, ob esmöglich ist, ein nationales Importverbot für illegalesHolz zu erlassen. Und wir haben uns darüber gestritten,ob die Bundesregierung ein EU-weites Importverbot fürillegales Holz fordern sollte. Diese unsere Forderungenhaben Union und SPD in der letzten Legislaturperiodehier im Bundestag allesamt abgelehnt.

Nun hat die EU auch ohne Druck durch die Bundesre-gierung mit der FLEGT-Holzhandelsverordnung vom20. Oktober 2010 ein faktisches Verbot für illegal einge-schlagenes Holz beschlossen. Ein Verbot, das für alleLänder gilt. Auf dieses EU-weite Importverbot für ille-gales Holz haben wir Bündnisgrüne jahrelang gedrängt.Der Wermutstropfen ist, dass es erst im März 2013 inKraft tritt.

Deshalb werden wir Grüne auf einen schnellen Ab-schluss weiterer FLEGT-Partnerschaftsabkommen drän-gen und natürlich auf eine rechtzeitige und zügige Umset-zung der FLEGT-Holzhandelsverordnung in nationalesRecht, damit illegales Holz auf dem europäischen Holz-markt keine Chance mehr hat. Das wäre dann ein weitererErfolg für den Schutz der Wälder dieser Welt.

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Hochschulzulassungbundesgesetzlich regeln – Sozialen Zugang undDurchlässigkeit in Masterstudiengängen si-chern (Tagesordnungspunkt 15)

Monika Grütters (CDU/CSU): Nun reden wir heutezum wiederholten Male über das neue Hochschulzulas-sungsverfahren, das wir alle deshalb einführen wollten,weil wir den vielen Studierenden in Deutschland ein bes-seres Verfahren bieten wollen, als es derzeit vorhandenist.

Wir wollten das europaweit modernste Hochschulzu-lassungsverfahren für Deutschland an den Start bringen.Aus Verantwortung für die Studierenden hat sich derBund deshalb zu einer einmaligen Investition von sageund schreibe 15 Millionen Euro bereit erklärt, mit dereine neue Software entwickelt worden ist, die es denStudierenden ermöglicht, bis zu neun Studienwünschean den verschiedenen Hochschulen gleichzeitig zu plat-zieren. Im Idealfall hätte man also für die Studierendenwirklich die Lebenssituation entscheidend verbessert:Nicht mehr zwischen zwei nacheinander zu entscheiden-den Studienwünschen hätten sie ihre Zukunft planenkönnen, sondern gleich neun Varianten könnten ihnenrelativ kurzfristig die Entscheidung über ihren Studien-ort – und das heißt: über ihren weiteren Lebensweg – er-leichtern.

Wir alle gemeinsam, quer über alle Parteigrenzen hin-weg, sind enttäuscht, frustriert, aber auch verärgert da-rüber, dass allen Aussagen der Verantwortlichen zumTrotz jetzt, Mitte April 2011, erkannt werden muss, dassder ehrgeizige Zeitplan zum Start dieses so wichtigenProjektes vom Wintersemester 2011/12 auf zunächst un-bestimmte Zeit verschoben werden muss. Es ist nichtnachvollziehbar, dass die verantwortlichen Projektent-wickler, Vertreter der Länder und der Hochschulen, unsnoch Mitte März im Ausschuss einen pünktlichen Startdes Zulassungsverfahrens in Aussicht gestellt haben undjetzt, gerade einmal drei Wochen später, zugeben, dassdie großen Probleme bei der Softwareumstellung offen-bar kurzfristig überhaupt nicht in den Griff zu bekom-men sind.

Wir alle fragen uns und natürlich auch diejenigen, diedarüber Auskunft hätten geben können, wie eine solcheFehleinschätzung zustande kommen konnte. Aber mitder Fragestellung ist ja jetzt nichts erreicht. Wir sind ver-antwortlich dafür, dass sich die Situation der Hochschu-len und natürlich vor allem der Studierenden in absehba-

Page 204: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

rer Zeit verbessert wird. Nach wie vor ist es dieÜberzeugung der CDU, dass ein zentrales Zulassungs-verfahren, das den Studierenden viele Wahlmöglichkei-ten anbietet, die beste Lösung ist – besser jedenfalls alsdas bisherige Verfahren, in dem dezentral alle Hoch-schulen und Länder unterschiedliche Wege gehen. DasGebot der Stunde ist deshalb tatsächlich ein zentralesVerfahren, so wie es jetzt geplant ist. Wir sind auch zu-versichtlich, dass die Software zukünftig sehr attraktivsein wird. Deshalb ist es jetzt zuallererst nötig, die be-rühmte „Schnittstellenproblematik“ mit der Vielzahl ver-schiedenartiger Zulassungssysteme zu lösen.

Wir müssen mit allem Nachdruck der Gefahr begeg-nen, dass jetzt einige ohnehin zögerliche Hochschulensich aus dem künftigen gemeinsamen Verfahren wiederabmelden oder gar nicht erst mitmachen wollen. Was dieSituation aber sicher nicht verbessern würde, wäre derim Antrag der Linken skizzierte Weg eines Bundesgeset-zes, so wie es auch der ehemalige Präsident der Hoch-schulrektorenkonferenz Landfried in seiner gewohntmarkigen Art in der Presse vorgeschlagen hat.

Wir setzen nach wie vor auf die Autonomie der Hoch-schulen. Das ist ein sehr hohes Gut in der Wissenschaft.Nicht der Bund, sondern vielmehr das Hochschulinfor-mationssystem, HIS, und die Stiftung für Hochschulzu-lassung sind jetzt in der Pflicht, eine schonungslose Feh-leranalyse vorzunehmen, ihren selbst so genannten„Aktionsplan“ zu konkretisieren und vor allem einen se-riösen Zeitplan dafür vorzulegen. Das sind sie nicht nurdem Bund als Hauptgeldgeber für die neue Softwareschuldig, sondern vielmehr den Hochschulen und nochmehr den Studierenden.

In der Bewertung des gesamten Vorgangs sind wir unssicher fraktionsübergreifend einig. Fürs Erste haben sichdie Projektentwickler mit ihren kurzfristig gegebenenZusagen für einen Start zum Wintersemester 2011 undihrem jetzigen Eingeständnis, dass das auf absehbareZeit verschoben wird, blamiert. Die CDU bleibt jedochbei ihrer Überzeugung: Das Dialogorientierte Service-verfahren zu entwickeln, war und ist noch immer richtig.Es bietet gegenüber der derzeitigen Situation Vorteile füralle Beteiligten – für Studienanfänger wie für die Hoch-schulen. Erstens bietet es die Möglichkeit, ein zentralesVergabeverfahren zu organisieren, ohne die Hochschu-len ihrer Autonomie zu berauben. Darüber hinaus be-schleunigt es die Studienplatzvergabe und räumt denStudierenden mehr Möglichkeiten bei der Wahl ihresStudienortes ein. Zweitens kann das neue Verfahren dieStudienplatzvergabe schneller, effizienter und transpa-renter organisieren, wenn es denn einmal funktioniert.Deshalb halten wir es nach wie vor für richtig, dass wirals Parlament an dieser Stelle – trotz aller derzeitigenProbleme – auch noch einmal unsere grundsätzliche Un-terstützung für dieses Projekt dokumentieren.

Der unmittelbar ersichtliche Nutzen eines solch ver-besserten Verfahrens für alle daran Beteiligten war undbleibt ja auch der Grund, der den Bund zu einer An-schubfinanzierung von 15 Millionen Euro veranlassthatte, obwohl diese Aufgabe – wie alle anderen auch –eigentlich in die Zuständigkeit der Länder gefallen wäre.

Ich darf an dieser Stelle sicher auch noch einmal daranerinnern, dass das Dialogorientierte Serviceverfahrenauch von der SPD befürwortet worden ist, mit der wirgemeinsam die Anschubfinanzierung in der vergangenenLegislaturperiode auf den Weg gebracht haben.

Nun ist es angesichts der derzeitigen Situation letzt-lich natürlich richtig, die Einführung zu verschieben,weil auch insofern für alle gilt: Sicherheit geht vorSchnelligkeit. Wir hatten ja schon in der Anhörung her-aushören können, dass die Stiftung schweren Herzensdiesen Weg im Zweifelsfall gehen würde, weil die Be-denken in Bezug auf die berühmten Schnittstellen zwi-schen der neuen Software und den verschiedenen älterenSystemen schon lange vorhanden waren. Wir vertrauenauch weiter auf die hohe Professionalität der ausgewie-senen Experten vom Fraunhofer-Institut für Rechnerar-chitektur und Softwaretechnik und auch darauf, dass siediejenigen sind, die im Kontakt mit den Softwareverant-wortlichen an den einzelnen Hochschulen künftig dieseSchnittstellenprobleme überwinden können.

Eine Bundesgesetzgebung, wie der Antrag der Linkensie vorschlägt, hätte den Prozess der Softwareentwick-lung sicher nicht beschleunigen können. Und jetzt, wieLandfried es vorschlägt, innerhalb von sechs Wochenmal schnell ein Bundesgesetz für einheitliche Zulas-sungsregeln zu erlassen, ist völlig naiv. Da kann mansich über einen Profi wie Landfried, der die Hochschul-landschaft aus seiner Amtszeit noch kennt, nur wundern.Denn nur durch eine bundesgesetzliche Zuständigkeitwürden Schnittstellen auch nicht kompatibler.

Was ist die Konsequenz aus der derzeitigen Situation?Zunächst einmal ist es ja schon bizarr, dass wir heute allegemeinsam hier diese Debatte führen müssen – hattenwir doch vor drei Wochen den Eindruck, Zeugen eineszufriedenstellend funktionierenden künftigen Zulas-sungssystems werden zu können. Jetzt gilt: Wir müssenuns als Parlament offensichtlich noch häufiger und eng-maschiger von den Verantwortlichen in den Hochschu-len, in den Ländern und bei der Stiftung für Hochschul-zulassung wie auch bei HIS darüber informieren lassen,wie der tatsächliche Stand des Projektes ist. Denn dassind wir alleine als Geldgeber – 15 Millionen Euro – denStudierenden und den Hochschulen als potenziellenZielgruppen und Nutznießern des Verfahrens schuldig.Außerdem sollten wir bei der Betreuung der nächstenSchritte beachten, dass es auch um die neuerdings aufge-worfenen Fragen des Datenschutzes geht, dass auchLehramtsstudiengänge künftig in diesem Verfahren er-fasst werden und dass die Hochschulen in Deutschlandmöglichst flächendeckend teilnehmen und nicht einigeHochschulen jetzt die Chance nutzen, sich langfristig derTeilnahme zu entziehen. Auch müssen wir darauf ach-ten, dass die Länder ihren Folgefinanzierungspflichtennachkommen. Die 15 Millionen sind ja jetzt nur für dieSoftwareentwicklung verausgabt worden, die Ländersind also künftig in der Finanzierungspflicht. Es warausgerechnet worden, dass bei ungefähr 20 Euro proStudienplatz im Rahmen dieses Verfahrens für jedesBundesland Kosten in Höhe von 80 000 Euro bis300 000 Euro entstehen werden – eine Summe also, die

Page 205: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12135

(A) (C)

(D)(B)

meines Erachtens sehr wohl von den Ländern im Inte-resse ihrer Studierenden erbracht werden kann. Passenwir also auf, dass jetzt hier nicht neue Fragezeichen andas Gesamtprojekt gemacht werden.

Zum Antrag der Linken abschließend noch ein paarWorte: Es ist natürlich ihr gutes Recht und der klassischeTrick, anhand eines konkreten Vorgangs ideologischeGrundsatzfragen aufzuwerfen. Auch ein Zulassungsver-fahren wird generelle bildungspolitische Sachverhaltenicht umfassend lösen können. Dass die Schere zwi-schen bildungsfernen und bildungsnahen Schichten sichvergrößert, ist schlicht falsch: Sie wird substanziell klei-ner; immer mehr Kinder aus bildungsfernen Schichtenstudieren. Das wissen auch Sie von den Linken; ichweise nur auf die HIS-Studie „Studienberechtigte 2008“hin. Sie möchten, dass die Studierendenquote inDeutschland erhöht wird. Auch das ist bereits seit Jahrender Fall. Inzwischen ist es so, dass 46 Prozent eines Jahr-gangs auf die Hochschulen gehen. Die Studierenden-quote in Deutschland wurde in den vergangenen Jahrenalso bereits massiv erhöht, und das ist vor allem der Er-folg des Hochschulpakts und seiner Architektinnen undArchitekten.

Sie sollten auch in Bezug auf ihr Stichwort „Master-studium“ zur Kenntnis nehmen, dass Bachelorabsolven-ten auf dem Arbeitsmarkt nicht länger brauchen, um ei-nen Arbeitsplatz zu finden als ihre Kommilitonen mitanderen akademischen Abschlüssen. Auch sie benötigenim Durchschnitt drei Monate, um sich nach dem Ab-schluss einen ersten Arbeitsplatz zu suchen. EinenRechtsanspruch auf den Master kann es nicht geben,weil es in der Logik konsekutiver Studiengänge einfachnicht vorgesehen ist. Sie können von mir aus die altbe-kannte Kritik hier immer wiederholen; leider bleibt siesubstanzlos. Wenn Sie die Hochschulzulassung nur alsAlibi für ihre Fundamentalkritik benutzen, dann schadenSie den Studierenden und tragen nicht zu einer konstruk-tiven Auseinandersetzung bei.

In der gegenwärtigen bedauerlichen Situation geht esweniger um große ideologische Rundumschläge, son-dern darum, dass wir gemeinsam und sehr pragmatischdafür Sorge tragen, dass sich die Zulassungssituation inden überfüllten Studiengängen in Deutschland ent-schärft. Wir sind einem echten Service- und Dienstleis-tungsgedanken gegenüber den Studierenden verpflichtet.Deshalb haben wir mit 15 Millionen Euro an Bundesmit-teln ein Projekt auf den Weg gebracht, dass den Studie-renden und den Hochschulen ihr Leben erheblich er-leichtern könnte. Jetzt müssen die Projektentwickler ihrePflicht tun – seriöser als bisher und ohne falsche Zeitvor-stellungen, aber doch mit dem Ziel vor Augen, die Miss-stände zu beseitigen. In absehbarer und vertretbarer Zeitmuss den Studierenden das Angebot zur Verfügung ge-stellt werden, das man nach einer Investition von 15 Mil-lionen Euro an Bundesgeldern auch erwarten kann.

Tankred Schipanski (CDU/CSU): Die Linken nut-zen die öffentlich gewordenen technischen Probleme beider Stiftung für Hochschulzulassung, um ihre bildungs-politische Ideologie wieder einmal im Plenum zu disku-

tieren. Lobenswert ist, dass auch die Linken erkennen,dass ein funktionierendes Verfahren zur Hochschulzulas-sung notwendig ist und dass die Stiftung für Hochschul-zulassung das richtige Instrument ist.

Bereits in der gestrigen Ausschusssitzung zeigte sichüber die Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit dahin ge-hend, dass das dialogorientierte Serviceverfahren einrichtiger und wichtiger Schritt ist, um die Vergabe vonStudienplätzen transparenter zu machen und um es andie Bedürfnisse der Studierenden, aber auch an die derHochschulen anzupassen. Darüber hinaus sind wir unseinig, dass wir jetzt in engem Dialog mit den Verant-wortlichen eine Fehleranalyse vornehmen müssen, beider aufgeklärt wird, wo noch technische Probleme beste-hen – viel wird ja in diesen Tagen über die Schnittstellenund die Kompatibilitäten zwischen teilweise veralteterHochschulsoftware und der von T-Systems entwickeltenSoftware geredet. Hier brauchen wir Klarheit, um dannvernünftige Lösungsansätze und einen realistischen Zeit-rahmen für die Einführung des Systems entwickeln zukönnen.

Die aufgetretenen technischen Probleme sind jedochkeine rechtlichen. Dies verkennen die Linken, wenn sienunmehr als Allheilmittel ein „Bundeshochschulzulas-sungsgesetz“ fordern. In Ihrem Antrag betonten Sie, dassder Bund die ihm seit der Föderalismusreform 2006 zu-stehende Gesetzgebungskompetenz zur Regelung desHochschulzuganges bislang noch nicht wahrgenommenhabe. Damit sagen Sie zwar nichts grundsätzlich Fal-sches. Sie erwecken aber fälschlicherweise den Ein-druck, dass es explizites Ziel der Föderalismusreformgewesen sei, die Hochschulzulassung zukünftig durchden Bundesgesetzgeber regeln zu wollen. Damit offen-baren Sie ein völliges Missverständnis in Bezug auf dieSystematik dieser Reform. Zum einen ist nämlich mitdem Wegfall der bundesgesetzlichen Rahmenkompetenzim Hochschulrecht eine Kompetenzveränderung vorge-nommen worden, aus der sich nun wirklich kein Impera-tiv für eine verstärkte hochschulrechtliche Gesetzge-bungstätigkeit des Bundes herauslesen lässt.

Beim Bund verbleiben Kompetenzen im Bereich derHochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse.Beide Kompetenzen stehen aber im Katalog der konkur-rierenden Gesetzgebung und fallen unter die Regelungdes Art. 72 Abs. 3 Grundgesetz; da geht es um die soge-nannte Abweichkompetenz der Länder. Diese Vorschriftgibt den Ländern die Möglichkeit, auf eine bundesrecht-liche Regelung wiederum mit abweichendem Landes-recht zu reagieren. Ihr Ansinnen, die Länder durch einBundesgesetz vor vollendete Tatsachen zu stellen, ist so-mit mehr als fragwürdig, denn es läuft Gefahr, ein Rege-lungschaos zwischen Bund und Ländern hervorzurufen.Unser Ziel sollte es sein, im Dialog mit den Ländern zueiner sinnvollen und zielorientierten Lösung zu kom-men. Das ist jedoch nicht der einzige Irrtum in Ihrerrechtlichen Argumentation.

Mit Interesse habe ich gelesen, dass Sie Ihren Antragmit Zitaten aus dem zweiten Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts zum Numerus clausus aus dem Jahre 1977verziert haben. Ich will mich an dieser Stelle aber gar

Page 206: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

nicht darüber streiten, wie sinnvoll oder vielmehr wiesinnlos es ist, einzelne Zitate aus dem Gesamtzusam-menhang höchstrichterlicher Rechtsprechung zu reißen.Ich kann Ihnen aber versichern, dass Sie gut daran getanhätten, nicht nur dieses Urteil, sondern auch das wesent-lich grundlegendere Urteil des Bundesverfassungsge-richts aus dem Jahre 1972 zu dieser Thematik vollstän-dig zu lesen. Beide Urteile stammen aus einer Zeit, inder sich die Universitäten der Gesellschaft gegenüber inmassivem Umfang geöffnet haben. Das Bundesverfas-sungsgericht stellte bereits 1972 selber fest, dass derHochschulausbau mit der Verdoppelung der Zahl derStudienanfänger – Referenzzeit waren die Jahre 1952 bis1967 – nicht Schritt halten konnte. Diese Ressourcen-knappheit infolge des stärksten Umbruchs unserer Uni-versitätslandschaft ist wohl kaum mit der heutigen Situa-tion zu vergleichen. Der angesprochenen Verdoppelungder Zahl der Studienanfänger steht im aktuellen Refe-renzzeitraum der letzten 15 Jahre ein Anstieg der Studie-rendenzahl um lediglich 13 Prozent gegenüber. Das Ur-teil entstammt also einer Zeit mit vollkommenunterschiedlichen bildungspolitischen Herausforderun-gen.

Dennoch stellt das Bundesverfassungsgericht in die-sen Urteilen natürlich auch Grundlegendes fest, so etwaauch, dass eine Auswahl zwischen hochschulzugangsbe-rechtigten Bewerbern prinzipiell eine Ungleichbehand-lung prinzipiell Gleichberechtigter darstellt. Es betontdaher richtigerweise auch den Grundsatz, dass Auswahl-regelungen jedem Zulassungsberechtigten eine Chancelassen müssen. Daraus ein generelles Recht auf die freieWahl des Faches wie des Studienortes zu konstruieren,wie Sie es in Ihrem Antrag tun, ist aber doch verblüf-fend. Das Bundesverfassungsgericht selbst stellt in demvon Ihnen bemühten Urteil nämlich fest, ich zitiere: „Inharten Numerus-clausus-Fächern […] konnte [derGrundsatz, jedem Zulassungsberechtigten eine Chancezu lassen,] aber von Anfang an nicht so verstanden wer-den, als müsse eine Zulassung zum Studium garantiertwerden. Schon begrifflich schließt die Einräumung vonChancen das Risiko des Fehlschlages ein.“

In unserer Bundesrepublik geht es um Chancen-gleichheit und nicht um Gleichmacherei, wie Sie diesaus Ihrer sozialistischen Doktrin kennen. Davon zeugenauch noch andere Passagen Ihres Antrags. Mit einer ge-wissen Überraschung durfte ich in Ihrem Antrag lesen,dass die Hochschulzugangsberechtigung in Form desAbiturs „die logische Konsequenz aus der ständischenGliederung des bundesdeutschen Schulsystems“ sei. Esist schon sehr bezeichnend, dass Sie unser gegliedertesSchulsystem, das den individuellen Begabungen desEinzelnen gerecht zu werden sucht, mit Begriffen dermittelalterlichen Feudalgesellschaft belegen. SolcheFormulierungen zeugen wohl eher von rhetorischer Ein-fallslosigkeit als von bildungspolitischem Verantwor-tungsbewusstsein.

Ihre bildungspolitische Verantwortungslosigkeit zeigtsich zudem in Ihrer populistischen Forderung „Master-studium für alle“. Die Forderung nach ausreichendenMasterstudienplätzen ist legitim, aber nicht Ihre aben-

teuerlichen Forderungen, Studienanfängern schon mitder Zulassung zum Bachelorstudiengang die Zulassungzu einem darauf aufbauenden Masterstudiengang an dergleichen Hochschule zu gewährleisten. Dazu sage ichIhnen: Ein Master für alle, am besten ohne jegliche Leis-tungsanforderungen, ist mit uns nicht zu machen.

Wir treten dafür ein, dass bei der Auswahl der Mas-terstudierenden der Leistungsgedanke eine tragendeRolle spielt. Hier geht es nicht um Mangelverwaltung,sondern darum, den Hochschulen die Möglichkeit zu ge-ben, besonders bei stark nachgefragten Studiengängendie leistungsfähigsten Studierenden auszuwählen. Wiesie das tun – ob durch Auswahlgespräche, Motivations-schreiben, die Nachweise von Praktika –, wissen dieHochschulen selbst am besten, und deshalb sollte dieAuswahlentscheidung ihnen überlassen bleiben.

Für uns ist und bleibt der Bachelor der erste berufs-qualifizierende Abschluss und kein Abschluss „zweiterKlasse“ – zu dem Sie ihn gern degradieren würden.Auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass der Bache-lor in der Wirtschaft auf breite Akzeptanz stößt. Absol-venten eines Bachelorstudienganges finden auf dem Ar-beitsmarkt genauso schnell eine Stelle, wie dies Kom-militonen mit Magister- oder Diplomabschluss tun, unddie Rate der Arbeitslosigkeit liegt mit rund 3 Prozent fürBachelorabsolventen nicht höher als für Absolventen mitanderen Hochschulabschlüssen. Allerdings besteht auf-grund fehlender Erfahrungen hinsichtlich der Qualitätder Bachelorabschlüsse in einigen Unternehmen nochUnsicherheit darüber, wie Bachelorabsolventen im Hin-blick auf ihre Kompetenzen und Potenziale fachlich undhierarchisch einzustufen sind. Deshalb werben wir dafür,dass die Akzeptanz in den Unternehmen weiter steigt.

Ihr Antrag enthält weitere Vorurteile, die es auszuräu-men gilt. Die Linke unterstellt, dass durch die derzeiti-gen Vergabeverfahren eine soziale Selektion zulastenvon Studierenden aus Arbeiterfamilien oder Familienmit niedrigerem Einkommen stattfindet. Allein den Be-leg für ihre Behauptung bleiben Sie uns schuldig. Bereitsin der Antwort – das ist Drucksache 17/373 – auf eineKleine Anfrage Ihrer Partei auf Drucksache 17/183 hatdie Bundesregierung festgestellt: „Der Bundesregierungliegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass das erwei-terte Selbstauswahlrecht der Hochschulen nachteiligeVeränderungen bei der sozialen Zusammensetzung derStudierenden bewirkt hätte.“ Durch verschiedene Maß-nahmen – wie BAföG-Novelle, Stipendiengesetz undAufstiegsstipendien – versuchen wir, die Chancenge-rechtigkeit zu erhöhen und Menschen aus allen gesell-schaftlichen Schichten ein Studium zu ermöglichen

Als Partei der Utopien haben Sie natürlich auch nochweitere unrealistische Forderungen in Ihrem Antrag un-tergebracht: 500 000 zusätzliche Studienplätzen für alle.Ich darf Sie an dieser Stelle auf den Boden der Tatsachenzurückholen. Bereits in der ersten Programmphase desHochschulpaktes wurde das ursprünglich verabredeteZiel, 91 370 zusätzliche Studienplätze zu schaffen, mitinsgesamt 182 193 zusätzlichen Studienanfängern deut-lich übertroffen. Für die zweite Programmphase wurdeeine Aufstockung um weitere 275 000 Plätze vereinbart.

Page 207: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12137

(A) (C)

(D)(B)

Der Bund engagiert sich also hier bereits in überdurch-schnittlichem Maße. Utopische Forderungen zu stellen,ohne einen Vorschlag zu machen, woher die dafür not-wendigen Mittel kommen sollen, ist unredlich, in IhrerPartei aber durchaus nichts Neues.

Zusammenfassend ist Ihnen für zukünftige Anträgemit auf den Weg zu geben: Nehmen Sie endlich Tatsa-chen und Erfolge unserer Bildungsrepublik Deutschlandzur Kenntnis. Erkennen Sie, dass wir in einer Leistungs-gesellschaft leben, und verführen Sie unsere Jugendnicht mit Ideologie und Utopien.

Swen Schulz (Spandau) (SPD): Der Antrag der Frak-tion Die Linke klingt zunächst sympathisch. Abgesehenvon ein paar Ungereimtheiten enthält er eine ganze Reihevon weitgehenden Forderungen und Zielstellungen, da-runter den Wegfall aller Zulassungs- und Zugangshürdenfür das Studium und die Sicherstellung des Rechts auf ei-nen Masterstudienplatz im Wunschfach am Wunschort.

Allein: Das ist nicht nur ambitioniert, sondern einWünsch-dir-was-Katalog, der schlichtweg nicht reali-sierbar ist. Und darum sagt die Linke in ihrem Antrag si-cherheitshalber auch nichts über Kosten und zur Fragen,woher das Geld dafür denn kommen soll. So sehr wirZielstellungen wie die Ausweitung des Studienplatzan-gebotes – auch beim Master –, die Verbesserung derLehre oder die soziale Mobilität teilen und unterstützen,so sehr gehört zu verantwortungsvoller Politik auch,dass gesagt wird, was in welchem Zeitraum geht undwas nicht.

Tatsächlich muss der Hochschulpakt verbessert wer-den. Die weiterhin bestehende Deckelung der Finanzie-rung von Studienanfängerplätzen muss weg. In der Tatgibt es ein immer stärker werdendes Problem mit dem Zu-gang zum Master. Auch das muss im Hochschulpaktkünftig berücksichtigt werden. Die heute veröffentlichteStudie über Bachelorstudierende zeigt, dass die deutlicheMehrheit ein Masterstudium anhängen will. Es reichteben nicht, Studienanfänger zu finanzieren, es muss ihnenauch eine ordentliche Perspektive gegeben werden. Undes muss auch die Qualität der Lehre und die Betreuung derStudierenden verbessert werden – der Qualitätspakt derBundesregierung reicht da nicht aus.

Alleine die Aufstockung des Hochschulpaktes für Stu-dienanfänger um 200 000 Plätze bis 2015 würde Bundund Länder 5,2 Milliarden Euro kosten – nach bisherigerBerechnung. Das ist anspruchsvoll, aber machbar. Damitwäre aber bei weitem noch nicht die Forderung nachWegfall aller Beschränkungen realisiert und auch nichtdie Aufstockung des Finanzierungsbetrages. Insofern alsohaben wir durchaus ähnliche Zielstellungen. Doch wäh-rend die Linke nach den Sternen greift, erstellen wir Kon-zepte, die realisierbar sind.

Der Antrag behandelt eine weitere wichtige Fragestel-lung, nämlich die Regelung der Vergabe von Hochschul-plätzen. Wir erleben ja gerade ein Desaster, weil nun er-neut ein Anlauf für ein vernünftiges, organisiertesVergabeverfahren geplatzt ist. 17 000 Studienplätze blie-ben zuletzt unbesetzt – was für ein Jammer und was für

ein Schaden für die Menschen und für die Gesellschaft!Das neue, Dialogorientierte Serviceverfahren sollte Ab-hilfe schaffen, aber – wir haben das ja gestern bereits imAusschuss debattiert – die Verantwortlichen haben esnicht hinbekommen.

Mich erzürnt das Schwarze-Peter-Spiel, das jetzt be-gonnen hat. Jeder weiß ganz genau, dass er nicht verant-wortlich ist. Wir fordern eine schonungslose Fehlerana-lyse – und Offenheit für die richtigen Konsequenzen. Eskann doch nicht sein, dass die Bundesministerin Schavansich zurücklehnt und „Mein Name ist Hase, ich weiß vonnichts!“ flötet. Die Bundesregierung ist genauso im Bootder Verantwortlichen wie die Länder, die Hochschulen,der Stiftungsrat und die Softwareentwickler. Da stellt sichdann schon die Frage, woran es genau gelegen hat. Wirwerden das im Ausschuss näher erörtern. Sind es techni-sche Probleme? Hat es mit der Finanzierung zu tun? Sindes zu viele Akteure, auf deren Kooperation das Systemangewiesen ist? Ist es überhaupt machbar, den Hochschu-len weitgehende Autonomie einzuräumen und gleichzei-tig ein bundesweites Verfahren zu organisieren? Wo set-zen wir dann unsere Prioritäten?

Die Linke fordert die bundesgesetzliche Regelung desHochschulzuganges. Das ist eine starke Forderung, fürdie es gute Argumente gibt. Wir bekennen uns dazu, dassdas durchaus eine der Möglichkeiten ist, die am Endedes Abwägungsprozesses stehen kann. Doch wir wollennicht so schnell mit scheinbaren Gewissheiten auftrump-fen, sondern uns gemeinsam mit allen Beteiligten einBild machen und das weitere Vorgehen erörtern. Jedochist klar, dass umgehend ein „Plan B“ organisiert werdenmuss, der so lange greift, bis wir ein neues System ha-ben. Dieser Plan B sollte tunlichst nicht in der Variante„Weiter so wie bisher!“ bestehen. Auch das werden wirgemeinsam – aber schnell – beraten müssen.

Klaus Hagemann (SPD): Die deutschen Hochschu-len erwarten in diesem Jahr einen bisher noch nicht gese-henen Ansturm junger Studienanfänger und -anfängerin-nen. Mit großen Worten hatte die Bundesregierung einneues, zentralisiertes Vergabeverfahren für Studienplätzeangekündigt, das nach jahrelangen Versäumnissen end-lich die chaotischen Zustände beim Semesterstart be-seitigen sollte. Viel zu spät wurden die nötigen Impulsegesetzt, um dem ineffizienten und langwierigen Zulas-sungsverfahren an deutschen Universitäten zu begegnen.Der Stiftung für Hochschulzulassung blieb am vergange-nen Dienstag nichts anderes übrig, als wenige Wochenvor dem geplanten Start des Dialogorientierten Service-verfahrens die Reißleine zu ziehen und das neue Verfah-ren abzusagen.

So, wie es sich heute darstellt, hatten wir es uns nichtvorgestellt, als wir zu Zeiten der Großen Koalition, nachlanger Diskussion im Haushaltsausschuss, gemeinsamBundesmittel in Höhe von 15 Millionen Euro als „Start-kapital“ bewilligt haben – und dies, obwohl die Verant-wortung eigentlich bei den Bundesländern liegt. DieFreigabe der Gelder wurde damals – auch auf Verlangender SPD-Fraktion – an so wichtige Bedingungen wie diegarantierte Gebührenfreiheit für die Studienbewerber

Page 208: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

und -bewerberinnen geknüpft. Es ist schon ein ungeheu-erlicher Vorgang, dass der Bund in die Bresche springenmusste, nachdem der frühere „Innovations“-Minister ausNRW, Andreas Pinkwart, seinerzeit das System der ZVSkurzerhand zerrissen hat, ohne eine angemessene Alter-native hervorzubringen. Dieses Vorgehen war angesichtsder steigenden Zahl an Studienanfängern und der Tatsa-che, dass die Bundesländer eine Finanzierung bestenfallsmittelfristig auf die Beine gestellt hätten, geradezu fahr-lässig.

Frau Bundesministerin Schavan, ich habe den Ein-druck, Ihr Haus und die anderen Beteiligten waren durchdie Planung des neuen Systems völlig überfordert. Es istzwar rührend, dass Sie nun in einer Pressemitteilung dasScheitern des Serviceverfahrens bedauern. Sie könnenaber nicht behaupten, seitens des Bundes wären alle Vo-raussetzungen geschaffen worden, während Sie gleich-zeitig versuchen, die Verantwortung auf die Stiftung fürHochschulzulassung und die Gesellschaft Hochschul-Informations-System abzuwälzen.

Die Überforderung der Hochschulen durch geburten-starke Jahrgänge und doppelte Abiturjahrgänge war seitlangem absehbar. Erst haben Sie eine Lösung jahrelangverbummelt, dann musste plötzlich alles ganz schnellgehen. Nachdem sich dann noch die Auftragsvergabeum drei Monate verzögert hatte, sollte schließlich in nurrund einem Jahr ein System gezimmert werden, dasHunderte unterschiedlicher und teils veralteter Hoch-schulverwaltungssysteme zu einer modernen Web-Platt-form koordinieren sollte. Die negativen Erfahrungen, diebei der Einführung der Autobahnmaut gemacht wurden,hätten hier zur Lehre gereichen können. Seit damalswissen wir, wie langwierig und kostenintensiv solcheSchwierigkeiten in komplexen Softwaresystemen wer-den können. Vor diesem Hintergrund war das Verspre-chen, im April 2011 mit dem neuen System an den Startzu gehen, nichts als Augenwischerei. Die enge Terminie-rung hätte letztlich auch bedeutet, dass mit der Inbetrieb-nahme des Systems der erste ernsthafte Test des Verfah-rens auf den bis dato größten Ansturm an die Universitätengeprallt wäre. Auch der knappe Zuschnitt des Systems, deretwa Lehramtsstudiengänge und Bachelor mit mehr als ei-nem Fach ausklammert, hätte dann zu neuen Problemengeführt.

Auch die Hochschulrektorenkonferenz hätte währendder Vorbereitung mehr Geschlossenheit zeigen müssen.Die millionenschwere Anschubfinanzierung des Bundeswar offenbar nicht Anreiz genug, um die Kooperationder Hochschulen untereinander und an der Schnittstellezur neuen Plattform herzustellen. Auch haben sich vieleUniversitäten noch bis kurz vor dem geplanten Start be-deckt gehalten, ob sie überhaupt mitmachen wollen. DieHaltung vieler Hochschulen war nicht so optimistisch,wie es zunächst die Zustimmung der Hochschulrektoren-konferenz suggeriert hat. Es wäre aber vor allem IhreAufgabe gewesen, Frau Bundesministerin, die richtigenRahmenbedingungen zu setzen. Das DialogorientierteServiceverfahren wird nur dann zum Erfolg, wenn Siealle Universitäten ins Boot holen. Die Verzögerung ist

nicht technischen Widrigkeiten geschuldet, sondernmangelnder politischer Koordination.

Die Betroffenen sind die Studienanfänger und -anfän-gerinnen, denen auch dieses Jahr der Start ins Studiumverhagelt wird. Sie müssen sich an Dutzenden Universi-täten parallel bewerben und bleiben auf den Kosten undzeitlichen Folgen des ineffizienten Systems sitzen. Fürall jene, die auch über eines der langwierigen Nachrück-verfahren keinen Platz erhalten haben, bleibt erneut nurdie Studienplatzbörse übrig – eher eine Notlösung als eingeordneter Übergang ins neue System. Die Effizienzlü-cken dieser akademischen „Resterampe“ zeigten sichschon bei einer Erhebung im Wintersemester 2009/2010,nach der mindestens 18 000 der begehrten Studienplätzemit örtlichem Numerus clausus unbesetzt geblieben wa-ren. Die damalige Argumentation der Unionsfraktion,ein Großteil dieser Plätze sei im Semesterverlauf nochbesetzt worden, wird durch die Zahlen zum Winterse-mester 2010/2011 eindeutig widerlegt. Nachdem aufmassives Drängen der SPD-Fraktion im Haushaltsaus-schuss das Erhebungsinstrument verbessert wurde, zeigtsich jetzt, dass erneut fast 17 000 Studienplätze frei ge-blieben sind. Das sind 6,9 Prozent aller Studienplätzemit lokaler Zulassungsbeschränkung! Mit den rund60 000 Studieninteressierten, die durch die Aussetzungder Wehrpflicht zusätzlich an die Universitäten drängenwerden, werden wir dieses Jahr wohl einen neuen „Re-kord“ erreichen.

Eine solche Verschwendung von Kapazitäten ist be-sonders pikant im Hinblick auf die Finanzmittel in Höhevon 4,7 Milliarden Euro, die der Bundestag für dieSchaffung von neuen Studienplätzen im Rahmen desHochschulpaktes für die Jahre 2011 bis 2015 zur Verfü-gung stellt. Das Bemühen, junge Menschen für ein Stu-dium zu begeistern und mehr Studienplätze zu schaffen,wird durch die bestehenden Mängel konterkariert. Dieguten Voraussetzungen, die die Große Koalition mit demHochschulpakt geschaffen hat, laufen ins Leere, weilSie, Frau Ministerin, den Schuss nicht gehört haben. Esbraucht jetzt ein entschlossenes Vorgehen, um das Dia-logorientierte Serviceverfahren schnellstmöglich an denStart zu bringen und den Schaden zu begrenzen. FrauMinisterin Schavan, machen Sie das Thema endlich zurChefsache, nutzen Sie die Kompetenzen des Bundes beider Hochschulzulassung! Die Koordinierung des Zulas-sungsverfahrens muss unverzüglich und offensiv ange-packt werden. Handeln Sie jetzt!

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt sowohl eine bundesgesetzlicheRegelung der Hochschulzulassung als auch des Zugangszu Masterstudiengängen ab. Für beide Maßnahmen gibtes keinerlei sinnvolle Begründung und nachweislichauch keinen Regelungsbedarf. Daher werden wir denvorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke ablehnen.

Wieder einmal zeichnen die Antragsteller ein Bildvom deutschen Hochschulsystem und von der Umset-zung des Bologna-Reformprozesses, das mit der Wirk-lichkeit nicht ansatzweise übereinstimmt. Zahlreiche

Page 209: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12139

(A) (C)

(D)(B)

Studien belegen, dass die Umsetzung von Bologna inDeutschland auf einem guten Weg ist. Natürlich ist nochnicht alles optimal, aber es handelt sich um die größteReform der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Und„trotz mancher Kinderkrankheiten gibt es bereits vielegute Effekte“, wie es Uwe Schlicht jüngst in seinem Ar-tikel „Der Bachelor kann’s“ treffend konstatierte (ver-gleiche Der Tagesspiegel vom 11. März 2011). Viele derreform-auslösenden Mängel, wie beispielsweise ein iminternationalen Vergleich später Berufseintritt durch einelange Studiendauer, eine hohe Abbrecherquote oder einegeringe Praxisorientierung der Studiengänge, sind be-reits behoben oder zumindest abgeschwächt worden. Esherrscht trotz aller Unkenrufe eine hohe Zufriedenheitder Absolventen mit ihrer Ausbildung, und auch die Ak-zeptanz seitens der Arbeitgeber ist beachtlich hoch:72 Prozent der Bachelorabsolventen hatten – so das Er-gebnis einer Studie des Internationalen Zentrums fürHochschulforschung in Kassel – drei Monate, nachdemsie die Urkunde in den Händen hielten, einen Arbeits-platz.

Die Fraktion Die Linke behauptet zum wiederholtenMale, dass in Deutschland zu wenige Masterstudien-plätze zur Verfügung stehen. Zu diesem Ergebnis ge-langt man, weil man im Lager der Linken die Unter-scheidung zu dem Vorgängermodell „Diplom“ nichtnachvollziehen will oder kann. Der Bachelorstudiengangwird dem Grundstudium gleichgesetzt. Deswegenkommt man zu dem Trugschluss, dass alle Absolventeneines grundständigen Studienganges auch ein Masterstu-dium anstreben müssten. Während die erstgenannte Be-hauptung einer empirischen Grundlage entbehrt, ver-deutlicht die zweitgenannte Annahme, wie wenig mansich mit der Zielsetzung der Bologna-Beschlüsse befassthat.

Die Kultusministerkonferenz, KMK, gelangt im die-ser Tage bekannt gewordenen Bericht des Hochschul-ausschusses zur „Situation im Masterbereich“ zu derEinschätzung, dass es gegenwärtig keinen Mangel anMasterstudienplätzen in Deutschland gibt (vergleichedpa-Meldung „KMK: Derzeit kein Mangel an Master-studienplätzen“ vom 6. April 2011). Vielmehr sei dieZahl der angebotenen Masterstudienplätze ausreichend,wenngleich die Aufnahme eines Masterstudiums auchmit einem erforderlichen Ortswechsel verbunden seinkönne. Interessant ist dabei, dass im Bachelorabschluss-jahrgang 2009 unter den Befragten, die ein Masterstu-dium aufgenommen haben, 90 Prozent angegeben ha-ben, dass sie sowohl ihr Wunschfach als auch ihreWunschhochschule bekommen hätten.

Und auch das sagt die Erhebung der KMK: Etwasmehr als drei Viertel aller Masterstudiengänge haben kei-nen örtlichen Numerus clausus. Und selbst bei dendeutschlandweit 32 135 zulassungsbeschränkten Studien-plätzen sind ganze 6 258 nach dem Ende des Nachrück-verfahrens unbesetzt geblieben. Der Andrang war alsogeringer als erwartet, und es herrscht nachweislich keineKnappheit im Angebot von Masterstudienplätzen. Beiden Bachelorprüfungsjahrgängen 2005 bis 2007 wurdezudem lediglich eine Übertrittsquote von 33 Prozent ins

Masterstudium ermittelt. Die Behauptungen der Antrag-steller sind damit zum heutigen Zeitpunkt empirischnicht belegt. Gleichwohl ist nicht absehbar, wie sich dieÜbertrittsquoten vom Bachelor- zum Masterstudiumkünftig angesichts der zu erwartenden steigenden Zahlvon Bachelorabsolventen entwickeln werden. Doch– und das ist meine volle Überzeugung – ein kompletterÜbergang von Bachelorabsolventenjahrgängen zumMasterstudium ist gar nicht erstrebenswert. Eine solcheWiderspiegelung der ehemaligen Studienstruktur unterneuem Namen wäre weder im Interesse der Studierendennoch der Hochschulen oder des Arbeitsmarktes.

Die Bildungsrepublik Deutschland kann auch dankder großen Anstrengungen seitens der christlich-libera-len Koalition – wir stellen allein in der laufenden Legis-laturperiode zusätzlich 12 Milliarden Euro für Bildungund Forschung im Bundeshaushalt bereit – auf beachtli-che Erfolge im Hochschulbereich verweisen: mit einerRekordstudienanfängerquote von 46 Prozent im Studien-jahr 2010, mit der Bereitstellung von etwa 2 MilliardenEuro bis zum Jahr 2020 für den Qualitätspakt Lehre, miteinem endlich Bologna-tauglichen Bundesausbildungs-förderungsgesetz, welches Fördermöglichkeiten fürMasterstudenten bis zum 35. Lebensjahr bietet, mit einererfolgreichen Umsetzung des Hochschulpaktes, mit des-sen Hilfe nicht nur die angestrebten 91 370, sondern so-gar 182 193 zusätzliche Studienplätze in der ersten Pro-grammphase geschaffen wurden, und der Zusicherungseitens der Bundesregierung, im Rahmen des Hoch-schulpakts II eine Aufstockung für darüber hinaus in-folge der Aussetzung der Wehrpflicht und der doppeltenAbiturjahrgänge benötigte Studienplätze mitzufinanzie-ren. Mit dem in diesem Jahr startenden Deutschland-Sti-pendium, welches künftig einen wichtigen Beitrag dazuleisten wird, dass das Jobben neben dem Bachelorstu-dium zunehmend überflüssig werden kann, sorgen wirauch dafür, dass die Rahmenbedingungen für eine opti-male Umsetzung der Bologna-Reform weiter verbessertwerden.

Die Antragsteller beklagen die jahrzehntelange Un-terfinanzierung des deutschen Hochschulsystems.Gleichzeitig bieten sie aber keinerlei konstruktive Vor-schläge an, wie sich dieser Mangel beheben lassenkönnte. Auch wenn sich über die Hälfte der Deutschenfür Studienbeiträge als ein probates Mittel zur Finanzie-rung der Hochschulen aussprechen – die Linke will esnicht wahrhaben. Sie scheut es, darüber nachzudenken,welche positiven Effekte Studienbeiträge für die Hoch-schullehre hat, angefangen bei verbesserten Betreuungs-relationen über bessere Hochschulinfrastruktur bis hinzum persönlichen Anspruch des Einzelnen gegenüberseiner Hochschule. Leider mussten wir immer wiederfeststellen, dass sich die Oppositionsfraktionen gegen-über Argumenten versperren, empirische Daten negierenund Fakten infrage stellen. Wenn Wahrheiten nicht insWeltbild passen, werden sie passend gemacht. Mit die-sem Anspruch lässt sich Politik betreiben; für das Wis-senschaftssystem ist eine solche Haltung bekannterma-ßen aber Gift.

Page 210: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Ein – wie von den Antragstellern gefordertes – Bun-deshochschulzulassungsgesetz stellt einen Angriff aufdie Autonomie der Hochschulen dar und wird seitens derFDP-Bundestagsfraktion mit aller Vehemenz abgelehnt.Damit wäre nicht nur der Bologna-Reformprozess ad ab-surdum geführt. Man vergisst auch zu gerne, dass derBund sich nur im Rahmen der konkurrierenden Gesetz-gebung einbringen kann. Sobald ein Land ausschert,bricht das wackelige Gefüge zusammen. Da ist es dochbesser, die Organisation dezentral zu verorten und aufdas dialogorientierte Zulassungsverfahren „hochschul-start.de“ der Stiftung für Hochschulzulassung zu warten.Ja, es hat Verzögerungen gegeben, und diese müssenschnellstmöglich behoben werden. Wer aber so tut, alswürden bundesgesetzliche Regelungen schneller greifenkönnen, der handelt unredlich. Es gibt Software-Schnitt-stellenprobleme. Diese sind der Grund für das Verschie-ben. Aber das neue System wird kommen – wir lassenuns nicht auf eine Rolle rückwärts in die 70er-Jahre desvergangenen Jahrhunderts ein. Die Studentenlandver-schickung per ZVS ist endgültig passé; das werden auchSPD, Grüne und die Linke begreifen müssen.

Als Fazit bleibt – wie so oft bei den Anträgen derFraktion Die Linke – festzuhalten: Hier wird mit untaug-lichen Mitteln die Beseitigung von nicht existierendenProblemen gefordert. Der Antrag ist also nicht nur nichtgut gemacht, sondern auch nicht gut gemeint und gehörtdaher abgelehnt.

Nicole Gohlke (DIE LINKE): Seit Jahren erhaltenjedes Semester viele Tausend junge Menschen, die stu-dieren wollen und dafür die nötigen Voraussetzungenmitbringen, von den Hochschulen eine Absage. Dasheißt, sie erwerben sich durch das Abitur oder andereStudienberechtigungen zwar einen formalen, aber keinentatsächlichen Hochschulzugang. Mittlerweile ist dasnicht mehr nur beim Studienbeginn so, sondern nun auchbeim Übertritt in den Master. Und damit nicht genug:Die Zulassungsverfahren sind chaotisch, das dialog-orientierte Zulassungsverfahren der Bundesregierung istfaktisch gescheitert, am Ende bleiben auch dieses Jahrwahrscheinlich wieder Tausende Studienplätze unbe-setzt. Dieser Zustand ist unerträglich!

Seit 2006 fällt die Hochschulzulassung – unter Mitwir-kung der Länder – in den Kompetenzbereich des Bundes.Aber die Bundesregierung macht keine Anstalten, diechaotischen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern. Mitunserem Antrag wollen wir das ändern. Deshalb fordertdie Linke ein Bundeshochschulzulassungsgesetz: Jedeund jeder Studienberechtigte soll tatsächlich studierenkönnen, und zwar im gewünschten Fach und am ge-wünschten Ort.

Seit der Regierung Schröder wird das sogenannte„Selbstauswahlrecht der Hochschulen“ gestärkt: ImSinne der sogenannten „Profilbildung und des Wettbe-werbs zwischen den Hochschulen“ sollen sich die Hoch-schulen „ihre Studierenden“ aussuchen dürfen. Ichglaube aber, man muss sich an dieser Stelle entscheiden:Wollen wir, dass die Studierenden wählen dürfen – so

verstehe ich das Recht auf freie Berufswahl und dasMenschenrecht auf Bildung –, oder wollen wir, dass sichdie Hochschulen ihre Studierenden aussuchen – dannnimmt man zwangsläufig in Kauf, dass Bewerberinnenund Bewerber abgewiesen werden?

Manche halten es für utopisch, dass jeder den Stu-dienplatz bekommt, den er will. Sehr lange war es aberpolitischer Konsens, dass jeder Studienberechtigte dasRecht dazu hat. Das Bundesverfassungsgericht stellte1972 in seinem Urteil zum Numerus clausus fest: DasRecht auf die freie Wahl der Ausbildungsstätte wäre – Zi-tat – „ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in An-spruch nehmen zu können, wertlos“.

Und heute heißt es beim Thema Masterstudienplätze,dass es vielleicht genügend gibt, aber nicht an jederHochschule und schon gar nicht in jedem Studiengang.Damit wird dem Recht auf Selbstbestimmung der Stu-dierenden faktisch eine Absage erteilt.

Wir fordern stattdessen das Recht auf einen Master-studienplatz. Wir schlagen vor, dass die Studierendenmit der Zulassung zum Bachelor auch das Recht bekom-men, nach dem Bachelorabschluss ein Masterstudium ander gleichen Hochschule anzuschließen.

Ein Einwand liegt freilich auf der Hand. Viele Hoch-schulen sind heute schon überlastet. Die entscheidendeFrage ist: Was folgt daraus? Soll man sich jetzt damitpolitisch abfinden, dass jedes Jahr Tausende Studienbe-rechtigte von den Hochschulen abgewiesen werden?Man darf sich nicht damit abfinden! Wir brauchen mehrStudienplätze, damit massenhafte Ablehnungen nichtvorprogrammiert sind. Der Hochschulpakt verfolgt die-ses Ziel bislang nicht. Er ist darauf angelegt, sich durch-zuwursteln, und nicht darauf, Zulassungshürden zu be-seitigen.

Für die Linke gehört die Finanzierung mit zum Kerneines guten Hochschulzulassungsgesetzes. Es geht nichtdarum, den Mangel zu verwalten, sondern darum, ihndurch entschlossenen Hochschulausbau zu beseitigen.Sonst steht das Recht auf einen Studienplatz weiter nurauf dem Papier.

Verhelfen Sie der Studienberechtigung wieder zu ih-rem eigentlichen Sinn! Machen Sie aus der Berechtigungendlich – wie es im Wort selbst schon steckt – ein Recht,und stimmen Sie dem Antrag der Linken zu!

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer indiesen Tagen über den Hochschulzugang spricht, kannzur blamablen Verschiebung des Dialogorientierten Ser-viceverfahrens auf unbestimmte Zeit und zu den fatalenFolgen für die Studienberechtigten der Jahre 2011 unddanach nicht schweigen. Angesichts des Studierenden-hochs, doppelter Abiturjahrgänge, der Aussetzung vonWehrdienst und Zivildienst wäre – gerade nach jahrelan-gem Einschreibe-, Zulassungs- und Nachrückchaos – einfunktionierendes Hochschulzulassungssystems zumWintersemester 2011/2012 zwingend erforderlich undlängst überfällig.

Page 211: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12141

(A) (C)

(D)(B)

Das aktuelle Scheitern ist aber nur die Spitze des Eis-bergs, denn es geht um eine Serie bildungspolitischerSkandale: Es ist beschämend, dass ein Erreichen derHochschulzugangsberechtigung hierzulande extrem engmit dem Bildungsgrad der Herkunftsfamilie verknüpftist. Die allgemeine Hochschulreife ist zudem keineHochschulzugangsberechtigung mehr, sondern eher eineBewerbungsberechtigung, die zur Teilnahme an einerStudienplatzlotterie berechtigt.

Nachdem die ZVS in alter Form abgewickelt wurde,klemmt nun das lange angekündigte dialogorientierteServiceverfahren unter anderem wegen technischer Soft-wareprobleme. Ausgerechnet im Jahr mit den meistenStudieninteressierten aller Zeiten wird so vielen der Wegzur Hochschule verbaut. Im letzten Wintersemester blie-ben rund 18 000 Studienplätze unbesetzt, da ihre Ver-gabe am Durcheinander gescheitert ist. Die Bundesre-gierung hat zwar die verfassungsrechtliche Möglichkeit,die Verfahren des Hochschulzugangs bundeseinheitlichzu regeln und transparent zu gestalten, nutzt diese aberfahrlässigerweise nicht. Die Studienberechtigten undHochschulen warten seit Jahren auf eine Lösung der Zu-lassungsproblematik. Weitere Verzögerungen und anhal-tendes Chaos sind unzumutbar. Da das neue Zulassungs-verfahren aber nicht funktioniert, ist eine erneuteVerschiebung leider unumgänglich.

So richtig es ist, Studienberechtigte nicht zu Ver-suchskaninchen eines instabilen IT-Programms zu ma-chen, so klar bleibt das Ziel: Sie haben ein Recht auf einfunktionierendes Zulassungsverfahren, um ein Studiumaufzunehmen. Dieses Recht ist jetzt akut gefährdet.Hochschulen und Studienberechtigten muss ein Desasterwie bei der Einführung der Lkw-Maut erspart bleiben.Ministerin Schavan muss daher unverzüglich eingreifenund das Zulassungschaos beheben, anstatt auf der Zu-schauertribüne zu verweilen. Wer wie der Bund 15 Mil-lionen Euro in das neue System investiert, muss mehr alsein Zaungast sein; er muss politisch steuern. SchavansPolitikverweigerung in den letzten Jahren hat das Zulas-sungschaos verschärft. Nun sieht es so aus, als wolle sietatenlos zusehen, wie zwischen Stiftung, IT-Entwicklern,Ländern und Hochschulrektorenkonferenz Schuldzuwei-sungen hin- und hergeschoben werden, anstatt Verant-wortung fürs Gelingen zu übernehmen, die Probleme zü-gig zu beseitigen und einen verlässlichen Zeitplanaufzustellen. Leidtragende sind Studienberechtigte, dieim besten Fall erst in aufwendigen und langwierigenNachrückverfahren einen Studienplatz erhalten. Imschlechtesten Fall bewerben sie sich vergebens und ver-lieren ein halbes oder gar ganzes Lebensjahr.

Studierende wie Hochschulen brauchen jetzt Verfah-rens- und Planungssicherheit. Ministerin Schavan undihre Länderkollegen und -kolleginnen müssen sicherstel-len, dass das alte Verfahren sofort anwendbar ist, damitnicht noch mehr Studienberechtigte vor dem deutschenZulassungschaos Reißaus nehmen und später als akade-mische Fachkräfte fehlen, dass alle Mittel genutzt wer-den, um mit dem alten Verfahren zu besseren Ergebnis-

sen zu kommen und nicht wieder 18 000 Studienplätzeungenutzt bleiben, und dass die Zeit bis zur endgültigenInbetriebnahme genutzt wird, für die volle Funktionsfä-higkeit des Systems auch für kombinierte Studiengängeund für das Lehramt zu sorgen sowie verbindliche Teil-nahme aller Hochschulen sicherzustellen.

Vor allem die Studierenden brauchen Klarheit: Es istkeine Panikmache, vor der realen Gefahr eines Zulas-sungsdesasters bis in den Herbst 2013 hinein zu warnen.Würde sich das deutsche Hochschulsystem als unfähigerweisen, seinen Mangel an gut ausgestatteten Studien-plätzen wenigstens effizient zu verwalten, so werden wirin wenigen Jahren über einen Fachkräftemangel unge-ahnten Ausmaßes diskutieren. Solange das neue Verfah-ren nicht funktioniert, bleibt es beim unbefriedigendenZustand aus lokalen Zulassungsverfahren in komplizier-ten Nachrückrunden mit anschließender Studienplatz-tombola. Dieser Zustand muss schnellstmöglich über-wunden werden.

Die Länder müssen zudem endlich das Kapazitäts-recht sinnvoll überarbeiten: Es muss einfacher werden,darf aber dem gesamtstaatlichen Ziel des Studienplatz-kapazitätsausbaus keinen Bärendienst erweisen. DieBundesforschungsministerin sei daran erinnert, dass ihreHightech-Strategie die Informations- und Kommunika-tionstechnologien als Innovationsmotor Nr. 1 nennt. Vordiesem Anspruch bekommt das Verschieben von „Hoch-schulstart.de“ und das Zulassungsdesaster eine andereDimension.

Mit Blick auf den Antrag der Linksfraktion sehe ichin einzelnen Punkten Übereinstimmung, in anderenmuss ich widersprechen. Erstens. Es ist nicht Aufgabedes Bundes, „dafür zu sorgen, dass ein ausreichendesAngebot an Studienplätzen zur Verfügung steht.“ Das istund bleibt Aufgabe der Länder. Der Bund kann allenfallsunterstützend wirken. Fakt ist, dass der Hochschulpaktnachzuverhandeln ist und dass Bund und Länder mehrGeld für mehr Bachelor- und Masterstudienplätze zurVerfügung stellen müssen. Zweitens. Dank der Abwei-chungsregel im Grundgesetz bliebe das von Ihnen einge-forderte Bundeszulassungsgesetz ein zahnloser Tiger,weil jedes Bundesland davon abweichen kann. Deswe-gen setzen wir auf einen nachhaltig ausverhandeltenBund-Länder-Staatsvertrag zur Hochschulzulassung.Dieser wäre ein effektiveres und wirkungsmächtigeresInstrument. Drittens. Dass Studienberechtigung „dasRecht, ein Studium im Fach und an der Hochschule sei-ner Wahl aufzunehmen“, bedeute, ist realitätsfern undließe sich nur durch Bildungszentralismus statt Bil-dungsföderalismus umsetzen. Viertens. Es macht wenigSinn, Hochschulen die Aufstellung jedweder Zugangs-voraussetzungen zu untersagen. Weiterbildungsmaster-studiengänge, die Berufserfahrung voraussetzen, solltenmöglich bleiben. Insgesamt sind wir der Linksfraktiondankbar, diese wichtige Debatte aufgesetzt zu haben.Mehreren Vorschlägen können wir aber nicht zustim-men.

Page 212: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts zu den Anträgen:

– Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeitschaffen, bessere Bildung ermöglichen, vor-handene Qualifikationen anerkennen

– Strategie statt Streit – Fachkräftemangel be-seitigen

(Tagesordnungspunkt 17)

Ulrich Lange (CDU/CSU): Die wirtschaftliche Situa-tion in Deutschland ist gut. Die Konjunktur ist nach derFinanz- und Wirtschaftskrise angesprungen. Deutsch-land, zu Zeiten von Rot-Grün das Schlusslicht in der EU,hat sich in der christlich-liberalen Koalition zur Konjunk-turlokomotive entwickelt. Erfreulich ist auch, dass dieAnzahl der Erwerbstätigen stark gestiegen, die Arbeitslo-senquote gesunken ist. Trotz dieser grundsätzlich positi-ven Wirtschaftsdaten stehen wir einem Problem gegen-über: der Fachkräftesicherung. Derzeit aber gibt es nochkeinen echten Mangel, aber starke regionale Unter-schiede.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass der wirtschaftli-che Aufschwung nur dann weitergehen wird, wenn wirdafür die nötigen Fachkräfte zur Verfügung haben. Diekünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unterneh-men wird deshalb entscheidend davon abhängen, ob esgelingt, die notwendigen Fachkräfte zu gewinnen. Einungedeckter Fachkräftebedarf verschenkt unnötigerweisevorhandene Wachstums- und Innovationspotenziale.

Wie in der Anhörung dargelegt, hatten Mitte 2010 lautUmfrage der DIHK bereits 70 Prozent der UnternehmenProbleme bei der Besetzung offener Stellen. Im Dezem-ber 2010 lag die sogenannte MINT-Lücke, also die Be-rufe: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften undTechnik, bei 98 600; davon umfasst die Ingenieurlückeknapp 50 000 Stellen. Die IHK Bayern geht davon aus,dass in 2014 allein in Bayern rund 420 000 Fachkräfte,davon 25 000 Akademiker fehlen. Trotzdem sieht dieLinke keinen Fachkräftemangel. Allein die genannten Er-hebungen widerlegen das „wirtschaftliche“ Fachwissender Linken, zeigen, dass die Linken auch von Wirtschaftnichts, aber auch gar nichts verstehen. Sie sehen bei die-sen Fakten keinen gravierenden Engpass von Fachkräf-ten, sondern eine Intrige des Kapitalismus. Ihr Erfolgsre-zept: Mehr gute Arbeit! Ja wie naiv sind Sie denn, einesolch undifferenzierte Forderung zu stellen! Von Fach-wissen sind Sie wirklich völlig unbeleckt.

Anders sieht die Analyse der Grünen aus, die einenwachsenden Fachkräftemangel diagnostizieren. Leidersind Ihre Schlussfolgerungen nicht immer Erfolg ver-sprechend. Insbesondere Ihre Forderung nach Ihrem„DualPlus“ als weiterentwickeltem Berufsausbildungs-system geht einfach in die falsche Richtung.

„DualPlus“ ist nichts anderes als eine Variante der au-ßerbetrieblichen Ausbildung. Diese war in der Vergan-

genheit leider notwendig, als die Ausbildungsnachfragedas betriebliche Angebot deutlich überstieg. Heute fehlenLehrlinge, keine Ausbildungsplätze. Unsere traditionelleüberbetriebliche Ausbildung, bei der die betrieblicheAusbildung in überbetrieblichen Lehrgängen inhaltlichergänzt und vertieft wird und die aufgrund ihrer gutenQualität in den Betrieben als notwendig akzeptiert ist, hatsich bewährt. Daran werden wir festhalten.

Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, um ausrei-chend Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu si-chern. Da reicht eine Maßnahme, eine Aktion nicht aus,wir müssen an mehreren Bereichen ansetzen und unsereAktivitäten bündeln.

Das Fachkräfteangebot kann gesteigert werden, in-dem die Anzahl der Fachkräfte, die dem Arbeitsmarktzur Verfügung stehen, erhöht wird und indem die vonden Erwerbspersonen erwirtschaftete Wertschöpfung ge-steigert wird. In vielen Bereichen müssen gleichzeitigSchritte zur Verbesserung der derzeitigen Situation ein-geleitet werden. Ich möchte einige Schwerpunkte auflis-ten:

Bildungsinitiative: Bildungspolitik ist Standortpolitik.Im Vordergrund steht die Aufgabe, den Anteil der Schul-abgänger ohne Hauptschulabschluss zu reduzieren.Wenn es gelingen würde, die Anzahl der Schulabgängerzu halbieren, würden bis 2025 circa 300 000 Fachkräftezusätzlich zur Verfügung stehen. Arbeitgeberverbände,Kammerorganisationen, Gewerkschaften, die Kultus-ministerkonferenz, der Bund und die Länder engagierensich derzeit schon in diesem Bereich. Seitens der Bun-desregierung wird eine zweite Chance für Schulverwei-gerer in einem extra Programm angeboten. Die Kultus-ministerkonferenz fördert gezielt Benachteiligte undrichtet vermehrt praxisorientierten Unterricht aus. Mitgezielter, rechtzeitiger Förderung lassen sich Schwächenin Mathematik und Deutsch, den beiden Grundfächern,beseitigen. Eine bessere Förderung müssen auch Jugend-liche mit einem Migrationshintergrund erhalten. Eineverstärkte Einbindung der Eltern wird sich positiv aus-wirken.

Die Schulen sollten verstärkt mit Wirtschaft undHochschulen zusammenarbeiten, um bei den Schülerndas Interesse für MINT-Bereiche zu erhöhen und mehrMINT-Absolventen auf den Hochschulen zu erhalten.

Berufseintrittsalter senken: Durch die Herabsetzungdes Einschulungsalters, die Flexibilisierung des Grund-schuleinstiegs, die sogenannte G 8, die Aussetzung desWehrdienstes und die Einführung einer zweistufigenStudienstruktur treten die Jüngeren künftig früher ins Er-werbsleben ein. Die ältesten Berufseinsteiger kommennicht mehr aus Deutschland.

Berufsausbildung unterstützen: Leider wird in Deutsch-land noch jeder fünfte Ausbildungsvertrag frühzeitig auf-gelöst. Die Hälfte dieser Jugendlichen, circa 70 000,beginnen keine neue Lehre. Hier muss weiter gegenge-steuert werden. Vertiefte Berufsorientierung bietet denJugendlichen eine sicherere Wahl des Berufes und ein hö-here Zufriedenheit bei der Ausbildung. Erfolgreich ist

Page 213: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12143

(A) (C)

(D)(B)

auch die Berufseinstiegsbegleitung an bundesweit 1 000Schulen.

Aber auch die Betriebe sind gefordert. Die erfolgrei-che betriebliche Ausbildung muss weiterentwickelt wer-den. Durch die parallele Doppelqualifikation aus Berufs-abschluss und FH-/Uni-Abschluss kann die Gewinnungund Bindung von Fachkräften deutlich gefördert werden.Den Jugendlichen muss immer wieder verdeutlicht wer-den, dass unser Bildungssystem sehr durchlässig ist. Ent-scheidend ist ein guter Abschluss und Leistungsbereit-schaft.

Senkung der Hochschulstudiumabbrüche: Leider liegtbei uns der Anteil der Studienabbrecher zwischen 20 und30 Prozent. Wichtige Präventivmaßnahme sollte eineverbesserte und individuellere Beratung von Abiturien-ten und Studierenden sein, die an einen Abbruch denken,um ihnen die langfristigen Konsequenzen deutlich zumachen. Zudem sollten verstärkt Anstrengungen unter-nommen werden, die Situation in den Hochschulen zuverbessern und den jungen Menschen auch gute Bedin-gungen für ihr Studium zu gewähren.

Mit den Bundesländern haben wir einen Hochschul-pakt geschlossen, um die Leistungsfähigkeit unsererHochschulen zu sichern und für eine größere Zahl vonStudenten offenzuhalten. Die stark steigende Zahl vonStudienbewerbern und der sich abzeichnende Bedarf inbestimmten Branchen machen in besonderem Maße ei-nen gezielten Ausbau der Studienkapazitäten in Deutsch-land erforderlich. Im Vordergrund muss hierbei die Aus-bildung für den inländischen Bedarf stehen.

Verlängerter Einsatz erfahrener Fachkräfte: In Deutsch-land sind nur 56 Prozent der Facharbeiter zwischen55 und 64 tätig. Auch wenn dieser Wert über dem euro-päischen Durchschnitt liegt, sollte eine Steigerung mög-lich sein. Viele ältere Fachkräfte wollen länger im Er-werbsleben stehen und werden oft gegen ihren Willen indie Rente geschickt.

Die Fortsetzung der staatlich geförderten Altersteil-zeit haben wir verhindert und die gesetzliche Lebensar-beitszeit verlängert. Mit beiden Entschlüssen haben wirdeutlich gemacht, dass nicht der vorzeitige Ausstieg ausdem Erwerbsleben, sondern die Verlängerung der Er-werbsbiografien gefördert werden muss. Die Situationvon älteren Menschen am Arbeitsmarkt hat sich seitherkontinuierlich verbessert. Der Anteil der älteren Be-schäftigten an den sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigungsverhältnissen ist stetig gestiegen.

Unsere Unternehmen wissen immer mehr die Poten-ziale älterer Arbeitskräfte zu schätzen, weil ihr Wissen,ihre Erfahrung und ihre Leistungsfähigkeit in den Betrie-ben gebraucht und genutzt wird. Die deutschen Unterneh-men, unterstützt durch zukunftsorientierte, arbeitsmarkt-politisch sinnvolle Maßnahmen der Bundesregierung,haben ihren Fokus bei der Gewinnung von Arbeitskräftenauch auf Ältere gelegt und als Anreiz geeignete Maßnah-men realisiert, wie die Einführung eines Gesundheitsma-nagements, eine altersgerechte Gestaltung der Arbeits-plätze und auch – dies halte ich persönlich für sehr

wichtig – die Anerkennung und Wertschätzung der erfah-renen Mitarbeiter zum Ausdruck gebracht.

Das Ziel, die Arbeitsfähigkeit älterer Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer zu erhalten und zu verbessern,wird auch mit der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“(INQA) verfolgt. Die Bundesregierung fördert mit INQAdie Schaffung gesundheits- und leistungsfördernder Ar-beitsbedingungen. Darüber hinaus werden Unternehmenbei der Umsetzung einer nachhaltigen Personalpolitik un-terstützt und zu einer lebenslangen Qualifikation ihrerMitarbeiterinnen und Mitarbeiter motiviert. Das Projekt„Perspektive 50 plus“ ist ein Programm des Bundesar-beitsministeriums zur Verbesserung der Beschäftigungschan-cen älterer Langzeitarbeitsloser.

Frauenerwerbsquote steigern: In Deutschland sindcirca 70 Prozent der Frauen berufstätig, davon circa45 Prozent in Teilzeit. Viele Frauen wollen ganztags ar-beiten, haben jedoch Probleme, Beruf und Familie zuvereinbaren. Mit der Einführung eines Rechtsanspruchsauf einen Platz in einer Kindertagesstätte und dem Aus-bau der frühkindlichen Betreuungsangebote geben wirMüttern und Vätern die Möglichkeit, Erwerbstätigkeitund Familie zu vereinbaren.

Dennoch ist eine größere Flexibilität notwendig. DieArbeitgeber müssen noch flexiblere Arbeitszeiten oderTeilzeitregelungen anbieten, die öffentliche Hand mussaber auch den Ausbau der Kinderbetreuung vorantrei-ben. Wichtig ist zudem, dass die entsprechenden Ein-richtungen mit flexiblen und großzügigen Regelungenauf die Bedürfnisse der berufstätigen Eltern eingehenmüssen.

Aber auch die Betreuung von Schulkindern muss aus-gebaut werden, damit berufstätige Eltern ohne Sorge ihrerTätigkeit nachgehen können. Ein Ausbau von Ganztags-schulen, Nachmittags- und Ferienbetreuung ist dringendnotwendig.

Im Rahmen des Aktionsprogramms „PerspektiveWiedereinstieg“ werden Frauen nach einer familienbe-dingten Erwerbsunterbrechung bei der Rückkehr in denBeruf unterstützt.

Mit dem nationalen Pakt für mehr Frauen in MINT-Berufen soll bei jungen Mädchen frühzeitig das Interessean technischen Berufen geweckt werden.

Weiterqualifizierung stärken: Die Grundausbildungder Deutschen ist im Europavergleich recht gut. Das siehtjedoch bei der Weiterbildung wesentlich schlechter aus,insbesondere für Frauen und Ältere. Hier stehen auch diedeutschen Unternehmen in der Pflicht, vermehrt Fortbil-dungsangebote zu schaffen und ihre eigenen Mitarbeiterihr Leben lang weiterzubilden. Dies bedeutet auch, dassdie derzeit bei uns bestehende Fortbildungslandschaft aufdie zukünftigen Berufe und den kommenden Bedarf aus-gerichtet werden muss. Vor allem eine Ausweitung derAngebote im technischen Bereich ist unerlässlich.

In den Unternehmen muss aber auch eine Kultur ent-stehen, dass Mitarbeiter eigenverantwortlich ihre Weiter-bildung betreiben, um langfristig für den Arbeitsmarktvon Interesse zu sein.

Page 214: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Die Bundesanstalt für Arbeit, BA, hat verschiedeneProgramme zur Weiterbildung. So fördert zum Beispieldie BA die berufliche Weiterbildung Geringqualifizierterdurch den Erwerb anerkannter Berufsabschlüsse oderTeilqualifikationen.

Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund:In Deutschland haben Menschen mit Migrationshinter-grund durchschnittlich eine schlechtere Bildung und sinddadurch auch häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen.Deshalb müssen diese besser gefördert werden.

Dringend ist auch die schnelle und unbürokratischeAnerkennung der im Ausland erworbenen Qualifikatio-nen, damit die Migranten auf unserem Fachkräftemarkteingesetzt werden können. Bei diesem Verfahren kanndie wirkliche Qualifikation des Migranten erkannt undseine Chancen auf unserem Arbeitsmarkt können ermit-telt werden. Lücken in der Qualifikation müssen mitHilfe von Fortbildungsmaßnahmen geschlossen werden.

Mit dem Nationalen Integrationsplan haben wir zahl-reiche integrationspolitische Maßnahmen auf den Weggebracht, um das Potenzial der Bevölkerung mit Migra-tionshintergrund besser auszuschöpfen.

Abwanderung verhindern: Ein zentrales Problem fürden Arbeitsmarkt in Deutschland und damit für denWirtschaftsstandort Deutschland ist die starke Abwande-rung von in- und ausländischen Absolventen deutscherUniversitäten und anderen Fachkräften nach Erwerb ih-rer Qualifizierung. Dieser Abwanderung von besondersgut ausgebildeten jungen Menschen, die bereits hervor-ragende Deutschkenntnisse besitzen, steht keine in glei-cher Weise qualifizierte Zuwanderung entgegen. EinHauptaugenmerk der deutschen Wirtschaft muss es alsosein, die besonders gut ausgebildeten Absolventen mitattraktiven Lohn- und Arbeitsbedingungen im Land zuhalten oder nach erfolgtem Auslandsstudium für dendeutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Auch ins Auslandabgewanderte nichtakademische Fachkräfte sollen ge-zielt für die deutsche Wirtschaft zurückgewonnen wer-den.

Qualifizierte Zuwanderung ermöglichen: Da der welt-weite Wettbewerb um Fachkräfte vor langer Zeit begon-nen hat, müssen auch wir um qualifizierte Fachkräfte ausdem Ausland werben. Derzeit verliert Deutschland jedesJahr Tausende von Facharbeitern, die ins Ausland wan-dern. Wir müssen versuchen, diesen Trend umzudrehen.Einmal müssen wir unseren Fachkräften ihre Chancenund Möglichkeiten in Deutschland aufzeigen, auf der an-deren Seite müssen wir uns um ausländische Fachkräftebemühen. Dabei müssen wir politisch und gesellschaft-lich verdeutlichen, dass ausländische Fachkräfte bei unswillkommen sind und gute Perspektiven haben.

Insbesondere die Forschungseinrichtungen sind im in-ternationalen Wettbewerb darauf angewiesen, hochquali-fiziertes Personal zu gewinnen und halten zu können. Umden Bedarf an akademischen Spitzenkräften decken zukönnen, führen wir die Wissenschaftsfreiheitsinitiativeim Wissenschaftsfreiheitsgesetz weiter. Damit werdendie gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen, umWissenschaftsorganisationen die Akquise von Spitzen-

forschern zu erleichtern und im Wettbewerb mit auslän-dischen Forschungseinrichtungen und der Wirtschaftkonkurrenzfähige Angebote zu machen.

Die erfolgreiche Bekämpfung des sich abzeichnendenFachkräftemangels gelingt nicht mit punktuellen Lösun-gen. Sie gelingt nur durch einen umfassenden und länger-fristig angelegten Ansatz. Vor allem muss die Zielsetzungsein, das inländische Arbeitskräftepotenzial besser auszu-schöpfen. Hier wollen wir mit einer besseren Schul- undHochschulbildung sowie zusätzlichen Anstrengungen inder Aus- und Weiterbildungsförderung den Schwerpunktzur Sicherung und Verbesserung des Fachkräfteangebo-tes in Deutschland setzen.

Ein weiteres zentrales Anliegen ist, die Abwanderungvon Hochqualifizierten und Fachkräften zu stoppen.Schließlich gilt es, durch die Entwicklung einer Willkom-menskultur die Attraktivität Deutschlands für qualifi-zierte ausländische Fachkräfte zu erhöhen und gezielt diequalifizierten Fachkräfte zu werben, für die ein Mangelbesteht.

Ich fordere die Opposition auf, sich unseren Aktionenzur Sicherung der Fachkräfte für unseren deutschen Ar-beitsmarkt anzuschließen.

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Haben wir ihnoder haben wir ihn nicht, den Fachkräftemangel inDeutschland? Die Wahrheit liegt zwischen Ja und Nein,also in einem Gelände, in dem wir uns als Politiker so oftbewegen und feststellen, dass einfache Antworten nichtweiterhelfen. Die vorliegenden Anträge sind für die SPDwillkommener Anlass, dieses Thema in der gebotenenTiefe zu beleuchten.

Betrachten wir die aktuelle Situation am Arbeits-markt, stellen wir ungedeckte Bedarfe im Bereich derGesundheitswirtschaft, hier besonders in der Alten-pflege, fest. Im Streit um die Frage, wie die Altenpflege-ausbildung finanziert wird, in niedrigen Löhnen – derMindestlohn in der Pflege ist noch taufrisch – und in be-lastenden Arbeitsbedingungen, liegen ein Bündel vonGründen für diesen Mangel. Die Verweildauer im Berufist kurz, die Aufstiegsmöglichkeiten sind gering und dieAussicht auf Besserung ist schlecht.

Fachkräftemangel herrscht aktuell auch bei Erziehe-rinnen und Erziehern. Dem Aufbau von Betreuungsange-boten hat keine adäquate Ausweitung des Ausbildungs-angebotes gegenübergestanden. Die Entgeltsituation istangesichts langer Ausbildungszeit schlecht. Auch hiergibt es so gut wie keine Karrierechance, und die Per-spektive, bis zum Renteneintrittsalter in der Kita zu ar-beiten, ist ebenfalls nicht prickelnd.

Ebenso zutreffend ist, dass Bundesländer sich wech-selseitig Lehrkräfte abwerben. Aber schon hier stellenwir gleichzeitig fest, dass Berufseinsteiger und Berufs-einsteigerinnen nur befristete Verträge bekommen. Be-sonders hörbar melden sich die Fachverbände zu Wort,die über einen Ingenieursmangel klagen. Bis zu 45 000Stellen seien unbesetzt, der Mangel in den sogenanntenMINT-Berufen – also Mathematik, Informatik, Natur-wissenschaft, Technik – sei besonders dramatisch. Ar-

Page 215: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12145

(A) (C)

(D)(B)

beitsmarktexperten bezweifeln diese Zahl – käme siedoch zustande, weil durch gute Entwicklung möglicher-weise entstehende Stellen hier mit eingerechnet wordenseien.

Fest steht: Branchen- und regionsbezogene Stellenbe-setzungsprobleme sind vorhanden. Gleichzeitig wird derArbeitsmarkt enger, die Zahl der offenen Stellen größerund die Zahl der Arbeitsuchenden kleiner. Denn derdeutsche Arbeitsmarkt hat sich trotz Finanzmarkt- undWirtschaftskrise gut entwickelt. Nicht zuletzt dank um-fassender Hilfen durch Kurzarbeit konnten viele Unter-nehmen ihr Fachpersonal über eine schwierige Phasehinweg halten. Das war gelungene Beschäftigungssiche-rung, auf der sich die Politik nicht ausruhen darf. Von ei-nem aktuellen generellen Fachkräftemangel in Deutsch-land zu sprechen, wäre jedoch falsch. Das zeigt sichganz besonders in der alarmierenden Nachricht, dieLeiharbeitsbranche leide unter Fachkräftemangel. Aussozialdemokratischer Sicht liegt hier die Lösung docheher darin, dass Unternehmen, die Fachkräftebedarfenicht decken können, überprüfen sollten, wieweit sie Be-schäftigte durch Festeinstellung und/oder bessere Bedin-gungen für ihr Unternehmen gewinnen können.

Aber zurück zur Politik. Drei Herausforderungenmuss gute Arbeitsmarktpolitik bewältigen. Erstens. DasArbeitskraftpotenzial der knapp 3 Millionen Arbeit-suchenden muss entwickelt werden. Einen gespaltenen-Arbeitsmarkt, der Langzeitarbeitslosen und Geringquali-fizierten keine Chancen eröffnet und gleichzeitig einenwachsenden Arbeitskräftebedarf nicht decken kann, neh-men wir nicht hin.

Zweitens. Wir machen uns seitens der SPD-Bundes-tagsfraktion große Sorgen angesichts der radikalen Kür-zungen im Etat des BMAS. Zwei Stichworte dazu: Dasdeutsche Bildungssystem entlässt Jahr für Jahr mehr als60 000 junge Männer und Frauen ohne Abschluss. Zuviele junge Menschen bleiben ohne Ausbildung unddamit ohne Perspektive. Deshalb muss eine bildungspo-litische Initiative starten. Wie kommentiert Bundeswirt-schaftsminister Brüderle das? „Gut ausgebildete Arbeit-nehmer und Arbeitnehmerinnen sind der Grundstein fürWettbewerbsfähigkeit. Dies gilt für den Hightechstand-ort Deutschland in besonderem Maße.“ Recht hat er –aber da muss bildungs- und ausbildungsmäßig noch vielpassieren. Und: Viele Menschen mit Migrationshinter-grund sind hochqualifiziert; ihre Abschlüsse aber wer-den nach wie vor nicht anerkannt. Hier ist die Bundesre-gierung endlich tätig. Ob zielführend, wird sich erst nochherausstellen müssen.

Drittens. Demografisch bedingt sinkt das Erwerbstäti-genpotenzial in den kommenden Jahren dramatisch.Deshalb ist die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung einwesentlicher Schlüssel zur Deckung des zukünftigenFachkräftebedarfs. Hier geht es um die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf, was eine deutlich bessere Be-treuungsinfrastruktur voraussetzt. Die Frage der Versor-gung pflegebedürftiger Angehöriger ist zurzeit ebenfallsungelöst. Ich nenne das Beispiel der „Schattenfrauen“:5,6 Millionen Frauen sind derzeit nicht erwerbstätig,90 Prozent von ihnen wären aber gern berufstätig. Wirwerden sie brauchen – ebenso wie ältere Arbeitnehmer

und Arbeitnehmerinnen, deren Erwerbsfähigkeit es zu er-halten gilt. Hier lautet das Stichwort: altersgerechte Arbeit.

Unsere Arbeitsmärkte sind nicht mehr regional, auchnicht national, sondern mindestens europäisch. Mit dem1. Mai 2011 haben wir volle Arbeitnehmerfreizügigkeitin der EU. Es wäre gut gewesen, mit einem gesetzlichenMindestlohn dem zu erwartenden Lohndumping geradebei Facharbeit entgegenzutreten. Aber Tatsache ist auch,dass sich Fachkräfte nun europaweit die besten Arbeits-bedingungen aussuchen können. Deutsche Arbeits-marktpolitik muss dies im Blick haben.

Muten wir uns noch eine unbequeme Wahrheit zu:Ohne kontinuierliche Weiterbildung bleiben auch Fach-kräfte keine Fachkräfte. Zunehmend mehr Unternehmenerkennen das und investieren in Weiterbildung. Doch lei-der trifft auch zu, dass weniger investiert wird bei Leih-arbeitern und Leiharbeiterinnen und dass weniger bis garnicht investiert wird bei der großen Zahl atypisch Be-schäftigter.

Es ist also erkennbar, dass lineare Lösungen nicht aus-reichen. Wir schlagen deshalb eine Allianz für Fachkräftevor. Wirtschaft, Gewerkschaften, Agentur für Arbeit,Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände solltengemeinsam ein Konzept entwickeln, das Lösungsansätzeaufeinander abstimmt. Dann können Fachkräfteoffensi-ven erfolgreich, Unternehmen gut unterstützt und unsereFachkräfte von morgen gut ausgebildet werden. Dazuwerden wir konkrete Vorschläge unterbreiten.

Viele der Probleme nehmen die Anträge von Grünenund Linken auf. Das findet unsere Zustimmung. Gleich-wohl stimmen wir nicht in allen Punkten überein. Sozum Beispiel bei der Forderung der Linken nach einemRegelsatz von 500 Euro und bei der Frage des Punkte-systems für Einwanderung. Wir werden daher den An-trag der Linken ablehnen und uns beim Antrag der Grü-nen enthalten.

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Im Gegen-satz zu einigen anderen Oppositionsanträgen, die wirheute schon debattiert haben, teile ich hier Ihre Auffas-sung, dass es einen konkreten Anlass für die Debattegibt. Das Thema Fachkräftemangel können wir uns garnicht oft genug vornehmen, weil es ein ganz entschei-dendes ist. Wenn wir ein offenes Land sein wollen, wennwir weiterhin durch unseren Wohlstand beeindruckenwollen und wenn wir uns unseren Herausforderungenstellen wollen, dann müssen wir den Fachkräftemangelin den Griff kriegen.

Uns werden bis 2025 5 Millionen Erwerbstätige feh-len. Aktuell haben wir schon in den mathematisch-tech-nischen und naturwissenschaftlichen Berufen, im soge-nannten MINT-Bereich, echten Mangel. Dies schadetunserer Volkswirtschaft und verursacht erhebliche Wert-schöpfungsverluste. An diesen demografisch bedingtenRealitäten kommt niemand vorbei, der sich ernsthaft mitdem Problem beschäftigt.

Nicht demografisch bedingt ist hingegen die negativeWanderungsbilanz, die unser Land aufweist. Uns gelingtes nicht nur nicht gut genug, ausländische Fachkräfte

Page 216: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

nach Deutschland zu locken, sondern wir haben auchnoch Schwierigkeiten damit, dass uns Fachkräfte verlas-sen. Schließlich lassen wir erhebliches Potenzial brach-liegen. Wir haben immer noch viele Menschen, die bis-her nicht gut oder gar nicht in den Arbeitsmarktintegriert sind, und zwar insbesondere unter den Migran-ten, die sich für ein Leben in Deutschland entschlossenhaben.

Zu Recht bringen wir daher jetzt ein zeitgemäßes An-erkennungsgesetz auf den Weg. Denn viele derjenigen,die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, leiden da-runter, dass sie ihre vorhandenen Qualifikationen nichtvernünftig anerkannt bekommen. Alleine hier haben wirein Potenzial von circa 285 000 Personen, die qualifi-ziert sind, deren Qualifikation ihnen und allen anderenaber nichts bringt, weil sie nicht angemessen anerkanntwird.

Hier bügelt die schwarz-gelbe Koalition etwas aus,was bisher alle anderen Bundesregierungen versäumt ha-ben. Es wird einen Rechtsanspruch auf das Anerken-nungsverfahren geben, einheitliche Kriterien, ein ein-heitliches Verfahren, und zwar unabhängig von derjeweiligen Staatsangehörigkeit. Entscheidend wird al-leine die Berufsqualifikation sein. Außerdem werden wires auch ermöglichen, bereits aus dem Ausland einen An-trag auf das Anerkennungsverfahren zu stellen. Damitgehen wir einen großen und wichtigen Schritt zur Be-kämpfung des Fachkräftemangels.

Wir werden aber insgesamt drei Schritte gehen müs-sen, und das werden wir auch tun. Denn neben der Aner-kennung ausländischer Qualifikationen müssen wir un-ser inländisches Arbeitskräftepotenzial besser ausreizen.Und das heißt nichts anderes, als dass wir den Men-schen, die es bisher schwer auf dem Arbeitsmarkt hatten,besser helfen müssen. Der zweite Schritt muss also sein,die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu reformieren.

Hier sind wir auf einem guten Weg. Das Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales hat einen guten Ge-setzentwurf vorgelegt. An der einen oder anderen Stellemüssen wir noch etwas drehen, aber die Richtungstimmt schon mal.

Wir werden die Zahl der arbeitsmarktpolitischen In-strumente reduzieren und damit eine Forderung verwirk-lichen, die Experten schon seit langem an die Politik he-rangetragen haben. Es war auch niemandem mehr zuvermitteln, warum es zum Beispiel für ein und denselbenZweck mehr als fünf unterschiedliche Instrumente gebenmusste. Das hat weder den Arbeitsuchenden geholfennoch hat es die Arbeit der Vermittler leichter gemacht.Gerade hierum geht es aber auch: Wir brauchen nichtnur einen gut aufgeräumten Instrumentenkasten, sondernauch einen fitten Experten, der sich auskennt und diepassende Maßnahme in Kooperation mit dem Arbeitsu-chenden aussucht. Nicht nur für Arbeitsuchende heißt es,auf Qualifikation zu achten, sondern eben auch bei unse-ren Vermittlern in der Bundesagentur für Arbeit.

Schließlich muss es aber noch einen dritten Schrittgeben. Damit meine ich, dass wir mehr gesteuerte Zu-wanderung brauchen, und zwar mit einem Punktesys-

tem. Hier schneiden wir im internationalen Vergleicheinfach noch zu schlecht ab. Dem müssen wir mit – ichhabe das schon einmal an anderer Stelle gesagt – drei Wsbegegnen: Wir müssen den Wettbewerb aufnehmen, wirmüssen Werbung für uns machen, und wir müssen eineWillkommenskultur schaffen. Bisher wandern die klu-gen Köpfe weltweit an Deutschland vorbei und zum Bei-spiel nach Kanada oder Australien. Klar, die genanntenLänder haben einen Sprachvorteil; aber das ist es dannauch, das können wir nicht als Ausrede benutzen. Wirmüssen begreifen, dass wir hier in einem internationalenWettbewerb stehen, in dem einem nichts geschenkt wird.Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir attraktiv wir-ken können, wenn wir es nur besser im Ausland erklä-ren. Dazu muss die Bundesrepublik die Werbetrommelrühren. Wir müssen uns nicht verstecken, bei uns gibt eseine Menge guter Jobs. Wenn es uns gelingt, diese Bot-schaft im Ausland rüberzubringen, dann werden wirauch wieder mehr Fachkräfte zu uns bringen können.

Zuletzt geht es aber auch darum – und damit bin ichbeim dritten W –, eine Willkommenskultur zu schaffen.In den Betrieben, in den Behörden und auch einfach aufder Straße oder im Supermarkt müssen wir denjenigen,die zu uns gekommen sind, die Hand reichen. Das wäre,glaube ich, letztlich auch die beste Werbung, die man fürsich machen kann.

Wir haben den Fachkräftemangel erkannt und küm-mern uns darum. Manche Ihrer Vorschläge teile ich ja.Insgesamt reicht es bei Ihnen aber nicht, und die Sacheist bei uns in guten Händen. Deshalb lehnen wir Ihre An-träge ab.

Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Es ist schon er-staunlich, welche Blüten die Diskussion um die Fragedes Fachkräftemangels treibt. Kürzlich konnte man le-sen, die Leiharbeitsbranche beklage einen Arbeitskräfte-mangel. Das ist natürlich mehr als abstrus. Denn wiesieht die Realität aus? Nehmen wir einen Fall aus derRegion Esslingen, also dem Bundesland Baden-Württemberg, in dem die Industrie bekanntlich wiederboomt. Kürzlich schrieb hier die örtliche IG Metall Bun-desarbeitsministerin von der Leyen einen Brief. In einerDrehmaschinenfabrik wurden über hundert Beschäftigtegekündigt, die Auszubildenden nicht übernommen. DieBetroffenen erhielten von der Arbeitsagentur Stellenan-gebote, aber fast ausschließlich von den Leiharbeitsfir-men. Ein Kollege erhielt 17 Stellenangebote, 15 davonbei Leiharbeitsfirmen. Zu Recht schreibt die IG Metalldaher in ihrem Brief: Die „Diskussion um Fachkräfte-mangel bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn aus-gebildeten Mechatronikern eine Stelle bei einer Döner-bude oder einer Lidl-Filiale angeboten wird“. Ich bittedie Bundesregierung, diese Realität zur Kenntnis zu neh-men, bevor sie die Klagen der Arbeitgeber über einenangeblichen Fachkräftemangel nachbetet.

Ohne Frage: Es gibt in einzelnen Branchen einen stei-genden Fachkräftebedarf. Das ist in Zeiten des Auf-schwungs nichts Ungewöhnliches. Aber deshalb von ei-nem flächendeckenden Fachkräftemangel zu sprechen,ist völlig haltlos. Das belegen auch seriöse wissenschaft-

Page 217: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12147

(A) (C)

(D)(B)

liche Studien. Zu nennen ist hier die Gemeinschaftsstu-die des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschungund des Bundesinstituts für Berufsbildung, die in ihrenPrognosen bis 2025 auch die demografische Entwick-lung berücksichtigen, das heißt die durch Alterungspro-zesse kleiner werdende Zahl von Erwerbstätigen. Dortfindet sich kein Wort über einen flächendeckenden Fach-kräftemangel. Selbst für den technischen Bereich hateine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-schung jüngst nachgewiesen: Auch dort gibt es keinenFachkräftemangel, sonst hätten Arbeitgeber für dieseFachkräfte deutlich die Löhne erhöhen müssen. Aber dasist nicht geschehen.

Was steckt also hinter den Klagen der Arbeitgeberüber einen angeblichen Fachkräftemangel? In Wirklich-keit, so wird immer deutlicher, sind das Klagen über an-geblich zu teure, zu wenig flexible Arbeitskräfte. In mei-nen Bundesland Sachsen haben kürzlich die Industrie-und Handwerkskammern ihre Mitgliedsunternehmenzum Thema Fachkräfte befragt – unter anderem dazu,woran die Einstellung eines neuen Mitarbeiters scheitert.Die Antwort: Die Bewerber hätten zu wenig Berufser-fahrung und Spezialqualifikation, sie würden zum Teilüberzogene Lohnforderungen stellen, seien manchmalzu alt und teilweise wegen familiärer Verpflichtungen zuwenig flexibel. Ja, ich weiß, viele Arbeitgeber habenihre Vorstellung vom idealen Mitarbeiter. Er soll jung,ledig und flexibel sein, mehrjährige Berufserfahrung undSpezialqualifikation besitzen und zu einem niedrigenLohn arbeiten wollen. Nur ist das natürlich etwas ande-res als Fachkräftemangel. Es ist die alte Leier: Der alteRuf nach billigen, immer frei verfügbaren Arbeitskräftentaucht nun im neuen Gewand auf. Mehr als deutlich wirddas bei den Pflegeberufen. Erst vor einigen Tagen hatder Arbeitgeberverband Pflege über einen massivenMangel an Pflegefachkräften geklagt. Hier ist es nun of-fensichtlich, dass niedrige Löhne und enorme Arbeitsbe-lastungen in dieser Branche dafür verantwortlich sind,dass viele nach wenigen Jahren aus diesem Job ausschei-den oder ihn erst gar nicht wählen.

Wenn sich die Bundesregierung, in Teilen auch dieGrünen, vor diesen Karren der Arbeitgeber spannenlässt, ist dies ein Armutszeugnis. Denn dabei gerätschnell das eigentliche Problem aus den Augen: derMangel an ausreichenden und zudem guten Arbeitsplät-zen. Die Arbeitsmarktstatistik gibt uns recht. Die Zahlder prekären Arbeitsplätze – Leiharbeit, Minijobs undBefristungen – nimmt immer mehr zu; dieser Entwick-lung muss ein Riegel vorgeschoben werden. Noch im-mer wird Millionen Menschen ein gleichberechtigter Zu-gang zum Arbeitsmarkt verwehrt. Hier liegt vielPotenzial brach, das wegen einer falschen Arbeitsmarkt-und Beschäftigungspolitik ungenutzt bleibt. Das betrifftinsbesondere Ältere, Frauen, Menschen mit Behinde-rung und Migrantinnen und Migranten.

In der Gruppe der über 55- bis 65-Jährigen zählt dieArbeitsmarktstatistik fast eine halbe Million Arbeitslose.Unter den circa 9 Millionen Menschen, die sich laut demStatistischen Bundesamt in Deutschland Arbeit odermehr Arbeit wünschen, sind überproportional vieleFrauen. Bei ihnen ist der Wunsch nach Mehrarbeit stär-

ker ausgeprägt als bei den Männern. Entgegen dem all-gemeinen Trend steigt die Arbeitslosigkeit von schwer-behinderten Menschen. Ein weiteres Problem ist diehohe Zahl von Langzeiterwerbslosen; ihre Zahl liegt beietwa 900 000. Ferner werden Hunderttausende Migran-tinnen und Migranten in Deutschland vom Erwerbssys-tem ausgegrenzt – etwa durch die Nichtanerkennung vonim Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüs-sen.

Was ist also notwendig? Statt einen Fachkräftemangelzu beklagen, gilt es, die Hindernisse abzubauen, dieheute Millionen Menschen einen freien Zugang zum Ar-beitsmarkt verwehren. Frauen ist eine gleichberechtigteTeilhabe am Erwerbsleben zu ermöglichen, indem mehrreguläre Arbeitsplätze statt ungesicherter Mini- und Teil-zeitjobs geschaffen werden. Die Entgeltgleichheit mussdurchgesetzt und die geschlechtsspezifische Arbeitstei-lung aufgebrochen werden. Für ältere Menschen sind dieBeschäftigungsbedingungen zu verbessern. SpezifischeQualifizierungsprogramme sind auszubauen, denn Äl-tere werden seltener qualifiziert und weitergebildet. DerKündigungsschutz ist insbesondere für diese Gruppe zuverbessern. Gleiches gilt für den Arbeits- und Gesund-heitsschutz, um es Älteren zu ermöglichen, länger ohnebesondere Belastungen am Erwerbsleben teilzuhaben.Um Langzeiterwerbslosen mit einer aktiven Beschäfti-gungspolitik Chancen zu erschließen, ist das sogenannteSparpaket zurückzunehmen.

Verglichen mit dem Vorjahr werden derzeit nur nochhalb so viele Weiterbildungsmaßnahmen genehmigt. Dasist nicht hinnehmbar. Arbeitsmarktpolitik muss nachhal-tig finanziert werden. Für Menschen mit Behinderungenist wichtig, dass in den Unternehmen endlich die gesetz-lich festgeschriebene Beschäftigungsquote erfüllt wird.Barrierefreie Arbeitsstätten sind stärker zu fördern. Mig-rantinnen und Migranten müssen einen gleichberechtig-ten Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, unabhängigvon der „ökonomischen Nützlichkeit“. Notwendig istdafür, dass die im Ausland erworbenen Qualifikationenleichter anerkannt werden können. Es muss einenRechtsanspruch auf die Anerkennung von Berufs- undSchulabschlüssen geben. Der von der Bundesregierungvorgelegte Gesetzentwurf sieht jedoch keinen Rechtsan-spruch auf Anerkennung vor. Zudem sollten Migrantin-nen und Migranten vor und während des Anerkennungs-verfahrens begleitet und beraten werden. Sie bleiben imRegen stehen, wenn sie einen Beruf erlernt haben, dernicht bundeseinheitlich geregelt ist. Dann müssen siesich mit 120 Landesgesetzen auseinandersetzen.

Die Bundesregierung tut nichts, um die drängendenFragen des Arbeitsmarktes anzugehen. Schlimmer: Siesorgt mit ihrem Sparkurs in der Arbeitsmarktpolitik da-für, dass Menschen Chancen für eine gute Beschäftigungverbaut werden. Das können und werden wir nicht hin-nehmen.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Anfang April hat Bundesarbeitsministerin von der Leyenden Arbeitsmarktfachleuten der Koalitionsfraktionen diewichtigsten Handlungsschwerpunkte ihres Ministeriums

Page 218: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

für das laufende Jahr vorgestellt. An erster Stelle stehtdabei das Thema Fachkräftesicherung. Und das über-rascht doch sehr, denn es ist weit und breit nichts davonzu merken, dass der wachsende Fachkräftebedarf bei denAktivitäten der Bundesregierung irgendeine Rolle spielt.Im Gegenteil, still ruht der See.

Sie verlassen sich darauf, dass die anziehende Kon-junktur die Sache schon regelt, und streichen rigoros beider Arbeitsförderung. Und damit begehen Sie einen ka-pitalen Fehler, der sich schwer rächen wird.

Alle Experten schreiben es Ihnen ins Stammbuch:Jetzt ist die Zeit, um in Qualifizierung zu investieren, da-mit auch Langzeitarbeitslose von der wirtschaftlichenErholung profitieren. Nur so kann die positive Entwick-lung am Arbeitsmarkt anhalten. Bleiben Sie aber bei Ih-rem Spardiktat, dann provozieren Sie die Gefahr einesFachkräftemangels bei gleichzeitig hoher Arbeitslosig-keit. Das darf auf keinen Fall geschehen.

Darum appelliere ich an die Bundesregierung und dieRegierungsfraktionen: Nehmen Sie die Kürzungen beider Arbeitsförderung zurück! Dasselbe gilt für IhrePläne für die Bundesagentur. Auch wenn Sie es sturleugnen: Sie treiben die Bundesagentur in die Schulden-falle. Auch das wird auf die aktive Arbeitsmarktpolitikzurückschlagen und die Chancen derer verringern, diewir eigentlich stärken müssten: Geringqualifizierte, Mi-grantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderun-gen, Ältere und Frauen. Ihre Potenziale werden im Mo-ment nicht genutzt. Wir werden sie aber brauchen, wennder Bedarf an Fachkräften demografisch bedingt weiterund weiter steigen wird.

Wenn Sie meine Argumente schon nicht überzeugen,dann vielleicht Zahlen: Schon heute entgehen dem Mit-telstand durch den Fachkräftemangel Umsätze von30 Milliarden Euro im Jahr, Tendenz steigend. DieAlarmglocken müssten bei dieser Regierung aber auchläuten, wenn sie präsentiert bekommt, dass in Deutsch-land im vergangenen Jahr 320 000 junge Menschen inunsinnigen Warteschleifen gelandet sind statt in einerbetrieblichen Berufsausbildung. Diese jungen Leutewerden uns später als Fachkräfte fehlen. Das ist fahrläs-sig, teuer und erfordert ein Umsteuern, damit kein Kindmehr die Schule ohne Abschluss verlässt und wirklichalle in eine Ausbildung münden. Doch auch hier istkeine Anstrengung bei der Bundesregierung zu erken-nen.

Nur im Schneckentempo geht es auch bei der besserenAnerkennung von Abschlüssen voran, die im Ausland er-worben wurden. Nach Jahren der Ankündigung liegt nunendlich ein Gesetzentwurf vor. Aber das Ziel des Geset-zes, die Chancen von Menschen mit ausländischen Qua-lifikationen auf Integration in den deutschen Arbeits-markt zu verbessern, ist nicht ausreichend unterlegt. Esfällt damit hinter die Eckpunkte der Bundesregierung von2009 zurück. Ob auf dieser Grundlage materielle Verbes-serungen für die erreicht werden, die bisher am deutschenBewilligungsdschungel gescheitert sind, muss bezweifeltwerden. Zu befürchten ist, dass sich auch weiterhin Ärz-tinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Pizzafahrer

durchschlagen müssen, weil ihre im Ausland erworbenenAbschlüsse hier nicht anerkannt werden.

Aber selbst wenn es gelänge, bei der Ausbildung, derQualifizierung und bei der Anerkennung von Berufsab-schlüssen deutliche Fortschritte zu erzielen – selbst dannwürde das nicht genügen, um den wachsenden Fachkräf-tebedarf zu decken.

Hierzu – und das haben uns die Expertinnen und Ex-perten der zum Thema durchgeführten Anhörung bestä-tigt – können wir auf Zuwanderung nicht verzichten.Aber auch bei dieser Frage ist die Bundesregierung in ei-nen Totstellreflex verfallen. Sie hat das Thema „Schaf-fung eines transparenten Zuwanderungssystems“ imKoalitionsausschuss versenkt und macht gar keine An-stalten, es wieder auf die Tagesordnung zu hieven. Dasist hasenfüßig.

Die Bevölkerung hingegen ist – mal wieder – vielweiter als die Koalition. 60 Prozent der Bürgerinnen undBürger befürworten die stärkere Zuwanderung vonFachkräften; das hat eine repräsentative Umfrage desSachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migra-tion und Integration gezeigt.

Wir Grünen haben Ihnen einen Antrag mit einer um-fassenden Strategie zur Bewältigung des wachsendenFachkräftebedarfs vorgelegt. Es reicht nicht – und auchdas bestätigten die Fachleute –, punktuell anzusetzen.Einheimische und Einwanderer dürfen nicht gegeneinan-der ausgespielt werden, wir brauchen sie alle. Bildungund Chancen für Kinder und junge Erwachsene, Weiter-bildung für Zukunftsberufe, Erhöhung der Erwerbsbetei-ligung, Anerkennung ausländischer Qualifikationen undein transparentes Zuwanderungssystem – das sind diefünf Handlungsstränge, die erst zusammen eine gute undErfolg versprechende Strategie ergeben. Nehmen Sie siegemeinsam mit uns in Angriff und stimmen Sie unseremAntrag zu.

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes(Tagesordnungspunkt 18)

Dieter Jasper (CDU/CSU): Mit dem heutigen Ge-setzentwurf erfüllt die christlich-liberale Koalition einenormative Voraussetzung, damit aus europäischer Sichtin Deutschland ein subventionierter Steinkohlenbergbaubis ins Jahr 2018 ermöglicht wird und sichergestellt wer-den kann. Inhaltlich bedeutet dieser Gesetzentwurf, dassdie sogenannte Revisionsklausel ersatzlos gestrichenwird.

Zum Hintergrund: Im Jahr 2007 wurde eine kohle-politische Verständigung getroffen, in der die Bundesre-gierung, das Land NRW, das Saarland, die RAG und dieIG BCE den sozialverträglichen und geordneten Aus-stieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau biszum Jahr 2018 regelten. Diese Vereinbarung beinhaltete

Page 219: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12149

(A) (C)

(D)(B)

auch die sogenannte Revisionsklausel, die festlegte, dassdieser Beschluss im Jahr 2012 noch einmal überprüftwerden sollte. Völlig überraschend forderte die Europäi-sche Kommission im letzten Jahr einen früheren Aus-stieg aus der Kohleförderung bis zum Jahr 2014. Dieshätte für Deutschland und gerade auch für meine Hei-matregion dramatische wirtschaftliche und soziale Kon-sequenzen gehabt.

In Ibbenbüren im Tecklenburger Land liegt eine derletzten Steinkohlezechen in Deutschland. Hier wirdschon seit langer Zeit hochwertige Anthrazitkohle geför-dert. Diese wird zu einem großen Teil im direkt anlie-genden hocheffizienten Kohlekraftwerk verfeuert undzum anderen Teil für den regionalen Wärmemarkt ver-wendet. Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung desBergbaus für die Stadt Ibbenbüren und die umliegendenBergbaugemeinden Mettingen, Recke, Hopsten, Hörstelund Westerkappeln ist enorm. In der Bevölkerung undüber alle gesellschaftlichen Gruppierungen hinwegherrscht eine hohe Akzeptanz. Im Bergbau sind derzeitdirekt über 2 300 Menschen beschäftigt, im Bereich derZulieferbetriebe sind im Laufe der Zeit mehrere tausendArbeitsplätze entstanden. Auch im Bereich der Ausbil-dung leistet die Zeche ganz hervorragende und unver-zichtbare Arbeit.

Als der Vorschlag der EU-Kommission bekanntwurde, führte dies natürlich zu großer Unruhe und Irrita-tion in unserer Region. Ein Ausstieg aus dem Steinkoh-lenbergbau bereits im Jahr 2014 hätte dazu geführt, dasses zu betriebsbedingten Kündigungen gekommen wäreund auch sonst massive wirtschaftliche und soziale Pro-bleme entstanden wären. In dieser Situation habe ichmich unmittelbar an unsere Bundeskanzlerin gewendetund um Hilfe und Unterstützung gebeten. Unter Einsatzaller Kräfte und durch tatkräftige Unterstützung des Par-lamentarischen Staatssekretärs Peter Hintze konnte er-reicht werden, dass der Beschluss der EU revidiertwurde. Die Unterstützung der heimischen Steinkohlen-förderung bis ins Jahr 2018 wurde unter bestimmten Be-dingungen auf europäischer Ebene akzeptiert. Eine die-ser Bedingungen für die notwendige europäischeRegelung war, dass die Revisionsklausel aus dem natio-nalen Gesetz gestrichen und der Ausstieg somit unum-kehrbar gemacht wird. Dieser Forderung wird mit demheutigen Gesetzentwurf Genüge getan. Aus europäischerSicht darf es nach 2018 keinen subventionierten Stein-kohlenbergbau in Deutschland mehr geben, so dass esauch keiner weiteren Prüfung im Jahr 2012 bedarf. Hierhandelt die christlich-liberale Regierungskoalition kon-sequent und richtig, da es an vorderster Stelle darumgeht, die auf europäischer Ebene gefundene Einigungnicht zu gefährden, die nur unter größten Mühen gefun-den werden konnte.

Für mich persönlich stellt sich die Situation aber et-was komplexer dar: Die Revisionsklausel ist juristischüberflüssig geworden und ihre Streichung dient demZweck der Bestandssicherung auch des Steinkohlen-bergbaus bei uns im Tecklenburger Land. Politisch ge-hört sie aber meines Erachtens auf die Tagesordnung derzukünftigen Energiepolitik, und deshalb kann ich einerStreichung nicht zustimmen. Ich möchte ein deutliches

Signal setzen, dass die Zukunftschancen der Steinkohlenicht nur jetzt, sondern auch nach 2018 erkannt und ge-nutzt werden müssen. Dazu müssen wir die weitere Ent-wicklung im Fokus haben.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die heimi-sche Steinkohle weiterhin als nationale Energiereservebenötigen und somit den Zugang zu den Lagerstätten er-halten sollten. In einem zukunftsorientierten Energiemixbrauchen wir neben den regenerativen Energien auchhochmoderne und effiziente Kohlekraftwerke, in denendann auch die heimische Steinkohle verstromt werdenkann. Gerade jetzt, wo alle möglichen Energieformenauf dem Prüfstand stehen und wir uns fragen müssen,wie eine sichere und bezahlbare Energieversorgung fürunser Land zukünftig gestaltet werden kann, dürfen wiruns diese Möglichkeit eines heimischen Energieträgersnicht verbauen.

Grundsätzlich ist es richtig, die jetzt gefundene euro-päische Vereinbarung endgültig zu ratifizieren. Aber wirdürfen die weitere wirtschaftliche Entwicklung nicht ausden Augen verlieren und müssen uns bewusst sein, dasswir in unserem rohstoffarmen Land mit der Steinkohleeinen der ganz wenigen grundlastfähigen Energieträgerverfügbar haben. Diesen sollten wir nicht vorschnell auf-geben.

Thomas Bareiß (CDU/CSU): Das Gesetz, über daswir heute abstimmen, zeigt deutlich, wie erfolgreich dieBundesregierung die Interessen der deutschen Steinkoh-lenregionen, der Beschäftigten und damit auch unserewirtschaftspolitischen Interessen in Brüssel vertritt.Trotz aller Kritik an der Streichung der Revisionsklauselbegrüße ich ausdrücklich, dass die Bundesregierung inBrüssel durchgesetzt hat, dass wie geplant bis 2018Steinkohle subventioniert werden kann. Auch wenn derPreis dafür die Aufgabe der Revisionsklausel ist, ist die-ser Preis geringer als ein vorzeitiger Ausstieg aus derKohlensubvention im Jahre 2014, der auf Kosten dervielen Tausenden Kohlenarbeiter und deren Familie ge-gangen wäre.

Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinan-zierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalitiondarauf geeinigt, die subventionierte Förderung der Stein-kohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. Dieser Aus-stiegsplan ist sozial ausgereift und zeigt die Verlässlich-keit unserer Regierungsarbeit. Bereits im Jahr 2007, alsdas Steinkohlefinanzierungsgesetz von der Großen Ko-alition auf den Weg gebracht wurde, war allerdings allenBeteiligten klar, dass für den Zeitraum 2011 bis 2018keine beihilferechtliche Genehmigung der EU vorlag.Mit einer Entscheidung der EU zum Ende des Jahres2010 musste daher gerechnet werden. Diese sah nun inForm des aktuellen EU-Kommissionsvorschlags einAuslaufen der deutschen Subventionierung von Stein-kohle bereits im Jahr 2014 vor.

Die Bundesregierung setzte sich daraufhin massiv inBrüssel für eine Befristung der Subventionierung vonSteinkohle bis 2018 ein. Trotz aller Widerstände in Brüs-sel konnte dies durchgesetzt werden. An dieser Stellemöchte ich nochmal ausdrücklich Bundeskanzlerin

Page 220: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

Angela Merkel und Wirtschaftminister Rainer Brüderlefür ihren starken Einsatz auf europäischer Ebene danken.Ein vorzeitiger Ausstieg hätte frühzeitige Stilllegungenund betriebsbedingte Kündigungen von mehreren Tau-send Bergleuten zur Folge. Hinzu kommen weitere Fak-toren, wie praktische und technische Probleme, dieBergwerke früher zu schließen.

Uns war es wichtig, dass Entscheidungen erst getrof-fen werden, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind.Die Bundesregierung konnte auf europäischer Ebeneklarmachen, dass ein für 2014 vorgesehener Ausstiegaus den staatlichen Subventionen für den Steinkohlen-bergbau nicht wirklich günstiger sei als ein geordneterAusstieg aus den Beihilfen im Jahre 2018. Der Preis da-für war lediglich das Streichen der Revisionsklausel ausdem Gesetz von 2007.

Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das ThemaSteinkohlenförderung im Plenum. Schließlich ist es auchein sehr emotionales Thema. Dies hat verschiedeneGründe, die auch dazu geführt haben, dass wir uns sostark wie nur möglich für das Ende der Steinkohlensub-ventionen 2018 auf europäischer Ebene eingesetzt ha-ben. Die große Bedeutung von Kohle ist zum einen demhohen Anteil am derzeitigen Energiemix und zum ande-ren der langjährigen Tradition in Deutschland und ihrerBedeutung als langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktorfür das Ruhrgebiet geschuldet. Immerhin liegt Deutsch-land bei der Steinkohlenförderung hinter Polen aufPlatz zwei in Europa. In unserem deutschen Energiemixhat die Steinkohle einen Anteil von rund 19 Prozent ander Bruttostromerzeugung in Deutschland. Gemeinsammit der Braunkohle beträgt der Anteil über 40 Prozent.

Insbesondere die Menschen in der Region haben einebesondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderemhistorische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeu-tendsten deutschen und europäischen Industrieregionen.Diese Entwicklung wäre ohne den Steinkohlenabbau niemöglich gewesen. Die heimische Steinkohle hat überJahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landesund der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen.Das Gesetz von 2007 war somit eine Zäsur. Mit dem Ge-setz wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatz-entscheidung getroffen und der größte Subventionsab-bau seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen.Deutschland ist damit das einzige Land, das ein schlüssi-ges, sozialverträgliches und wirtschaftliches Gesamt-konzept zur Beendigung der heimischen Steinkohlenför-derung hat.

Der deutsche Steinkohlenbergbau ist seit vielen Jah-ren aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedin-gungen international nicht mehr wettbewerbsfähig. Mil-liardenschwere Subventionen – fast 2 Milliarden Europro Jahr in den letzten Jahren – waren bisher notwendig,damit der deutsche Steinkohlenbergbau wettbewerbsfä-hig bleibt. Bei der Versorgung der deutschen Wirtschaftaber überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeitaus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies wurdeauch im Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 aufge-griffen. Das soll nicht heißen, dass die Förderung vonSteinkohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt

ist, sondern dass die Förderung unter der Prämisse derWirtschaftlichkeit stehen muss – was übrigens für alleEnergieträger gilt.

Die Streichung der Revisionsklausel, die wir jetzt be-schließen wollen, ist eine europapolitische Notwendig-keit, um den Schutz der Arbeitnehmer in dieser Branchezu gewährleisten. Schließlich ist eine der wichtigstenKomponenten der Wirtschaftspolitik, stabile Rahmenbe-dingungen zu schaffen, auf die sich Unternehmen, Mit-arbeiter und Bürger verlassen können. Es wurde seiner-zeit eine gute Regelung getroffen, auf die sich dieRegion und die Menschen dort verlassen. Vertrauens-schutz und Planungssicherheit konnten in den hartenVerhandlungen mit Brüssel sichergestellt werden. ImSinne einer verlässlichen Wirtschaftspolitik wurde an ei-ner Förderung bis 2018 festgehalten, was ich persönlichfür richtig halte.

Wegen der genannten Gründe halte ich es für sinnvollund lobenswert, dass die Bundesregierung den im Jahr2007 beschlossenen Ausstieg aus der Steinkohlenförde-rung bis 2018 in Brüssel durchgesetzt hat. Auch wennder politische Preis dafür die Streichung der Revisions-klausel ist, haben wir unterm Strich einen wichtigen Er-folg für unsere heimische Kohlenwirtschaft errungen.Denn angesichts der Größe der Branche braucht es dievon uns gezeigte Verlässlichkeit, wenn man den betrof-fenen Menschen eine vernünftige Perspektive bietenwill, die nicht zulasten einer traditionsreichen Brancheund ihrer Arbeiter geht. Deshalb plädiere ich für die Zu-stimmung zum Gesetz über die Änderung des Stein-kohlefinanzierungsgesetzes.

Rolf Hempelmann (SPD): Das Steinkohlefinanzie-rungsgesetz, das mit dem vorliegenden Gesetz geändertwerden soll, geht auf den Steinkohlenkompromiss ausdem Jahre 2007 zurück, der sorgsam austariert eine so-zialverträgliche und geordnete Beendigung des subven-tionierten Steinkohlenbergbaus in Deutschland bis 2018regelte. Damals war bekannt, dass die Steinkohlensub-ventionen unter dem Vorbehalt der beihilferechtlichenGenehmigung durch die EU stehen, die nach 2010 einerAnschlussregelung bedurfte. Offenbar ging die Bundes-regierung davon aus, dass die deutsche Regelung für denStrukturwandel die Unterstützung der EU bekommen undeine entsprechende Genehmigung quasi automatisch er-teilt werden würde.

Nun haben wir im vergangenen Jahr erlebt, wie dieseErwartungen enttäuscht wurden. Nach dem Vorschlag derEuropäischen Kommission sollte der subventionierteSteinkohlenbergbau 2014 beendet werden. Das wäre einharter Schlag für die betroffenen Regionen gewesen. AllePrämissen für einen geordneten Strukturwandel wärenüber den Haufen geworfen worden. Beim Kommissions-vorschlag blieb außen vor, dass Tausenden Bergleuten be-triebsbedingt gekündigt worden wäre. Außerdem wäre eszu massiven Arbeitsplatzverlusten in vom Bergbau ab-hängigen Bereichen gekommen. Auch der Finanzie-rungsfahrplan der RAG-Stiftung für die Ewigkeitslastenwäre gefährdet gewesen. Schließlich spielte offensicht-lich die in einer Studie festgestellte Klimaneutralität der

Page 221: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12151

(A) (C)

(D)(B)

Steinkohlenförderung keine Rolle. Mit Beendigung derSteinkohlenförderung in Deutschland wird nicht automa-tisch die fossile Stromerzeugung reduziert. Vielmehrwird die deutsche Steinkohle dann durch Importkohle ausDrittländern ersetzt werden.

Nach massiven Protesten unter anderem des Europäi-schen Parlaments ist mit dem Ratsbeschluss vom 10. De-zember 2010 die weitere Subventionierung des Steinkoh-lenbergbaus bis 2018 genehmigt worden. Festzuhalten istjedoch: Im gesamten Verfahren auf europäischer Ebenehat die Bundesregierung widersprüchliche Signale nachBrüssel gesandt. Die Bundeskanzlerin war mehr als einJahr untätig. Wirtschaftsminister Brüderle hatte offenbarsogar mit einer verkürzten Perspektive für die deutscheKohle geliebäugelt und war anscheinend auch bereit, diedamit verbundenen betriebsbedingten Kündigungen billi-gend in Kauf zu nehmen. Wie anders ist es zu interpretie-ren, dass er lediglich einen Prüfvorbehalt einlegte, wäh-rend die Wirtschaftsminister der ebenfalls betroffenenBergbauländer Spanien und Rumänien gegen die Verkür-zungspläne der Kommission Widerspruch einlegten?

Jetzt kann der Steinkohlenbergbau bis 2018 weitersubventioniert werden, jedoch ist dafür die Revisions-klausel geopfert worden, die Klausel, nach der die Bun-desregierung dem Deutschen Bundestag bis Mitte 2012einen Bericht vorlegen sollte. Auf Grundlage dieses Be-richts sollte dann der Deutsche Bundestag entscheiden,ob weiterhin eine Förderung der Steinkohle erfolgensoll. Dabei sollten drei Gesichtspunkte eine Rolle spie-len: Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Energieversor-gung und andere energiepolitische Ziele. Jetzt – undnicht 2012 – und ohne Bericht der Bundesregierung ent-scheiden wir. Dabei erörtern wir nicht die sich fortlau-fend verändernde Situation auf dem Weltenergiemarktund die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wirnehmen uns die Möglichkeit einer umfassenden Bewer-tung des Steinkohlenweltmarktes. Vor dem Hintergrundder aktuellen Preisentwicklung auf dem Weltmarkt undder Verknappung, der Verteuerung und dem aufkom-menden Protektionismus einzelner Länder bei immermehr energetischen und nichtenergetischen Rohstoffenist das leichtsinnig.

Wie die parlamentarische Anhörung ergeben hat,kann insbesondere für die in Deutschland abgebauteKokskohle nach 2018 eine Perspektive für einen subven-tionsfreien Abbau nicht von vornherein ausgeschlossenwerden. Der Marktpreis für Kokskohle bewegt sich nichterst seit der Hochwasserkatastrophe in Queensland aufhohem Niveau. In diesem Marktsegment ist es vorstell-bar, dass die Wettbewerbsfähigkeit erreicht wird undKokskohle dauerhaft konkurrenzfähig angeboten werdenkönnte.

Es geht in dieser Diskussion aber auch um hochquali-fizierte Arbeitsplätze im Maschinen- und Anlagenbau.Der Bergbau ist ein Erprobungsfeld für weltweit ge-fragte Technologien. Der deutsche Maschinen- und An-lagenbau hat hier eine Spitzenstellung in der Welt. Umdiese Spitzenstellung zu erhalten und langfristig dieseArbeitsplätze in Deutschland zu halten, muss jetzt überPerspektiven nachgedacht werden. Vor dem Hintergrund

der derzeitigen Energiedebatte müssen wir uns darüberim Klaren sein, dass wir über kurz oder lang auf den fos-silen Energieträger Kohle nicht verzichten können, umunter anderem Versorgungssicherheit zu gewährleisten.Hinzu kommt dann die fortbestehende rohstoffliche Be-deutung insbesondere für die Stahlindustrie und weitereindustrielle Spezialbedarfe.

Betrachtet man dies alles, ist es besonders leichtsin-nig, dass nach der derzeitigen Rechtslage Steinkohlen-bergwerke, die Stilllegungsbeihilfen nach Art. 3 desRatsbeschlusses seit Beginn 2011 erhalten, diese Beihil-fen komplett zurückzahlen müssen, wenn sie nach 2018subventionsfrei betrieben werden. Diese Rückzahlungs-verpflichtung behindert jegliche Option auf subven-tionsfreie Weiterführung von Bergwerken. Der europäi-schen Ebene ging es bei ihrer Entscheidung um ein kla-res Enddatum für den subventionierten Steinkohlenberg-bau, ein subventionsfreier Bergbau sollte dabei aber nieausgeschlossen werden. Hier hätte die Bundesregierungim Europäischen Rat besser aufpassen müssen. Jetztgeht es darum, den von Brüderle & Co. angerichtetenSchaden nachträglich zu reparieren. Dazu haben wir imAusschuss für Wirtschaft und Technologie mit unseremEntschließungsantrag einen Vorschlag gemacht.

Die Bundesregierung muss mit der EuropäischenKommission und mit dem Europäischen Rat Gesprächeführen, um Wege zu finden, einen subventionsfreienSteinkohlenbergbau nach 2018 zu ermöglichen. Außer-dem muss geprüft werden, wie das Regime der Steinkoh-lensubventionierung bis 2018 ausgestaltet werden kann,um eine subventionsfreie Weiterführung von Steinkoh-lenbergwerken nicht nur nicht zu behindern, sondern zuunterstützen. Das muss zeitnah erfolgen, denn andernfallskönnte der Zugang zu den Lagerstätten nicht offen gehal-ten werden.

Klaus Breil (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf endet ein Jahrzehnte andauerndes Kapitel deut-scher Industriegeschichte: Im Jahr 2018 wird der sub-ventionierte Steinkohlenbergbau in Deutschland nunverbindlich und mit Zustimmung der EU auslaufen.

Bis zu diesem Zeitpunkt werden die deutschen Steu-erzahler jedoch über 140 Milliarden Euro Subventionenfür die Steinkohlenförderung aufgebracht haben. Seitmehr als 20 Jahren hat sich die FDP im Deutschen Bun-destag deshalb für einen geordneten und sozialverträg-lichen Ausstieg aus dieser Subventionspolitik eingesetzt.Die Weichen hierfür stellte der Ende 2007 in Verhand-lungen zwischen dem Bund, den betroffenen LändernNordrhein-Westfalen und Saarland, der IG BCE sowieder RAG AG errungene Kompromiss im Steinkohle-finanzierungsgesetz.

Da staatliche Beihilfen für den Steinkohlenbergbauunter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die Euro-päische Kommission stehen, waren mit dem Ablauf derbisherigen Regelungen zum 31. Dezember 2010 erneutGespräche auf europäischer Ebene erforderlich. Vor al-lem dem beharrlichen Einsatz der Bundesregierung – unddas möchte ich an dieser Stelle besonders betonen – fürden 2007 gefundenen Konsens ist es zu verdanken, dass

Page 222: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

der erfolgreich begonnene Veränderungsprozess in denBergbauregionen fortgeführt werden kann und dass einverlässlicher Fahrplan den betroffenen Menschen auchweiterhin die dafür erforderliche Orientierung bietet.

Nun mag mancher kritisieren, dass eine Annäherungder Positionen in den Verhandlungen mit der Europäi-schen Union nur unter Verzicht auf die bisher im Gesetzenthaltene Revisionsklausel möglich war. Hier stellt sichjedoch die grundsätzliche Frage, ob eine Förderung vonSteinkohle in unseren Regionen jemals zu wettbewerbs-fähigen Bedingungen möglich wäre. Auch wenn zuletztdurch Verknappungen des Angebots – unter anderemdurch die Flutkatastrophe in Australien – die Weltmarkt-preise für Kraftwerkskohle deutlich bis in den Bereichvon 100 Euro je Tonne gestiegen sind, liegt dieses Preis-niveau noch weitaus niedriger als die Förderkosten fürdeutsche Steinkohle. Rund 90 Prozent der in Deutsch-land im vergangenen Jahr geförderten Steinkohlen-menge von circa 13 Millionen Tonnen entfielen aufKraftwerkskohle. Daher ist deren Preisentwicklung fürdie Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit maßgebend,nicht der isolierte Blick auf den zeitweilig stärkerenPreisanstieg bei Kokskohle. Sollte es zudem am Welt-markt zu einem dauerhaft hohen Preisniveau bei derSteinkohle kommen – was bei weiter zunehmenderNachfrage insbesondere aus Asien möglich ist –, wirddies einen deutlichen Anstieg der Fördermengen in an-deren Regionen der Erde nach sich ziehen. Die wach-sende Rentabilität der Förderung führt zwangsweise zueiner Anpassung auf der Angebotsseite. Deutschlandkönnte angesichts seines geringen Anteils von unter3 Prozent der globalen Vorkommen und angesichts derbestehenden erheblichen geologischen Nachteile mitdieser Entwicklung nicht Schritt halten.

Hinzu kommt, dass auch die Kosten für den Rückbauund die Beseitigung unvermeidlich auftretender Schädenerwirtschaftet werden müssen. Auch insofern haben diedeutschen Lagerstätten in dicht besiedeltem Gebiet er-hebliche Nachteile gegenüber dem internationalen Wett-bewerb. Weder in Bezug auf die Versorgungssicherheitnoch auf die Entwicklung der Weltmarktpreise wird so-mit der Steinkohlenbergbau in unserem Land jemals ei-nen relevanten Einfluss nehmen können. Daher stellt füruns die Streichung der Revisionsklausel eine tragfähigeLösung dar.

Auf einen weiteren Punkt möchte ich kurz eingehen.Nicht erst in jüngster Zeit ist der Ruf nach demdauerhaften Erhalt eines Referenzbergbaus zu verneh-men. Begründet wird dieser häufig mit dadurch verbes-serten Absatzchancen der heimischen Maschinen- undAnlagenbauer. Hierauf kann es nur eine Antwort geben:Die beste Referenz ist der Beweis des leistungsfähigenund störungsfreien Betriebs deutscher Qualitätsproduktein den weltweit bedeutendsten Fördergebieten. Nur dieseArgumente erhöhen die Marktchancen für „Made inGermany“ nachhaltig.

Zum Antrag der SPD möchte ich die Stellungnahmedes Gesamtverbandes Steinkohle e. V. zur öffentlichenAnhörung am 11. April 2011 zitieren: „Die deutscheSteinkohle ist aus heutiger Sicht nicht in der Lage, kurz-

und mittelfristig Kraftwerkskohle wettbewerbsfähig an-zubieten.“ Das beschreibt, wie auch das vorhin Gesagte,eigentlich alles zu der Idee, subventionsfrei weiter Stein-kohle abbauen zu wollen.

Was den vorliegenden Gesetzentwurf betrifft, möchteich gleichwohl um Ihre Zustimmung werben. Nur wennwir es gemeinsam schaffen, uns von einer Politik derSubventionsverteilung zu lösen, werden wir die finan-ziellen Spielräume für die Beantwortung drängender Zu-kunftsfragen gewinnen – sei es für die Konsolidierungder öffentlichen Haushalte oder für die Beschleunigungder Energiewende in unserem Landes. Wir haben durcheine verlässliche Positionierung gegenüber der EU er-reicht, dass die Steinkohlensubventionen bis 2018 ge-ordnet abgebaut werden können. Ein ständiges Rum-schrauben an den Modalitäten wird niemandem helfen –schon gar nicht den betroffenen Mitarbeitern.

Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mit der heutigen Abstim-mung soll der Steinkohlenbergbau in Deutschland defi-nitiv zu Grabe getragen werden. Wir stehen aufgrund derFehler der Bundesregierung jetzt vor dem Dilemma,dass wir diese Gesetzesänderung nicht ablehnen können,weil sonst die Förderung der heimischen Steinkohleschon 2014 beendet werden würde. Die große Koalitionhatte es versäumt, den „Kohlekompromiss“ von 2006auf der europäischen Ebene bestandsfest zu machen.Prompt hatte die EU-Kommission die Beihilferegelungim letzten Jahr gänzlich infrage gestellt. Nur den Protes-ten der Bergleute und der Gewerkschaften ist es zu ver-danken, dass der Bergbau jetzt wenigstens bis 2018 wei-terlaufen kann. Doch die Genehmigung der Beihilfenwurde mit dem Deal erkauft, dass die Revisionsklauselaus dem deutschen Gesetz gestrichen werden soll.

So weit, so schlecht. Doch sieht man genau hin, gehtder Eingriff mit der heutigen Gesetzesänderung nochwesentlich weiter. In der Anhörung des Wirtschaftsaus-schusses in dieser Woche wurde sehr deutlich, dass Zielder EU-Kommission definitiv die endgültige Stilllegungaller Zechen in Deutschland und in anderen Mitglied-staaten ist. Selbst wenn eine Zeche im Jahre 2018 in derLage wäre, ohne weitere Subventionen Steinkohle zufördern, wird ihr der Garaus gemacht. Dann nämlich, sodie EU-Verordnung und die Änderung des Steinkohle-finanzierungsgesetzes, muss die Zeche alle Subventio-nen, die sie ab 2011 erhalten haben wird, wieder zurück-zahlen. Das ist wirtschaftlich auf keinen Fall zuschaffen. Das heißt, die Zechen müssen dann so oder soschließen, ob sie 2018 rentabel sind oder nicht. Das istökonomischer und arbeitsmarktpolitischer Unsinn.

Selbst wenn nach 2018 kein Bergwerk ohne staatlicheUnterstützung weiterlaufen könnte, halten wir es für dasMindeste, über Technologieförderung wenigstens eineGrube für die Sicherung des technologischen Know-hows offen zu halten. Die Folgen der Zechenschließun-gen betreffen nicht nur die Beschäftigten in den Berg-werken. An der Kohleförderung hängt ein moderner Ma-schinen- und Anlagenbau. Allein die Technologiesparteder Kohlewirtschaft beschäftigt mehr als 15 000 Men-

Page 223: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12153

(A) (C)

(D)(B)

schen in NRW. Nur mit dem Erhalt eines Referenzberg-werks können diese Arbeitsplätze in Deutschland erhal-ten werden. Mittelfristig kann die Kohle auch einwichtiger Ersatzrohstoff für das zur Neige gehendeErdöl als Grundstoff der petrochemischen Industrie wer-den. Je nach der Entwicklung auf den Rohstoffmärktenwerden wir eines Tages vielleicht noch heilfroh sein,wenn wir heute die heimischen technologischen Kompe-tenzen im Bergbau nicht völlig vernichten.

Eine Beendigung der heimischen Steinkohlenförde-rung ist kein Beitrag zum Klimaschutz, solange nichtgänzlich aus der Kohleverstromung ausgestiegen wird.Sie verlagert nur die Umweltkosten und Arbeitsplätzeins Ausland. Verstehen Sie uns nicht falsch – wir teilendas Nein zum Bau neuer Kohlekraftwerke. Kohle- undAtomkraftwerke blockieren den dringend notwendigenUmstieg auf erneuerbare Energien. Aber mit der Be-endigung der heimischen Steinkohlenförderung wirdkein Kohlekraftwerk abgeschaltet, sondern nur die hei-mische Kohle durch Importkohle ersetzt. Die Entschei-dung an diesem Punkt heißt deshalb nicht „Kohle? Jaoder Nein“, sondern „aktive Industriepolitik oder Wirt-schaftsliberalismus?“. Wir treten für eine aktive Indus-triepolitik und für den Erhalt von Industriearbeitsplätzendurch einen sozial-ökologischen Umbau ein, nicht aberfür eine Verbesserung der CO2-Bilanz durch die Vernich-tung von qualifizierten Arbeitsplätzen in der Industrie.

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Nach den Beratungen in den Ausschüssen und der Anhö-rung zur Streichung der Revisionsklausel und der damitverbundenen Änderung des Steinkohlefinanzierungsge-setzes im Wirtschaftausschuss beraten wir heute überden Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Streichender Revisionsklausel im Steinkohlefinanzierungsgesetzin zweiter und dritter Lesung.

Grund dafür ist, dass sich im Jahr 2007 die damaligeGroße Koalition im Bund, die Länder, die RAG und dieIG BCE auf eine Beendigung des subventioniertenSteinkohlenbergbaus bis zum Jahr 2018 geeinigt hatten –mit der Vorgabe, dies aufgrund einer Revisionsklauselim Jahr 2012 noch einmal zu überprüfen. Dabei wurdees jedoch von der damaligen Großen Koalition im Bundund der damaligen schwarz-gelben Landesregierung inNordrhein-Westfalen versäumt, das deutsche Steinkohle-finanzierungsgesetz von 2007 auch europarechtlich ab-zusichern. Denn es gab vonseiten der EU-Kommissionnur eine Zustimmung für ein Fortführen der Subventio-nen bis 2011. Rückblickend muss man sagen, dass dieseine arrogante Haltung der damaligen Bundes- und Lan-desregierungen war, die sich im Juli 2010 gerächt hat.Denn zu diesem Zeitpunkt machte die EU-Kommissioneinen Vorschlag für eine Verordnung des Rates, dieSteinkohlenbeihilfen bereits im Oktober 2014 einzustel-len.

Nur durch erheblichen politischen Druck und wahr-scheinlich auch durch viele sachfremde Zugeständnissein anderen Politikfeldern konnte Deutschland die Kom-mission und die anderen Mitgliedstaaten doch noch be-

wegen, Steinkohlensubventionen bis 2018 statt bis 2014zuzulassen. Deutschland musste aber zusichern, die Re-visionsklausel im deutschen Steinkohlefinanzierungsge-setz zu streichen, damit der subventionierte Bergbau bis2018 definitiv beendet wird. Denn bisher heißt es in § 1Abs. 2 des Steinkohlefinanzierungsgesetzes, dass dieBundesregierung dem Deutschen Bundestag bis spätes-tens 30. Juni 2012 einen Bericht zuleitet, auf dessenGrundlage der Deutsche Bundestag unter Beachtung derGesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, der Sicherung derEnergieversorgung und der übrigen energiepolitischenZiele prüft, ob der Steinkohlenbergbau weiter gefördertwird.

Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurfsieht eine Streichung genau dieses Absatzes vor. Dies istein richtiges, vernünftiges und auch absolut notwendigesZeichen an Europa. Denn die Revisionsklausel war vonAnfang an überflüssig und unsinnig. Sie hat verhindert,dass alle Beteiligten Planungssicherheit haben und sichlangfristig auf das unvermeidliche Ende des Steinkoh-lenbergbaus einstellen konnten. Wir Grüne haben imletzten Jahr schon lange vor der Diskussion auf EU-Ebene hier im Bundestag entsprechende Anträge ge-stellt. Die Bundesregierung muss sich jedoch vorwerfenlassen, hier lange Zeit untätig gewesen zu sein. Schonviel früher hätte sie durch konkrete GesetzesinitiativenPlanungssicherheit für alle Beteiligten schaffen und zu-sätzliche, neue Bergschäden, Altlasten und Ewigkeits-kosten vermeiden können.

Doch die Bundesregierung brauchte anscheinend erstden Druck aus Brüssel, um durch den heute zur Abstim-mung vorliegenden Gesetzentwurf den europäischenPartnern ernsthaft zu versichern, dass 2018 endlichSchluss ist. Ansonsten hätten Sie bereits im vergangenenJahr unseren Anträgen „Steinkohlesubventionen jetztüberprüfen“ und „Subventionierten Steinkohlebergbausozialverträglich beenden“ im Bundestag zugestimmt.

Dass die Streichung der Revisionsklausel ein richtigesund glaubhaftes Instrument für das Ende des nicht-wett-bewerbsfähigen Bergbaus in Deutschland ist, hat auchdie Anhörung an diesem Montag im Wirtschaftsaus-schuss des Deutschen Bundestages ergeben. Bis auf dieInteressenvertreter des Steinkohlenbergbaus waren sichalle Fachleute und Wissenschaftler einig: Eine Überprü-fung der Steinkohlensubventionen durch die sogenannteRevisionsklausel im Jahr 2012 ist überflüssig und nichtmit den EU-Vorgaben vereinbar. Es ist daher nur ver-nünftig, den Empfehlungen der Experten zu folgen unddurch das Streichen der Revisionsklausel den anderenEU-Staaten ernsthaft zu belegen, dass Deutschland 2018endgültig seine Beihilfen für den Steinkohlenbergbaubeenden wird.

Die Forderung der SPD und der Linken nach einerFortführung der nichtwettbewerbsfähigen Steinkohlen-förderung in Deutschland scheint momentan jedoch ineine ähnliche energiepolitische Sackgasse zu laufen, wiedas bei Union und FDP vor wenigen Monaten in derAtomfrage der Fall war. Rot-Rot scheint auch insofernan alten Strukturen festhalten zu wollen, statt die Ener-

Page 224: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

giewende zu beschleunigen. Dies hat nicht zuletzt auchder Entschließungsantrag der SPD-Fraktion im Wirt-schaftsausschuss gezeigt. Darin wird offen gefordert, mitder EU-Kommission und dem EU-Rat Gespräche zuführen, um den Steinkohlenabbau auch weiterhin inDeutschland zu ermöglichen. Angesichts der bereits jetztgezahlten Milliardensummen und angesichts der entstan-denen Bergschäden und Ewigkeitskosten frage ich michernsthaft, ob dies gerade in der jetzigen energie-politischen Diskussion der richtige Weg ist. Wollen Sie,liebe Sozialdemokraten, nach der Debatte im letzten Jahrgegen die EU-Kommission und die große Mehrheit deranderen Mitgliedstaaten – wo wir doch fast schon bei ei-nem Aus 2014 gelandet wären –, das Fass noch mal auf-machen? Das können Sie nicht ernst meinen. KommenSie endlich im 21. Jahrhundert an! Der Steinkohlenberg-bau hat in Deutschland aus vielen Gründen keine Zu-kunft mehr.

Statt viele Milliarden Euro in schwarzen Löchern zuversenken, brauchen wir das Geld viel dringender fürden Strukturwandel in den betroffenen Regionen, umden Umbau der Energieversorgung weg von den fossilenEnergieträgern hin zu den erneuerbaren Energien zu be-werkstelligen. Dabei steht die Sozialverträglichkeit derBeendigung des Steinkohlenbergbaus nicht infrage. Bisallerspätestens 2018 ist nun Zeit, alles sauber zu beendenund in der Zeit bis dahin, wo immer möglich, das Entste-hen neuer Ewigkeitslasten zu vermeiden.

Ohne Zweifel, mit der heutigen Entscheidung gehteine lange Bergbautradition an Saar und Ruhr zu Ende,die ganze Generationen und das Gesicht der Regionengeprägt und eine ganz entscheidende Rolle bei der In-dustrialisierung und dem Wiederaufbau Deutschlandsnach dem Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Dass vielenMenschen der Abschied von Steinkohlenbergau auchaus emotionalen Gründen schwer fällt, kann ich gut ver-stehen. Man muss aber auch sehen: Der Bergbau hatauch zu beträchtlichen Altlasten und Ewigkeitskostengeführt. Auf ewig werden unsere Nachkommen an dieseZeit erinnert werden, denn sie werden ewig – solangeMenschen im Ruhrgebiert und am Niederrhein lebenwerden – pumpen müssen, um durch den Bergbau abge-senkte Flächen zu entwässern. Hinzu kommt die Unter-haltung von Deichen, die Sanierung Tausender alterSchächte und vieles mehr. Auch Gebäudeschäden, Infra-strukturschäden und Umweltschäden werden uns und dienachfolgenden Generationen dauerhaft begleiten. Obund wie viel unsere Nachkommen dafür zahlen müssen,ist ungeklärt. Denn ob die Einnahmen der RAG-Stiftungaus dem Verkauf der Evonik für alle Ewigkeitskostenausreichen, ist längst nicht sicher.

Vor diesen Hintergründen und in Anbetracht der Si-tuation des Bundeshaushaltes unterstützen wir Grünenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Streichungder Revisionsklausel im deutschen Steinkohlefinan-zierungsgesetz. Wir hätten uns einen Ausstieg aus denSubventionen auch einige Jahre eher vorstellen können,wollen heute jedoch konstruktiv dazu beitragen, dassnun durch eine breite Mehrheit das Ende der Steinkohlen-subventionen 2018 endgültig besiegelt ist.

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Antrag: Deutschland im UN-Sicherheitsrat –Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution1325 jetzt erstellen

– Beschlussempfehlung und Bericht zu denAnträgen:

– 10 Jahre UN-Resolution 1325 „Frauen,Frieden und Sicherheit“

– Verpflichtung zur UN-Resolution 1325„Frauen, Frieden und Sicherheit“ einhal-ten – Auf Gewalt in internationalen Kon-flikten verzichten

– 10 Jahre UN-Resolution 1325 – Frauen,Frieden, Sicherheit – Nationaler Aktions-plan für eine gezielte Umsetzung

(Tagesordnungspunkt 20 a und b)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Ich mache nun seit vie-len Jahren Entwicklungspolitik. Und in all den Jahrenhabe ich immer Gewalt gegen Frauen angeprangert. Ichhabe immer die Bedeutung von Frauen in Konfliktenund die Prävention betont. Und ich habe immer daraufgepocht, die gesellschaftliche Stellung von Frauen inden Entwicklungsländern zu verbessern. Das war und istfür mich nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondernauch ein Herzensanliegen.

Daher begrüße ich ausdrücklich die Sicherheitsratsre-solution 1325, die die überaus wichtige Rolle vonFrauen in Konflikten, deren Prävention und bei der ge-sellschaftlichen Aufarbeitung von Konflikten aner-kennt.

Für mich als Entwicklungspolitikerin verbindet sichdamit die Aufgabe, noch mehr die zentrale Rolle vonFrauen für Sicherheit und Entwicklung in unseren Part-nerländern zu betonen. Sie müssen sowohl in ihrenRechten als auch in ihrer sozialen Stellung gestärkt wer-den; denn nur so bekommen sie in Konfliktländern diegesellschaftliche Rolle, die ihnen zusteht. Daher begrüßeich ausdrücklich die diversen Strategien des BMZ, sei esder entwicklungspolitische Gender-Aktionsplan, der denRahmen für unser entwicklungspolitisches Handeln vor-gibt, oder sei es das Grundlagenpapier „Stärkung derTeilhabe von Frauen in der Entwicklungszusammenar-beit“, das Wege beschreibt, wie Frauen in ihrer Teilhabegestärkt werden können. Wenn uns das Empowermentvon Frauen – also ihre Befähigung, ihr Leben selbstbe-stimmt in die eigenen Hände zu nehmen – noch bessergelingt als bisher, wäre dies ein großer Beitrag der Ent-wicklungspolitik zur Erfüllung der Resolution 1325.

Denn Frauen tragen bis heute in Konflikten, aber auchbeim Wiederaufbau oftmals die Hauptlast, ohne dass sieüber entsprechenden politischen Einfluss verfügen. Da-her ist diese Resolution für mich ein Meilenstein, dennsie erkennt unmissverständlich an, dass Frauen ein Teilvon Friedensprozessen sein müssen.

Page 225: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12155

(A) (C)

(D)(B)

Frauen in den Konfliktgebieten der Welt können sichauf diese Resolution berufen. Jetzt ist es an den Natio-nalstaaten, diese Resolution mit Leben zu füllen, und wiralle wissen, dass es daran mitunter noch gewaltig hapert.

Anlässlich der Verabschiedung der Sicherheitsratsre-solution 1325 vor zehn Jahren liegen heute einige An-träge auf dem Tisch. Im SPD-Antrag finden sich vielewichtige und richtige Feststellungen, die ich ausdrück-lich unterstütze. Auch die Fakten sind klar und eindeu-tig, soweit der Antrag mangelnde Fortschritte bei derUmsetzung – wohlgemerkt, weltweit – beklagt. In51 Ländern ist sexualisierte Gewalt gegen Frauen doku-mentiert. Hier gibt es nichts zu beschönigen oder zu rela-tivieren.

Aber der Antrag fordert auch einen „nationalen Ak-tionsplan“ zur Umsetzung der Resolution. Nun habenwir uns in der Fraktion mit diesem Thema lange und in-tensiv beschäftigt und die Argumente gegeneinander ab-gewogen. Im Ergebnis haben wir uns nach heutigemKenntnisstand gegen einen Aktionsplan ausgesprochen.Denn ein solcher nationaler Aktionsplan würde gegen-über dem bestehenden deutschen Engagement keinenentscheidenden Mehrwert erzeugen. Bis heute konntemich niemand überzeugen, worin der politische Mehr-wert eines solchen Aktionsplans liegen könnte. Daherwar diese Forderung auch nicht in unserem umfassendenAntrag vom 3. März 2010 „Internationaler Frauentag –Gleichstellung national und international durchsetzen“(Bundestagsdrucksache 17/901) enthalten. Ein Aktions-plan soll ja die Regierungen dazu anhalten, die Resolu-tion umzusetzen und das Engagement nachprüfbar zumachen, insbesondere für das Parlament. Ich kann mirvorstellen, dass solche Aktionspläne in vielen Länderndringend notwendig wären, in denen es gravierende De-fizite hinsichtlich der Umsetzung der Resolution 1325gibt. Zumindest fallen mir mehr Länder ein als die bis-lang rund zwei Dutzend, die einen nationalen Aktions-plan verabschiedet haben.

Doch Sie stimmen mir sicherlich zu, dass die Bundes-regierung die Ziele und Verpflichtungen aus der Resolu-tion 1325 sehr ernst nimmt:

Deutschland gehört der „Freundesgruppe der Resolu-tion 1325“ an, Deutschland nimmt an den jährlichen of-fenen Debatten im Sicherheitsrat teil, und Deutschlandsetzt sich für die Berücksichtigung der in der Resolutionenthaltenen Forderungen in allen VN-Gremien ein. Dienationale Umsetzung der Resolution erfolgt durch dieverschiedenen beteiligten Ressorts. Dazu wurde eigenseine Ressortarbeitsgruppe 1325 eingerichtet. Und seit2004 berichtet die Bundesregierung dem Bundestag überdie Umsetzung der Resolution 1325.

Aber auch im europäischen Kontext engagiert sich dieBundesregierung: Die EU wendet die Resolution 1325 imRahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik an, zum Beispiel in Form von Richtlinienfür die Umsetzung der Resolution in europäischen Frie-denseinsätzen oder durch Ratsschlussfolgerungen zurBerücksichtigung von Gleichstellungsaspekten im Kri-senmanagement.

Daher kann ich beim besten Willen keinen Mehrwertdurch einen eigenen nationalen Aktionsplan erkennen.Zu beiden Zielen eines solchen nationalen Aktionsplans– der Umsetzung der Resolution und der Überprüfbar-keit der Ergebnisse – würde ein Aktionsplan keinenMehrwert erbringen. Somit wäre ein unter den Bundes-ressorts abgestimmter Aktionsplan allenfalls von symbo-lischem Wert. Doch die Wirkung einer solchen Symbo-lik ist sehr begrenzt. Ich bin der Meinung, dass dieerheblichen Ressourcen, die ein solches Dokument inunseren Ministerien binden würde, besser genutzt wer-den können. Denn: Symbolik beendet nicht die Massen-vergewaltigungen im Kongo, im Tschad oder Sudan,Symbolik beendet nicht die Straflosigkeit nachschlimmsten Verbrechen wie Mehrfachvergewaltigun-gen an Kindern, Frauen oder Greisen, wie sie in einigenKonflikten in Form von sexualisierter Gewalt vorge-kommen sind, und Symbolik in Form eines deutschen,nationalen Aktionsplans wird Menschenrechtsverbre-cher nicht davon abhalten, die Zerstörung von Frauen ineinigen Konflikten als Kriegsziel anzusehen.

Wir sollten daher unsere politische Arbeit nicht aufeine Debatte über einen in meinen Augen überflüssigendeutschen Aktionsplan konzentrieren. Vielmehr solltenwir versuchen, die Ursachen für solch schreckliche Kon-flikte und Verbrechen an Frauen zu beseitigen. Damitwäre dem Geist der Resolution 1325 wesentlich bessergeholfen. Darum lautet das Votum zu den Oppositions-anträgen Ablehnung.

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die HeldinLysistrata des griechischen Dichters Aristophanes undihre Initiative, durch die sexuelle Verweigerung derFrauen die Männer zum Frieden zu zwingen, ist allge-mein bekannt. In Liberia hat es vor einigen Jahren Nach-ahmerinnen – wenn auch mit anderen Mitteln – gefun-den:

Während des schrecklichen Krieges – der bis 2003rund 250 000 Menschenleben forderte und in dem etwadrei Viertel aller Frauen und Mädchen vergewaltigt wur-den – entstand ein ganzes Netzwerk von Frauenorganisa-tionen, das sich für die Schaffung von Frieden einsetzte.Christinnen und Musliminnen beteten und demonstrier-ten zu Tausenden gemeinsam und sammelten sich vordem Präsidentenpalast in Monrovia. Sie haben in weißenT-Shirts gegen die Kriegsgewalt angeschwiegen. Die li-berianischen Frauen haben sich außerdem mit Frauenaus Sierra Leone und Guinea zusammengeschlossen unddie Verantwortlichen durch ihre Demonstrationen an denVerhandlungstisch gebracht. Während der Verhandlun-gen 2003 haben sie unter der Anführung von LeymahGbowee das Haus umzingelt und den Männern gedroht,sie vor dem Abschluss eines Friedensabkommens nichtherauszulassen. Der Krieg fand ein Ende.

Die Frauen haben sich ihr Mitspracherecht genom-men und sich religions- und grenzübergreifend zusam-mengeschlossen, während die Männer sich abgeschlach-tet und die Frauen der jeweiligen Gegner vergewaltigthaben. Bei den konkreten Friedensverhandlungen wur-den die Frauen dann übrigens wieder ausgeschlossen,

Page 226: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

aber: Frauenorganisationen haben anschließend bei derEntwaffnung und Demobilisierung der Rebellengruppengeholfen und sich für eine Frauenquote von 30 Prozentim Parlament eingesetzt. Für Letzteres erhielt EtwedaCooper einen 1325-Award. Seit 2005 hat Liberia eineweibliche Präsidentin, die erste in Afrika, welche nichtnur Vergewaltigung unter Strafe gestellt hat, sondernderzeit auch eine weibliche Polizeitruppe in Monroviaaufbaut.

Das Beispiel aus Liberia macht deutlich, was der Hin-tergrund der UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden, Si-cherheit“ ist, an deren 10-jähriges Bestehen wir uns imOktober 2010 erinnern konnten. Wir haben diese Reso-lution als „historischen Meilenstein“ bezeichnet, weil sieneben der Verurteilung von sexualisierter Gewalt anFrauen die Frauen aus der einseitigen Opferrolle heraus-holt und fordert, Frauen zu Akteurinnen in der Friedens-schaffung und Konfliktbeilegung zu machen.

In der damaligen Debatte im Plenum hatte ich bedau-ert, dass CDU/CSU und FDP keinen eigenen Antragvorgelegt haben, um ihre Vorstellungen zur Umsetzungder Resolution zur Diskussion zu stellen. Nun haben wirApril, und Sie haben sich immer noch nicht positioniert.Und die Zustimmung der Koalitionäre im Unteraus-schuss „Zivile Krisenprävention“ zum SPD-Antragscheint ja wohl eher ein Versehen gewesen zu sein undwurde deshalb im Auswärtigen Ausschuss durch eineAblehnung „geheilt“. Ich finde, Sie könnten Ihrer Regie-rung gegenüber ein bisschen mutiger sein, wenn es umdie Rolle von Frauen in Konflikten geht.

Ihr Verhalten kann ich umso weniger verstehen, alswir in der Großen Koalition doch einen gemeinsamenAntrag (Drucksache 16/3501) eingebracht haben. Ichdarf Ihnen den Inhalt diesen Antrages vielleicht kurz inErinnerung rufen. Wir erkannten darin unter anderem an,dass die Fortschritte zur Umsetzung der UN-Resolution1325 mehr als bescheiden sind, weil sich vor allem inder Lebenswirklichkeit der Frauen nicht viel veränderthat. Deshalb forderten wir die Bundesregierung auf, fürdie konsequente und zeitgerechte Umsetzung des UN-Aktionsplanes einzutreten.

Und was haben Sie seit dem Regierungswechsel zuSchwarz-Gelb von unseren Einsichten umgesetzt? Lei-der nicht sehr viel. Nicht einmal, wenn Sie direkt dieMöglichkeit hatten, ein gleichstellungspolitisches Augeauf die Besetzung von Vorständen, wie bei der Deut-schen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit,GIZ, zu haben. Obwohl GTZ, Inwent und DED ausrei-chend Top-Frauen aus dem Executive und Upper Ma-nagement zu bieten hatten, beruft ihr Entwicklungsminis-ter Niebel ausschließlich sieben (!) Männer – und scheutnicht davor zurück, auch seinen alten (Partei-)KumpelTom Pätz, der zuletzt lokale Talkshows in Bonn mode-rierte, dort „hineinwählen“ zu lassen. Selbst der sonst sovorsichtige Personalrat des BMZ warf Niebel bereitsletztes Jahr vor, er missachte den „Grundsatz der Beset-zung öffentlicher Ämter nach Leistung, Befähigung undEignung“ (Spiegel, 1. März 2010). Ich füge auch hinzu:Herr Niebel, Sie haben auch diese wichtige UN-Resolu-tion missachtet!

Das macht deutlich: Was wir brauchen, ist ein natio-naler Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325.Kofi Annan hat die Zeichnerstaaten bereits 2005 dazuaufgefordert. 15 europäische Staaten – zuletzt Frank-reich und Estland – sind seiner Forderung in der Zwi-schenzeit gefolgt, das Europäische Parlament rät dazu.Deutschland sollte sich dem als Mitglied im UN-Sicher-heitsrat nicht länger verweigern – wobei ich mir auchwünschen würde, dass mit dem eigenen Aktionsplan imHintergrund die Bundesregierung auch die UN-Gremienglaubwürdig an ihre Pflicht zur Umsetzung erinnernwürde: Immerhin nahmen nach Informationen der GTZan UN-Friedensmissionen neben 78 407 Männern nur1 794 Frauen teil.

Alle Oppositionsparteien fordern heute diesen deut-schen nationalen Aktionsplan in ihren Anträgen. Des-halb ist es gut und richtig, dass wir alle Oppositionspar-teien zusammen – und das ist ein Novum in diesemParlament – einen Entschließungsantrag vorlegen, derdiese gemeinsame Forderung unterstreicht.

Wir fordern, dass ein nationaler Aktionsplan in engerZusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Experten er-arbeitet wird. Dieser soll die volle Umsetzung der Reso-lution 1325 und der damit verbundenen drei weiterenResolutionen sicherstellen und über eine Berichtspflichtdie regelmäßige Evaluierung der Maßnahmen transpa-rent machen. Dieser Aktionsplan muss angemessen bud-getiert werden.

Lassen Sie mich – auch im Nachgang zum Interna-tionalen Frauentag – zum Schluss zu dem Geist vonLysistrata und den Frauen in Liberia zurückkommen:Sie haben es geschafft, Kriege zu beenden – gemeinsam.Bei den friedlichen Revolutionen in Ägypten und Tune-sien haben viele Frauen in der vordersten Reihe gestan-den. Sie haben der Revolution ihr Gesicht gegeben unddas Bild des Islam korrigiert, das viele zu Unrecht ha-ben. Dafür sollten wir ihnen danken.

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Zehn Jahre ist sie nunher: die einstimmige Verabschiedung der UN-Reso-lution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ auf der Sit-zung des UN-Sicherheitsrats. Wir sehen diese Resolu-tion als Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses, derschon weit vor der Pekinger Weltfrauenkonferenz be-gann. Wir sehen diese Resolution aber nicht als Ab-schluss und Deckel des Prozesses. So gibt dieses Jubilä-umsjahr, das am 31. Oktober 2010 begann, Anlass fürWürdigungen, aber manchmal auch kritische Analysender Resolution 1325 und ihrer Nachfolger.

Ich begrüße die Diskussion dieses oft an den Rand ge-drängten Themas hier im Deutschen Bundestag sehr. Si-cherheit und Frieden sind die definierten Hauptaufgabendes UN-Sicherheitsrats. Sicherheit und Frieden sind aberauch zwei Aspekte, welche die Umsetzung dieser Reso-lution bestimmen.

Die Resolution und die folgenden Resolutionen wei-sen auf vielfältige Bedrohungen durch die mangelnde Si-cherheit der Zivilbevölkerung hin und fordern verstärkteSicherheitsmaßnahmen. Dabei bildet die starke Bedro-

Page 227: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12157

(A) (C)

(D)(B)

hung und Unsicherheit von Frauen und Kindern die Aus-gangslage dieser Resolution.

Allerdings wird nicht nur auf deren besondereSchutzbedürftigkeit und die mangelnde Sicherheit hin-gewiesen, sondern es wird auch ihre herausragendeRolle für das Gelingen von Friedensprozessen betont.

Seit der Beschlussfassung der Resolution 1325 vorüber zehn Jahren gibt es einen vielfältigen Prozess derUmsetzung. Und es gibt Länder, die den Verpflichtungender Resolution durch die Umsetzung eines nationalenAktionsplanes nachkommen. Es gibt Länder, die haltendies für den richtigen Weg der Umsetzung. Das wird hierin diesem Haus auch in einigen Anträgen der Oppositiongefordert. Deren politische Stoßrichtung – so wie sie inden Anträgen dargestellt wird – teilen wir allerdingsnicht.

Die Bundesregierung berücksichtigt die völkerrechts-verbindliche Resolution der Vereinten Nationen, sowohlin ihren nationalen als auch in ihren internationalen Poli-tikstrategien. Die Bundesregierung hat mit dem Aktions-plan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Frie-denskonsolidierung“ bereits ein sehr umfassendesInstrument geschaffen. Das ist meiner Meinung nachvöllig ausreichend, um eine zielorientierte Umsetzungder UN-Resolution 1325 zu erreichen. Daher halte ichdie Konstruktion eines weiteren nationalen Aktionsplansan dieser Stelle nicht für hilfreich. Deshalb können wirdie Hauptforderung Ihrer Anträge nicht unterstützen.Die Bundesregierung ist sich ihrer Pflicht bewusst undhandelt schon.

Der Förderung von Frauen, Frieden und Sicherheitauf internationaler Ebene kommt die Bundesregierungnach – gerade auch in ihrer neuen Funktion als Mitglieddes UN-Sicherheitsrates.

Die UN-Resolutionen zeichnen sich durch relativklare und entschiedene Formulierungen und Absichtser-klärungen aus. In der Realität herrscht immer noch einetwas anderes Bild vor: Der Frauenanteil in militäri-schen EU-Missionen zum Beispiel liegt bei circa6 Prozent und in den zivilen Missionen bei 8 Prozent.Vor diesem Hintergrund liegt es in der Natur der Sache,dass die Forderung, Frauen auf allen Ebenen einzubezie-hen, zunehmend energischer diskutiert wird.

Weitere Resolutionen wurden verabschiedet mit derMaßgabe, die Rolle der Frauen als friedenspolitischeAkteurinnen zu stärken und sie nicht primär oder garausschließlich als schutzbedürftig zu betrachten. Frauenwerden – nicht nur in der Friedens- und Sicherheitspoli-tik – berücksichtigt und gefördert. Das ist auch wichtig;das steht außer Frage. Dass in diesem Zusammenhangder Wunsch nach einer Quotierung besteht, ist nachvoll-ziehbar, jedoch nicht zielführend. Bereits jetzt achtet dieBundesregierung in der Arbeit in allen Ressorts auf dassogenannte Gender-Mainstreaming. Auch dies ist schoneine gelungene Umsetzung der hier vorgelegten Wün-sche und wesentlich produktiver als auf eine quantitativeQuote zu setzen.

Eine kurze Stellungnahme zum vorliegenden Antragder Kollegen von den Linken kann ich mir nicht gänzlich

verkneifen. Ihr Antrag ist ideologisch geprägt und for-dert eine Vielzahl von Maßnahmen, die teuer sind undderen Zweckmäßigkeit zweifelhaft ist. In Ihrer sechstenForderung unterstellen Sie der Bundesregierung, sie un-terstütze Regime, die Kindersoldaten einsetzen undsonstige Rechtsverstöße begehen.

Ich kann Ihnen eins sagen: Das ist nicht der Fall.Ganz im Gegenteil werden solche Regime sanktioniert,und die Bundesregierung setzt sich überall weltweit ein,dass sie in ihrer Haltung von anderen Staaten ebenso un-terstützt wird. Mit solchen Regimen arbeitet die deut-sche Bundesregierung definitiv nicht zusammen.

Wir haben mit der Entwicklung des vernetzten Ansat-zes ziviler und militärischer Mittel in Konfliktsituatio-nen einen großen Schritt nach vorne gemacht. DasThema hat in der jüngsten Vergangenheit eine größereBedeutung erlangt. Krisen und Konflikte sind komplexergeworden in den vergangenen Jahren. So müssen wir ne-ben dem klassisch-militärischen Bereich auch die öko-nomische, entwicklungspolitische, soziale und kulturelleKomponente vor Augen haben. Prävention, Bewältigungund Nachsorge von Konflikten kann unter den Bedin-gungen unseres Jahrhunderts nur funktionieren, wennunterschiedliche Maßnahmen in einem umfassendenKonzept miteinander vernetzt werden.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Umsetzungder UN-Resolution 1325 ist auch zehn Jahre nach ihrerVerabschiedung auf einem guten Wege. Die Bundesre-gierung weiß um ihre Pflicht und handelt. Daher sind diehier vorliegenden Oppositionsanträge nicht notwendig.

Christine Buchholz (DIE LINKE): Vor zehn Jahrenhat die UNO die Resolution 1325 „Frauen, Frieden undSicherheit“ verabschiedet. Die Bundesregierungen derletzten zehn Jahre haben es versäumt, einen Aktionsplanzur Umsetzung dieser Resolution zu erarbeiten. Deshalbsind wir uns mit SPD und Grünen einig: Die Regierungmuss einen Aktionsplan vorlegen.

Die entscheidende Frage ist allerdings, was der Inhalteines Aktionsplanes ist. Die Linke ist hier gänzlich ande-rer Meinung als die Bundesregierung, aber auch als SPDund Grüne. Letztere rühmen sich, in ihrer Regierungszeit„die Geschlechterperspektive in UN-Mandate für Frie-densmissionen“ wie Afghanistan 2001 aufgenommen zuhaben. Die vorliegende UN-Resolution und alle Fraktio-nen des Bundestags außer der Linken schließen Krieg inihre Politik mit ein. Für uns dagegen ist Krieg kein Mit-tel der Politik und schon gar kein Mittel, um Frauen-rechte durchzusetzen. Krieg bringt Krieg und keinenFrieden!

In der Resolution wird ein Aktionsplan zur „Mitwir-kung von Frauen in Entscheidungsfunktionen bei Kon-fliktbeilegungs- und Friedensprozessen“ gefordert. DasGegenteil ist der Fall. Frauen werden als Soldatinnenoder für Propagandazwecke instrumentalisiert, oder siewerden zum Opfer von Kriegen.

Die Bundesregierung hat den Anteil von Soldatinnenin der Bundeswehr seit dem Jahr 2001 verdreifacht. DieNATO betont, wie enorm wichtig Frauen für den Erfolg

Page 228: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

des Krieges in Afghanistan seien; mehr Soldatinnen ver-besserten den Schutz der eigenen Truppen. Für die Bun-desregierung und für die NATO sind Frauen Mittel zumZweck, um den Krieg zu gewinnen. Das ist pervers!

Schicksale afghanischer Frauen werden benutzt, umhierzulande den Krieg zu rechtfertigen. Ich zitiere einvon WikiLeaks veröffentlichtes CIA-Dokument: „Af-ghanische Frauen könnten als ideale Botschafterinnendienen“. Ihre Medienauftritte sollen „helfen, die unterwesteuropäischen Frauen weitverbreitete Skepsis gegen-über dem Afghanistan-Einsatz zu überwinden“.

Jedes Jahr wieder wird die Fortsetzung des Krieges inAfghanistan von Vertreterinnen und Vertretern aller Par-teien von FDP bis SPD damit begründet, man könne dieFrauen jetzt nicht im Stich lassen. Die Bundesregierungschrieb letztes Jahr auf ihrer Internetseite: „Mit der Mo-dernisierung des Landes wird sich auch die Lage derFrauen kontinuierlich verbessern. Daran wirken wirmit.“

Aber was bedeutet der Krieg vor Ort? Ich selbst habemich in der afghanischen Provinz Kunduz mit Frauengetroffen, deren Männer und Söhne am 4. September2009 auf Befehl der Bundeswehr getötet wurden. Sie ha-ben nicht nur ihre Angehörigen, sondern meist damitauch ihre Existenz und Zukunft verloren. Denn auchzehn Jahre nach Beginn des Krieges hat die Mehrheit derFrauen in Afghanistan keine Chance auf einen eigen-ständigen Broterwerb. Deshalb ist es besonders bitter,dass die Familien der Kunduz-Opfer noch heute auf an-gemessene Entschädigung von der Bundesregierungwarten.

Die ehemalige afghanische Abgeordnete Malalai Joyasagte mir: „USA und NATO fielen in Afghanistan an-geblich für die Rechte der Frauen ein, aber heute ist dieSituation der Frauen genauso katastrophal wie unter derHerrschaft der Taliban. Vergewaltigungen, Entführun-gen, Morde, Säureattentate und häusliche Gewalt steigenrapide an.“ Auf die Frage, wie wir Frauen in Afghanistanunterstützen können, antwortete sie: „Erstens wird KriegFrauen niemals helfen. Zweitens haben wir die Chance,dass sich afghanische Frauen selbst befreien und pro-gressive Männer uns helfen werden.“

Das zeigt: Krieg für die Rechte von Frauen ist einMythos. Ohne eine klare Absage an Krieg, der immerein Krieg gegen Frauen und Kinder ist, ist jeder Aktions-plan Makulatur. Deshalb fordert die Linke, die Resolu-tion 1325 weiterzuentwickeln und festzuschreiben, aufmilitärische Gewalt zu verzichten. Und genau deshalblehnt die Linke die Anträge von SPD und Grünen ab.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Am 8. März dieses Jahres haben wir „100 JahreInternationaler Frauentag“ gefeiert. National und inter-national gibt es neben vielen Problemen auch Fort-schritte und Erfolge für die Frauen. Der Beschluss derResolution 1325 vor zehn Jahren im UN-Sicherheitsratwar ein solcher Erfolg. Er war ein Meilenstein auf demWeg zu einer wirklich geschlechtersensiblen Friedens-und Sicherheitspolitik. Erstmals beschloss damit die

UNO eine völkerrechtlich verbindliche Vorgabe zur Be-teiligung von Frauen an der Bewältigung von gewalttäti-gen Konflikten und beim Friedensaufbau.

Allerdings mussten wir anlässlich des zehnjährigenJubiläums im letzten Jahr auch feststellen, dass die Bi-lanz mehr als ernüchternd ist: In den meisten Konfliktensehen sich die Parteien nicht an die Resolution 1325 ge-bunden. Frauen werden eben meistens nicht am Frie-densaufbau beteiligt. So ergaben Stichproben vonUNIFEM bei 24 UN-gestützten Friedensverhandlungenzwischen 1992 und 2008: Nur 7,6 Prozent der Verhan-delnden, nur 3,2 Prozent der Vermittelnden und nur2,5 Prozent der Unterzeichnenden waren weiblich. Ichnenne ein aktuelles Beispiel, nämlich die Umbrüche inder arabischen Welt. Zwar haben die Frauen in Tunesienund Ägypten maßgeblich dafür gesorgt, dass die Despo-ten abtreten mussten, aber jetzt, nach der Revolution, beider Gestaltung der neuen Demokratien, sollen sie wiederzurück an den Katzentisch. Das darf nicht sein. Lassensie uns hier ganz klar die Frauen in Ägypten mit ihrenForderungen unterstützen. Auch Frauen müssen in derVerfassungskommission und in den Übergangsstruktu-ren, die jetzt die Demokratie aufbauen, vertreten sein.

Auch Gewalt gegen Frauen wird in vielen Kriegenweiter systematisch als Kriegswaffe eingesetzt, wie zumBeispiel im Ostkongo. Dort finden seit Jahren massen-hafte Vergewaltigungen statt, sogar vor den Augen derBlauhelme. Allein im Juli und August 2010 waren esbrutale Vergewaltigungen an über 500 Frauen. Für dielokalen Kriegsherren, dramatischerweise aber oft auchfür die UN vor Ort, scheinen die Verpflichtungen aus derResolution 1325 und der Folgeresolution 1820 offen-sichtlich keine Rolle zu spielen. Wenn wir wirklich wol-len, dass die Resolution 1325 mit Leben gefüllt wird undzentraler Bestandteil der internationalen Politik wird,dann müssen sich endlich auch die Mitgliedstaaten derUNO konsequent an die Umsetzung machen. Sonst blei-ben die Resolutionen nichts weiter als bedrucktes Papier.

Meine Damen und Herren von der Bundesregierungund den Koalitionsfraktionen, ich finde es wirklich un-haltbar, dass wir, als Mitglied im Sicherheitsrat, immernoch nicht bereit sind, einen nationalen Aktionsplan aufden Weg zu bringen. Schon 2005 hat Kofi Annan das ge-fordert, doch erst 25 Staaten sind dem gefolgt. Es istdoch peinlich, dass Deutschland als angebliche Stützedes UN-Systems sich dieser Aufforderung immer nochverweigert. In der UNO-Agenda der Bundesregierunggibt es noch nicht mal einen Hinweis auf die Resolution1325 – und das, obwohl auch Ban Ki-moon die Umset-zung der Resolution 1325 zu einem seiner wichtigstenThemen gemacht hat: Es wurde mit UN-Women eineneue einheitliche UN Organisation geschaffen und mitMargot Wallström eine Sonderbeauftragte gegen sexu-elle Gewalt in Konflikten eingesetzt.

Auch die Anhörung des Unterausschusses „ZivileKrisenprävention und vernetzte Sicherheit“ am 13. De-zember 2010 hat ganz klar ergeben, dass die Frauenorga-nisationen wie medica mondiale, der Frauensicherheits-rat oder UNIFEM einen solchen nationalen Aktionsplanfür unabdingbar halten. Da kann sich doch Deutschland

Page 229: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12159

(A) (C)

(D)(B)

nicht einfach ausklinken und alle diese Empfehlungenignorieren. Deshalb bin ich sehr froh, dass es uns gelun-gen ist, zumindest zwischen den Fraktionen von SPD,Linken und Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamenAntrag zu vereinbaren. Das ist ein großer Erfolg, und ichbin mir sicher: Das wird politisch wahrgenommen wer-den.

Wir stellen damit klar: Mit anderen Mehrheitsverhält-nissen im Deutschen Bundestag werden wir – SPD,Grüne und Linke – einen solchen Aktionsplan gemein-sam auf den Weg bringen. Dadurch werden wir tatsäch-lich die UNO unterstützen – und nicht nur, wie die Ko-alition, durch Sonntagsreden. Konkrete Vorschläge zueinem solchen Aktionsplan, wie jetzt der des Frauensi-cherheitsrates, liegen ja sogar auf dem Tisch. Meine Da-men und Herren von der Koalition, Sie müssen nur zu-greifen und lesen. Es geht dabei um die Umsetzung der4 Ps: der Prävention, der Protektion – also dem Schutzvon Frauen und Mädchen –, der Präparation – also dergendersensiblen Vorbereitung von zivilem oder militäri-schen Personal, das wir in internationale Missionen oderMissionen der EU oder der OSZE entsenden – und derPartizipation. Besonders wichtig ist dabei das zuletztGenannte: Partizipation, also die Förderung der Beteili-gung von Frauen als Akteurinnen des Wandels.

Klar ist: Wir wollen einen effektiven Plan. Dabeimüssen wir von anderen Ländern lernen. Dazu ist esenorm wichtig, bei der Erstellung in einem transparentenProzess die Zivilgesellschaft einzubeziehen, die Maß-nahmen regelmäßig zu überwachen und vor allem zuevaluieren, ob die Zielvorgaben auch erreicht wurden.Es muss jährlich dem Bundestag berichtet werden, undder Aktionsplan muss mit entsprechenden finanziellenMitteln ausgestattet werden, denn ohne Budget bleibenviele Vorhaben blanke Theorie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,ich habe in vielen Krisenregionen dieser Welt erlebt, wiewichtig und von welch konkreter Bedeutung für dieFrauen vor Ort die Umsetzung dieser Resolution ist, diefür uns hier vielleicht so theoretisch erscheint: imKongo, in Darfur, im Südsudan, in Afghanistan und jetztaktuell in der arabischen Welt. Diese Frauen haben großeErwartungen und Hoffnungen, auch die Hoffnung, dasswir die Umsetzung der Resolution ebenso ernst nehmenwie sie. Lassen sie uns diese Frauen nicht enttäuschen,werfen Sie Ihr Herz über die Hürde und stimmen Sie,wie Ihre Kollegen und Kolleginnen im Unterausschuss„Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“, diedurch die Anhörung und durch die Debatte inzwischenvon der Sache offensichtlich überzeugt worden sind, ei-nem der Einzelanträge oder wenigstens unserem über-fraktionellen Antrag zu!

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Neunund-zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abge-

ordnetengesetzes – Einführung eines Ordnungs-geldes (Tagesordnungspunkt 19)

Bernhard Kaster (CDU/CSU): Wir debattierenheute über Änderungen des Abgeordnetengesetzes undder Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Än-derungen, die das Selbstverständnis unserer parlamenta-rischen Arbeit betreffen.

Der Begriff der Geschäftsordnung wird im Übrigender Bedeutung gerade dieser Geschäftsordnung nichtganz gerecht; ist es doch letztlich die gemeinsame Ver-ständigung über die Spielregeln unserer Demokratie ineinem demokratisch gewählten Parlament.

Unsere Geschäftsordnung hat eine sehr lange Tradi-tion. Sie finden in ihr wörtliche Formulierungen aus derGeschäftsordnung des Deutschen Abgeordnetenhausesvon 1848, des Norddeutschen Reichstages von 1868, derWeimarer Republik und zu guter Letzt der ersten endgül-tigen Geschäftsordnung des Bundestages aus dem Jahre1951. Dennoch ist die Geschäftsordnung über die Jahr-zehnte immer wieder aktualisiert worden. Sehr umfang-reich geschah dies zuletzt infolge des Vertrages von Lis-sabon.

Heute diskutieren wir über eine Änderung der Ge-schäftsordnung, die sich unsere Fraktion sehr gerne er-spart hätte. Es ist ungewöhnlich, ja beschämend, dasswir uns als Bundestag mit der Ausweitung von Ord-nungsmaßnahmen befassen müssen. Dies ist sicherlichkeine Sternstunde des Parlamentes.

Anlass für die Einführung eines Ordnungsgeldes – unddies muss hier klar zum Ausdruck gebracht werden – isteinzig und alleine das unparlamentarische Verhalten ei-ner Fraktion. In dieser Legislaturperiode wie auch in dervorangegangenen Legislaturperiode hat immer und im-mer wieder die Nachfolgepartei der kommunistischenSED die Regeln dieses Hauses und damit der Demokra-tie vorsätzlich verletzt. Die Linksfraktion hat diese Stö-rungen offensichtlich ganz gezielt und abgestimmt ins-zeniert, um sich ihrer Aktivitäten anschließend auchnoch im Internet zu rühmen.

Im Rahmen der Debatte um die Erweiterung des Af-ghanistan-Mandats zeigten eine Vielzahl von Abgeord-neten der Linken im Plenum Spruchbänder. Die Partei-vorsitzende der Linken hat diese Entgleisung derMitglieder ihrer Fraktion nicht etwa kritisiert, sondernsogar noch mit den Worten gelobt „Ich danke auch per-sönlich meiner Fraktion sehr, wie würdevoll diese Ak-tion vorbereitet und umgesetzt wurde.“

Es ist die Übereinkunft aller Demokraten, dass derpolitische Wettstreit, die Kontrollfunktion des Parla-ments gegenüber der Regierung und die Auseinanderset-zung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionenmit engagierten, durchaus auch hitzigen Debatten ausge-tragen werden. Dieses Haus ist aber kein Platz für De-monstrationen, Transparente und jede Art von Klamauk.Wer wie die Linksfraktion das Bundestagsplenum alsDemonstrationsplattform nutzt, will damit in unredlicherWeise die Wirkung und die Kraft der Argumente aus deröffentlichen Diskussion verdrängen. Er zeigt damit zu-

Page 230: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

gleich, dass er von der Kraft der eigenen Argumente of-fensichtlich selbst nicht überzeugt ist, denn sonst be-dürfte es solcher Aktionen ja nicht.

Der Bundestagspräsident hat bereits im November2008 festgestellt, dass die Neigung zu Disziplinlosigkei-ten deutlich größer geworden ist. Das ist alles mehr alsbedauerlich.

Wir sind inzwischen nicht mehr bereit, eine Verro-hung der Sitten, wie sie in letzter Zeit im Plenum einge-rissen ist, weiter hinzunehmen. Es ist eine fühlbareSanktion notwendig. Deshalb sprechen wir uns jetzt,wenn auch ungern, für die Einführung eines Ordnungs-geldes aus. Dieses wird in sinnvoller Weise in § 44 a desAbgeordnetengesetzes und dann in einer klaren Einord-nung in die §§ 36 bis 38 der Geschäftsordnung ein-gefügt. Wir haben damit eine Regelung, die vomOrdnungsruf über die Wortentziehung und das Ord-nungsgeld bis hin zum gravierendsten Mittel, dem Sit-zungsausschluss, reicht.

Wir haben auch Wert darauf gelegt, eine klare Rege-lung im Hinblick auf die Höhe des Ordnungsgeldes zutreffen. Sie beträgt 1 000 Euro bzw. 2 000 Euro im Wie-derholungsfall. Wir sehen nicht ein, den ganzen Unfugund Unsinn der Fraktion Die Linke auch noch im Rah-men einer Spanne zu katalogisieren.

Bedauerlich ist aber auch, dass nicht alle demokrati-schen Fraktionen diesen Gesetzentwurf mittragen. DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen hat von Beginn an im-mer wieder betont, dass sie sehr wohl bereit sei, ein Ord-nungsgeld einzuführen. Aber bei allen Beratungen hatsie bereits im Vorfeld immer wieder nach Gründen odereinem Vehikel gesucht, um letztlich dann doch wiederaus dieser Regelung auszusteigen. In diesem Zusam-menhang erinnere ich daran, dass bei der letzten Störungdurch die Fraktion Die Linke, die auch zum Sitzungsaus-schluss von Abgeordneten geführt hat, dieses undemo-kratische Verhalten die ausdrückliche Zustimmung desKollegen Ströbele von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen gefunden hat.

Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen wehrt sichmit vorgeschobenen Argumenten dagegen, zukünftigauch Verstöße gegen die Würde des Bundestages mit ei-ner Ordnungsmaßnahme zu sanktionieren. Sie hat damitletztlich das Vehikel gefunden, um Teilen ihrer Fraktionentgegenzukommen. Da nützt es auch gar nichts, diesmit allen möglichen juristischen Spitzfindigkeiten, Be-wertungen und Auslegungen zu begründen. Die Würdedes Hauses, die Würde des Deutschen Bundestages, hatbereits im § 7 der Geschäftsordnung ihren Niederschlaggefunden. Viele andere Vergleiche, beispielsweise in derJustiz, könnten ebenso angeführt werden. So kennt unserGerichtsverfassungsgesetz den Begriff „Würde des Ge-richts“, der in § 175 des Gerichtsverfassungsgesetzes ge-regelt ist.

Wenn die demokratischen Fraktionen CDU/CSU,SPD und FDP auch Verstöße gegen die Würde des Bun-destages als ahndungswürdig betrachten, ist dies absolutnachvollziehbar. Damit wird die Entscheidungsgrund-lage des amtierenden Präsidenten verbessert, im Übrigen

auch in der Bundesversammlung, für die unsere Ge-schäftsordnung sinngemäß gilt. Es gibt also schlichtwegkein Argument für die Fraktion von Bündnis 90/DieGrünen, unseren Gesetzentwurf nunmehr ganz abzuleh-nen.

Sie hatte im Übrigen Bedenken geäußert, beispiels-weise wegen einer möglichen strittigen „Kleiderord-nung“. Auch da sind alle Fraktionen darauf eingegangenund haben in der Begründung nochmals klargestellt,dass es darum genau nicht geht.

Lassen Sie mich abschließend noch einmal an dieVerursacher dieser Regelung appellieren, die FraktionDie Linke: Sie sollten endlich die demokratischen Spiel-regeln anerkennen und trotz Ihrer Vergangenheit endlichin der Demokratie ankommen.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Noch vorzwei Jahren habe ich mir nicht vorstellen können, dasswir heute über eine Verschärfung der Ordnungsmaßnah-men gegen Abgeordnete beraten müssen. Eigentlichsollte es unter Demokraten möglich sein, die Argumenteder politisch anders Denkenden zu ertragen, ohne zuMitteln der Störung und des Klamauks zu greifen unddamit nicht nur die Arbeit der anderen Abgeordneten zustören, sondern auch das Ansehen des Bundestages inden Augen der Öffentlichkeit niederzumachen. Leidermusste ich mich durch die verschiedenen massiven Ord-nungsstörungen in der jüngeren Vergangenheit, insbe-sondere durch konzertierte Aktionen mehrerer Mitglie-der der Fraktion Die Linke, eines Besseren – oder bessergesagt, eines Schlechteren – belehren lassen.

In geradezu unverantwortlicher Weise versuchendiese Kolleginnen und Kollegen immer wieder, denDeutschen Bundestag – das höchste gesetzgebende Ver-fassungsorgan unseres Landes – zu einer Bühne für bil-lige politische Polemik zu machen. Ich denke nur an dieAktion in der letzten Wahlperiode, in der sie einen da-mals amtierenden Ministerpräsidenten durch verzer-rende Masken verächtlich machten wollten. Aber auchin dieser Wahlperiode musste der Bundestagspräsidentschon zweimal Mitglieder der Linksfraktion von der Sit-zung des Bundestages wegen gröblicher Ordnungsver-letzungen ausschließen.

Leider lassen diese Erfahrungen keinen anderenSchluss zu als den, die Effizienz der bestehenden Ord-nungsmaßnahmen nach der Geschäftsordnung des Bun-destages kritisch zu überprüfen. Dabei hat sich herausge-stellt, dass der Sach- und der Ordnungsruf für solchemassiven Störungen der Ordnung während einer Sitzungnicht ausreichend sind. Ihr Sanktionscharakter ist eherbegrenzt und sie sind im Konfliktfall nicht geeignet, dieStörung nachhaltig zu beseitigen. Der Sitzungsaus-schluss – nach unserer Geschäftsordnung immerhin fürbis zu 30 Sitzungstage möglich – ist demgegenüber dasschärfste Ordnungsmittel, das zur Verfügung steht, weiles in die Rede- und Abstimmungsrechte des betroffenenAbgeordneten massiv eingreift. Es kann deshalb nur alsUltima Ratio in Betracht kommen.

Page 231: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12161

(A) (C)

(D)(B)

Genau in den Zwischenraum zwischen Sach- undOrdnungsruf und dem Sitzungsausschluss soll nachübereinstimmender Auffassung der Koalitionsfraktionenund der SPD nun – quasi als neues Ordnungsmittel aufmittlerer Ebene – ein Ordnungsgeld treten. Es hat denVorteil, dass es einerseits eine spürbare Sanktion dar-stellt, andererseits aber in die parlamentarischen Rechteder Abgeordneten nicht eingreift und öffentlichkeits-wirksame Konfrontationen, wie zum Beispiel bei einerzwangsweisen Entfernung aus dem Plenarsaal, vermei-den kann.

In breiter Einmütigkeit mit Ausnahme der FraktionDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen – Letztere hat al-lerdings auch die grundsätzliche Notwendigkeit der Ver-schärfung der Ordnungsmittel gesehen – hat der Ge-schäftsordnungsausschuss in zahlreichen Sitzungen denIhnen nun vorliegenden Gesetzentwurf der drei Fraktio-nen zur Änderung des Abgeordnetengesetzes vorberei-tet, der als Rechtsgrundlage für eine nachfolgende Ände-rung der Geschäftsordnung dient. Er empfiehlt, dasOrdnungsgeld in einer festen Höhe von 1 000 Euro, imWiederholungsfall von 2 000 Euro, vorzusehen. Es sollvom jeweils sitzungsleitenden Präsidenten bei einer„nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oderder Würde des Bundestages“ festgesetzt werden können.Wegen einer „gröblichen“ Verletzung der Ordnung oderder Würde des Bundestages soll – wie bisher – der Sit-zungsausschluss möglich sein.

Die feste Höhe des Ordnungsgeldes von 1 000 Eurobzw. 2 000 Euro und der Verzicht auf einen entsprechen-den Ermessensspielraum des amtierenden Präsidentenbzw. der amtierenden Präsidentin sollen Streitigkeitennur über die angemessene Höhe des verhängten Ord-nungsgeldes vermeiden. Weitere gesetzliche Konkreti-sierungen der Frage, was denn konkret unter einer „nichtnur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder derWürde des Bundestages“ zu verstehen ist, hat der Ge-schäftsordnungsausschuss als nicht sinnvoll abgelehnt.Unterschiedliche Auffassungen hierzu wird man wederdurch gesetzliche Fallbeispiele noch durch weitere unbe-stimmte Rechtsbegriffe im Gesetzestext befrieden kön-nen. Letztlich ist es eine Entscheidung des amtierendenPräsidenten bzw. der amtierenden Präsidentin, die unterAbwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles zutreffen ist.

Im Geschäftsordnungsausschuss wurde bis zuletzt dieFrage diskutiert, ob auch die „Würde des Bundestages“ausdrücklich in den Schutzbereich der Ordnungsmaß-nahmen aufgenommen werden sollte. Hiergegen sprachsich insbesondere die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenaus, anscheinend weil sie immer noch ein grundsätz-liches Problem mit dem Schutz der Würde dieses Parla-ments hat. Die antragstellenden Fraktionen sahen dage-gen den ausdrücklichen Schutz der Würde desBundestages als notwendig an, damit klar gestellt wird,dass auch bei nichtverbalen Ordnungsstörungen, wiezum Beispiel beim Hochhalten von Transparenten odersonstigem provokativem Verhalten, eindeutig die Mög-lichkeit einer angemessenen Reaktion hierauf besteht.Klar ist für uns allerdings auch, dass nicht jede Verhal-tensweise, die dem einen oder anderen nicht gefallen

mag, als ein Angriff auf die Würde des Bundestages ge-wertet werden kann. Bloße Fragen der Kleiderordnungzum Beispiel können nicht hierunterfallen.

Die nähere Regelung des Ordnungsgeldes soll – wieauch bisher bei den Ordnungsmaßnahmen – durch un-sere Geschäftsordnung erfolgen. Auch insoweit hat sichder Geschäftsordnungsausschuss auf konkrete Vor-schläge schon verständigt, die dem Plenum alsbald zurEntscheidung vorgelegt werden. Danach soll das Ord-nungsgeld – wie bisher schon der Sitzungsausschluss –auch später noch festgesetzt werden können, und es sollin das bestehende Rechtsmittelsystem der Geschäftsord-nung eingebunden werden, wonach bei Einspruch derBundestag insgesamt entscheidet und danach der Wegzum Bundesverfassungsgericht im Wege der Organklageoffensteht.

Ich bin überzeugt, dass das Ordnungsgeld eine ange-messene, aber leider auch notwendige Erweiterung desbestehenden Systems der Ordnungsmaßnahmen für un-ser Parlament ist. Ich bitte Sie daher um Ihre Unterstüt-zung des vorliegenden Gesetzentwurfs.

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Wir bera-ten heute in erster Lesung über eine Änderung des Abge-ordnetengesetzes, die niemand von uns in Wahrheit mitinnerer Begeisterung betreibt. Denn als Parlamentarierinoder Parlamentarier sich selbst mit härteren Sanktionenzu belegen macht keine Freude. Doch leider hat das Ver-halten gerade einer Fraktion hier im Hause dieses Vorge-hen unumgänglich gemacht.

Bereits jetzt darf uns der Präsident zur Ordnung rufenoder sogar bis zu 30 Tage von den Beratungen ausschlie-ßen. Das erste Instrument beeindruckt einige hier wohlkaum, das andere Instrument aber ist eine sehr, sehrharte Maßnahme. Denn es bedeutet, dass Mitglieder die-ses Hohen Hauses in ihrem elementaren Recht, dem Re-derecht, massiv beschnitten werden. Der Ausschlussmuss also immer das letzte Mittel sein.

Das Parlament lebt vom Parlieren. Das gesprocheneWort ist unser Mittel der demokratischen Auseinander-setzung. Deshalb ist es nicht hinnehmbar, dass eineFraktion so agiert, als könne man sich beliebig darüberhinwegsetzen. Vermeintlich im Besitz einer höherenMoral und nach billiger Publicity heischend, hat dieFraktion der Linken immer wieder unsere Beratungenhier desavouiert. Sie nimmt sich Sonderrechte heraus,begeht bewusst Regelverletzungen und entwertet damitsehenden Auges und bewusst jede Form der parlamenta-rischen Auseinandersetzung.

Würde jede Fraktion kraft eigenen Rechts die ge-meinsamen Spielregeln so außer Kraft setzen, dann wärekeinerlei geordnete Debatte mehr möglich. Gefährlichist dies deshalb, weil jeder, der so agiert, den Eindruckerweckt, als habe man kein anderes geeignetes Mittel,sich darzustellen, oder aber als habe man einen An-spruch auf Regelverletzung. Das ist ein Spiel mit demFeuer. Nach dem Prinzip von Rede und Gegenrede ha-ben wir alle hier weidlich die Möglichkeit, abgelehnteStandpunkte zu entkräften und die eigene Position zu

Page 232: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

stärken, öffentlich Rechenschaft abzulegen oder einzu-fordern. Mehr und anderes darf und kann nicht sein,sonst entwerten wir uns als Mitglieder des Parlaments.

Jeder Versuch, unter Kolleginnen und Kollegen ohneweitere Sanktionen auszukommen, ist leider ignoriertworden: Zusagen wurden gebrochen, Wiederholungengab es immer wieder. Deshalb ist es zur Wahrung der gu-ten Formen leider zwingend notwendig, ein Ordnungs-geld einzuführen. Wer durch das Hochhalten von Pro-testschildern, entsprechender Bekleidung oder andereAlbernheiten den Komment verletzt, der muss zukünftigmit 1 000 Euro oder sogar 2 000 Euro Ordnungsstraferechnen. Damit wird der Spuk hoffentlich ein Ende ha-ben. Wir sind dem demokratischen Streit, nicht dem Kla-mauk verpflichtet. Wer nicht hören will, muss nun füh-len – leider!

Jörg van Essen (FDP): Die FDP-Bundestagsfrak-tion hat von Anfang an die Initiative des SPD-KollegenLange, dem ich für seine Anregung an dieser Stellenochmals besonders danken möchte, unterstützt. Wirfreuen uns deshalb sehr, dass es gelungen ist, sich ge-meinsam mit CDU/CSU und SPD auf einen Gesetzent-wurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes zu ver-ständigen.

Die Notwendigkeit zu einer Regelung hat sich in demmehrfachen Fehlverhalten von Abgeordneten der Links-fraktion im Plenum gezeigt. Das Hochhalten von Trans-parenten und andere Aktionen ähnlicher Art beeinträch-tigen die Würde eines obersten Verfassungsorgans undsind nicht hinnehmbar. Ein Abgeordneter kann jederzeitim Plenum das Wort ergreifen und seine Position ver-deutlichen. Es bedarf eines solchen Verhaltens alsonicht.

Bei der notwendigen Reaktion auf dieses Fehlverhal-ten hat sich gezeigt, dass ein Ordnungsruf eine zu ge-ringe Sanktion ist, aber auch Bedenken bestehen, die be-troffenen Abgeordneten von der Sitzung auszuschließen.Dies hat sich besonders deutlich bei einer anstehendenEntscheidung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehrgezeigt. Trotz des vom Präsidenten verhängten Aus-schlusses sind alle Fraktionen übereinstimmend zu derAuffassung gekommen, dass den betroffenen Kollegendie Teilnahme an der Abstimmung ermöglicht werdensollte. In Fällen wie diesen wäre die Verhängung einesOrdnungsgeldes die angemessenere Sanktion. Sie machtdeutlich, dass ein erhebliches Fehlverhalten nicht gedul-det wird, ermöglicht aber auf der anderen Seite uneinge-schränkt die Ausübung des Abgeordnetenrechts.

Wir haben lange überlegt, welche Höhe dieses Ord-nungsgeld haben sollte. Wir schlagen eines in Höhe von1000 Euro vor. Wie bei allen Ordnungsgeldern ist diesein einheitlicher Betrag. Auch in anderen Fällen einesOrdnungsgeldes findet keine Differenzierung etwa nachFamilienstand oder Anzahl von Kindern statt. Es ent-spricht auch dem verfassungsrechtlichen Bild des Abge-ordneten, wonach alle Abgeordneten gleich sind. In denanstehenden Beratungen sind wir offen dafür, über die-sen Betrag noch einmal zu reden. In unseren fraktionsin-ternen Beratungen ist der Hinweis gegeben worden, dass

die Höhe den amtierenden Präsidenten davon abhaltenkönnte, das Ordnungsgeld zu verhängen, obwohl es not-wendig wäre. Das wäre ein Ergebnis, das es zu verhin-dern gilt.

Insgesamt erhoffe ich mir, dass es nur wenige Anlässegeben wird, bei denen die amtierenden Präsidenten zudiesem Mittel greifen müssen. Ein oberstes Verfassungs-organ sollte immer streng darauf achten, seiner Würdegerecht zu werden.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Vor weni-gen Monaten wurde hier an dieser Stelle das Vorgehender Koalition bei der Laufzeitverlängerung als „Gesetz-gebung mit der Brechstange“ gebrandmarkt. In der De-batte fielen Worte wie „Lügner“ oder „Affentheater“.Journalisten berichteten später, in Richtung der Opposi-tionsfraktionen seien sogar Worte wie „Faschisten“ ge-fallen, weil eine Fraktion in einheitlicher Protestklei-dung aufgetreten war. Rügen an Abgeordnete seitens derSitzungsleitung, Ordnungsrufe oder gar Ausschlüsse vonder Sitzung sind nicht bekannt, auch keine Entschuldi-gungen. Nur der Präsident des Bundestages erinnertedaran, es sei guter parlamentarischer Brauch, auf persön-lich herabsetzende Bemerkungen zu verzichten. Offen-kundig hat sich daran niemand wirklich gestört.

Die Laufzeitverlängerung wurde dann mit der Mehr-heit der Koalition durchgewunken – entgegen aller Ver-nunft, wie wir heute nach den Ereignissen um Fuku-shima wissen. Diese Art Gesetzgebung nach politischerWillkür verletzt die Würde der Demokratie und diesesHauses. Dass Abgeordnete zu Abnickmaschinen degra-diert werden, erleben wir nicht zum ersten Mal. Ähnlichwurden hier Gesundheitsreformen, Bankenrettungsfondsvon 480 Milliarden Euro oder – wie jüngst – Einsätzezusätzlicher Bundeswehrsoldaten in AWACS-Maschi-nen über Afghanistan beschlossen – oder besser gesagt:durchs Parlament gepeitscht.

Aber gegen diese anhaltende Missachtung parlamen-tarischer Spielregeln liegt seitens der Fraktionen vonCDU/CSU, SPD und FDP kein Gesetzentwurf vor. Statt-dessen legen Sie einen Gesetzentwurf vor, nach dem Ab-geordnete künftig bei einer „nicht nur geringfügigenVerletzung der Ordnung oder der Würde des Bundesta-ges“ mit einem Ordnungsgeld bestraft werden können.Sie tun so, als drohten hier im Bundestag Verhältnisse, indenen Abgeordnete mit Fäusten aufeinander losgehen.Davon kann, wie Sie genau wissen, nicht die Rede sein.

Ganz offen wird von Ihnen erklärt, das Ordnungsgeldwerde nur wegen angeblicher Störaktionen einer einzi-gen Fraktion eingeführt: der Linken. Eine Aktion derLinken, die Sie zum Beispiel als störend erachteten,betraf das Gedenken an die Opfer von Kunduz – Opfereines Bombardements, befohlen von einem deutschenOffizier. Ein angemessenes Gedenken daran aber habenSie abgelehnt. Das hat die Würde dieses Hauses verletzt,nicht aber die von Linken hochgehaltenen Schilder mitNamen und Alter der Opfer.

Ihr Gesetzentwurf ist im Kern eine Lex Linke. Auchdas ist würdelos. Keine Frage: Das demonstrative Tra-

Page 233: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12163

(A) (C)

(D)(B)

gen von Kleidung, zumal im Parlament vor der Öffent-lichkeit, muss nicht jeder gut finden – so wie nicht jederdas Tragen einer Krawatte gut finden muss. Kleidungs-und Geschmacksfragen aber demonstrativ mit Ord-nungsgeld zu bestrafen, ist eindeutig überzogen und zu-dem verfassungsrechtlich bedenklich.

Wann und wie die Würde des Hauses verletzt seinsoll, weiß die Mehrheit dieses Hauses zudem so genaunicht. Die Entscheidung darüber überlassen Sie dem Prä-sidenten des Bundestages. Das Ordnungsgeld wird so zueiner politischen Willkürveranstaltung.

Gegen das geplante Ordnungsgeld gibt es für die Ab-geordneten auch keinen effektiven Rechtsschutz. Defacto müsste ein Abgeordneter, wenn sie oder er mit demverhängten Ordnungsgeld nicht einverstanden ist, beimBundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen. Da-rüber hinaus hält die Fraktion Die Linke die von derMehrheit des Hauses vorgesehene Einschränkung derRechte souveräner Abgeordneter für verfassungsrecht-lich bedenklich. Deshalb behält sich die Linke auch vor,das Ordnungsgeld vom Bundesverfassungsgericht prü-fen zu lassen.

Im Parlament soll es auf das Miteinander-Reden, aufdas Abwägen von Argumente ankommen. Darin sindwir uns sicher einig. Ich hoffe sehr, dass sich die Fraktio-nen von Union, SPD und FDP bei den kommenden Aus-schussberatungen von vernünftigen Argumenten leitenlassen und diesen Gesetzentwurf zurücknehmen.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ei-nige Verhaltensweisen von Mitgliedern des DeutschenBundestags in der letzten Zeit waren der Auslöser fürGespräche über mögliche oder notwendige Änderungenin unserer Geschäftsordnung. Ziel dieser Gespräche imGeschäftsordnungsausschuss war es, das Ordnungsgeldeinzuführen, um das bestehende System aus Sach- undOrdnungsruf sowie der Wortentziehung einerseits undeines Sitzungsausschlusses andererseits sinnvoll zu er-gänzen. Eingeführt werden sollte ein Sanktionsmecha-nismus, der auf nicht nur geringfügige Ordnungsstörun-gen angemessen reagieren kann, ohne gleich auf dieUltima Ratio des Sitzungsausschlusses zurückgreifen zumüssen. Es sollte nicht mit Maßnahmen gegen Abgeord-nete aufgesattelt werden, und es sollten auch keineneuen Gründe für solche Maßnahmen hinzukommen.Das Ordnungsgeld sollte dem Präsidenten ermöglichen,situationsangemessen reagieren zu können, ohne zuschnell zum schärfsten Mittel, dem Ausschluss von derparlamentarischen Arbeit, greifen zu müssen. DiesesZiel ist mit der Einführung des Ordnungsgeldes als mitt-lerer Stufe des Eingreifens des Präsidenten erreicht.Bünd-nis 90/Die Grünen begrüßt dies.

So weit, so gut. Leider haben die Fraktionen derCDU/CSU, der FDP und der SPD sich im Geschäftsord-nungsausschuss damit nicht begnügt. Vielmehr wurde– ohne Not und ohne Sinn – die Gelegenheit genutzt, um– sozusagen durch die Hintertür – auch noch einen völligneuen Grund für ein Eingreifen des Präsidenten gegeneinen Abgeordneten einzuführen: die „Verletzung derWürde des Bundestags durch Abgeordnete“.

Diese Neuerung hat in der Sache nichts – aber auchgar nichts – mit der Einführung des Ordnungsgelds zutun. Vielmehr sollen alle Sanktionsmechanismen, ange-fangen vom Ordnungsruf bis hin zum Sitzungsaus-schluss, mit bei einer „Verletzung der Würde des Bun-destags“ greifen. Auch das Abgeordnetengesetz, überdessen Änderung wir heute beraten, soll nach dem Wil-len von Koalition und der SPD um die Sanktionierungvon Würdeverletzungen des Bundestags erweitert wer-den. Dies lehnen wir ab, weil dies völlig entbehrlich undfür die Freiheit der Abgeordneten sogar tendenziell ge-fährlich ist.

Zuerst zur leidigen Krawattenfrage. Zwar heißt es in-soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs, dass„reine Fragen der Kleiderordnung … ausgenommensind, soweit sie nicht allgemeine Regeln des Anstands“– und ich füge hinzu: damit die Ordnung des Bundestags –„verletzen“. Aber in Wirklichkeit wird schon heute dieKrawattenlosigkeit bei Abgeordneten, wenn sie im Sit-zungsvorstand tätig sind, als ein würdeverletzendes Ver-halten angesehen.

Ich darf aus dem Protokoll des Ältestenrates vom16. Dezember 2010 zitieren: „Der Präsident macht deut-lich, dass das Präsidium großen Wert darauf lege, dassder Sitzungsvorstand der Würde eines obersten Verfas-sungsorgans entsprechend gekleidet sei, wozu bei Män-nern grundsätzlich das Tragen von Krawatten gehöre.“Ein Schelm, der Böses dabei denkt, dass wir zukünftigvielleicht wegen Krawattenlosigkeit als Würdeverletzerdes Bundestags mit Ordnungsmitteln belangt werdenkönnten!

Die geschätzten Kolleginnen und Kollegen von derKoalition und von der SPD waren bis heute nicht in derLage zu erklären, was diesen neuen Tatbestand eigent-lich wirklich notwendig macht. Es ist bezeichnend, dasser sozusagen klammheimlich, ohne ausdrückliche Nen-nung im Namen des Gesetzentwurfs, eingeführt wird.Die Begründung dafür ist entlarvend. So gestehen dieFraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD zu, dass bisherim Rahmen der Geschäftsordnung des Bundestags eine– angebliche – Verletzung der Würde des Bundestagsstets als eine Ordnungsverletzung im Sinne des § 38 GO-BT angesehen wurde. Es gibt also offensichtlich keineLücken, die es mit der neuen Regelung zu füllen gäbe.Trotzdem sollen künftig das Hochhalten von Transpa-renten, das Tragen von Anstecknadeln – hierzu gibt esden verräterischen Zusatz: „je nach Gegebenheit oder In-halt“ – oder „sonstiges provokatives Verhalten“ – auchdies eine reine Leerformel – eine Verletzung der Würdedes Bundestags, begangen durch Abgeordnete und zuahnden durch den Präsidenten, sein.

Ich will dazu in aller Deutlichkeit sagen: Entwedersind solche Verhaltensweisen Störungen der Ordnungdes Bundestags und damit jetzt schon vom Präsidentenzu sanktionieren, oder sie sind eben keine Ordnungsstö-rungen. Es soll so wohl ganz allgemein bestimmtes – un-liebsames – Verhalten und bestimmte Äußerungen vonAbgeordneten unterbunden werden können. Damit be-steht die Gefahr, dass Abgeordnete an der freien Aus-übung ihres Mandats durch den Präsidenten gehindert

Page 234: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

werden, dass sie dabei kontrolliert und einer Zensur un-terworfen werden, ohne dass sie die Ordnung des Bun-destags stören. Eine solche Regelung wird die Zustim-mung der Grünen nicht finden – und ich wundere mich,weshalb die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionender CDU/CSU, FDP und SPD sie vorschlagen. Es kanndoch nicht ausschlaggebend sein, dass sich gerade dieKolleginnen und Kollegen der Linken in letzter Zeit mitihren Aktionen im Hohen Hause unbeliebt gemacht ha-ben. Ich kann den Kolleginnen und Kollegen der Koali-tion und der SPD nur zurufen: Bedenken Sie, dass sichdiese neue Regelung auch einmal gegen sie selbst rich-ten kann!

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtliniender Europäischen Union und zur Anpassungnationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa-kodex (Tagesordnungspunkt 21)

Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir beraten heute inerster Lesung den Entwurf eines Gesetzes der Bundesre-gierung zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtli-nien der Europäischen Union und zur Anpassung natio-naler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex. DerGesetzentwurf dient der Umsetzung der folgenden Richt-linien in das innerstaatliche Recht: erstens, der Richtlinie2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Ratesvom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen undVerfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegalaufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom24. Dezember 2008, S. 98 – das ist die sogenannte Rück-führungsrichtlinie –, und zweitens, der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen undMaßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehö-rige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen, ABl. L168 vom 30. Juni 2009, S. 24 – das ist die sogenannteSanktionsrichtlinie. Ferner dient der Gesetzentwurf derAnpassung des innerstaatlichen Rechts an die Verord-nung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodexder Gemeinschaft.

Ich möchte zunächst auf die Umsetzung der soge-nannten Rückführungsrichtlinie eingehen, die auf dieFestlegung eines für alle Mitgliedstaaten verbindlichenrechtsstaatlichen Mindeststandards bei der Rückführungausreisepflichtiger Ausländer zielt und damit, entgegenaller Kritik, ein erster und wichtiger Schritt in Richtungeiner gemeinschaftlichen Einwanderungspolitik ist. Eingroßer Teil der in der Richtlinie enthaltenen Vorgabenwird in Deutschland bereits durch das im geltenden Auf-enthaltsgesetz vorgesehene Recht der Aufenthaltsbeen-digung erfüllt. Von einigen Nichtregierungsorganisatio-nen wird der Gesetzentwurf allerdings zum Anlass fürweitergehende Forderungen zur Reform des Abschie-bungsrechts genommen. Gefordert wird beispielsweise

eine Verkürzung der gesetzlich vorgesehenen Höchst-haftdauer von 18 Monaten. Gefordert wird außerdemeine Regelung, dass unbegleitete Minderjährige nicht inAbschiebehaft genommen werden dürfen.

Die Kritik überrascht nicht. So wurde bereits derRichtlinienentwurf von einigen Flüchtlings-, Asyl- undMenschenrechtsorganisationen als „Richtlinie derSchande“ verteufelt. Die Kritiker der Richtlinie überse-hen dabei, dass eine wirkungsvolle Rückführungspolitikein notwendiger Bestandteil einer durchdachten undglaubwürdigen Migrationspolitik ist. Und sie ist – wiesollte es anders sein? – ein Kompromiss zwischen natio-nalen Interessen und humanitären Gesichtspunkten. Sieführt Mindeststandards in allen Mitgliedstaaten ein, vorallem bei der Unterbringung der Betroffenen und imVerfahren sowie beim Rechtsbeistand. Überall dort, woes vorher keine verbindlichen Vorschriften gab, führt dieUmsetzung dieser Richtlinie in vielen Bereichen zu einerwirklichen Verbesserung. So gibt es in der EU momen-tan neun Länder, die gar keine zeitliche Begrenzung derAbschiebehaft kennen; jetzt werden es sechs Monatesein. Diese Haftzeit kann nur in Ausnahmefällen zwei-mal um sechs Monate verlängert werden.

Eine deutliche Verbesserung stellt die Beschränkungdes Wiedereinreiseverbots auf fünf Jahre dar. 14 Ländersprechen derzeit längere Wiedereinreiseverbote aus,Deutschland sogar unbefristete. Das Wiedereinreisever-bot führt auch nicht – wie behauptet – die Flüchtlingspo-litik ad absurdum. Denn Art. 9 Abs. 5 der Richtliniesieht ausdrücklich vor, dass das Recht, in den Mitglied-staaten nach internationalem Schutz zu suchen, von ei-nem Wiedereinreiseverbot unberührt bleibt. Übrigensgilt das Wiedereinreiseverbot künftig EU-weit. Bisherkonnte ein Mitgliedstaat Einreiseverbote nur für das ei-gene Territorium aussprechen. Dies alles gilt ganz abge-sehen von der Möglichkeit, im Einzelfall einen Antragauf nachträgliche Reduzierung der Befristung zu stellen.

Eine Umsetzung über den Richtlinienentwurf hinauslehnen wir ab, da unsere Abschiebungsregelungen richt-linienkonform sind und sich in der Praxis bewährt ha-ben. Die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen zurErforderlichkeit der Abschiebungsandrohung und zurAbschiebehaft lehnen sich eng an die Formulierungen inder Rückführungsrichtlinie an und tragen darüber hinausauch Forderungen insbesondere der Kirchen, der Flücht-lingsorganisationen und der IntegrationsbeauftragtenRechnung.

Die Regelungen zur Abschiebehaft übernehmen dieVorgaben der Richtlinie zum Teil ausdrücklich; zum Bei-spiel gibt es die Abschiebehaft nur als Ultima Ratio undfür Minderjährige sowie Familien mit Minderjährigennur in Ausnahmefällen, und die Berücksichtigung alters-typischer Belange minderjähriger Abschiebungsgefan-gener ist gewährleistet. Auf weitere Vorgaben der Richt-linie wird in der Gesetzesbegründung ausdrücklich ver-wiesen, zum Beispiel darauf, dass Gelegenheit zualtersgerechtem Spielen zu geben ist und dass es Zugangzu Bildungsangeboten geben muss. Ich habe keine Zwei-fel daran, dass diese Umsetzung den europarechtlichen

Page 235: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12165

(A) (C)

(D)(B)

Vorgaben genügt und die Interessen der Betroffenen hin-reichend wahrt.

Kritisiert wird ferner, dass keine ausdrückliche Um-setzung der in Art. 8 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinieenthaltenen Verpflichtung zur Schaffung eines Systemszur Überwachung von Rückführungen – das ist das soge-nannte Monitoring – erfolgt sei. Unter anderem habendie Kirchen vorgeschlagen, die Überwachungspflicht imGesetz festzuschreiben und darüber hinaus in der Be-gründung zum Gesetz eine Bezugnahme auf das beste-hende System der Abschiebungsbeobachtungsstellenaufzunehmen. An den Flughäfen Frankfurt, Düsseldorfund Hamburg bestehen bereits Abschiebungsbeobach-tungsstellen, die von den Kirchen und anderen Nichtre-gierungsorganisationen getragen werden; sie beobachtenaufgrund von Vereinbarungen mit den Bundespolizeiin-spektionen der Flughäfen die Durchführung von Rück-führungen auf dem Luftweg. Bei der Unionsfraktion undbei der Bundesregierung bestehen Vorbehalte gegen dieSchaffung einer Rechtsgrundlage und damit einer recht-lichen Absicherung der Rückführungsüberwachung.Eine solche Regelung widerspräche aus Sicht der Frak-tion dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass staatlicheMachtausübung durch die Gerichte, nicht aber durchNichtregierungsorganisationen kontrolliert wird. Aufeine gesetzliche Regelung der Rückführungsüberwa-chung wurde daher zu Recht verzichtet. Zudem sind diebestehenden verwaltungsinternen Vorkehrungen, auf de-nen das System der Abschiebungsbeobachtung beruht,zur Umsetzung der Verpflichtung aus Art. 8 Abs. 6 derRückführungsrichtlinie ausreichend.

Lassen Sie mich nun noch einige Worte zur sogenann-ten Sanktionsrichtlinie und zum Visakodex sagen. So-wohl der EU-Visakodex, der das Verfahren zur Erteilungvon Schengen-Visa innerhalb der EU harmonisiert, alsauch die Sanktionsrichtlinie verstehen sich als Teilaspektim Kampf gegen illegale Einwanderung. Diese Maßnah-men sollen wiederum Teilgrundlage in einer umfassen-den Einwanderungspolitik werden. Illegale Einwande-rung wird durch die Möglichkeit, ein illegalesBeschäftigungsverhältnis in der EU eingehen zu können,begünstigt. Die illegale Beschäftigung illegaler Einwan-derer stellt damit einen wesentlichen „Pullfaktor“ dar.Deshalb benötigen wir in allen EU-Mitgliedstaaten ver-gleichbare Sanktionen für die Beschäftigung von illegaleingereisten Personen. Die Umsetzung der Richtliniedient diesem Erfordernis.

Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch ein paarWorte an die selbsternannten Menschenrechtler unter Ih-nen richten: Ich verstehe, wenn sich Nichtregierungsor-ganisationen und Kirchen über die teils strikten Regelun-gen der Richtlinien und die Eins-zu-eins-Umsetzungdurch die Bundesregierung enttäuscht zeigen. Aber wasist die Alternative? Nicht jeder, der in Europa Zufluchtsucht, ist auch tatsächlich schutzbedürftig. Dass eine il-legale Zuwanderung schon allein aufgrund der nach-drängenden Massen nicht einfach akzeptiert werdenkann, hat jeder Nationalstaat schon lange für sich ent-schieden. Insbesondere aus Frankreich und Italien hörenwir in regelmäßigen Abständen immer wieder Rufe nachrestriktiveren Abschieberegelungen. Abgeschoben wird

in allen europäischen Staaten – aber eben unter verschie-denen Voraussetzungen und Bedingungen. Es einfachdabei zu belassen, wäre die denkbar schlechteste allerVarianten gewesen – erst recht im Sinne der illegal ein-gereisten Menschen.

Ich bin überzeugt, dass das Gesetzespaket, dass wir inForm der Umsetzung der diesem Gesetzentwurf zu-grunde liegenden Richtlinien geschnürt haben, eine guteGrundlage für weitere legislative Schritte auf dem Wegzu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik ist.

Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf sollen zwei Richtlinien der Europäischen Unionumgesetzt werden: einmal die Richtlinie 2008/115/EGdes Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. De-zember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahrenin den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhälti-ger Drittstaatsangehöriger – die sogenannte Rückfüh-rungsrichtlinie – und die Richtlinie 2009/52/EG des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmengegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne recht-mäßigen Aufenthalt beschäftigen – die sogenannte Sank-tionsrichtlinie. Die Umsetzungsfrist für die Rückfüh-rungsrichtlinie ist am 24. Dezember 2010 abgelaufen;sie ist mithin jetzt geltendes innerstaatliches Recht. Da-für, sich an ihre „Umsetzung“ zu machen, ist es also al-lerhöchste Zeit – wenn man die Regelungen der Richtli-nie begrenzen will. Und das wollen die Regierungs-fraktionen ganz offensichtlich, wie der vorgelegte Ge-setzentwurf aufzeigt.

In Art. 11 Abs. 2 RL 2008/115/EG wird festgelegt,dass für abgeschobene Personen ein Wiedereinreisever-bot ergeht: „Die Dauer des Einreiseverbotes wird in An-betracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festge-setzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre“.Die Formulierung „wird … festgesetzt“ macht dabeideutlich, dass die Befristung des Einreiseverbotes vonAmts wegen erfolgen muss und ein Antrag hierfür nichterforderlich ist. Anders steht es jedoch in dem von derBundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf. Dort wirdzwar auf den Einzelfall abgestellt und eine Befristungder Wiedereinreisesperre von maximal fünf Jahren fest-gelegt; allerdings erfolgt eine solche Befristung wie bis-lang nach in Deutschland üblicher Praxis nur auf Antragdes Betroffenen. Ohne einen Antrag gilt sie quasi ein Le-ben lang. Das ist aber mit der Richtlinie 2008/115/EGnicht vereinbar.

Kapitel IV der RL 2008/115/EG gibt vor, wann eineInhaftnahme zum Zwecke der Abschiebung zulässig istund unter welchen Bedingungen diese erfolgen darf. Zu-nächst ist hier festzuhalten und noch einmal ganz deut-lich zu machen, dass die Abschiebehaft allein eine Ul-tima-ratio-Regelung sein kann, die erst dann ergriffenwerden darf, wenn keine anderen gleich wirksamenMöglichkeiten gegeben sind. Und wenn man dann zumMittel der Abschiebehaft greift, muss immer beachtetwerden, dass die Abschiebehaft nur und ausschließlichdie physische Anwesenheit garantieren soll und dass sieweder einen Straf- noch Abschreckungscharakter haben

Page 236: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

darf; schließlich geht es bei der Inhaftnahme um einender schwersten Grundrechtseingriffe überhaupt: den Ent-zug der Freiheit.

Gemäß Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie hatdie Abschiebehaft grundsätzlich in speziellen Haftein-richtungen zu erfolgen. Damit soll ausgeschlossen wer-den, dass Abschiebehäftlinge in regulären Strafvollzugs-anstalten festgehalten werden. Von dieser Voraussetzungdarf nach der RL 2008/115/EG eine Ausnahme gemachtwerden, wenn „in einem Mitgliedstaat solche speziellenEinrichtungen nicht vorhanden“ sind. In „Umsetzung“der Richtlinie normiert § 62 a Abs. 1 AufenthG-E inSatz 1 zwar, dass „die Abschiebungshaft grundsätzlichin speziellen Hafteinrichtungen vollzogen“ wird, inSatz 2 steht dann allerdings, dass für den Fall, wenn„spezielle Hafteinrichtungen im Land nicht vorhanden“sind, die Abschiebungshaft „in diesem Land“ auch „insonstigen Haftanstalten vollzogen werden“ kann.

Die Rückführungsrichtlinie meint mit „Mitgliedstaat“in unserem Fall Deutschland und nicht etwa das Bundes-land Hessen oder Berlin oder sonstiges. § 62 a Abs. 1Satz 2 AufenthG-E liest sich aber genau so, als würde esdarauf ankommen, ob in einem Bundesland spezielleEinrichtungen für Abschiebehäftlinge vorhanden seinmüssten, und, wenn dies nicht der Fall ist, die Abschie-behaft in diesem Bundesland auch in allgemeinen Straf-vollzugsanstalten zulässig sei. Damit verkennt der Ge-setzentwurf der Bundesregierung die Intention derRückführungsrichtlinie und dehnt die Ausnahmereglungdes Art. 16 Abs. 1 in unzulässiger Weise aus.

Im Ausnahmefall, in dem die Unterbringung nicht inspeziellen Abschiebeeinrichtungen möglich ist, muss ge-mäß der Richtlinie die Unterbringung der „in Haft ge-nommenen Drittstaatsangehörigen gesondert von dengewöhnlichen Strafgefangenen“ erfolgen. Sinn undZweck dieser Regelung kann allein sein, die auf ihre Ab-schiebung wartenden Drittstaatsangehörigen vor einerKriminalisierung und Stigmatisierung durch die Zusam-menlegung mit gewöhnlichen Strafgefangenen zu schüt-zen. Dies ist nicht nur insbesondere für Minderjährigeund Familien von besonderer Bedeutung, sondern vor al-lem auch für traumatisierte und psychisch schwer ge-schädigte Menschen von großer Wichtigkeit. DieseMenschen werden durch die eventuelle Zusammenle-gung mit normalen Straftätern noch weiter traumatisiertund psychisch destabilisiert; nach einer langen Fluchtmuss ihnen die Inhaftierung in einem deutschen Strafge-fängnis wie eine nicht mehr zu erklärende Endstationvorkommen. Den Bedürfnissen besonders schutzbedürf-tiger Personen muss jedoch gemäß Art. 16 Abs. 3 der RL2008/115/EG Rechnung getragen werden. Am sinnvolls-ten wäre hier sicherlich eine vorherige psychologischeUntersuchung zur Feststellung, ob die oder der Dritt-staatsangehörige überhaupt haftfähig ist.

Schließlich normiert Art. 17 der Rückführungsrichtli-nie besondere Regeln im Umgang mit der Inhaftierungvon Minderjährigen und Familien. Hierzu betont dieRichtlinie in Abs. 1, dass bei diesen Personengruppendas Mittel der Abschiebehaft „nur im äußersten Falleund nur für die kürzest mögliche angemessene Dauer“

eingesetzt werden darf. Weiter macht die Richtlinie inArt. 17 Abs. 3 dann sehr konkrete Angaben darüber, wiedie Ausgestaltung der Haft – wenn sie denn als Ulitmaratio angewandt wird – aussehen muss. In der Richtliniesteht, dass die Jugendlichen „Gelegenheit zu Freizeitbe-schäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- undErholungsmöglichkeiten und … Zugang zu Bildung er-halten“ müssen. Art. 17 Abs. 4 der Richtlinie fordertweiter ebenfalls sehr konkret, dass unbegleitete Minder-jährige in Einrichtungen untergebracht werden müssen,die personell und materiell in der Lage sind, auf die spe-ziellen altersgemäßen Bedürfnisse dieser Personen-gruppe einzugehen. Insbesondere das Erfordernis derpersonellen Kapazität verweist auf das Erfordernis, dasspädagogisch geschultes Personal institutionell vorhan-den sein muss.

Zwar verweist der Gesetzentwurf in § 62 a Abs. 3 all-gemein auf Art. 17 der Rückführungsrichtlinie. Es ist je-doch unklar, ob hiermit Art. 17 Abs. 3 oder 4 umgesetztwerden soll. In der Begründung findet sich dazu Folgen-des: „Um den spezifischen Bedürfnissen minderjährigerAusländer nach § 62 a Abs. 3 Rechnung zu tragen, solldiesen zum Beispiel Gelegenheit zu altersgerechtemSpielen und zur Erholung gegeben werden.“ Zum einenist dies jedoch gegenüber Art. 17 III RL 2008/115/EGebenfalls unvollständig, weil der Verweis auf den not-wendigen Bildungszugang fehlt. Zum anderen ist eineErläuterung in der Begründung keine ausreichendeRichtlinienumsetzung. Diese muss im Gesetzestext vor-genommen werden.

Über die personelle Ausgestaltung von Einrichtun-gen, in denen unbegleitete Minderjährige inhaftiert wer-den, findet sich in § 62 a AufenthG-E nichts.

Alle Maßnahmen die Inhaftnahme von Minderjähri-gen betreffend sind an Art. 17 Abs. 5 Rückführungricht-linie zu prüfen. Dieser besagt, dass „dem Wohl des Kin-des … Vorrang“ einzuräumen ist. Ein Hinweis aufdiesen wichtigen Maßstab fehlt ebenfalls in § 62 aAufenthG-E.

Neben der Umsetzung der Rückführungsrichtliniesoll der Gesetzentwurf die Sanktionsrichtlinie dem in-nerstaatlichen Recht anpassen. Bei der Umsetzung feh-len vor allem Regelungen für den Fall, dass ein illegalerArbeitnehmer um seinen Lohn geprellt wird und dieseneinklagen möchte. Für diesen Fall sieht Art. 6 II RL vor,dass die Mitgliedstaaten Verfahren einrichten müssen,die es illegal aufhältigen Ausländern ermöglichen, An-sprüche auf ausstehenden Lohn und ausstehende Sozial-versicherungsbeiträge gegen ihren Arbeitgeber geltendzu machen. Dies soll entweder dadurch geschehen, dassder Arbeitnehmer selber seinen Lohn einklagt, oder aberdadurch, dass er sich an eine zuständige Behörde des be-treffenden Mitgliedstaats wendet, um ein Verfahren mitdem Ziel einzuleiten, die ausstehenden Vergütungen ein-zuziehen, ohne selbst einen Anspruch geltend machen zumüssen. Ein solches Verfahren ist im Gesetzentwurf derBundesregierung nicht vorgesehen. Theoretisch ist esnach wie vor denkbar, dass ein Illegaler vor dem Ar-beitsgericht ein Verfahren einleitet. In der Praxis schei-tert die Geltendmachung eines solchen Anspruches aber

Page 237: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12167

(A) (C)

(D)(B)

zumeist daran, dass die Betroffenen aus Angst vor derAufdeckung ihres Status und der daraufhin zu befürch-tenden Abschiebung davon absehen, eine solche Klagezu erheben; Denn der Arbeitsrichter ist gemäß § 87 IIAufenthG übermittlungspflichtig an die Ausländerbe-hörden.

Mittlerweile sind die Übermittlungspflichten für denBereich der Gesundheit zumindest in den Verwaltungs-vorschriften eingeschränkt worden, sodass Illegale ohneAngst vor der sofortigen Abschiebung den Gang zumArzt wagen können, bevor sie im schlimmsten Fall un-heilbar krank sind. Dass die Übermittlungspflichten fürKindergärten, Schulen und sonstige Jugendfreizeitein-richtungen eingeschränkt werden müssen, so wie es invielen Bundesländern Praxis ist, ist mittlerweile wohlpolitischer Konsens quer durch alle Fraktionen.

Für eine effektive Umsetzung von Art. 6 II RL wäredaher mindestens eine spezielle Ausnahme für Arbeits-gerichte in den hier relevanten Fällen von der Übermitt-lungspflicht des § 87 II AufenthG geboten. Eine Lösung,die diese ebenso wie andere Fallkonstellationen auf-greift, hat die SPD-Bundestagsfraktion in Bundestags-drucksache 17/56 vorgeschlagen. Wir bitten aus diesenGründen ausdrücklich um Ihre Unterstützung für unse-ren Entwurf.

Den vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierungempfehle ich jedoch aus den genannten Gründen abzu-lehnen.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Gesetzent-wurf dient der Umsetzung einiger wichtiger Richtlinienim Bereich des Ausländer- und Aufenthaltsrechts; insbe-sondere die Rückführungs- und die Sanktionsrichtliniesind hier zu nennen.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat die Rückführungs-richtlinie begrüßt. Anders als zum Beispiel die Kollegenvon der Linken sehen wir hier einen großen Fortschritt:Erstmals gibt es innerhalb Europas gleiche Mindeststan-dards im Bereich der Rückführung. Reflexartig wird dieRichtlinie verteufelt. Aber sie ist ein großer Fortschritt fürdie Betroffenen. Und das ist entscheidend – nicht die poli-tische Polemik der Linken.

Die Rückführungs-RL hätte bereits zum Ende letztenJahres umgesetzt werden müssen. Die sorgfältige Ab-stimmung des Gesetzentwurfes innerhalb des BMI mitden anderen Ressorts und insbesondere auch die inten-sive Beteiligung der Verbände zeigt, dass die Bundesre-gierung große Sensibilität in diesem Themenbereichzeigt. Dies ist auch richtig: Gerade die Abschiebungshaftgreift tief in Grundrechte ein und muss daher besondersaustariert werden. Für die FDP-Bundestagsfraktion warimmer wichtig, dass diese nur letztes Mittel sein kannund sein darf. Nach unserer Überzeugung wurde bei demGesetzentwurf dieser Haltung Rechnung getragen.

Die Koalitionsfraktionen haben sich entschieden, denGesetzentwurf parallel einzubringen, da die Frist zurUmsetzung bereits verstrichen ist. Ein Vertragsverlet-zungsverfahren wegen besonders sorgfältigen Abwägenssollte der Bundesregierung nicht aufgebürdet werden.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Gesetzentwurf indieser Form verbleiben muss. Sicherlich wird es dazueine Anhörung im Innenausschuss geben, die meinerAnsicht nach so bald wie möglich stattfinden sollte, da-mit wir das Gesetzesvorhaben noch vor der Sommer-pause abschließen können.

Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen, die ausSicht der FDP-Bundestagsfraktion im Rahmen des Ge-setzentwurfes nochmals näher zu betrachten sind:

Das Kindeswohl muss Priorität haben. Der Gesetzent-wurf ist in Bezug auf die Abschiebungshaft bei Minder-jährigen sehr ausgewogen. Allerdings gibt es doch Stel-len, an denen Kritik insbesondere von Kirchen erhobenwird. Hier wird zu klären sein, ob eventuell klarere For-mulierungen hilfreich sein könnten, um auch das Anlie-gen der Regierungskoalition, das Kindeswohl prioritärzur Geltung zu bringen, vollumfänglich zu gewährleis-ten.

Das Kindeswohl ist für die schwarz-gelbe Koalitionzentral. Dies zeigt sich bereits in der Rücknahme desVorbehalts zur Kinderrechtskonvention. Keine Vorgän-gerkoalition hatte dies zustande gebracht. Mit der Rück-nahme des Vorbehalts kann selbstverständlich der Ein-satz für das Kindeswohl noch nicht abgeschlossen sein.Vielmehr muss der Gesetzgeber bei allen Rechtsaktendarauf achten, dass dieses entsprechend Maßstab ist.

Abschiebungen sind im Ausländerrecht notwendig;die Abschiebungshaft ist aus Sicht der FDP-Bundestags-fraktion auch notwendiges Mittel zur Durchsetzung desAusländerrechts. Allerdings muss man bei einem derartsensiblen Bereich als Gesetzgeber und als Vollziehendemöglichst alles unternehmen, um für eine angemesseneDurchführung, Transparenz und Akzeptanz zu sorgen.

Den Vorschlag insbesondere der Kirchen, die Ab-schiebebeobachtung als Möglichkeit ins Gesetz aufzu-nehmen, halte ich aus diesem Grund durchaus für über-legenswert. Diese ist bereits erprobt und hat sichbewährt. Wir müssen dabei zum einen an die Betroffe-nen denken, für die die Abschiebebeobachtung zur Beru-higung beitragen kann, zum andern aber auch an diejeni-gen, die die Abschiebung durchzuführen haben. Diesewerden oftmals in der Öffentlichkeit vollkommen zuUnrecht verunglimpft. Gerade denen kann die Abschie-bebeobachtung auch helfen.

Dass nun explizit vorgesehen ist, dass Abschiebehäft-linge in separaten Einrichtungen untergebracht werdensollen, begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion ausdrück-lich. Die Unterbringung in normalen Gefängnissen kanngrundsätzlich nicht hingenommen werden.

Die Umsetzung der Rückführungsrichtlinie ist für unsauch Anlass, das Vorhaben im Koalitionsvertrag, die Ab-schiebehaftbedingungen zu evaluieren, anzugehen.

Wir möchten auch die sozialrechtlichen Vorschriften,die beim Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz nicht mehruntergebracht werden konnten, nun einflechten.

Uns liegt des Weiteren noch ein Vorhaben des Koali-tionsvertrages am Herzen. Dort ist Folgendes vereinbart:„Wir werden die aufenthaltsgesetzlichen Übermittlungs-

Page 238: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

(D)(B)

pflichten öffentlicher Stellen dahin gehend ändern, dassder Schulbesuch von Kindern ermöglicht wird.“ Es istein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthalts-rechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellenändern, um den Schulbesuch von Kindern zu gewähr-leisten. Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Inte-gration und persönlichen Erfolg.

Wir werden in den kommenden Wochen in der Koali-tion über diese und weitere Änderungen verhandeln. DieAnhörungsergebnisse sollen ebenso Grundlage für dieweiteren Überlegungen sein. Ich bin mir angesichts dererfolgreichen Verhandlungen innerhalb der Koalition un-ter anderem zum Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz si-cher, dass wir auch hier wichtige Weichenstellungen er-reichen werden.

Um die illegale Beschäftigung von Ausländern zuverhindern bzw. zu sanktionieren, fordert die Sanktions-richtlinie im Wesentlichen die Ausdehnung der Arbeit-geberhaftung auf Generalunternehmer und zwischenge-schaltete Unternehmer, erhöhte Nachweispflichten fürArbeitgeber und die Einführung von zwei neuen Straftat-beständen.

Darüber hinaus ist ein befristeter Aufenthaltstitel fürOpfer illegaler Beschäftigung einzuführen, um ihre Mit-wirkung als Zeugen im Strafverfahren zu ermöglichen.

Wegen einiger Regelungen des Visakodex (insbeson-dere zur Erforderlichkeit der Begründung von Visumver-sagungen sowie zur Anfechtbarkeit der Visumversa-gung) sind im Wesentlichen Anpassungen der Form- undVerfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes notwen-dig.

Im Zusammenhang mit den genannten Anpassungenan europäische Rechtsakte werden zur Klarstellung undzur Bereinigung von Unstimmigkeiten technische undredaktionelle Anpassungen aufenthaltsrechtlicher Vor-schriften vorgenommen, die sich auf unterschiedlicheRegelungsbereiche des Aufenthaltsgesetzes, das AZR-Gesetz, die Aufenthaltsverordnung und die AZRG-Durchführungsverordnung erstrecken.

Deutschland verändert sich. Die neue Bundesregie-rung wird diese Veränderung gestalten – ohne Ideologieund vorurteilsfrei.

Migration und Integration stellen Deutschland vorneue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neueChancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequenteSteuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eineaktive Integrationspolitik geeinigt. Wir wollen eine neueKultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechun-gen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancenund Perspektiven eröffnet für die, die nicht nur „territo-rial“ nach Deutschland kommen, sondern auch mit ihrerKultur in unserem Land sowie unserer Gesellschaft mitihren Grundwerten ankommen wollen.

Wir halten es nicht wie die Grünen oder Linken fürunzumutbar, Deutsch zu lernen, wir halten Zuwanderernicht für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, de-nen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werden

kann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort„Migrationshintergrund“ stigmatisiert werden sollen.

Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgenmuss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigendenMitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungenmuss Deutschland in der Integrationspolitik endlich posi-tiv denken. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennungfür diejenigen, die das geschafft haben. Wir halten inte-grierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für eine großeBereicherung unserer Gesellschaft. Wir beglückwün-schen diejenigen, die sich erfolgreich integriert haben.Sie können stolz auf ihre Leistung sein, und wir sinddankbar und stolz, dass sie sich für Deutschland ent-schieden haben.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir verhandeln hier heutein erster Linie die Umsetzung zweier EU-Richtlinien indas deutsche Aufenthaltsrecht. Die eine Richtlinie ist in-ternational als Abschieberichtlinie zu trauriger Berühmt-heit gelangt. Des Weiteren soll die sogenannte Sank-tionsrichtlinie umgesetzt werden. Damit werden Strafengegen Arbeitgeber, die Menschen ohne Aufenthalts- undArbeitserlaubnis beschäftigen, zur Pflicht. Zudem sollendie Betroffenen die Möglichkeit erhalten, als Zeugen ge-gen ausbeuterische Arbeitgeber aufzutreten und ausste-henden Lohn einzuklagen.

Im Rahmen der Umsetzung der Sanktionsrichtliniegeht es auch um das Aufenthaltsrecht für die Betroffenenausbeuterischer Arbeitsverhältnisse ohne Aufenthaltssta-tus. Hier gibt es dringenden Änderungsbedarf. Wieschon bei den Opfern von Menschenhandel und Zwangs-prostitution soll das Aufenthaltsrecht für diese Men-schen begrenzt und davon abhängig gemacht werden, obdie Mitwirkung der Betroffenen in einem strafrechtli-chen Verfahren erforderlich ist. Das ist eine strafrechtli-che Instrumentalisierung von Menschen, die nicht seltenHilfe und Beistand benötigen. Noch schlimmer: Die Be-troffenen können sich nicht einmal sicher sein, ob ihreAussagebereitschaft auch zu einer Aufenthaltserlaubnisführt, weil die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis imErmessen der Ausländerbehörde steht. Den Opfern aus-beuterischer Arbeitsverhältnisse wird klargemacht, dassman sie so schnell wie möglich wieder loswerden will:Sie können zur Ausreise verpflichtet werden, obwohl sieausstehenden Lohn noch nicht erhalten haben. Wenn siebleiben dürfen, erhalten sie lediglich abgesenkte Sozial-leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, ob-wohl sich strafrechtliche Prozesse wegen Menschenhan-del und illegaler Beschäftigung über Jahre hinziehenkönnen. In dieser Zeit können die Betroffenen damitauch kaum therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

Die Linke fordert ein bedingungsloses Bleiberecht fürdiese Menschen und ihre Familien. Sie dürfen nicht einzweites Mal zu Opfern werden, indem man sie für Straf-prozesse instrumentalisiert.

Noch weitaus erschreckender ist die Umsetzung derAbschieberichtlinie durch die Koalition. Zunächst willich Folgendes vorausschicken: Die Linke lehnt die Ab-schiebehaft weiterhin grundsätzlich ab. Sie dient aus-schließlich der Durchsetzung einer Verwaltungsmaß-

Page 239: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12169

(A) (C)

(D)(B)

nahme, der Ausreisepflicht. Eine Inhaftierung vonMenschen zu diesem Zweck ist aus unserer Sicht grund-sätzlich unverhältnismäßig. Dass sich nach deutscherRechtslage der Freiheitsentzug über 18 Monate hinzie-hen kann, ist inakzeptabel. Diese Höchstgrenze fürAbschiebehaft von 18 Monaten aber hat die Bundesre-gierung auf EU-Ebene durchgesetzt, um an unverhältnis-mäßig langen Haftzeiten auch in Deutschland festhaltenzu können.

Allerdings enthält die Abschieberichtlinie auch vor-gaben, die zu wenigen menschenrechtlichen Verbesse-rungen im Vollzug der Abschiebehaft in Deutschlandführen müssten. Der vorliegende Gesetzentwurf setztdiese Vorgaben gar nicht oder ungenügend um. In Teilenverletzt er andere menschenrechtliche Verpflichtungender Bundesrepublik. Darauf will ich im Folgenden ein-gehen.

Der Schutz des Kindeswohls wird im vorliegendenGesetzentwurf schlicht ignoriert. Nach der Rücknahmedes Vorbehalts gegen die UN-Kinderrechtskonventiondarf die Bundesrepublik ausländische Kinder nicht mehrschlechter behandeln als inländische Kinder. Auch fürdie ausländischen Kinder gilt, dass ihr Wohl im Handelnder Behörden vorrangig beachtet werden muss. DieAbschiebehaft bei Kindern und Jugendlichen ist ein ek-latanter Verstoß gegen diesen Grundsatz. Die UN-Kin-derrechtskonvention erlaubt eine Inhaftierung Minder-jähriger lediglich bei Straftaten und nur als letztesMittel. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat ineinem Gutachten klargestellt: Unbegleitete Minderjäh-rige dürfen nicht in Abschiebehaft genommen werden.Auch für Minderjährige in Begleitung von Erwachsenengilt diese menschenrechtliche Grenze. Auch die inDeutschland übliche Inhaftierung eines Elternteils, umdie Abschiebung der gesamten Familie zu sichern, ver-letzt die Verpflichtung zum Vorrang des Kindeswohls, sodas Gutachten. Das fehlende Verbot der InhaftierungMinderjähriger und ihrer Sorgeberechtigten im Gesetz-entwurf ist ein menschenrechtlicher Skandal. Hierbesteht dringender Handlungsbedarf. Auch die Inhaf-tierung Kranker und insbesondere psychisch Traumati-sierter und anderer besonders schutzbedürftiger Perso-nen muss endlich eindeutig im Gesetzestext untersagtwerden.

Es gibt noch einigen weiteren Anpassungsbedarf, umwenigstens dieser „Richtlinie der Schande“, wie sie ge-nannt wurde, Genüge zu tun. Die Pflicht zur gesondertenUnterbringung außerhalb von Strafvollzug und Untersu-chungshaft muss wirksam und ausnahmslos umgesetztwerden. Die Abschiebehäftlinge müssen kostenlos Zu-gang zu Rechtsvertretung und -beratung haben. Die In-haftierung von Asylsuchenden, die üblicherweise keinVisum erhalten und deshalb illegal einreisen müssen,muss wirksam ausgeschlossen werden. Das ist auch eineAnforderung aus der Genfer Flüchtlingskonvention, derdie Bundesrepublik noch nicht nachgekommen ist.

Die Koalition muss im weiteren Gesetzgebungsver-fahren wenigstens den Anforderungen der Abschiebe-richtlinie und der menschenrechtlichen Verpflichtungender Bundesrepublik nachkommen. Ungeachtet dessen

bleibt Die Linke bei ihrer grundsätzlichen Kritik an derAbschiebehaft als Instrument einer restriktiven Migra-tions- und Flüchtlingspolitik.

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DieBundesregierung legt uns heute einen Gesetzentwurf zurUmsetzung zweier EU-Richtlinien vor, der sehr ängst-lich und zurückhaltend ist, wenn es um die rechtlicheBesserstellung von Immigranten geht. Bei der Beseiti-gung der Missstände taucht die Bundesregierung ab undist ideenlos.

Der Gesetzentwurf betrifft zum einen die EU-Rück-führungsrichtlinie über gemeinsame Normen und Ver-fahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegalaufhältiger Drittstaatsangehöriger, zum anderen die EU-Sanktionsrichtlinie über Mindeststandards für Sanktio-nen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaats-angehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen.Die noch im Referentenentwurf enthaltene EU-Hoch-qualifiziertenrichtlinie findet sich im Gesetzentwurfnicht mehr. Offenbar konnte die Bundesregierung sichnicht über die notwendigen Änderungen bei der Fach-kräfteeinwanderung einigen. Das ist typisch für dieseBundesregierung: Vor lauter Streit ist sie nicht mehr fä-hig zu regieren. Die Rückführungsrichtlinie hätte bisspätestens zum 24. Dezember 2010 in deutsches Rechtumgesetzt werden müssen. Die noch nicht einmal imGesetzgebungsverfahren befindliche EU-Hochqualifi-ziertenrichtlinie muss bis Juni 2011 umgesetzt werden.

Im vorliegenden Gesetzentwurf sind hinsichtlich derRückführungsrichtlinie weiterhin Bestimmungen enthal-ten, die im Vorfeld von allen kirchlichen und gesell-schaftlichen Institutionen – zum Beispiel auch demDeutschen Institut für Menschenrechte – einhellig kriti-siert wurden: Sie betreffen die vorgesehenen Regelun-gen zur Abschiebehaft, insbesondere von Minderjähri-gen. Diese soll – wenn auch mit Einschränkungen –weiterhin zulässig sein. Aus unserer Sicht ist das höchstproblematisch. Auch das Deutsche Institut für Men-schenrechte betont in einer jüngst erschienenen Studie,dass „es unter Berücksichtigung der UN-Kinderrechts-konvention (KRK) menschenrechtlich unzulässig ist,Abschiebehaft gegenüber unbegleiteten Minderjährigenanzuordnen“.

Problematisch ist auch die fehlerhafte Umsetzung derRückführungsrichtlinie zum Vollzug der Abschiebehaft.Die Richtlinie lässt nämlich die Unterbringung von Ab-schiebehäftlingen in gewöhnlichen Haftanstalten allen-falls dann zu, wenn in einem Mitgliedstaat spezielleHafteinrichtungen nicht vorhanden sind. In Deutschlandgibt es diese jedoch in mehreren Bundesländern. DieAusnahmeregelung bezieht sich auf EU-Mitgliedstaaten,in denen es keine speziellen Hafteinrichtungen gibt,nicht auf deutsche Bundesländer, wie im Gesetzentwurfder Bundesregierung vorgesehen. Die weitere Unterbrin-gung von Abschiebungshäftlingen in Strafhaftanstaltenist demnach unzulässig. Auch die Schaffung gesonderterTrakte in Justizvollzugsanstalten reicht nicht aus. Dennhinter der Regelung des Art. 16 Abs. 1 der Rückfüh-rungsrichtlinie steht die Erkenntnis, dass Abschiebungs-

Page 240: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17105.pdfRené Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs

12170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) (C)

häftlinge nicht wie Straftäter behandelt und dementspre-chend auch nicht den Strafvollzugsregelungenunterworfen werden dürfen. Die Regierung scheint ver-gessen zu haben, dass es sich bei der Abschiebehaftnicht um Strafhaft zur Ahndung strafrechtlicher Deliktehandelt. Zweck der Abschiebehaft ist einzig die Durch-führung der Abschiebung. Deswegen wäre es auch rich-tig und wichtig gewesen, anlässlich der Umsetzung derRückführungsrichtlinie die Höchstdauer der Abschiebe-haft von 18 Monaten deutlich zu verkürzen. Denn dieMöglichkeit, einem Menschen für 18 Monate allein zurDurchführung der Abschiebung die Freiheit zu entzie-hen, wird dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbe-schleunigung und dem Grundsatz der Verhältnismäßig-keit nicht gerecht.

Bedauerlicherweise wird in dem vorgelegten Gesetz-entwurf die Gelegenheit nicht wahrgenommen, auchandere durch europäisches Recht notwendig gewordeneÄnderungen bzw. Klarstellungen vorzunehmen. So er-scheint es dringend geboten, gemäß Art. 13 der Rück-führungsrichtlinie, der die Gewährung effektivenRechtsschutzes fordert, endlich den einstweiligenRechtsschutz in Verfahren nach der Dublin-II-Verord-nung zu ermöglichen. Ich verweise insofern auf dieGrundsatzentscheidung des EGMR vom 21. Januar 2011im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland,Beschwerde Nr. 30696/09. Seit den mit dem 1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten Ände-rungen wurde über § 34 a Abs. 2 AsylVfG der einstwei-lige Rechtsschutz gegen Entscheidungen im Verfahrennach der Dublin-II-Verordnung generell ausgeschlos-

sen. Vom Ausland aus kann ein effektiver Rechtsschutzvor deutschen Verwaltungsgerichten nicht greifen. EinRechtsbehelf ist nur dann wirksam, wenn irreparableFolgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer ho-heitlichen Maßnahme vor deren gerichtlicher Überprü-fung eintreten können, soweit als möglich ausgeschlos-sen werden können.

Weiterhin sind gesetzliche Anpassungen, die sich ausder Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechts-konvention ergeben, in den Gesetzentwurf zu integrie-ren. Schließlich hat die Bundesregierung die Gelegen-heit verpasst, die Übermittlungspflichten des § 87AufenthG einzuschränken, damit statuslose Kinder ihrRecht auf Schulbildung auch tatsächlich ausüben kön-nen. Ebenso hat die Bundesregierung es unterlassen, dieResidenzpflicht für Geduldete und Asyl bewerber zu lo-ckern. Mit der Residenzpflicht gibt es in Deutschland einbundesweites und in Europa einzigartiges System derAufenthaltsbeschränkung. Diese räumliche Beschrän-kung des Aufenthalts auf den Bezirk der zuständigenAusländerbehörde hat diskriminierende Wirkung undführt dazu, dass das Recht dieser Personen auf Teil-nahme an kulturellen, politischen und religiösen Veran-staltungen unzulässig eingeschränkt und der Zugang zueiner erforderlichen ärztlichen oder psychologischen Be-handlung und zum Arbeitsmarkt wesentlich erschwertwerden.

Ich erwarte, dass die Bundesregierung im weiterenGesetzgebungsverfahren die allseitige Kritik ernstnimmt und die notwendigen Änderungen vornimmt.

(B)

(D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.deVertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

ISSN 0722-7980