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Dezernat - kreativemv.files.wordpress.com file9.8. (Boot), Marcus Wittmers, Ausstellung Jenseits des Sees, ... positive Resonanzen hervorrufen und nach dem Prinzip der bereits realisierten

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Auch wenn es schon Künstler gegeben hat, die ihr ganzes Leben nur für sich und von anderen Menschen unerkannt künstlerisch arbeiteten, dies sogar so wollten und erst nach ihrem Tode und meistens eher zufällig ihre Werke der besonderen Art ans Licht gerieten und gefeiert wurden: Der Sinn künstlerischer Arbeit besteht in ihrer Veröffentlichung, der Sichtbarmachung, dem Hör- oder Lesbarmachen ihrer Produkte in einer möglichst großen Öffentlichkeit. Man fragt sich schon zu Recht, was die schönsten Bilder sollen, wenn sie keiner sieht. Und auch nicht zu Unrecht wird von der Anzahl der Menschen, die ein Bild, ein Buch, einen Film oder ein Musikstück kennen, der Grad seiner gegenwärtigen und historischen gesellschaftlichen Bedeutsamkeit abgeleitet. Allerdings dürfte dieser Satz heute nur noch sehr eingeschränkt gelten, sonst wäre z. B. so etwas wie „Fack ju Göhte“ besser als der „Faust“ von Johann Wolfgang. Womit wir bei der zweiten Notwendigkeit für Kunst wären – ihrer Vermarktung, die zumindest für solche Künstler unabdingbar ist, die von ihrer Arbeit tatsächlich leben müssen und wollen. Bekanntermaßen ist gerade dies noch schwerer als Öffentlichkeit herstellen, und das leider gerade für die Guten. Für die allermeisten von ihnen bleibt es (wie für Deutschland bekannt) beim Versuch, sie ernähren sich letztlich nebenher von anderer Arbeit oder persönlichen Glücksumständen.

Dezernat5 - die GalerieUlrich Rudolph

Die Fassade des Dezernat5 bei Nacht mit dem Objekt Der Löwe Ist Los, 2017 (Titelseite)Das Gebäude der Galerie Dezernat5 in der Franz-Mehring-Str. 11, Schwerin Entrée zur Galerie (Abb. rechts)

Um diese beiden genannten Sinnstellungen ihrer Arbeit zu bewerkstelligen, haben die drei bilden-den Künstler Tino Bittner, Udo Dettmann und Thomas Sander ihr Schicksal quasi gemeinsam in die eigenen Hände genommen und im Jahr 2010 ihre Produzentengalerie Dezernat5 – Galerie für aktuelle Kunst gegründet. Der Name bezieht sich auf den Standort im zentrumsnahen Bereich der Landeshauptstadt Schwerin in einem leer stehenden ehemaligen Gebäude der Stadtverwaltung, in dem sich vormals deren Dezernat 4 (das Ordnungsamt) befand. Zurückzuführen ist die Gründung auf eine damalige Protestaktion gegen den Abbau von Kultur in Schwerin, als seinerzeit z. B. das Schleswig-Holstein-Haus und der „Speicher“ privatisiert werden sollten und damit eine Schließung zu befürchten war.

Udo Dettmann, Tino Bittner und Thomas Sander vor dem Eingang der Galerie Ablaufprotokoll, Kathrin Jakobs, Ausstellung Dezernat5 II, 2011

9.8. (Boot), Marcus Wittmers, Ausstellung Jenseits des Sees, Dezernat5, 2015 5

Dabei fanden sich 10 Künstler aus der Stadt zusammen, nicht nur um zu meckern, sondern auch zu handeln und Flagge zu zeigen. Sie hatten die besagten Räume gemietet und als eine temporäre städtische Galerie eröffnet, mit gutem Presseecho und Besucherzuspruch. Von den 10 Künstlern blieben die drei mit der Überlegung übrig, etwas Fortlaufendes und Beständiges daraus zu machen. Ursprünglich hatten sie dabei auch die Gründung eines Kunstvereins oder einer ähnlichen Instituti-on im Auge, entschieden sich dann aber für das Modell einer Produzentengalerie, über die sie sich ihren Lebensunterhalt zu sichern gedachten.

Das unzertrennlich erscheinende Trio nutzt dort seitdem Räume auf zwei Ebenen: In der ersten Etage für Ausstellungen, die konzeptionell in der Art eines Parcours auf Erlebnisqualität ausgerich-tet sind – also nicht nur als Marktplatz gedacht. Es werden dazu auch Gastkünstler eingeladen, die zum jeweiligen Projekt passen. Die zweite Etage nutzen sie für partnerschaftliche Veranstaltungen mit Musik, Film und Literatur, Workshopangebote an Kinder und Jugendliche, sowie Tagungen in kulturellem Kontext und als Lounge mit Barbetrieb - und all das nun schon im achten Jahr, was zu einer sichtbaren Verortung als Galerie in der Landeshauptstadt geführt hat.

Festkörper 1-4, Udo Dettmann Prototype Tools, Christian Schönwälder, Ausstellung Dezernat5 II, 2011

Halbzeit, Tino Bittner (Abb. links oben); Bacchus II, Udo Dettmann (Abb. links unten); Interferenz, Tino Bittner (Abb. rechts oben); Maulwurf, Udo Dettmann und Tennis, Thomas Sander (Abb. rechts unten)Ausstellung Die Komische Illusion, Dezernat5, 2012

Ansonsten treten sie eher und stärker in zahlreichen anderen Städten und Orten Deutschlands auf, auch im Ausland, wie bisher in Italien, Österreich und Schweden. Bittner, Dettmann und Sander ge-hen also mit ihrer Kunst gewissermaßen auf Tournee - dabei verbinden sie ihre unterschiedlichen Ansätze und individuellen Kreativitätspotentiale in eigens dafür ersonnenen, gemeinschaftlichen Ausstellungsprojekten mit einem jeweiligen Kernthema und Titel wie z. B. Die Komische Illusion, Vi-deo Ergo Sum, Blueprint ROMANTIK, Jenseits des Sees, Stop and Go oder PARALLAXE. Das Beson-dere ist, dass diese in Schwerin entwickelten Ausstellungsprojekte eben auch kulturraumübergrei-fend funktionieren, positive Resonanzen hervorrufen und nach dem Prinzip der bereits realisierten Produktionen stetig neue entwickelt werden.

Eröffnung der Ausstellung Die Komische Illusion im Forum für Kunst, Heidelberg, 2012

Impressionen zur Ausstellung Video Ergo Sum des Dezernat5 im Spazio Gerra, der städtischen Galerie in Reggio/Emilia, Italien, 2013; Stefania Carretti, Leiterin des Spazio Gerrra (2. Abb. rechts); Treffen mit Kollegen in Reggio vor ihren Murals (3. Abb. rechts)

Impressionen zur Ausstellung Video Ergo Sum des Dezernat5 in der Konsthall Växjö und Italienska Palatset, Schweden, 2013/14; Die Ausstellung bot den Anlass, Schwerin zur Partnerstadt des Jahres in Växjö zu wählen, zum Auftakt gab es einen Empfang mit den Stadtoberen von Växjö und Schwerin im Schloß Teleborg (Abb. unten Mitte) Sander, Bittner und Dettmann auf der Medienkunstmesse C.A.R. - contemporary art ruhr in Essen, 2016

Als Künstler sind sie fest in der Kulturlandschaft der Stadt Schwerin verankert und können durch ihre Galerie auch auf institutioneller Ebene Netzwerke schaffen und pflegen. So konnten verschie-dene Austauschausstellungen mit den Partnerstädten Reggio Emilia und Växjö und Partnerinstitu-tionen wie dem Forum für Kunst Heidelberg oder der Milchhofgalerie Berlin realisiert werden. Nach mehreren Ausstellungen im kulturforum PAMPIN, wurde dort ein Präsentationsbereich des De-zernat5 eingerichtet, der ständig mit aktuellen Arbeiten bespielt wird. Besonders erfolgreich waren die Ausstellungsprojekte mit Reggio Emilia und Växjö, weil dadurch die bestehenden Städtepart-nerschaften deutlich aktiviert und auch auf verschiedenen Ebenen intensiviert werden konnten. Auch auf Kunstmessen, wie z. B. der C.A.R. - Medienkunstmesse in Essen - konnten sie mit ihrem Konzept überzeugen.

Natürlich oder glücklicherweise ist ihnen auch die Anerkennung in der Heimatstadt nicht versagt geblieben, ihre künstlerische Sonderstellung und mehr noch ihr kulturelles Gesamtengagement in guter partnerschaftlicher Verknüpfung mit dem Schweriner Kulturbüro und den kulturellen High-lights in der Stadt, wie z. B. den Schweriner Literaturtagen oder dem hiesigen Filmkunstfest, dem Mecklenburgischen Staatstheater und der Musik- und Kunstschule ATARAXIA e.V. hat für das Jahr 2016 den Schweriner Kunst- und Kulturpreis eingebracht. Angebote, wie Künstlergespräche und Führungen für Schulklassen und kleine Gruppen sowie die Einbeziehung junger Menschen durch unterschiedliche Veranstaltungen, wie PoetrySlam, Konzerte für entsprechende Zielgruppen, ex-klusive Kinoprogramme und der Dezernat5 Lounge mit Live-DJ‘s, werden stets im Hinblick auf die inhaltliche Anbindung an die jeweils laufende Ausstellung entwickelt und komplettieren so das Programm.

Eröffnung der Ausstellung Parallaxe im Dezernat5, 2017; Tino Bittner, und Redner Ulrich Rudolph, Kunstraum Testorf

Preisverleihung des Kunst- und Kulturpreises 2016 der Sparkassenstiftung der Sparkasse Mecklenburg-Schwerin und der Stadt Schwerin im Januar 2017;von links: Ulrich Kempf (Sparkasse Schwerin), Thomas Sander, Tino Bittner, Udo Dettmann und OB Dr. Rico Badenschier

Thomas Kunst liest in der Kulturnacht Schwerin aus seinen Kunst.Gedichten zur Ausstellung Jenseits des Sees im Dezernat5, 2015;der Chor des Mecklenburgischen Staatstheaters singt romantische Lieder zur Eröffnung der Ausstellung BLUEPRINT Romantik im Dezernat5, 2014 (Abb. unten)Blick in die Lounge des Dezernat5 (Abb. rechts)

Inszenierung des Stücks Warhol feiern (gallery version) des Mecklenburgischen Staatstheaters im Dezernat5, 2011

Tino Bittner, Udo Dettmann und Thomas Sander geht es in ihrer künstlerischen Arbeit in erster Li-nie um Betrachtung, besser um Wahrnehmung, also das Zeigen und nicht etwa das Reden (obwohl sie durchaus sehr kommunikativ sind) - die drei „Dezernatsmitarbeiter“ machen ohne Dezernenten was sie wollen und darin sind sie sehr modern (der „moderne Künstler“ macht nie, was andere wollen!). Sie zeigen gern, was Bilder können und was man mit ihnen anstellen kann, aber machen dabei keine oder kaum Bilder im herkömmlichen Sinne - sie können zwar auch Malerei und kom-men von ihr, spielen aber auf der gesamten Klaviatur der avantgardistischen Methoden, wie sie das 20. Jahrhundert verfügbar machte: mit Fläche, Körper, Raum, Bewegung, Zeit und Klang, wobei gern Gefundenes und Erfundenes sozusagen zu neuen „Kunstkörpern“ und häufig in Videos zu-sammengeführt wird, die den jeweils eigenwilligen Charakter ihrer Schöpfer in seinen Grundzügen immer offenbart. Die da wären: ordnungsliebende Systematik als Fundus und Ziel bei dem einen, ironisch gefärbte Rätselspiele und raum-zeitliche Verführungen mit und ohne Illusionen beim an-deren, und der dritte wartet mit permanenter Experimentierleidenschaft und spielerischer Hingabe an das visuell-akustische Gesamtkunstwerk auf.

Konzert mit Oder Klare Ansage#17 zur Ausstellung Dezernat5, 2011Blick in die Ausstellung Parallaxe im MOM - Galerie in der Fabrique im Gängeviertel Hamburg, 2018 (Abb. oben); Eröffnung der Ausstellung BLUEPRINT Romantik im Dezernat5, 2014, es spricht Susanne Burmester, Galerie CIRCUS 1, Putbus/Rügen

Alle drei, auch wenn sie einzeln auftreten, sind auf Kommunikation in und mit der sozialen Reali-tät aus, zu der die Besucher ihrer Ausstellungen zählen, die mit allen Mitteln, auch quälenden, zur Wahrnehmung der Objekte und Erscheinungen regelrecht gezwungen werden, über Irritation zur Animation. Dabei wird durchaus Gesellschaftliches gespiegelt und kritisch hinterfragt, was aber nie vordergründig aufgetischt ist, weil die erste und immer wichtigste Sinnschicht die Ästhetik bleibt, die permanent erfindungsreich und eigenwillig in Form und Material daherkommt und erst mal komplex begriffen werden will… Warten, bis es Klick macht und kein Arzt kommt.

Blick in den Stand des Dezernat5 auf der Medienkunstmesse C.A.R. - contemporary art ruhr in Essen, 2016 Besucherin in Interaktion mit der Installation Ritter, Tod und Teufel, Udo Dettmann in der Ausstellung Parallaxe des Dezernat5, 2017

Der Löwe ist los, Gemeinschaftsarbeit - Bittner, Dettmann, Sander, 2017 (Abb. Bilderleiste oben und Abb. links unten); Vorbereitung zur nächsten Ausstellung

In der Gruppe, in ihren seit 2012 als Tourneen zu meist mehreren Standorten ausgerichteten Aus-stellungsprojekten, ergänzen sie sich trefflich: Wo der eine formal und geistig gern und sehr bewusst bis an die Schmerzgrenze der positiven Wahrnehmungslust, also Aufnahmebereitschaft beim Be-trachter heranführt, ist der andere so freundlich, fast im Sinne der konkreten Kunst Schönheit zu verbreiten. Außerdem führen sie eine abwechselnde Gratwanderung an einer anderen Grenze, der zwischen Ernst und Humor oder Schock und Witz. Eines muss aber klar sein – es ist besser, ihre Projekte, die auch ein Kampf für das Leben und das Überleben mit der Kunst sind (ihr Versuch eben), in der Gänze sehr ernst zu nehmen, weil sie selber keine Anstrengungen scheuen, ihre Ideen ins Ziel zu führen, indem sie wirklich eine Gestalt annehmen, die den Weg dahin einschließt: Sehr deutlich machte das schon ihr Projekt Die Komische Illusion im Jahr 2012, mit dem sie auch zu Gast in unserem Dorf, in unserer Galerie Kunstraum Testorf waren – ihre Ausstellung im November bereiteten sie bereits beim Osterfeuer mit ersten Gesprächen mit den Einwohnern vor, an einem weiteren Wochenende im September wurde von Haus zu Haus gegangen, gefilmt, fotografiert, gezeichnet, geredet. Ich zitiere zwei Sätze aus ihrem Brief an die Einwohner:

Liebe Einwohner von Testorf,Anfang November soll im Kunstraum Testorf eine ganz besondere Ausstellung zu sehen sein - die dort gezeigten Arbeiten sollen nämlich vor Ort im Ort Testorf gemeinsam mit den Bewohnern entstehen!….Die Künstler erhoffen sich von dieser gemeinsamen Aktion eine Wechselwirkung zwischen den Bewohnern einer kleinen Landgemeinde und der zeitgenössischen Kunst, die für beide Seiten spannende Erkenntnisse, respektvolles Umgehen miteinander und viel Spaß bringen kann.Mit österlichen Grüßen …

Begegnungen mit Testorf, partizipative Kunstaktion des Dezernat5 mit den Bewohnern des Dorfes Testorf und dem Kunstraum Testorf

Diese Zeilen und das ganze Projekt zeigten trefflich (weder vorher noch später waren jemals so viele Leute aus dem Dorf zur Vernissage in unserer Galerie), worum es den drei Protagonisten eben auch geht – um Interaktion und Verständigung im öffentlichen Raum, tatsächliches Verständnis für ihr Kunstmachen, zumindest die Aufrechterhaltung der Hoffnung dafür, auch wenn jene landläufig vielleicht als komische Illusion erscheint – und belegen ihre ernsthaften Absichten und Fähigkei-ten als Brückenbauer über den leider trüben Fluss zwischen aktueller Kunstwelt und dem weitaus größten Teil der übrigen Gesellschaft.

Elchtest - Frühstück und Gespräch mit Künstlern aus der schwedischen Partnerstadt Växlö in der Ausstellung Dezernat5.4, 2013 Dettmann, Sander, Bittner in der Galerie Dezernat5

IMPRESSUM

Herausgeber: Edition Dezernat5, Schwerin http://www.dezernat5.de

Text: Ulrich Rudolph, TestorfLayout/Satz: Tino BittnerTitelseite: Udo DettmannBildbearbeitung: Udo Dettmann, Tino BittnerFotonachweis: Tino Bittner, Udo Dettmann, Thomas Sander, moe4.de/medienbildung (Abb. S. 8/9), Landeshauptstadt Schwerin (c)/ Rainer Cordes (Abb. S. 15), Stéphane Maeder (Abb. S. 18/19) Auflage: 300 © 2018 Künstler und Autor

Ulrich Rudolph ist Kunstwissenschaftler und betreibt in Testorf bei Zarrentin die Galerie Kunstraum Testorf

gefördert durch:das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern,die Landeshauptstadt Schwerin, die Stiftungen der Sparkasse Mecklenburg-Schwerin in der Landeshauptstadt Schwerin

mit freundlicher Unterstützung:ATARAXIA e.V.