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Arbeiten zur Praktischen Theologie Ulrike Witten Diakonisches Lernen an Biographien Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa

Diakonisches Lernen an Biographien - eva-leipzig.de · Florence Nightingale und Mutter Teresa. 9 783374 038848. EUR 68,00 [D] ISBN 978-3-374-03884-8. Das Lernen an Biographien wird

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Arbeiten zur Praktischen Theologie

Ulrike Witten

Diakonisches Lernen an Biographien

Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa

9 783374 038848EUR 68,00 [D]

ISBN 978-3-374-03884-8

Das Lernen an Biographien wird unter den Bedingungen des dia­konisch­sozialen Lernens diskutiert. Mit der historischen Bio­graphik werden die theoretischen Grundlagen für das Lernen an Biographien erarbeitet und umgesetzt durch die historisch­kritische Rekonstruktion der Biographien Elisabeths von Thürin­gen, Florence Nightingales und Mutter Teresas. Dabei wird die Rezeptions geschichte hinterfragt und Stereotype, die mit den Biographien verbunden sind, werden aufgedeckt. Daraus ergeben sich jeweils Impulse für die didaktische Umsetzung der drei Bio­graphien als Thema im diakonisch­sozialen Lernen.Über die Auseinandersetzung mit der Diakoniegeschichte sowie mit Menschen, die in Geschichte und Gegenwart diakonisch han­delten, wird das Ziel diakonisch­sozialen Lernens erreicht, dass junge Menschen einen Zugang zur diakonisch tätigen Gemein­schaft erhalten. Auf dieser Grundlage werden Schlussfolgerungen für die Didaktik diakonisch­sozialen Lernens gezogen.

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Diakonisches Lernen an Biographien

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Arbeiten zur Praktischen Theologie

Herausgegeben von Alexander Deeg, Wilfried Engemann, Christian Grethlein, Jan Hermelink und Marcell Saß

Band 56

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Ulrike Witten

Diakonisches Lernen an Biographien

Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALTLeipzig

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Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Datensind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · LeipzigPrinted in Germany · H 7791

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Jochen Busch, LeipzigSatz: Mandy Tippelt, LeipzigDruck und Binden: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-374-03884-8www.eva-leipzig.de

Ulrike Witten, Dr. phil., Jahrgang 1982, studierte Evangelische Theologie, Geschichte und Erziehungswissenschaften in Leipzig und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie Lehrerin am Elisa-beth-Gymnasium Halle. Sie wurde im Mai 2013 mit der vorlie-genden Arbeit von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig promoviert.

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Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2012/13 von der Erziehungs-wissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation angenom-men. Für den Druck wurde sie geringfügig gekürzt.

Viele haben das Entstehen der Arbeit in den letzten Jahren begleitet und ge-fördert, ihnen möchte ich herzlich danken. Zuerst gilt mein Dank Prof. Dr. Helmut Hanisch, er hat die Arbeit angeregt, betreut und das Entstehen stets interessiert und fürsorglich begleitet. Prof. Dr. Dieter Schulz ist für das Erstellen des Zweitgut-achtens und seine wohlwollenden Hinweise herzlich zu danken.

Den Herausgebern der Arbeiten zur Praktischen Theologie, Prof. Dr. Wilfried Engemann, Prof. Dr. Christian Grethlein und Prof. Dr. Jan Hermelink danke ich für die Aufnahme in ihre Reihe.

Der Hanns-Seidel-Stiftung e. V. danke ich für die Förderung meines Promoti-onsstudiums durch ein Stipendium aus Mitteln des Bundesministeriums für Bil-dung und Forschung. Die Abschlussphase der Arbeit wurde finanziell ermöglicht durch ein Stipendium des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst.

Die Barbara-Schadeberg-Stiftung sowie die Evangelische Kirche in Mittel-deutschland haben mit großzügigen Druckkostenzuschüssen die Publikation die-ser Arbeit gefördert, wofür ich ihnen herzlich danke.

Frau Dr. Annette Weidhas und Frau Anne Grabmann von der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig sorgten für ein zügiges Erscheinen. Mandy Tippelt erstell-te gründlich und geduldig die Druckvorlage.

Schließlich gilt mein besonderer Dank meiner Familie, meinem Mann und meinen Kindern Friedrich und Georg. Mein Mann Johannes Träger hat nicht nur Korrektur gelesen, sondern fungierte immer als kritischer Ansprechpartner und hat mir die notwendigen Freiräume geschaffen, um die Arbeit zu einem guten Ende zu bringen. Meiner Familie möchte ich die Arbeit widmen.

Leipzig, im Mai 2014 Ulrike Witten

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1 Inhaltsverzeichnis

1 Forschungsstand und Fragestellung ......................... 131.1 Entstehung und Konsolidierung diakonisch-sozialen Lernens .............. 13

1.2 Kennen der Geschichte ................................................................................... 19Gründe für die Thematisierung der Vergangenheit ................................................. 23Lernen an Biographien – die Diskussion um Vorbilder ......................................... 26Diakonisch-soziales Lernen und der Gender-Aspekt ............................................... 31Resümee .......................................................................................................................... 33Offene Befunde: Lernen an Biographien innerhalb des diakonisch-sozialen Lernens ........................................................................................ 34Untersuchungsabsichten und Vorgehen .................................................................... 35

2 Geschichte als Dimension des diakonisch-sozialen Lernens .........................................37

2.1 Begriff „historische Dimension“.................................................................... 38

2.2 Identität und Gedächtnis ................................................................................ 38

2.3 Diakonie und Historiographie: Lebensbilder in der Diakonie .................. 43

2.4 Zusammenfassung .......................................................................................... 47

3 Biographien im diakonisch- sozialen Lernen ................................................................ 51

3.1 Historische Biographik ................................................................................... 51Begriffsklärung .............................................................................................................. 52Hagiographie und Biographie ...................................................................................... 54Methodik historischer Biographik .............................................................................. 56Probleme der historischen Biographik ....................................................................... 65

3.2 Lernen an Biographien ................................................................................... 69Begriffe ............................................................................................................................ 70Vorbilder in der Kritik ................................................................................................... 73Empirische Ergebnisse zu Vorbildern von Kindern und Jugendlichen ................ 76Vorbilder unter entwicklungspsychologischer Perspektive ................................... 79

Einleitung ............................................................................... 11

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8 Inhaltsverzeichnis

Lernprozesse ................................................................................................................... 82

3.3 Diakonie an Biographien lernen ................................................................... 89Lernen an Biographien unter den Bedingungen diakonisch-sozialen Lernens ... 90Historisch-methodische Schlussfolgerungen ............................................................ 94Schlussfolgerungen ausgehend von der Kritik an Vorbildern ............................... 97Schlussfolgerungen ausgehend von den empirischen Ergebnissen ..................... 99Diakonisches Lernen an Biographien unter entwicklungspsychologischer Perspektive ..............................................................100Systematisierung der Lernpotenziale .......................................................................102Zusammenfassung: Diakonisches Lernen an Biographien ...................................105

4 Frauen in der Diakonie .................................................1074.1 Vorbetrachtungen ..........................................................................................107

Motive diakonischen Handelns ..................................................................................112Stereotype diakonischen Handelns von Frauen ......................................................116

4.2 Thesen .............................................................................................................120

5 Elisabeth von Thüringen ..............................................1315.1 Quellengrundlage und Forschungsstand ...................................................133

Quellen ..........................................................................................................................133Forschungsstand ..........................................................................................................140

5.2 Biographie .......................................................................................................142Kindheit .........................................................................................................................143Landgräfin Elisabeth von Thüringen ........................................................................145Tod Ludwigs IV., Winter 1227/28 in Eisenach ........................................................157Im Marburger Hospital................................................................................................162Sterben und Beerdigung .............................................................................................170Kanonisation .................................................................................................................172Ausbreitung des Kultes und Rezeption ....................................................................174

5.3 Elisabeth von Thüringen im diakonisch-sozialen Lernen.......................177Lernen an der Biographie Elisabeths .......................................................................178Heilige im evangelischen Religionsunterricht? ......................................................179Wunder ..........................................................................................................................180Persönlichkeit und Motivation Elisabeths von Thüringen ...................................184Kritische Rezeption Elisabeths von Thüringen vor dem Hintergrund des diakonisch-sozialen Lernens ...............................................................................187Impulse für die didaktische Umsetzung des Themas „Elisabeth von Thüringen“ im diakonisch-sozialen Lernen ..................................190

6 Florence Nightingale ....................................................1996.1 Quellengrundlage und Forschungsstand ...................................................201

6.2 Biographie .......................................................................................................206Kindheit, Jugend und familiärer Hintergrund ........................................................207

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Inhaltsverzeichnis 9

Frühes Erwachsenenalter, „Ausbildung“ in Kaiserswerth ...................................209Krimkrieg ......................................................................................................................217Nightingale als Statistikerin ......................................................................................226Der Zusammenbruch ...................................................................................................227Nightingales Einsatz für die öffentliche Gesundheitsversorgung und die Professionalisierung der Krankenpflege ...................................................229Nightingale als Autorin ...............................................................................................234Nightingales Infektionstheorie ..................................................................................235Erkrankungen und Alter .............................................................................................237Nightingale und der „Aufbruch der Frauen“ ...........................................................239Rotes Kreuz ...................................................................................................................241

6.3 Florence Nightingale im diakonisch-sozialen Lernen ............................242Kritische Würdigung Florence Nightingales vor dem Hintergrund des diakonisch-sozialen Lernens ..............................................................................242Didaktische Implikationen zur Biographie Florence Nightingales .....................251Zusammenfassung .......................................................................................................262

7 Mutter Teresa .................................................................2657.1 Quellengrundlage und Forschungsstand ...................................................267

7.2 Biographie .......................................................................................................272Herkunft, Kindheit und Jugend .................................................................................273Lehrerin im Loreto-Orden ...........................................................................................278Privatgelübde, „Zugerlebnis“ und der Beginn der Missionaries of Charity.......281Die Gemeinschaft der kranken und leidenden Mit-Arbeiter und die Weiterentwicklung der Missionaries of Charity ......................................294Das Sterbehaus Nirmal Hriday ..................................................................................295Kinderheime .................................................................................................................298Die Versorgung Aussätziger .......................................................................................299Alltag bei den Missionaries of Charity .....................................................................301Ausbreitung der Missionaries of Charity und zunehmende Popularität Mutter Teresas .........................................................................................303Die Missionare der Nächstenliebe, die kontemplativen Missionarinnen der Nächstenliebe und der internationale Mit-Arbeiter-Verband ........................307Alter ................................................................................................................................310Mutter Teresa, eine „Medienheilige“? ......................................................................313Persönlichkeit, Spiritualität und Frömmigkeit Mutter Teresas............................315

7.3 Mutter Teresa im diakonisch-sozialen Lernen .........................................322Erinnerung und Stereotype ........................................................................................322Kritik und Rechtfertigung ..........................................................................................327Didaktische Impulse zur Arbeit mit der Biographie Mutter Teresas im diakonisch-sozialen Lernen ..................................................................................337

8 Diakonisches Lernen an Biographien ....................... 347

9 Literaturverzeichnis .................................................... 371

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Einleitung

Im Religionsunterricht ereignete sich folgende Geschichte:

„Über die Nächstenliebe soll gesprochen werden, nachdem die Geschichte vom barmher-zigen Samariter erzählt worden ist. – ‚Könnten wir auch manchmal im Le ben so ein Sama-riter sein?‘ fragt der Kaplan. – ‚Nein‘, ist Ralf überzeugt, ‚wir haben ja alle keinen Esel!‘“1

In dieser Episode zeigt sich die Problemstellung, die den Ausgangspunkt der vor-liegenden Arbeit bildet. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) begründet das christliche Hilfsethos. Im diakonisch-sozialen Lernen gilt es, dieses Hilfsethos zu verinnerlichen und zu lernen, selbst in diesem Geiste zu handeln. So wie Jesus eine Beispielgeschichte erzählt, um Nächstenliebe zu ver-anschaulichen, so wurde und wird davon ausgegangen, dass man diakonisches Handeln durch das Beispiel anderer und von anderen lernen kann. Im eingangs zitierten Unterricht ist dieser Versuch nicht geglückt.

In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie die Beschäf-tigung mit der Diakoniegeschichte zum diakonisch-sozialen Lernen beitragen kann. Mit dem Lernen an Biographien wird das didaktische Potenzial der Biogra-phien von Mitarbeitenden in diakonischen Einrichtungen und den in der Diako-nie präsenten Lebensbildern identifiziert.

Im diakonisch-sozialen Lernen soll damit für Heranwachsende die Chance bestehen, Menschen kennenzulernen, die ihnen zu guten Vorbildern werden kön-nen. Durch den didaktischen Rahmen wird ein angemessener Umgang ermög-licht: Die kritische Annäherung, die zur intensiven persönlichen Beschäftigung führt, sodass überdauernde Orientierungen aufgebaut werden und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der diakonisch Handelnden entsteht, um auf der Suche nach Identität diese vielfältigen Angebote nutzen zu können.

Das Anliegen der Arbeit besteht darin, ausgehend von den bisherigen Über-legungen zum diakonisch-sozialen Lernen und basierend auf der historischen Biographik, exemplarisch Biographien diakonisch handelnder Frauen zu rekon-struieren und zu didaktischen Schlussfolgerungen zum diakonischen Lernen an Biographien zu gelangen.Im ersten Schritt wird die Entwicklung des diakonisch-sozialen Lernens nachge-zeichnet. Es wird identifiziert, wo das Lernen an Biographien zur Sprache kommt

1  Selig sind die armen Geistlichen. Die besten Schülerwitze aus der Sammlung von Pfar-rer Georg Geßner. Hg. v. Reinhard Abeln. Leipzig 2006, 28.

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12 Einleitung

und der inhaltliche, der erinnernde, der religiöse sowie der motivationale Bereich differenziert sowie offene Befunde benannt. Nachdem Untersuchungsabsichten und Vorgehen der Studie formuliert wurden, wird im zweiten Schritt die histo-rische Dimension des diakonisch-sozialen Lernens unter Bezugnahme auf die Konzepte von historischer Identität, kommunikativem und kulturellen Gedächt-nis erläutert. Das basiert auf dem Konzept von diakonisch-sozialem Lernen als situiertem Lernen in der diakonischen Gemeinschaft (community of practice). Betrachtet man, wie sich die diakonische Gemeinschaft über ihre Erinnung formt, so schließt das die kritische Auseinandersetzung mit der Historiographie der Dia-konie ein.

Im dritten Schritt wird das Lernen an Biographien hinsichtlich der metho-dischen Grundlegung in der historischen Biographik sowie der pädagogischen Diskussion analysiert. Daraus resultieren die Überlegungen zum diakonischen Lernen an Biographien.

Bevor diese Überlegungen konkretisiert werden können, werden im vierten Schritt Motive und Stereotype diakonischen Handelns von Frauen dargestellt. Dies ist biographietheoretisch notwendig, um den Eindruck der Singularität, der bei Einzelbetrachtungen schnell entsteht, zu vermeiden und um die zu erarbei-tenden Biographien einordnen zu können. Vor diesem Hintergrund können Indi-vidualität und Handlungsoptionen erst sichtbar gemacht werden.

Anschließend werden die Biographien von Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa unter den vier Perspektiven mit Hilfe der histori-schen Biographik kritisch rekonstruiert. Inhaltlich werden die Biographien dar-gestellt, erinnernd wird nach den Rezeptions- und Traditionsprozessen gefragt, theologische Überzeugungen und Handlungsmotive der Frauen werden heraus-gestellt. An die Rekonstruktion der Biographie schließen sich jeweils Fragen nach der Didaktisierung an. Diskutiert wird, ob die dargestellten Personen sich als Inhalt eignen, welche Diskussionen sowie positiven und negativen Aspekte sich mit ihnen verbinden, welche Themenkreise sie erschließen. Daraus werden di-daktische Implikationen formuliert. Abschließend werden die Überlegungen zum diakonischen Lernen an Biographien gebündelt.

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1 Forschungsstand und Fragestellung

Ausgehend vom Forschungsstand zum diakonisch-sozialen Lernen wird nun die Fragestellung entwickelt. Dazu wird die Genese des diakonisch-sozialen Ler-nens in ihrer inhaltlichen, lerntheoretischen sowie didaktischen Ausgestaltung nachgezeichnet und daraus das Lernen an Biographien hergeleitet. Nach einem Resümee werden offene Befunde sowie Untersuchungsabsichten und Vorgehen formuliert.

1.1 Entstehung und Konsolidierung diakonisch-sozialen Lernens

Bildung und Diakonie verfügen über eine lange gemeinsame Tradition, was in den unterschiedlichsten Kontexten seinen Niederschlag fand. Zu denken ist an die verschiedenen Initiativen im Bildungsbereich der verfassten Diakonie. Die Fortführung dieser Tradition zeigt sich nicht zuletzt in der Diakonie-Denkschrift, die bereits 1998 „diakonisches Lernen“ als Bildungsaufgabe benannte, die der Diakonie zukommt.2 Die dort formulierten Aufgaben und Zielstellungen blieben relativ allgemein gehalten und fassten den Begriff „diakonisches Lernen“ sehr weit, sodass auch Freiwilligendienste zum diakonischen Lernen gezählt wurden. Mit der Verankerung in der Denkschrift fanden der Begriff und das Anliegen diakonischen Lernens weite Verbreitung.

Bildung als Dimension von Diakonie entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem spezifischen Konzept: dem diakonisch-sozialen Lernen. Darunter wird verstanden

„ein auf die Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern ausgerichteter Bildungsprozess. Er umfasst praktisches Handeln am Lernort Diakonie und die schulische Reflexion der Praxiserfahrungen.“3

2  Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine evangelische Denkschrift. Hg. v. Kirchenamt der EKD. Gütersloh 1998, 61-62.3  Amt für kirchliche Dienste: Diakonisches Lernen. Kleine Handreichung für die Praxis. Berlin o.J. <http://www.ekbo.de/Bilder/Diakonisches_Lernen.pdf> (20.04.2009), 2.

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14 Forschungsstand und Fragestellung

Das diakonisch-soziale Lernen bzw. anfangs die diakonisch-sozialen Praktika fan-den innerhalb der Religionspädagogik recht schnell Anerkennung und Rezepti-on.4 Doch schon an der parallelen Verwendung der beiden Begriffe diakonisches bzw. diakonisch-soziales Lernen zeigt sich, dass nicht immer einheitliche Vorstel-lungen darüber bestehen, was unter diakonisch-sozialem Lernen zu verstehen ist. Ebenso zeigt sich durch die beiden gleichermaßen etablierten Begriffe, dass das diakonisch-soziale Lernen keine geschlossene Konzeption darstellt, sondern dass es Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungsstränge ist.5

Ihren Anfang nahmen die Ansätze diakonisch-sozialen Lernens zu Beginn der 1990er Jahre mit der Einführung und Reflexion über diakonische Praktika, in erster Linie an Schulen in evangelischer Trägerschaft.6 Das Ziel bestand darin,

4  Vgl. Christian Grethlein: Fachdidaktik Religion. Göttingen 2005, 119. Gottfried Adam: Ethisches und soziales Lernen. In: Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegrif-fe. Hg. v. Gottfried Bitter; Rudolf Englert; Gabriele Miller, Karl Ernst Nipkow. München 2002, 238-243: 241-242. Erwähnung findet das diakonische Lernen auch in Friedrich W. Bargheer: Diakonisches Lernen. In: Lexikon der Religionspädagogik. Hg. v. Norbert Mette; Folkert Rickers. Bd. 1. Neukirchen-Vluyn 2001, 329-332. Hierbei wird allerdings wenig erfasst, was diakonisches Lernen tatsächlich ausmacht.5  Harry Noormann prägte den Begriff diakonisches Lernen, Harry Noormann: Diako-nisches Lernen – eine Zumutung für den Zeitgeist? In: Christenlehre/Religionsunter- richt – Praxis. 2 (1998), 6-13. In der Diakonie-Denkschrift wurde ebenfalls dieser Begriff verwendet. Der Begriff „diakonisches Lernen“ fand schon vorher Erwähnung, wurde da aber noch in einem anderen Kontext verwendet und bezeichnete andere Formen des Ler-nens, ohne die Charakteristtika diakonisch-sozialen Lernens zu erfassen. Vgl. zur früheren Verwendung des Begriffs im anderen Kontext Hans-Günther Heimbrock: Nicht unser Wol-len oder Laufen. Diakonisches Lernen in Schule und Gemeinde. Neukirchen-Vluyn 1990; Lutherstift in Falkenburg: Diakonisches Lernen. Erinnerungen, Erfahrungen, Erlebnisse. Aufzeichnungen am Ende eines Jahrzehnts diakonischen Lernens im Lutherstift in Fal-kenburg. Fliegende Blätter, Texte und Zeichen, die erinnern oder grüßen, nachdenklich machen, die verbinden. Ganderkesee 1989.Diakonisch-soziales Lernen ist der Begriff, den vor allem der Arbeitskreis Diakonisches Lernen im Positionspapier verwendet, der auch von Gottfried Adam und Uta Hallwirth be-vorzugt wird, da er die zwei wichtigen Dimensionen zum Ausdruck bringt. Es ist Toaspern (Huldreich David Toaspern: Diakonisches Lernen. Modelle für ein Praxislernen zwi schen Schule und Diakonie. Göttingen 2007, 16-19. (= ARP, 32) zuzustimmen, dass diakonisches auch immer soziales Lernen ist, und dass daher vom diakonischen Lernen gesprochen werden kann. Wenn man sich der Diskussion bewusst ist, können beide Begriffe nahezu synonym verwendet werden.6  Für die Profilbildung an evangelischen Schulen kommt dem diakonisch-sozialen Lernen große Bedeutung zu. In Hildesheim gibt es seit 1978 (!) den sog. Diakonischen Einsatz, vgl. Bärbel Husman: Diakonie und Bildung – protestantische Profilierungen. In: Projekt: Diakonie. Arbeitshilfen Gymnasium 11. Hg. v. Bärbel Husmann. Loccum 2005, 5-9. Das Beispiel zeigt, dass an einigen Schulen die diakonischen Praktika schon eine lange Tradi-tion haben. Im Evangelischen Schulzentrum Leipzig gibt es seit dem Schuljahr 1992/93 an der Mittelschule das Profilfach Sozial-diako nischer Lernbereich, das in Alternative zum Profil Französisch von den Schülerinnen und Schülern ab der siebten bis zur neunten

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Entstehung und Konsolidierung diakonisch-sozialen Lernens 15

jungen Menschen Lernchancen im sozialen Bereich verbunden mit theologischer Reflexion zu ermöglichen. Ausgangspunkt waren beobachtete gesellschaftliche Missstände und fehlende soziale Erfahrungen für Heranwachsende auf Grund veränderter gesellschaftlicher Bedingungen.7

Solche Überlegungen hatten auch in anderen Bereichen zu vergleichbaren Ansätzen sozialen Lernens geführt, die sich parallel dazu entwickelten und die die allgemeine Relevanz dieses Anliegens sowie das Interesse daran anzeigen. Zu denken ist an die katholische Compassion-Initiative, die Einführung des sog. Themenorientierten Projekts Soziales Engagement in Baden-Württemberg oder an Initiativen, die anstreben das nordamerikanische Modell des service learning in Deutschland zu implementieren.8

(Hauptschule) bzw. zehnten (Realschule) Klasse gewählt werden kann, vgl. dazu Helmut Hanisch; Christoph Gramzow; Siegfried Hoppe-Graff: Diakonisches Lernen – Konzeptio-nelle Annäherungen auf empirischer Grundlage. In: Diakonische Bildung. Theorie und Empirie. Hg. v. Helmut Hanisch; Heinz Schmidt. Heidelberg 2004. (= VDWI, 21), 76-170, hier 78-79. Im Evangelischen Schulzentrum Michelbach/Bilz wurde im Schuljahr 1996/97 das Unterrichtsfach Diakonie eingeführt, das in Verbin dung mit Religion den Status ei-nes Kernfachs hat. Diakonie ist Unterrichtsfach im Gymnasium, wo es abiturrelevant ist, wie in der Realschule, als Wahlpflichtbereich neben Französisch, vgl. dazu Reinhart Gron bach: Diakonisch-soziales Lernen: Ein Curriculum (Das Michelbacher Modell). In: Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens. Hg. v. Gottfried Adam; Helmut Hanisch; Heinz Schmidt; Renate Zitt. Stuttgart 2006, 94-114, hier 95. Weiterhin zu nennen ist auch die Melanchthon-Schule Steinatal, wo die Einfüh-rung des diakonisch-sozialen Lernens zum Impulsgeber für Schulentwicklung geworden ist, vgl. dazu Christel Ruth Kaiser: Praxis der Schulentwicklung an evangelischen Schulen (Beispiel: Melanchthon-Schule Steina tal). In: Unterwegs, 271-288. Das Diakonische Werk der ev.-luth. Landeskirche Hannovers hat zwischen 2005 und 2007 ein Projekt durchge-führt, dessen Ziel die Initiierung diakonisch-sozialer Lernprozesse in der Schule war; vgl. dazu Christine Meiners: Soziales/Diakonisches Lernen in der Schule – Das soziale Lernen. Loccumer Pelikan 1 (2008), 38-39. Vgl. auch den systematisierenden Überblick Gottfried Adams: Diakonisch-soziales Lernen. Eine Zwischenbilanz in weiterführender Absicht. In: Diakonie und Bildung. Hg. v. Johannes Eurich; Christian Oelschlägel. FS Heinz Schmidt. Stuttgart 2008, 362-375.7  Inwiefern sich die Ängste über generell fehlende Lernmöglichkeiten im sozialen Bereich für Heranwachsende, wie sie in den ersten Publikationen zum diakonisch-sozialen Lernen benannt wurden, bewahrheitet haben, muss inzwischen hinterfragt werden. Schließlich haben sich die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen, er-heblich differenziert, und es ist schwierig, pauschale Urteile über eine scheinbar hedonis-tische, gott- oder traditionslose Jugend-Generation zu treffen. Scheinbar haben die jungen Menschen die sozialen Lernarrangements, von denen sie im Allgemeinen sehr profitieren, allerdings nicht so „nötig“, wie man zu Beginn der 1990er Jahre annahm.8  Es gibt neben dem diakonisch-sozialen Lernen eine Vielzahl von ähnlichen Konzepten, die sich allerdings dahingehend unterscheiden, dass sie nicht im evangelischen Bildungs-verständnis wurzeln. Im katholischen Bereich existiert ein ähnliches Konzept, die Compassion-Initiative. Vgl. dazu Compassion. Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen. Hg. v.

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16 Forschungsstand und Fragestellung

Unabhängig von den getroffenen eher pessimistischen Ausgangsüberlegungen, die zur Einrichtung diakonisch-sozialer Praktika führten, zeigten die Praxiser-fahrungen, dass dabei Schülerinnen und Schülern vielfältigen Angeboten begeg-nen, die sie gern nutzen und die für ihre Identitätsentwicklung von Bedeutung sind.

Die Praxis-Projekte wurden von ersten religionspädagogischen Impulsen theoretisch begleitet, sodass die Praxis aufbereitet und tragfähige Konzepte diakonisch-sozialen Lernens entwickelt wurden, die mehr beinhalten als das Absolvieren eines Sozialpraktikums. Im Schulalltag etablierten sich inzwischen verschiedene Ansätze. Diese reichen von einem eigenen Lernbereich über meh-rere Klassenstufen für diakonisch-soziales Lernen bis zu fächerverbindenden Kurzzeit-Projekten, die in unterschiedlich starkem Maße die soziale oder die dia-konische Dimension betonen. An vielen Schulen haben sich neben beruflichen, diakonische Praktika etabliert.9 Einigkeit besteht darüber, dass diakonisch-sozi-

Johann-Baptist Metz; Lothar Kuld; Adolf Weisbrod. Freiburg i. Br. 2000; Lother Kuld; Stefan Gönnheimer: Ausgewählte Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung des Praxis- und Unterrichtsprojekts Compassion. In: Schule und Diakonie. Orte sozialen Lernens. Hg. v. Uwe Mletzko. Echterdingen 2000, 37-41; Praxisbuch Compassion. Soziales Lernen an Schulen. Praktikum und Unterricht in den Sekundarstufen I und II. Herausgegeben von Stefan Gönnheimer; Lothar Kuld. Donauwörth 2004; Vgl. auch das Themenheft zu Compas-sion der Zeitschrift engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 1 (2005). Im baden-württembergischen Bildungsplan ist das „TOP SE“ – das Themenorientierte Pro-jekt Soziales Engagement verankert. Vgl. dazu Hartmut Rupp; Angela Knapp; Christoph Dammann: Diakonisch-soziales Lernen, Service Learning und gesellschaftliche Verant-wortung. In: Unterwegs, 56-68. In Baden-Württemberg wurde auch das Projekt Soziales Lernen durchgeführt, vgl. dazu Wolfram Keppler; Gerda Leitmann; Jürgen Ripplinger: Das Soziale lernen. Ergebnisse eines landesweiten Modellprojekts. Diakonisches Werk Würt-temberg. Stuttgart 1999.Des Weiteren gibt es zahlreiche Projekte, die auf bürgerschaftliches Engagement zielen, z. B. die Agentur mehrwert, deren Ziel die Ermöglichung sozialen Lernens ist, vgl. dazu Gabriele Bartsch: Lernen mit Herz, Kopf und Hand. Ein innovatives Lernkonzept für die persönliche und soziale Entwicklung junger Menschen. In: das soziale lernen – das sozi-ale tun. Spurensuche zwischen Diakonie, Religions pädagogik und Sozialer Arbeit. Hg. v. Norbert Collmar; Christian Rose. Neukirchen-Vluyn 2003, 125-133 sowie die Ansätze des aus den USA kommenden service learning; vgl. dazu Lernziel Verantwortung. Politische Jugendbildung und Schule. Hg. v. Friedrun Erben; Klaus Waldmann. Schwalbach/Ts. 2008; Durch Verantwortung lernen. Service Learning: etwas für andere tun. 6. Weinheimer Ge-spräche. Hg. v. Anne Sliwka; Christian Petry; Peter E. Kalb. Weinheim; Basel 2004. Vgl. zur Idee eines sozialen Pflichtjahres für Heranwachsende Hartmut von Hentig: Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein. München; Wien 2006.9  Vgl. zu den verschiedenen Ansätzen: Modelle diakonisch-sozialen Lernens an evan-gelischen Schulen. Ein Reader zum Wettbewerb der Barbara-Schadeberg-Stiftung 2003. Bearbeitet von Uta Hallwirth. Wissenschaftliche Arbeitsstelle Evangelische Schule der EKD und der Barbara-Schadeberg-Stiftung am Comenius-Institut. Hannover 2006 (unver-öffentlicht); Christoph Gramzow: Diakonie in der Schule. Theoretische Einordnung und praktische Konsequenzen auf der Grundlage einer Evaluationsstudie. Habil. Uni Leipzig

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Entstehung und Konsolidierung diakonisch-sozialen Lernens 17

ales Lernen in den Feldern Praxis und Schule stattfinden muss; konstituierend ist das Aufsuchen außerschulischer Lernorte sowie die schulische Reflexion des dort Erlebten, sodass diakonisch-soziales Lernen modellhaft in „Diakonie-prak-tisch“ und „-theoretisch“ geteilt werden kann.10

Des Weiteren fand die Diskussion um diakonisch-soziales Lernen in ver-schiedenen religionspädagogischen Fachzeitschriften statt, die sich teilweise in Themenheften diesem Konzept widmeten. Dort waren regelmäßig Hinweise und Realisierungsmöglichkeiten für die Praxis zu finden. Es zeigt sich also, wie kon-tinuierlich die Diskussion geführt wurde, verschiedene Zielgruppen erschlossen wurden und das diakonisch-soziale Lernen Eingang in die evangelische Religions-pädagogik fand.11

2008, 98-131. (Im Folgenden wird auf diese Ausgabe Bezug genommen.) Bei den Praxis-beispielen, die im Reader gesammelt sind, zeigt sich eine große Bandbreite dessen, was als Elemente diakonisch-sozialen Lernens gezählt wird. Uta Hallwirth: Modelle diakonisch-sozialen Lernens. Zum Wettbewerb der Barbara-Scha-deberg-Stiftung. In: Diakonie und Schule. Die Hallenser Barbara-Schadeberg-Vorlesungen. Hg. v. Christel Ruth Kaiser. Münster; New York; Berlin 2006, 191-210. (= Schule in evan-gelischer Trägerschaft, 6); Gottfried Adam: Diakonisches Lernen anstoßen – Das Soziale Lernen. In: Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesell-schaft, Schule und Gemeinde. Hg. v. Annebelle Pithan; Gottfried Adam; Roland Kollmann. Gütersloh 2002, 397-403; Regine Walter: Diakonie als Bildungsinhalt und Profil einer Schule. Erfahrungen am Evangelischen Firtwald-Gymnasium in Mössingen. ZPT, 1 (2002), 63-73; Gottfried Adam: Diakonisches Lernen als Beitrag zur Zivilgesellschaft. In: Diakonie in der Stadt. Reflexionen – Modelle – Konkretionen. Hg. v. Heinz Schmidt; Renate Zitt. Stuttgart 2003, 135-143. (Diakoniewissenschaft. Grundlagen und Handlungsperspektiven, Bd. 8); Norbert Collmar: „das soziale lehren“ – Modelle schul- und religionspädagogischen Handelns. In: das soziale lernen – das soziale tun, 101-114; Rupp; Knapp; Dammann: Di-akonisch-soziales Lernen, Service Learning und gesellschaftliche Verantwortung, 56-68; Britta von Schubert: Diakonisch-soziales Lernen als Konkretion christlicher Bildungsver-antwortung – Das Projekt der Elisabeth-von-Thadden-Schule in Heidelberg. In: Diakonie und Schule, 148-165.10  Hanisch u. a.: Diakonisches Lernen beschreibt die Aufteilung des sozial-diakonischen Lernbereichs in praktisch und theoretisch am Evangelischen Schulzentrum Leipzig, der allerdings wegen der Unverbundenheit beider Bereiche als wenig günstig eingeschätzt wird. Vgl. auch Gottfried Adam: Didaktische Kriterien und Formate diakonisch-sozialen Lernens. In: Unterwegs, 80-93; Martin Sander-Gaiser: Diakonisches Lernen als Tätigkeit und Partizipation. In: Unterwegs, 235-259; Martin Sander-Gaiser: Diakonie lernen, aber wie?, einzusehen unter <http://www.reliatlas.de/dokumente/Beitrag.pdf> (08.12.2006); Kurt Hertweck: Diakonische Schule – Anspruch und Wirklichkeit. Gedankengänge am Bei-spiel des Ev. Schulzentrums Michelbach. In: Diakonie und Schule, 65-71; Gottfried Adam: Lernen an außerschulischen Lernorten. In: Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompen-dium. Hg. v. Michael Wermke; Gottfried Adam; Martin Rothgangel. Göttingen 2006, 357-382; Cornelia Schäfer: Diakonisches Lernen in der Evangelischen Grundschule Gotha. In: Diakonie und Schule, 72-79.11  Themenheft: Diakonie: Aufgaben und Zukunftsperspektiven. GuL 1 (2000); Themen-heft: Bildung und Diakonie ZPT 1 (2002); Geschlechtergerechter Religionsunterricht. Dia-

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18 Forschungsstand und Fragestellung

Das Positionspapier des Arbeitskreises Diakonisches Lernen unternahm grund-sätzliche, allgemeine Klärungen zum diakonisch-sozialen Lernen.12 Wegweisend für die Entwicklung diakonisch-sozialen Lernen waren die Sammelbände Diako-nische Bildung, Unterwegs zu einer Kultur des Helfens, Diakonie und Schule, die sich umfänglich dem diakonisch-sozialen Lernen widmeten. Wichtige Entwick-lungen in jüngerer Zeit bestanden in der fortschreitenden Systematisierung diakonischen Lernens13 sowie der verstärkten Untersuchung der Praxis,14 un-terstützt durch das Erscheinen von Materialien für die Umsetzung diakonisch-so-zialen Lernens.15 Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen stimmen teils nachdenklich, zeigen sie doch auf, dass avisierte Ziele längst nicht in dem Maße erreicht werden, wie ursprünglich angenommen. Vor allem hinsichtlich dessen,

konisch-soziales Lernen. Schulfach Religion 1-2 (2005); Themenheft Compassion: engage-ment. Zeitschrift für Erziehung und Schule 1 (2005); Themenheft: Diakonie, Bildung und soziale Gerechtigkeit. Loccumer Pelikan 2 (2009).12  Arbeitskreis Diakonisches Lernen: Positionspapier ‚Diakonische Bildung und diako-nisch-soziales Lernen‘. In: Diakonie und Schule, 111-119.13  Toaspern; Martin Horstmann: Das Diakonische entdecken. Didaktische Zugänge zur Diakonie. Heidelberg 2011. (= VDWI, 46); Walter Boës: Diakonische Bildung. Grundlegung einer Didaktik diakonischen Lernens an der Schule. Leipzig 2013. (VDWI, 49); Diakonisch-soziales Lernen. Ein religionspädagogischer Reader. Hg. v. Gottfried Adam; Heinz Schmidt; Uta Hallwirth. Münster 2013.14  Gramzow: Diakonie.15  Bisher sind nur wenige Materialien erschienen. Direkt für das diakonisch-soziale Ler-nen konzipiert sind: Diakonie. Praktische und theoretische Impulse für sozial-diakonisches Lernen im Religionsunterricht. Hg. v. Roland Biewald; Bärbel Husmann. Leipzig 2009 (= Themenhefte Religion, 8); Heinz Schmidt: Ökonomie des Reiches Gottes. Diakonische Kom-petenzen entdecken mit Gustav Werner. entwurf 1 (2009), 7-10. Ersteres bietet durchdach-te Unterrichtsentwürfe und gute Materialien, die Selbstreflexion, die persönliche Ausein-andersetzung sowie eigenständiges Agieren anregen. Interessanterweise wird Diakonie in dieser Reihe vor allem durch ihre Geschichte sowie diakonisch-sozial handelnde Menschen vorgestellt. Vorbildfiguren bzw. Helden sowie die historische Dimension spielen eine sehr große Rolle. Eine Reflexion der Themen vor dem Verständnis von diakonisch-sozialem Ler-nen als situiertem Lernen findet allerdings nicht statt.Ferner: Ruth Schelander-Glaser: Interreligiöses Lernen. Materialien für den Unterricht, die Jugendarbeit und die Erwachsenenbildung. Hg. v. Diakonie-Patchworkinstitut. Wien; Salzburg 2008. (= Baustein 3) Darüber hinaus liegen geeignete, gute Materialien vor, die allerdings nicht explizit für das diakonisch-soziale Lernen entwickelt wurden, beispielsweise Katja Baur: Wichern 2008 – (k)ein Thema im Religionsunterricht? J. H. Wicherns Impulse für soziale Kom-petenzbildung im Religionsunterricht. Grundlagen und Unterrichtsbausteine für die Se-kundarstufe I und II. Berlin 2008. (= Arbeitsbücher für Schule und Bildungsarbeit, 9); Christofer Zöckler: Ein Unterrichtsbeispiel zum Thema „Frauen in Kirche und Diakonie“. In: Schule und Diakonie, 57-60; Frauen in der Diakonie. Bd. 1: Unterrichtsvorschläge für das 1. bis 6. Schuljahr. Hg. v. Adelheid M. von Hauff. Stuttgart 2006; Frauen in der Dia-konie. Bd. 2: Unterrichtsvorschläge für die Sekundarstufe I. Hg. v. Adelheid M. von Hauff. Stuttgart 2008.

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was Diakonie ausmacht – die Deutung des Handelns im christlichen Horizont –, scheinen diakonisch-soziale Lernprozesse wenig erfolgreich zu sein, was bedeu-tet, dass zentrale Lernziele nicht erreicht werden.16

Hinsichtlich der Entwicklung diakonisch-sozialen Lernens ist der Einschät-zung Gottfried Adams zuzustimmen, der mit dem Jahr 2006 und dem Erscheinen grundlegender Publikationen die Entstehungs- und Aufbruchsphase diakonisch-sozialen Lernens und damit dessen Etablierung als abgeschlossen ansieht.17 Seit-dem rückten vor allem Einzelfragen verstärkt ins Interesse ebenso wie eine Im-plementierung diakonisch-sozialen Lernens in der Praxis, nicht nur im Bereich der evangelischen Schulen.

1.2 Kennen der GeschichteZu den Standardthemen diakonisch-sozialen Lernens gehört das Kennen der Ge-schichte der Diakonie, besonders der Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland, der diakonischen Einrichtungen vor Ort sowie der Biographien diakonischer Gründergestalten. Dies soll der Vor- und Nachbereitung der Praxis-erfahrungen dienen und eine historische Orientierung ermöglichen. Die Thema-tisierung der Geschichte der Diakonie geschieht im Religions-, Geschichts- oder Diakonieunterricht.18

16  Vgl. als grundlegende empirische Untersuchung Gramzow: Diakonie sowie Hanisch u. a.: Diakonisches Lernen. Vgl. zur Diskussion solcher Befunde auch Heinz Schmidt: Dia-konische Bildung als Konstruktion von Wissen und Werten. Didaktische Anregungen aus konstruktivistischer Sicht. In: Lernen wäre eine schöne Alternative. Religionsunterricht in theologischer und erziehungswissenschaftlicher Verantwortung. FS Helmut Hanisch. Hg. v. Christoph Gramzow; Heide Liebold; Martin Sander-Gaiser. Leipzig 2008, 93-103.17  Adam: Diakonisch-soziales Lernen, 362-364.18  Vgl. dazu exemplarisch Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 10. Hg. v. Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Berlin 2007; Rainer Gronbach: Evangelisches Schulzentrum Michelbach/Bilz. Michelbacher Modell. Diakonieprofil. Lehrplanrevision 2001; Reinhart Gronbach: Kern-fach Diakonie. Das Michelbacher Modell für soziales Handeln und Lernen. In: Handbuch Integrative Religionspädagogik, 386-396; Hanisch u. a.: Diakonisches Lernen, 80-81; Vgl. die klassischen Themen, wie sie der sächsische Lehrplan für Ev. Religion am Gymnasium formuliert: Lernbereich 4: Kirche in der Zeit: „Sich positionieren zu Auftrag, Möglichkeiten und Grenzen diakonischen Handelns in Geschichte und Gegenwart“ (biblische Grundle-gung; Armut und Armenfürsorge im Mittelalter und der frühen Neuzeit, Lösungsansätze zur sozialen Frage im 19. Jahrhundert; Innere Mission, Diakonisches Werk, Caritas, Brot für die Welt) „Kennen des Lebensbildes einer Persönlichkeit aus der Geschichte der Dia-konie“ (Als Beispiele werden genannt J. H. Wichern, F.v. Bodelschwingh, Th. Fliedner, A. Kolping) sowie Wahlpflichtbereich 2: Christliche Formen alternativen Lebens, wozu Dia-konissen gezählt werden; Lehrplan Gymnasium. Evangelische Religion. Hg. v. Sächsisches Staatsministerium für Kultus. Dresden 2004, 27-28.

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20 Forschungsstand und Fragestellung

Hinsichtlich der Beschäftigung mit der Geschichte der Diakonie wurden verschie-dene Zielstellungen benannt. So dient die Auseinandersetzung mit der Diakonie-geschichte und den verschiedenen gewachsenen Modellen von Diakonie dazu, über Problemlagen der Gegenwart zu vertieften Erkenntnissen zu gelangen und Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Das Kennen der Entwicklung von Diakonie soll helfen, die Gegenwart zu verstehen und kritisch zu hinterfragen und diako-nisches Handeln zu reflektieren. Mehrheitlich verbleibt es in den Publikationen zum diakonisch-sozialen Lernen jedoch dabei, dass lediglich benannt wird, die Geschichte der Diakonie sollte Thema sein, ohne dass dies näher begründet wird.

Der Blick in die Geschichte vermag, Fehlentwicklungen im diakonischen Be-reich aufzuzeigen, dient aber im Kontext der Diakonie oft mehr als Legitimation bestehender Verhältnisse als der kritischen Reflexion. So sind im Kontext der Diakonie und des diakonisch-sozialen Lernens Argumentationen, die sich der historischen Perspektive bemühen und damit versuchen, Gegenwart zu legitimie-ren, relativ häufig zu finden.19

Grundsätzlich stellt sich die Frage nach dem Begründungszusammenhang der Thematisierung von Geschichte im diakonisch-sozialen Lernen. Bisher wur-

19  Vgl. zur historischen Dimension innerhalb des diakonisch-sozialen Lernens in chro-nologischer Reihenfolge Britta von Schubert; Hannes van Bebber: Das Caritas-Diakonie-Projekt der Jahrgangsstufe 11 an der E.v.Thadden-Schule Heidelberg. Absichten und Erfah-rungen. entwurf 3 (1995), 37-39; Britta von Schubert: Diakonie in Schule und Unterricht. In: danken und dienen. Arbeitshilfe für Verkündigung, Gemeindearbeit und Unterricht. Hg. v. Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 1998, 88-95; Gottfried Adam: Die diakonische Dimension erschließen. In: Handbuch Evangelische Schulen. Hg. v. Christoph Th. Scheilke; Martin Schreiner. Gütersloh 1999, 143-149; Gott-fried Adam: Diakonisches Lernen in Schule und Gemeinde. In: GuL 1 (2000), 68-79; Man-fred Göbel; Thorsten Moos: Grundkurs Caritas/Diakonie. Erfahrungen bei der Einführung und Erprobung eines Projekts fächerverbindenden Lernens. rhs 3 (2001), 156-159; Gron-bach: Kernfach Diakonie, 386-396; Walter: Diakonie als Bildungsinhalt und Profil einer Schule, 63-73; Renate Zitt: Diakonisch-soziales Lernen im Kontext der Hochschule. Zur Theorie und Praxis diakoniewissenschaftlicher Bildungsprozesse. In: Diakonische Kontu-ren. Theologie im Kontext sozialer Arbeit. Hg. v. Volker Herrmann; Rainer Merz; Heinz Schmidt. Heidelberg 2003, 240-254. (= VDWI, 18); Renate Zitt: Diakonische Perspektiven für theologische Bildung und Ausbildung. In: Diakonische Bildung, 194-218; Hanisch u. a.: Diakonisches Lernen, 76-170; Heinz Schmidt: Diakonisches Lernen – diakonische Bil-dung. In: Diakonisches Kompendium. Hg. v. Günter Ruddat; Gerhard K. Schäfer. Göttingen 2005, 421-438; Rupp; Knapp; Dammann: Diakonisch-soziales Lernen, Service Learning und gesellschaftliche Verantwortung, 56-68; Gronbach: Diakonisch-soziales Lernen: Ein Curriculum, 94-114; Britta von Schubert: Menschen mit Behinderungen. In: Unterwegs, 162-174; Frank Ziegler; Thomas Poreski: Obdachlosigkeit und extreme Armut. In: Un-terwegs, 175-185: 185; Kaiser: Praxis der Schulentwicklung an evangelischen Schulen, 270-288; Markus Wild: Diakonisches Lernen im Religionsunterricht. In: Unterwegs, 289-299; Arbeitskreis Diakonisches Lernen: Positionspapier, 111-119; Toaspern: Diakonisches Lernen; Gabriele Klappenecker: Religiöse Wahrnehmung und Deutung als Voraussetzung diakonisch-sozialer Bildung. Das „Michelbacher Modell“ als didaktische Herausforderung. In: Diakonie und Bildung, 389-402.

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de die Geschichte der Diakonie als wünschenswerter Inhalt lediglich benannt. Welche Aufgaben- oder Problemstellungen damit innerhalb einer Didaktik diako-nisch-sozialen Lernens verbunden sind, gilt es im Folgenden zu klären.

Um die Diakoniegeschichte innerhalb des diakonisch-sozialen Lernens auch in inhaltlicher Perspektive beleuchten zu können, kann auf Überblickswerke zurückgegriffen werden, wobei die älteren Darstellungen kritisch zu behandeln sind, da sie gegenüber der institutionalisierten Diakonie eine Legitimationsfunk-tion erfüllen und teilweise unkritisch auf die eigene Geschichte zurückblicken.20 Die überhöhenden, erbaulichen Darstellungen gehen an der Realität diakonischer Arbeit vorbei und können schwerlich als Grundlage diakonisch-sozialer Lernpro-zesse im 21. Jahrhundert fungieren. Für Einzelthemen gibt es neuere, dienliche Werke. Hinsichtlich der Materialien, die den Forschungsstand zur Diakoniege-schichte für unterrichtliche Prozesse aufarbeiten, sind noch Defizite zu verzeich-nen. So stellen z. B. die beiden von Adelheid M. von Hauff herausgegebenen Bän-de „Frauen in der Diakonie“ nur bedingt empfehlenswerte Unterrichtsvorschläge bereit.21 Eine differenzierte, multiperspektivische Sichtweise auf die Diakoniege-schichte wird in Unterrichtsmaterialien nur teilweise eingenommen.22

20  Gerhard Uhlhorn: Die christliche Liebestätigkeit. 11894; 21895 Neukirchen 1959 (Im Folgenden wird aus der Ausgabe von 1959 zitiert.) Dies stellt nach wie vor die umfassends-te Darstellung und damit das Standardwerk zur Diakoniegeschichte dar. Besondere Auf-merksamkeit wird dem 19. Jh. und der „weiblichen Diakonie“ gewidmet; Erich Beyreuther: Geschichte der Diakonie und der Inneren Mission in der Neuzeit. Berlin 11962, 31983; Heinz Vonhoff; Hans-Joachim Hofmann: Samariter der Menschheit. Christliche Barmher-zigkeit in Geschichte und Gegenwart. München 1977; Heinz Vonhoff: Geschichte der Barm-herzigkeit. 5000 Jahre Nächstenliebe Stuttgart 1987; Quellen zur Geschichte der Diakonie. Hg. v. Herbert Krimm 1960. 3 Bd.e. Neuere Darstellungen sind Die Macht der Nächstenlie-be. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998. Hg. v. Ursula Röper; Carola Jüllig. Berlin 1998; Gottfried Hammann: Die Geschichte der christlichen Diakonie. Praktizierte Nächstenliebe von der Antike bis zur Reformationszeit. Göttingen 2003. Vgl. zur Geschichte der Diakonie Kurt Nowak: Erbe und Auftrag Johann Hinrich Wicherns. Die Geschichts schreibung der Diakonie als Thema der Kirchengeschichte. In: Diakonie im geteilten Deutschland. Zur diakonischen Arbeit unter den Bedingungen der DDR und der Teilung Deutschlands. Hg. v. Ingolf Hübner; Jochen-Christoph Kaiser. Stuttgart 1999, 204-222; Gerhard K. Schäfer; Volker Herrmann: Geschichtliche Entwicklungen der Diakonie von der Alten Kirche bis zur Gegenwart im Überblick. In: Studienbuch Diakonik. Bd 1. Hg. v. Volker Herrmann; Martin Horstmann. Neukirchen-Vluyn 2006, 137-165; Bibliographie zur Geschichte der deutschen evangelischen Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Volker Herrmann; Jochen-Christoph Kaiser; Theodor Strohm. Stuttgart 1997; Vgl. dazu Norbert Friedrich: Lernen in der Diakonie – Das Beispiel Kaiserswerth. In: Diakonie und Schule, 183-190; Georg-Hinrich Hammer: Geschichte der Diakonie in Deutschland. Stutt-gart 2013.21  Es werden in dieser Auswahl nur Frauen aus dem 18. und 19. Jahrhundert in den Blick genommen, was Anfragen an den zu Grunde gelegten Diakoniebegriff stellt. Auch Stereotype werden teils aufrecht erhalten, eine stärkere Reflexion hinsichtlich des Lernens an Biographien wäre wünschenswert gewesen, vgl. Frauen in der Diakonie. 2 Bde.22  So kommt Beate Hofmann 2010 zu dem Schluss: Fliedner „gründete das erste Dia-

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22 Forschungsstand und Fragestellung

BiographienMit der Forderung, die Geschichte der Diakonie im diakonisch-sozialen Lernen zu thematisieren, ist stets verbunden, zentrale Akteure diakonischen Handelns zu kennen. Der Bedeutung von Lebensbildern innerhalb des diakonisch-sozialen Lernens ging erstmals Jörg Thierfelder im Jahr 2000 nach und brachte damit Vorbilder in die Diskussion ein.23 Er stellt dar, dass gerade über Lebensbilder Ein-blicke in Diakonie und ihre Geschichte zu gewinnen sind, der Umgang mit ihnen jedoch lange Zeit völlig unkritisch verlief und die unterrichtliche Thematisierung so gestaltet war, dass die Lernenden ein personalisierendes Geschichtsbild auf-bauten, was sie zum weiteren kritischen Handeln in ihrer Gesellschaft unfähig machte.

Thierfelder stellt heraus, wie wichtig Vorbilder sind, dass sie sich aber kei-nesfalls unterrichtlich „verordnen“ lassen. Er betont, dass Prinzipien historischen Arbeitens gerade für die Lebensbilder gelten, d. h. es gilt, Verklärung und Idea-lisierung zu vermeiden und Personen und Strukturen als interdependentes Ver-hältnis zu verstehen. Als Zielstellungen für den Unterricht mit Lebensbildern for-muliert er, dass die Lernenden Möglichkeiten und Schwierigkeiten dia konischen Engagements unter den jeweiligen Zeitumständen sehen, dass sie erkennen, wie die unterschiedlichen Zeitumstände ihre jeweiligen diakonischen Antworten brachten und dass die Lebensbilder zu eigenem sinnvollen Engagement inspirie-ren und ermutigen können.

Er fasst seine Überlegungen in folgende Empfehlungen zur Thematisierung von Lebensbildern zusammen:• Personen sind in ihren Zeitumständen darzustellen.• Makellose Vorbilder sind nicht wünschenswert. Es kann auf die kritische

Aufarbeitung der Diakoniegeschichtsschreibung zurückgegriffen werden, um Personen in ihren Stärken und ihre Schwächen darzustellen.

• Es sollten auch weniger bekannte Personen aus der Diakoniegeschichte the-matisiert werden.

• Bisher gibt es immer noch zu wenige weibliche Lebensbilder. Damit wird man den Leistungen von Frauen in der Diakonie nicht gerecht. Besonders problematisch ist zudem, dass Frauen nur unter den traditionellen Rollen des Dankens und Dienens gesehen werden.

• Zu beachten ist der regionalgeschichtliche Ansatz.24

Im Themenheft „Diakonie“ wird der Begegnung mit Menschen in der Diakonie bzw. Vorbildern sowie der Diakoniegeschichte eine besonders wichtige Rolle

konissenmutterhaus und bot Frauen damit eine Alternative zur Ehe oder zum Leben am Rande der Gesellschaft als Magd oder unverheiratetes Anhängsel der Familie. Mit den Diakonissen entstanden die professionelle Krankenpflege und ein religiös fundierter, ge-meinschaftlich ausgerichteter Frauenberuf.“ Beate Hofmann: Diakonie, eine kirchliche Stieftochter – Grundlegende Überlegungen. In: Diakonie, 7-14, 8.23  Jörg Thierfelder: Diakonisches Lernen und Lebensbilder. In: GuL 1 (2000), 4-10.24  Ebd., 9-10.

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Kennen der Geschichte 23

im Lernprozess zugesprochen. Die praktischen und theoretischen Impulse für sozial-diakonisches Lernen im Religionsunterricht rekurrieren alle auf das Ler-nen aus der Geschichte sowie von Biographien, allerdings ohne eine methodi-sche Grundlegung zu benennen.25

Gründe für die Thematisierung der Vergangenheit

Erinnern Dass die Geschichte der Diakonie einen gängigen Inhalt diakonisch-sozialen Lernens darstellt, betrifft nicht nur die Inhaltsebene. In der Theoriebildung und Praxisentwicklung diakonisch-sozialen Lernens wurde mehrfach auf die Dimen-sionen Erinnerung und Vergangenheit, die zum Christentum bzw. zur Diakonie gehören, verwiesen. Erinnern wurde neben handeln, wahrnehmen, denken und begegnen von Renate Zitt als Grundkomponente diakoniewissenschaftlicher Bil-dung benannt. Aus der Erinnerung heraus ergeben sich Aufgaben für die Gegen-wart.26

MotivationNicht nur die Dimension Erinnerung bringt die Vergangenheit ins diakonisch-soziale Lernen ein. Während Biographien einmal innerhalb der historischen Di-mension zu verorten sind – was den klassischen Lehrplanthemen entspricht –, kommen sie, ausgehend von didaktischen Überlegungen zum diakonisch-sozia-len Lernen, aus einem anderen Grund in den Blick: wegen der Motivation di-akonischen Handelns. Die Frage nach verschiedenen wirksamen Motiven und deren Bewertung, gerade auch in historischer Perspektive, stellt einen wichtigen Bezugspunkt diakonisch-sozialen Lernens dar. Aus welchen Gründen handeln Menschen diakonisch? Welche Aspekte ihrer Biographie waren prägend für die Entscheidung, diakonisch tätig zu werden? Welche Motive ergeben sich biblisch, historisch und im Alltag? In diesem Kontext begegnet in der Forschungsdiskus-sion die Forderung nach der Auseinandersetzung mit Menschen, die diakonisch handeln und deren Lebensgeschichte.27

25  Hofmann: Diakonie, 14; Matthias Montag: Einander helfen – Ein Stationenlernen zu Arbeitsfeldern der Diakonie für den 5./6. Jahrgang. In: Diakonie, 19-25: 19; Christhard Löber: Geschichte der Diakonie – Eine Zeitreise für den 7./8. Jahrgang. In: Diakonie, 25-34: 25-26; Miriam Haenig: Menschen, die die Welt bewegen – Eine Unterrichtseinheit für den 9./10. Jahrgang. In: Diakonie, 34-41.26  Vgl. dazu Noormann: Diakonisches Lernen, 11; Zitt: Diakonisch-soziales Lernen, 240, 247; Sander-Gaiser: Diakonisches Lernen, 235-259; Renate Zitt: Berufliche Bildung und Diakonie – Horizonte und Perspektiven. In: Unterwegs, 339-352.27  Vgl. dazu Helmut Hanisch: Dimensionen diakonischen Lernens. In: Schule und Dia-konie, 11-18; Heinz Schmidt: Ethik und Didaktik der Diakonie. Perspektiven für diako-nisch-soziales Lernen. In: GuL 1 (2000), 50-67; Heinz Schmidt: Gerechtigkeit und Liebe im

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24 Forschungsstand und Fragestellung

Theologische ReflexionHeinz Schmidt verweist hinsichtlich der historischen Personen in konstrukti-vistischer Lernperspektive darauf, dass Biographien sich zwar anbieten, um den Bereich von Diakonie, der über das unmittelbare praktische Tun hinaus-geht, zu erschließen.28 Dazu gehört die theologische und biblische Begründung diakonischen Handelns, was sich in der Regel erst in der Reflexion erschließt, da sich konkrete Hilfeleistungen sonst wenig unterscheiden.

Zugleich formuliert Schmidt die Aufgabe, für Biographien entsprechende Materialien und Ansätze zu entwickeln, die weniger dazu dienen, Informatio-nen zu vermitteln, sondern vielmehr Suchprozesse, Kommunikation und Refle-xion initiieren sollen.29

Stets wird betont, dass diakonisch-soziales Lernen mehr ist als soziales Ler-nen. Lernende sollen befähigt werden, die religiöse Dimension diakonischen Handelns wahrzunehmen, ein solches Handeln biblisch und theologisch zu be-gründen sowie daraus Anregungen für ihr eigenes Handeln gewinnen. In der Praxis fällt ihnen dies oft schwer, da in den diakonischen Einrichtungen meist die religiöse Orientierung nicht im Vordergrund steht. Ein wichtiges Anliegen ist daher, Schülerinnen und Schüler bei der Wahrnehmung der religiösen Di-mension zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, eigenes sowie beobachte-tes Handeln theologisch zu qualifizieren.

Die theologische Grundlegung sowie die Diskussion um ein angemessenes Verständnis von Diakonie prägte stets die Entwicklung des diakonisch-sozialen Lernens. Damit verbunden ist die Forderung, Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, Menschen kennenzulernen, die sich religiös leiten lassen und die Beweggründe diakonischen Handelns reflektieren zu lernen. Doch wie ist ein solches Anliegen didaktisch und methodisch umzusetzen, welche Spezifika erge ben sich aus der Problematik um die Gattung Biographie, wenn Individuen dergestalt in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt werden? Diesen Fragen ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nachzugehen.

Persönlichkeitsentwicklung Diakonisch-soziales Lernen wird als Persönlichkeitsbildung bzw. -entwicklung und als Beitrag zur Identitätsbildung verstanden. Damit ist diakonisch-soziales

Dienst der Versöhnung. Zum Ethos diakonischen Handelns und Lernens. In: das soziale lernen – das soziale tun, 27-38; Heinz Schmidt: Diakonisches Lernen: Grundlagen, Kon-texte, Motive und Formen. In: Diakonische Bildung, 9-28; Heinz Schmidt; Renate Zitt: Fürs Leben lernen: Diakonisches Lernen – diakonische Bildung. In: Diakonische Bildung, 56-75; Helmut Hanisch: Religion und diakonisches Handeln aus religionspädagogischer Perspek-tive. In: Diakonie und Bildung, 376-388; Rainer Merkel: Auf einem Bein kann man nicht stehen! Diakonisches Lernen durch Praxiserfahrung und Unterricht. Ausschnitte einer Un-terrichtseinheit für die Sekundarstufe II. Loccumer Pelikan 2 (2009), 85-93.28  Schmidt: Diakonische Bildung als Konstruktion von Wissen und Werten, 99-102.29  Ebd., 99.

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Lernen mehr als das Lernen von und über Diakonie. Es soll existenzielle Fragen aufwerfen, lebenspraktische Relevanz aufweisen, zum Nachdenken über Lebens-orientierungen anregen. Davon ausgehend stellt sich die Frage, wie die geforder-te Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden kann. Allgemein herrscht die Überzeugung, dass dazu andere Personen notwendig sind, denn Bildung voll-zieht sich in Gemeinschaft, und zur Persönlichkeitsentwicklung sind Impulse von anderen Menschen notwendig. Über die Beschäftigung mit den Biographien von Personen, die diakonisch handelten, sollen die Lernenden soziale und diako-nische Kompetenz erwerben.30

LerntheorienFür diakonisch-soziales Lernen stehen verschiedene lerntheoretische Modelle zur Verfügung. Am tragfähigsten und nachhaltigsten ist das Verständnis von diako-nisch-sozialem Lernen als situiertem Lernen innerhalb der community of practice als legitimate peripheral participation bzw. cognitive apprenticeship, wie dies erst-mals Helmut Hanisch, Christoph Gramzow und Siegfried Hoppe-Graff in Bezug auf Jean Lave und Etienne Wenger31 erarbeitet haben. Junge Menschen werden zur engagierten Teilhabe an einer Kultur des Helfens befähigt.32 Überträgt man das Konzept des situated learning auf das diakonische Lernen, bedeutet das, dass die Lernenden nach und nach in die Gemeinschaft der diakonisch Handelnden wachsen, als die die community of practice in diesem Fall verstanden wird. Die diakonisch tätige Gemeinschaft wird einerseits gebildet durch alle Menschen, die diakonisch tätig sind, Nächstenliebe geben und erfahren, und lässt sich anderer-seits konkretisieren durch die Institution Diakonie, die sich aus der inneren Mis-sion gebildet hat und durch ein Leitbild bzw. eine corporate identity geprägt ist.

Situiertes Lernen bedeutet, dass das Lernen stets in einer bestimmten Kultur erfolgt, in die der Lernende hineinwächst. Die Grundidee eines solchen enkultu-rierenden Lernens besteht darin, dass Lernen in einer praktisch tätigen Gemein-schaft geschieht, wobei die newcomer von den old-timern lernen. Veranschaulicht und charakterisiert wird dies durch das Lernmodell der legitimate peripheral par-ticipation, was sich an der Lehrzeit, dem Hineinwachsen in ein Berufsfeld, orien-tiert. Legitimate betrifft den Status der newcomer und meint, dass die Lernenden trotz eingeschränkter Verantwortung und Fähigkeiten als volle Mitglieder der

30  Vgl. dazu Arbeitskreis Diakonisches Lernen: Positionspapier, 111-119; Hanisch u. a.: Diakonisches Lernen, 128-132; Helmut Hanisch: Diakonisch-soziales Lernen als Impuls zur Persönlichkeitsentwicklung. In: Unterwegs, 43-55; Adam: Diakonisches Lernen in Schule und Gemeinde, 68-79; Harry Noormann: Diakonisches Lernen – eine Idee macht Schule. Überlegungen zu einer religionspädagogischen Anerkennungsdidaktik. Lernort Gemeinde 4 (2003), 52-56; Gramzow: Diakonie; Toaspern: Diakonisches Lernen, 208-209.31  Jean Lave; Etienne Wenger: Situated learning. Legitimate peripheral participation. Learning in Doing: Social, Cognitive an Computational Perspectives. New York 1991.32  Hanisch u. a., 133-141; vgl. dazu aber auch Sander-Gaiser: Diakonisches Lernen, 235-259.

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community akzeptiert sind. Zunächst ist die Mitarbeit peripher, damit aber kei-nesfalls von geringerer Relevanz, denn alle Tätigkeiten sind für das Gesamtgefü-ge wichtig. Die Lernenden übernehmen ihren Kompetenzen entsprechend zuerst kleinere Arbeiten, beobachten die old-timer und gelangen auf diese Weise von der Peripherie zu zentralen Tätigkeiten. Lernen geschieht nicht abstrakt, sondern in der konkreten Situation, durch eigenes Handeln und Beobachtung der Experten.

Die community of practice verfügt über ein gemeinsames Repertoire, was Ausdrucksweise, Artefakte, Erzählungen, Tätigkeiten, Werkzeuge auch im über-tragenen Sinne als Schlüssel zu etwas, vergangene Ereignisse, Diskurse und Konzepte beinhaltet.33 Ergänzt werden können Regeln, Deutungsmuster, Symbo-le und Rituale, die eine kollektive Identität kennzeichnen. Dieses Repertoire hat sich die community of practice in der Geschichte ihres Tätigseins erarbeitet. Die newcomer nehmen das Repertoire auf und treten damit bewusst und unbewusst in die Geschichte der Gemeinschaft ein. Die Diakonie bildet eine Erinnerungsge-meinschaft, die sich auf Grund der gemeinsamen Vergangenheit und der gemein-samen Erinnerung daran konstituiert.

Toaspern hat in seiner Systematisierung diakonischen Lernens noch auf die Modelle des Knowing what we know und des World travelling zurückgegriffen.34 Damit liegen verschiedene Ansätze vor, diakonisch-soziales Lernen lerntheore-tisch greifbar zu machen. Für alle drei Modelle zum lerntheoretischen Verständ-nis diakonisch-sozialen Lernens sind das Beobachtungslernen und das authenti-sche Lernen innerhalb der diakonisch tätigen Gemeinschaft zentral.

Lernen an Biographien – die Diskussion um Vorbilder

Es herrscht Übereinstimmung, dass moralisches und auch diakonisches Handeln durch Vorbilder sowie Lernen am Modell gelernt wird und dass innerhalb dia-konischer Bildung Vorbildern eine hohe Bedeutung zukommt.35 Für die Frage nach Vorbildern kann auf eine lebendige Forschungsdiskussion zurückgegriffen werden.

33  Toaspern, 158-164.34  Toaspern: Diakonisches Lernen, 125-188.35  Vgl. dazu Zitt: Diakonisch-soziales Lernen, 244; Schmidt: Diakonisches Lernen: Grundlagen, 23; Sander-Gaiser: Diakonisches Lernen, 255-256; Reinhard Turre: Diakonie und Bildung. In: Diakonie und Schule, 30-40; Beate Hofmann: Ist Diakonie lehrbar? In: Loccumer Pelikan. 1 (2007), 3-8; Gottfried Adam: „Wie funktioniert nachhaltige ethische Bildung?“ Überlegungen zu einigen neueren Konzepten ethischen Lernens. In: Lernen wäre eine schöne Alternative, 19-33; Roland Biewald: Den Lebenssinn selber schaffen und Vertrauen nicht missbrauchen. Werteorientierungen von Jugendlichen und der Religions-unterricht an berufsbildenden Schulen. In: Lernen wäre eine schöne Alternative, 35-48; Schmidt: Diakonische Bildung als Konstruktion von Wissen und Werten, 93-103.

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Während jahrhundertelang Vorbilder in der Pädagogik eine unhinterfragte Größe darstellten, hat sich das ab Mitte der 1960er Jahre erheblich geändert, die Krise des Vorbilds setzte ein. Vorbilder galten nun als die Verkörperung autoritärer, diktatorischer Systeme, die dazu benutzt werden, möglichst unkritisch, einseitige Haltungen oder Ideologien bis hin zum blinden Gehorsam an die nächste Genera-tion weiterzugeben.36 Noch im Jahr 2001 konstatierte Anton A. Bucher, dass das Vorbild trotz seiner respektablen Tradition „aus der Pädagogik ausgewandert“ sei.37 Doch die grundsätzlichen Funktionen von Vorbildern im Lernprozess wur-den nie wirklich angezweifelt, stattdessen der Begriff vermieden und von „Model-len“ o. ä. gesprochen.

Gegenwärtig erleben Vorbilder in der pädagogischen und fachdidaktischen Diskussion eine Renaissance und empirisch ist eine Wiederkehr der Vorbilder bei Heranwachsenden festzustellen.38 Damit geht eine veränderte Fokussierung einher: Vorbilder werden weniger als Modelle gesehen, denen es gilt, ähnlich zu werden, sondern als Personen, die Orientierungsfunktion übernehmen können und die durch ihre Biographie Anregungen für die eigene Entwicklung geben können. Auf Grund der – großteils berechtigten – Kritik an Vorbildern ist jedoch eine Neuinterpretation von Vorbildern in Auseinandersetzung mit den postulier-ten Vorwürfen notwendig.

Auch hat sich die Art und Weise, wie Heranwachsende mit Vorbildern umge-hen, verändert; statt langfristiger Orientierung an einem Vorbild werden Versatz-stücke von Biographien entsprechend der eigenen Bedürfnisse zur Orientierung genutzt. Die Generation der Heranwachsenden zeichnet sich durch einen pragma-tischen Umgang mit Vorbildern aus, sodass viele Ängste längst unbegründet sind.

Religionspädagogisch gingen hinsichtlich der Diskussion um Vorbilder vor allem wichtige Impulse von den Überlegungen Hans Mendls aus.39 Dass diese

36  Margarete Mitscherlich: Das Ende der Vorbilder. Vom Nutzen und Nachteil der Ideali-sierung. München 21980.37  Anton A. Bucher: Vorbild. In: LexRP. Bd. 2 2001, 2184-2187: 2184. Grundsätzlich ist fraglich, ob die Vorbilder wirklich völlig ausgewandert waren. Völlig diskrediert waren die Vorbilder, zumindest in der religiösen Bildung, nicht. Interessant ist auch, dass Albert Bandura seine Untersuchungen 1963 durchführte, diese im deutschsprachigen Raum ab 1973 rezipiert wurden, also zu einer Zeit, in der man sich eigentlich von Vorbildern ver-abschiedet hatte. Vgl. Albert Bandura: Die Analyse von Modellierungsprozessen. In: Al-bert Bandura: Lernen am Mo dell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart 1976, 9-76. Es spricht vieles dafür, dass man teilweise an den Vorbildern festhielt, bloß eben andere Begrifflichkeiten dafür fand.38  Jürgen Zinnecker; Imbke Behnken; Sabine Maschke; Ludwig Stecher: null zoff & voll busy. Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrtausends. Ein Selbstbild. Opladen 2003; Themenheft Vorbild-Lernen in der Diskussion rhs 5 (2002); Silvia Arzt: Werden, die ich bin. Orientierungsgestalten für Mädchen. entwurf 1 (2009), 287-294; Theresia Reischl: Heilige oder Helden. Vorbilder für die moderne Gesellschaft. MThZ 4 (2007), 336-343; Bucher: Vorbild, 2184-2187.39  Hans Mendl: Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien. Religionspädagogische An-

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Entwicklung aus dem katholischen Bereich kam, ist wenig überraschend – schei-nen doch hier, durch die viel stärkere Tradition der Heiligen, die Vorbilder nie-mals gänzlich verloren gegangen zu sein. Auch im evangelischen Bereich war die Frage nach einem Lernen von Personen aus der Kirchengeschichte ein Thema, was nie völlig aus dem Blickfeld verschwunden war.40

Doch zunächst zu den Überlegungen Mendls: Er widmet sich umfassend der Vorbild-Thematik, verwendet dafür den Begriff des Lernens an Biographien, ohne die Gattung Biographie näher zu beleuchten. Seinen Überlegungen zufolge be-steht das Ziel des Lernens an Vorbildern nicht im Nachahmen der überlieferten Handlungen, sondern in der gedanklichen Auseinandersetzung mit den Lebens-geschichten, um auf diese Weise das eigene moralische Denken und Handeln zu fördern. Um dieses ethische Lernen zu unterstützen, betont er vor allem das Potenzial der mittleren Vorbilder, also der Personengruppe, die sich zwischen den „großen“, wie den Heiligen, und den „kleinen“ Vorbildern aus dem Nahraum befinden. Um deren Biographien zugänglich zu machen, hat er deren Geschichten in einer umfangreichen Datenbank gesammelt und einen Kriterienkatalog entwi-ckelt, um für das Lernen geeignete Personen zu finden.41

Ein Grundproblem bleibt dabei, dass Mendl keine methodische Grundlage benennt, um die Biographien der Personen zu erschließen und keine kritische Auseinandersetzung mit den Überlieferungsformen geschieht. Dies passiert nur hinsichtlich des didaktischen Potenzials, wenn er z. B. benennt, dass große Perso-nen zu „erden“ sind. Aus historisch-methodischer Perspektive ist aber bereits auf der Ebene zuvor zu beginnen, also mit der kritischen Rekon struktion einer Bio-graphie auf der Grundlage der Quellen. Historisch-methodische Fragen werden kaum gestellt, und auch die Verwendung der Begriffe „Helden“ oder „Heilige“, für Personen, die ethisches Lernen anregen sollen, ist schwierig.42

regungen für die Unterrichtspraxis. Donauwörth 2005; Anton A. Bucher: Renaissance der Vorbilder? In: Vor-Bilder. Realität und Illusion. Hg. v. Heinrich Schmidinger. Graz; Wien; Köln 1996, 29-64; Vgl. grundlegend Anne Colby; William Damon: Some do care. Contem-porary Lives of Moral Commitment. New York 1994.40  Geschichtsfachdidaktisch spielen Vorbilder hingegen weniger eine Rolle, außer das be-tont wird, dass Geschichte als Strukturgeschichte zu verstehen ist, um ein personalisiertes Geschichtsbild zu vermeiden, vgl. Klaus Bergmann: Vorbilder im Geschichtsunterricht? In: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens. FS Klaus Bergmann. Hg. v. Ulrich Mayer; Hans-Jürgen Pandel; Gerhard Schneider. Schwalbach 1998, 270-280.41  Vgl. die Datenbank unter dem Titel „Local Heroes“  –  Heilige der Unscheinbarkeit, einzusehen unter <http://wwws.phil.uni-passau.de/local_heroes/> (28.03.2014). Unter verschiedenen Stichworten sind Biographien sortiert, meist wird dafür auf die mediale Berichterstattung zurückgegriffen.42  Mendls unterrichtspraktische Vorschläge bieten zwar eine Fülle interessanter metho-discher Anregungen, widersprechen zum Teil jedoch Prinzipien historischen Arbeitens, z. B. wenn Situationen in einem Leben erfunden werden sollen, weil keine geeigneten, authentischen Quellen vorliegen. Mendls Ziel, den garstigen Graben der Historie, der sich seiner Ansicht nach zwischen den Lernenden und den historischen Personen auftut, auf

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Zwar bezieht Mendl in seine Überlegungen die katholische Compassion-Initiative mit ein,43 doch lässt sich sein Ansatz nur bedingt für das diakonisch-soziale Ler-nen umsetzen, denn es ist mehr als ethisches Lernen und sollte unter den Bedin-gungen des Praxislernens hinsichtlich der Vorbilder rezipiert werden.

Der Bedeutung von Vorbildern im Religionsunterricht gingen auch die Auf-sätze im Jahrbuch der Religionspädagogik 2008 nach.44 Von zentraler Bedeutung ist der hier entwickelte Begriff der „kritisch gebrochenen Vorbilder“, den Folkert Rickers in die Diskussion einführt.45 Gesucht wird nach Erklärungen für den Vor-bild-Boom sowie das Lernen an Vorbildern. Bedürfnisse nach Orientierung und Identifikation werden besprochen. In diesem Zusammenhang kommen auch die Biographien verschiedener Christinnen und Christen in den Blick. Es wird deren didaktisches Potenzial diskutiert, wobei eine kritische Sichtweise auf die Biogra-phien, ein entheroisierter Blick auf bekannte und eher unbekannte Menschen mit ihren interessanten Lebensgeschichten gefördert wird.

Terminologische FragenEng mit der Frage nach Vorbildern verbunden, aber leider längst nicht immer im Zusammenhang gesehen, ist das Lernen an Biographien. Teils zeigen sich hier begriffliche Überschneidungen. In der Religionspädagogik hat sich dafür in den letzten Jahren der Begriff des „biographischen Lernens“ für das Lernen an Vor-bildern bzw. an Biographien eingebürgert; jüngst beispielsweise von Roland Bie-wald und Bärbel Husmann.46

Damit wurde jedoch ein bereits bestehender Begriff neu besetzt, denn ur-sprünglich bezog sich der Begriff des „biographischen Lernens“ auf die sog. Biographiearbeit, bei der nicht fremde Biographien, sondern die eigene im Mit-telpunkt der Betrachtung steht. Die Biographiearbeit kommt aus den Sozialwis-senschaften und fand Verwendung in den Erziehungswissenschaften. Gemeint ist das bewusste Einbringen der eigenen Biographie in Bildungsprozesse, was mit historischem Arbeiten, wie der historischen Biographik, oder dem Lernen

didaktischer Ebene zu überwinden, indem z. B. gezielt nach „Fehlern“ Heiliger gesucht wird, stellt sich innerhalb des diakonisch-sozialen Lernens nicht in selber Weise. Durch den Lernkontext begegnen die jungen Menschen den Personen aus Geschichte und Gegen-wart, ohne dass künstlich eine Präsenz geschaffen werden muss.43  Mendl: Lernen, 68-69.44  Vgl. dazu Sehnsucht nach Orientierung. Vorbilder im Religionsunterricht. JRP 24. Neukirchen-Vluyn 2008.45  Folkert Rickers: „Kritisch gebrochene Vorbilder“ in der religiösen Erziehung. In: Sehn-sucht nach Orientierung, 213-240.46  Adam: „Wie funktioniert“, 23-25; Frauen und Männer in der Bibel. Impulse für bio-grafisches Lernen im Religionsunterricht. Hg. v. Roland Biewald; Bärbel Husmann. Leipzig 2009. (= Themenhefte Religion, 7). Auch Lindner verwendet den Begriff des biographi-schen Lernens für das Lernen an Biographien, Konstantin Lindner: In Kirchengeschich-te verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchenge-schichtlicher Inhalte im Religionsunterricht. Göttingen 2007. (= ARP, 31)

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an Biographien wenig zu tun hat. Vor allem in der Erwachsenenbildung sowie in der Arbeit mit älteren Menschen wird dieses Konzept verwendet.47 Es ist schwierig, diesen nun schon besetzten Begriff religionspädagogisch zu nutzen, ohne dessen Vorgeschichte zu reflektieren, denn somit koppelt sich die Reli-gionspädagogik von einer bereits etablierten Forschungsrichtung ab. Es wird sich zeigen, ob sich der Begriff des „biographischen Lernens“ in seiner Neuin-terpretation durchsetzt. Zumindest sollte die unkritische Verwendung vermie-den und stattdessen dem Begriff „Lernen an Biographien“ der Vorzug gegeben werden.

Biographien innerhalb der religiösen BildungFür das Thema Biographien in religiösen Bildungsprozessen kann auf die Vorar-beiten von Christiane Looks sowie Konstantin Lindner zurückgegriffen werden. Looks bearbeitete Anfang der 1990er Jahre das Thema Biographien im Religions-unterricht.48 Sie geht dem Thema in historischer Perspektive nach und bezieht auch zu ihrer Zeit neue Ansätze (oral history, Biographieforschung). Sie betont vor allem den Beitrag der Biographien zur Identitätsbildung. Dafür arbeitet sie mit Fallbeispielen und plädiert für den Einsatz von Bio graphien der „kleinen Leute“. Den biographischen Ansatz in der Religionspädagogik hatte zuvor schon Peter Biehl verfolgt, auf dessen Thesen Looks Argumentation aufbaut.49 Dabei geht es jedoch nicht nur um ein Lernen an Biographien, sondern auch um die Biographie als Ausgangspunkt (sowie als Inhalt) religiösen Lernens.

Konstantin Lindner widmete sich im Bereich der katholischen Religionspä-dagogik der Frage nach Biographien im Religionsunterricht.50 Er bettet seine Darstellung in die Kirchengeschichtsdidaktik ein, denn er fragt hinsichtlich der Biographien nach deren Aussichten, einen subjektorientierten Zugang zur Kir-chengeschichte zu ermöglichen. Ihm kommt das Verdienst zu, den Gegenstand Biographien biographietheoretisch und religionspädagogisch erschlossen zu haben. Das zunehmende Interesse an Biographien führt Lindner u.  a. darauf

47  Vgl. Werner Fuchs-Heinritz: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Wiesbaden 42009.48  Christiane Looks: Biographien als Gegenstand von Religionsunterricht. Frankfurt am Main; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien 1993 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 11: Pädagogik Bd. 535) 49  Der biographische Ansatz in der Religionspädagogik. In: Religion und Biographie. Perspektiven zur gelebten Religion. Hg. v. Albrecht Grözinger; Henning Luther. München 1987, 272-296.50  Lindner: Verstrickt.Ebenfalls aus der katholischen Religionspädagogik stammt die Untersuchung von Karoli-ne Kuhn zum Lernen an fremden Biographien, die auf die Wirksamkeit eines personalen Lernprozesses ausgerichtet ist, ohne dabei die Gattung „Biographie“ und die damit einher-gehenden Diskussionen wahrzunehmen. Karoline Kuhn: An fremden Biographien lernen! Ein religionspädagogischer Beitrag zur Unterrichtsforschung. Berlin; Münster 2010. (= Empirische Theologie, 21)

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zurück, dass biographische Zugänge Deutungsmuster anbieten, um eigene Le-benserfahrungen zu reflektieren.51

Das große Potenzial von Biographien sieht er vor allem darin, dass sie die jungen Menschen in ihrer Subjektwerdung unterstützen. Er plädiert für biogra-phisch akzentuierte Zugänge zur Kirchengeschichte, da die Lernenden angeregt werden, sich intensiv, selbstreflexiv und kritisch-diskursiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, ohne dass sie zu einem Nachahmungslernen verpflichtet werden.52 Er betont die Vorteile eines Lernens an Biographien: Den Biographien wohnt durch ihre Anschaulichkeit, auch erzeugt durch die narrative Grundstruk-tur, ein hohes motivationales Potenzial inne. Ihr Lebensbezug lädt zur Auseinan-dersetzung ein, Bezüge zur eigenen Biographie können hergestellt und auf diese Weise die Subjektwerdung der Lernenden unterstützt werden. Das lernende Sub-jekt setzt wiederum dem Lernen an Biographien Grenzen, denn es besitzt die Freiheit, sich selbst in Bezug zu setzen oder auch nicht.53

Lindner reflektiert die Biographien vornehmlich als Zugang zur Kirchenge-schichte und wehrt sich gegen einen Zugriff rein unter dem Aspekt des Vorbild-lernens. Im Kontext des diakonisch-sozialen Lernens sind jedoch das Lernen an Biographien und das Lernen durch Vorbilder zusammenzudenken. Zudem ergibt sich die Aufgabe, die Rekonstruktion von Biographien und die dabei existieren-den Lernmöglichkeiten gemeinsam hinsichtlich der Umsetzung zu diskutieren. Diese Schritte vollzieht Lindner nicht.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Forschungsdiskussion kon-zentriert sich bei Vorbildern auf ethisches Lernen und bei Biographien auf das Lernen von Kirchengeschichte. Für das diakonisch-soziale Lernen sind beide Aspekte miteinander zu verbinden. Als grundlegender dritter Gesichtspunkt kommt noch hinzu, dass durch das Lernen in der Gemeinschaft mit Personen, die diakonisch handeln, diakonische Kompetenzen, die sich in bestimmtem Ver-halten äußern, gelernt werden sollen. Allen drei Perspektiven wird in der Arbeit nachgegangen.

Diakonisch-soziales Lernen und der Gender-Aspekt

Der Gender-Aspekt diakonisch-sozialen Lernens wurde bisher nur am Rande betrachtet und zumeist lediglich festgestellt, dass Mädchen und Jungen un-terschiedlich lernen. Uta Hallwirth verwies darauf, dass der Geschlechter-Perspektive innerhalb diakonisch-sozialer Lernprozesse in Zukunft mehr Beachtung zu schenken sei und Beate Hofmann betont, dass es sinnvoll ist,

51  Lindner: Verstrickt, 34-35.52  Ebd., 116-117.53  Ebd., 302-303.

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genderspezifisch vorzugehen. 54 Diese Forderungen sind sowohl hinsichtlich der Lernenden als auch bezogen auf die Inhalte diakonisch-sozialen Lernens zu sehen.

Auf der Inhaltsebene war Thierfelders Verweis auf die Leistungen von Frau-en in der Diakonie, die bisher noch zu wenig Würdigung fanden, wichtig. Dies hat sich in den letzten Jahren in der Diakoniegeschichtsschreibung geändert. Neben den Darstellungen traditionellen Typus’ sind innovative Ansätze verfolgt worden, die sich dem Handeln von Frauen in der institutionalisierten Diakonie widmen, sodass gute Einzeldarstellungen genutzt werden können.55 Auch dabei zeigt sich, wie nur teilweise quellenbasiert und kritisch gegenüber der Rezepti-onsgeschichte gearbeitet wird.56

54  Vgl. Gramzow: Diakonie; Göbel; Moos: Grundkurs Caritas/Diakonie, 156-159; Com-passion – Sozialverpflichtetes Lernen und Handeln. Hg. v. Lothar Kuld; Stefan Gönnhei-mer. Stuttgart; Berlin; Köln 2000; Lothar Kuld: Dimensionen der Compassion-Initiative. In: Compassion. Weltprogramm des Christentums, 89-94: 92; Hallwirth: Modelle diakonisch-sozialen Lernens, 191-210; Hofmann: Ist Diakonie lehrbar?, 3-8; Heidrun Dierk: (De-)Kon-struktionen des Weiblichen und Männlichen. Die Mutterhaus-Diakonie als Beitrag und Ausdruck von Vergeschlechtlichung weiblicher Berufsarbeit und Implikationen der Femi-nisierung der Pflege bis in die Gegenwart. In: Diakonie und Bildung, 140-155; Modelle diakonisch-sozialen Lernens, 21-23; Hofmann: Diakonie, 14.55  Zu den innovativen Ansätzen, die auch unter der Geschlechter-Perspektive arbei-ten, gehören: Christoph Sachße: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871 bis 1929. Weinheim; Basel; Berlin 2003. (= Kasseler Studien zur Sozialpolitik und Sozialpädagogik, 1); Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft. Hg. v. Ute Gause; Cordula Lissner. Leipig 2004 (= HtGf, 1); Ute Gause: Dienst und Demut – Diakoniegeschichte als Geschichte christlicher Frauenbilder. In: Soziale Rollen von Frauen in Religionsgemeinschaften. Ein Forschungsbericht. Hg. v. Siri Fuhrmann; Erich Geldbach; Irmgard Pahl. Münster 2003, 65-88. (= Theologische Frauenforschung in Europa, 12); Renate Zitt: Evangelische Frauen-hilfe als diakonisches Modell. Forschungsfragen und methodische Forderungen. In: Starke, fromme Frauen? Eine Zwischenbilanz konfessioneller Frauenforschung heute. Hg. v. Uta Gause; Barbara Heller; Jochen Christoph Kaiser. Hofgeismar 2000, 101-114. (= Hofgeis-marer Protokolle, 320); Silke Köser: Friederike Fliedner als Leitbild der Kaiserswerther Frauendiakonie. In: Starke, fromme Frauen, 138-143; Ursula Schoen: „Dienen will ich“. Kritische Reflexionen zum Verständnis und zur Bedeutung des weiblichen Dienstbegriffs in der Diakonie. In: Starke, fromme Frauen?, 159-169; Susanne Kreutzer: Vom „Liebes-dienst“ zum modernen Frauenberuf. Die Reform der Krankenpflege nach 1945. Frankfurt; New York 2005. (= Geschichte und Geschlechter, 45); Silke Köser: Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein. Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836-1914. Leipzig 2006. (= HtGf, 2); Ökonomie der Hoffnung. Impulse zum 200. Geburtstag von Theodor und Friederike Fliedner. Hg. v. Cornelia Coenen-Marx. Breklum 2001.56  Teils überkommene Tradierungen werden bei den biograpischen Einzeldarstellungen übernommen in: Frauen gestalten Diakonie. Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietis-mus. Hg. v. Adelheid M. von Hauff. Stuttgart 2007; Frauen gestalten Diakonie. Bd. 2: Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Adelheid M. von Hauff. Stuttgart 2006. Eine Darstel-lung neuerer Zeit, die zum Teil alte „Ideale“ noch vertreten werden, ist beispielsweise Peter

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Auch bezüglich der Lernvoraussetzungen ergeben sich im diakonisch-sozialen Lernen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Mädchen sind für einen diakonisch-sozialen Lernbereich ansprechbarer, nehmen eher daran teil, profi-tieren davon aber hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsentwicklung nicht im selben Maße wie die Jungen, die sich für das Diakonie-Profil entschieden haben.57 Die erschreckenden Befunde können als das Ergebnis des Weiterwirkens von Stereo-typen des über Jahrhunderte hinweg als weiblich besetzten Liebesdienstes inter-pretiert werden und erfordern ein kritisches Aufbrechen.

Innerhalb der sozialen Arbeit wurde der Gender-Aspekt mehrfach beleuchtet. Das ist nicht zuletzt bedingt durch den Mangel an geeigneten Arbeitskräften, sodass vermehrt versucht wird, junge Männer für soziale Berufsfelder zu gewin-nen. Dass der Gender-Aspekt eng mit der Frage nach geeigneten Vorbildern, die demselben Geschlecht angehören, verbunden ist, zeigt sich immer wieder in der pädagogischen Diskussion. Oft zu hören ist auch die Klage darüber, dass vor al-lem in der feminisierten Bildungslandschaft geeignete männliche Vorbilder für Jungen fehlen.58

Resümee

Das diakonisch-soziale Lernen profitiert in hohem Maße davon, dass es ein Kon-zept ist, das seine Anfänge und damit auch seinen Bezugspunkt in der Praxis hat. Förderlich waren die begleitenden empirischen Untersuchungen. Meist werden neue fachdidaktische Ansätze ausgehend von beobachteten Problemlagen oder neuen Erkenntnissen in der Theorie erdacht und es dauert lange, bis sie tatsäch-lich Einzug in die Praxis finden und einer Evaluierung unterzogen werden. Das hat zur Folge, dass relativ unklar bleibt, wie ein Ansatz tatsächlich umgesetzt und die fokussierte Zielsetzung erreicht wird. Dagegen gibt es zum diakonischen Ler-nen zahlreiche Erlebnisberichte, jahrelange Erfahrung mit der Umsetzung sowie die empirische Evaluation der Praxis – und das begleitend und einflussnehmend

Zimmerling: Starke, fromme Frauen. Begegnungen mit Erdmuthe von Zinzendorf, Juliane von Krüdener, Anna Schallter, Friederike Fliedner, Dora Rappard, Eva von Tiele-Winckler, Ruth von Kleist-Retzow. Gießen 1996. Vgl. zur unterrichtlichen Implementierung des The-mas Frauen in der Diakonie: Zöckler: Ein Unterrichtsbeispiel zum Thema „Frauen in Kir-che und Diakonie“; Frauen in der Diakonie. 2 Bde. Als schwierig ist die für beide Bände getroffene Auswahl an diakonisch tätigen Frauen zu bewerten. Es sind nur Frauen aus dem 18. bis ins erste Drittel des 20. Jh. gewählt worden. Keine der biblischen, mittelalterlichen oder zeithistorischen Frauen aus der Diakoniegeschichte kommt ins Blickfeld der unter-richtlichen Betrachtung. Unterrichtsmaterialien, die diakonisch handelnde Menschen aus allen Zeiten in den Blick nehmen, stellen also nach wie vor ein Desiderat dar. 57  Gramzow: Diakonie, 209. 58  Vgl. exemplarisch Annette Scheunpflug: Zukunftsaufgaben Evangelischer Schulen. In: Evangelischer Schultag 2003. Zukunftsaufgaben Evangelischer Schulen. Hg. v. Wolfgang Storim. Nürnberg 2004, 20-31: 25.

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34 Forschungsstand und Fragestellung

zur Weiterentwicklung der Konzeption. Dadurch offenbarten sich Problemstellun-gen, wie das unterschiedliche Lernen von Jungen und Mädchen und die fehlende Wahrnehmbarkeit des Diakonischen im diakonisch-sozialen Lernen.

Offene Befunde: Lernen an Biographien innerhalb des diakonisch-sozialen Lernens

Ausgehend vom Forschungsstand diakonisch-sozialen Lernens ergibt sich fol-gende Aufgabenstellung. Vergangenheit und Erinnerung bilden eine Dimension diakonisch-sozialen Lernen. Indem das Lernen an Biographien im diakonisch-so-zialen Lernen verfolgt wird, wird gängigen Lehrplaninhalten aus Religions- und Geschichtsunterricht nachgegangen sowie ein Ansatz entwickelt, wie das Lernen innerhalb der Praxisauf das schulische Lernen erweitert werden kann. Es liegen empirische Daten vor, die hinsichtlich des diakonisch-sozialen Lernens zu disku-tieren und die bezüglich der beobachteten Unterschiede, die sich bei Mädchen und Jungen im diakonisch-sozialen Lernen zeigen, zu klären sind.

Ebenso ergibt sich aus der Evaluierung der Praxis Klärungsbedarf hinsicht-lich der theologischen Dimension diakonisch-sozialen Lernens.59 Wie kann es ge-lingen, dass die Theologie sich stärker im diakonisch-sozialen Lernen realisiert und wie kann dies unterstützt werden? Innerhalb der Forschungsdiskussion wird die Bedeutung, die dem theologischen Profil diakonisch-sozialen Lernens zukommt, stark betont – offen bleibt, wie dies in der Praxis eingebracht werden kann.

Es gilt, einen Weg zu finden, das theologische Profil diakonischen Handelns zu schärfen, ohne dass die Lernenden im Unterricht eine religiöse Interpretati-on erleben, von der sie in der diakonischen Praxis nichts bemerken können. In diesem Zusammenhang ist danach zu fragen, von welchen Motiven soziales und diakonisches Handeln bestimmt und wie sich dabei religiöse und humane Motive zueinander verhalten.60

Im Anschluss an Thierfelder ergeben sich folgende offene Themen. Es ist der Bezug zum diakonisch-sozialen Lernen herzustellen, denn Thierfelder betrach-tet die Lebensbilder nur als Teil des Unterrichts über Diakonie, was ein infor-mierender Unterricht wäre, ohne dass die Spezifika diakonisch-sozialen Lernens aufgegriffen werden. Ebenso bleibt offen, wie ein methodischer Umgang ausse-hen sollte, wie sich das Lernen an Vorbildern, Biographien oder Lebensbildern vollzieht und wie sich dieses in ein Lernen innerhalb diakonisch-sozialer Lern-prozesse einfügt. Genauere Kriterien, warum eine Person überhaupt innerhalb des Unterrichts über Diakonie besprochen werden sollte, werden nicht benannt.

59  Gramzow: Diakonie, 209.60  Vgl. dazu Gerd Theißen: Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimitätskreise des Helfens und der barmherzige Samariter. In: Studienbuch Diakonik. Bd. 1, 88-116.

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Kennen der Geschichte 35

Allein, dass eine Person weniger bekannt oder weiblichen Geschlechts ist, und sie deswegen in der Geschichtsschreibung marginalisiert wurde, stellt noch kein Kriterium dar – hier ist nach einer sinnvolleren Begründung zu suchen.

Des Weiteren ist nach der Verortung von Biographien innerhalb des diako-nisch-sozialen Lernens, verstanden als situiertes Lernen, zu fragen. Die gängige Forschungsmeinung sieht die Geschichte der Diakonie sowie das Kennen von Le-bensbildern in der für diakonisch-soziales Lernen erforderlichen Fachkompetenz als Sachwissen. Ob diese Betrachtungsweise ausreichend ist, ist kritisch zu prü-fen.

Diakonisch-soziales Lernen unterscheidet sich vom klassischen schulischen Lernen und auch die Form, in der Inhalte begegnen, ist eine andere. Diese Gege-benheiten sind zu reflektieren, und es ist danach zu fragen, was dies nun für ein Lernen an und mit Biographien bedeutet. Eine Reflexion des Lernens an Biogra-phien vor dem Hintergrund des situierten Lernens steht also noch aus. Bisher findet sich nur die Forderung danach, Biographien zu thematisieren. Wie dies geschieht, ist noch offen. Es gilt, eine angemessene Methodik zu finden, um his-torische Vorbilder zugänglich zu machen. Sinnvoll ist es, sich dafür der Gattung Biographie, als der Form in der die Überlieferungen zu Vorbildern begegnen, in historisch-methodischer Perspektive zu widmen, zumal diese nicht unumstritten ist und methodische Schwierigkeiten damit einhergehen. In diesem Zusammen-hang ist eine Klärung der Begriffe, die regelmäßig Verwendung finden, notwen-dig.

In diesem Zusammenhang ist der Diskussion um Vorbilder nachzugehen. Dabei soll die Frage nach Vorbildern sowie die Diskussion um das Lernen an Biographien stärker zusammengedacht werden, um damit eine Vernetzung von kirchengeschichtlichem und ethischem Lernen zu erreichen. Denn die Biogra-phien sind zu verstehen als Zugang zur Geschichte der Diakonie, aber auch als Modelle diakonisch-sozialen Handelns. Es stellt sich die Aufgabe, die erhobenen Forderungen, z. B. nach regionalen Vorbildern, tatsächlich umzusetzen.

Untersuchungsabsichten und Vorgehen

Den offenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit in folgender Weise: Es werden Biographien rekonstruiert und hinsichtlich ihrer Bedeutung für das dia-konisch-soziale Lernen befragt werden. Wenn die Diakoniegeschichte in den Blick kommt, heißt das, dass nach einer Begründung der Dimension Vergangenheit im diakonisch-sozialen Lernen zu suchen ist. Warum sollte die Diakoniegeschichte Inhalt diakonisch-sozialen Lernens sein? Wie trägt diese Perspektive dazu bei, dass junge Menschen diakonisch handeln? Angesichts der vielen Themen, die sich im diakonisch-sozialen Lernen anbieten, ist es notwendig zu begründen, wa-rum Kirchen- bzw. Diakoniegeschichte Inhalt diakonisch-sozialer Lernprozesse sein sollte.

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36 Forschungsstand und Fragestellung

Dazu kann auf die Konzepte von Erinnerung und Gedächtnis, wie sie Kultur prä-gen und Gemeinschaft konstituieren, zurückgegriffen werden. Um umfänglich die Vergangenheit erfassen zu können, bietet es sich an, Biographien aus ver-schiedenen Epochen und damit aus unterschiedlichen Kontexten zu wählen.

Hinsichtlich der Diakoniegeschichtsschreibung ergibt sich das Erfordernis, diese im Blick auf die Geschichte der handelnden Frauen aufzuarbeiten. Es er-scheint lohnenswert, einzelne Biographien kritisch zu rekonstruieren und Kon-struktions-, Tradierungs- und Rezeptionsprozesse, die mit den Biographien ver-bunden sind, aufzuzeigen. Dies geschieht exemplarisch an den Biographien von Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa. Die Biographi-en dieser Personen werden im Blick auf ihr diakonisches Handeln thematisiert, sollen aber auf Grund ihrer Zeit- und Kontextgebundenheit nicht miteinander verglichen werden. Dies würde dem Lernen an Biographien nicht entsprechen.

Vor dem Hintergrund des diakonisch-sozialen Lernens fand noch keine kri-tische Auseinandersetzung mit der Überlieferungsgeschichte statt. Dabei wirkt sich – so eine zentrale These, die in der vorliegenden Arbeit gewonnen werden konnte – die Überladung von diakonischer und sozialer Arbeit mit Stereotypen bis heute auf das Lernen aus. Weiterwirkende Stereotype sind daher zu identifi-zieren und kritisch aufzubrechen. Es stellt sich zudem die Frage, was dies für die Gestaltung diakonischen Lernens bedeutet.

Der Frage nach der Geschichte der Diakonie und der darin handelnden Perso-nen wird dabei auf mehreren Ebenen nachgegangen: in der inhaltlichen, der er-innernden, der religiösen und der motivationalen Perspektive. Inhaltlich sind die Diakoniegeschichte sowie die jeweiligen Biographien kritisch zu rekonstruieren. In der Perspektive der Erinnerung ist nach der Verortung von Themen innerhalb der Diakonie zu fragen und vor allem, wie Rezeptions- und Traditionsprozesse, unter welchen Zielstellungen stattfinden. In religiöser und motivationaler Hinsicht ist nach den Überzeugungen, den Glaubenseinstellungen, den Haltungen und Hand lungsmotiven von Personen aus der Diakoniegeschichte zu fragen.

Das Ziel besteht darin, das Lernen an Biographien umfänglich unter den Bedingungen des diakonisch-sozialen Lernens zu reflektieren und damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes zu leisten, gerade auch in dessen schulpädagogischer Perspektive.

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2 Geschichte als Dimension des diakonisch-sozialen Lernens

Im vorangegangenen Kapitel wurde ersichtlich, dass die Geschichte der Diakonie und die in ihr handelnden Personen einen wichtigen Inhalt diakonisch-sozialen Lernens darstellen. Die Begründung ergibt sich ausgehend vom Verständnis diakonischen Lernens als Hineinwachsen in die diakonische Gemeinschaft: die diakonische Gemeinschaft gewinnt durch ihr kulturelles und kommunikatives Gedächtnis, also im Blick auf die Vergangenheit, an Identität. Heranwachsende sollen an dieser Identität teilhaben, um dies in ihr Selbstbild integrieren zu kön-nen und zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen beizutragen.

Wird die Gemeinschaft der diakonisch Handelnden als Erinnerungsgemein-schaft aufgefasst und sich damit der Frage nach der historischen Dimension in-nerhalb des diakonisch-sozialen Lernens aus geschichtswissenschaftlicher bzw. erinnerungstheoretischer Perspektive genähert, so kommt die individuelle und die kollektive Identität in den Blick. Das erweitert das Blickfeld und verhindert die vorschnelle Funktionalisierung von Geschichte allein unter der Frage, was man nun daraus lernen kann und trägt zur umfassenden Begründung der histori-schen Dimension innerhalb des diakonisch-sozialen Lernens bei.

Gesucht werden soll zudem nach einer Verbindung zwischen diakonisch-sozialem Lernen innerhalb der diakonischen Gemeinschaft und dem Lernen in der Schule. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass Geschichte alle Bereiche diakonisch-sozialen Lernens durchdringt.

Für die Geschichte innerhalb des diakonischen Lernens wird der Begriff der „historischen Dimension“ eingeführt. Danach werden die identitätsstiftenden Funktionen, die dem Blick auf die Vergangenheit zukommen, geschildert und dies anhand des Umgangs der diakonischen Erinnerungsgemeinschaft mit Le-bensbildern vertieft. Diakonie wird von und mit anderen Menschen gelernt. Um diesen Prozess erschließen zu können, werden die Gattung Biographie und damit verbundene methodische Erfordernisse geklärt, bevor das Lernen an Biographien ins Blickfeld rückt.

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38 Geschichte als Dimension des diakonisch-sozialen Lernens

2.1 Begriff „historische Dimension“Die Verwendung des Begriffs historische Dimension geschieht im Rückgriff auf die drei durch Toaspern formulierten Dimensionen des diakonisch-sozialen Ler-nens: die fachliche, die soziale und die theologische Dimension. Die Diakonie-geschichte ist nach seiner Systematisierung Teil der fachlichen Dimension und dient dem vertieften Verstehen gegenwärtiger diakonischer Arbeit.61

Es bietet sich an, von der historischen Dimension zu sprechen, da darin zum Ausdruck kommt, dass die Vergangenheit nicht nur eines von vielen verschie-denen Themen, die im diakonisch-sozialen Lernen behandelt werden, darstellt, sondern einen elementaren, konstituierenden Bestandteil bildet. Der Begriff zeigt an, dass alle Themen in historischer Perspektive betrachtet werden können, die historische Dimension also alle Bereiche diakonischen Lernens durchdringt.

Von der Vielfalt diakonischer Initiativen in der Gegenwart kann nach deren Geschichte, Traditionen oder ähnlichen Entwicklungen in der Vergangenheit ge-fragt werden, sodass der Begriff „historische Dimension“ die Pluralität tätiger Nächstenliebe in Geschichte und Gegenwart aufzeigt. Außerdem wirkt der Begriff historische Dimension weniger festgelegt auf die institutionalisierte Diakonie als der Begriff „Diakoniegeschichte“. Indem mit „historischer Dimension“ ein neuer Begriff eingeführt wird, verbindet sich damit die Hoffnung auf eine Neuinter-pretation der Geschichte diakonischen Handelns als das Handeln von einzelnen sowie von Gruppen, zu verschiedenen Zeiten und Orten in unterschiedlichem Ausmaß.

Indem eine erweiterte Perspektive auf das Feld Vergangenheit eingenommen wird, ist zu klären, weshalb die historische Dimension Fundament diakonisch-sozialen Lernens ist.

2.2 Identität und GedächtnisDiakonisches Lernen heißt nicht nur, dass gelernt wird, was Diakonie ist oder wie man diakonisch handeln könnte. Leitend ist ein theoretisches Verständnis von diakonisch-sozialem Lernen als Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung, so-dass diakonisch gehandelt wird, um dem entwickelten Selbstbild zu entsprechen. Diese Entwicklung des Individuums ist eingebettet in eine soziale Gemeinschaft, die ebenso wie das Individuum über eine Identität verfügt, die sich im Blick auf die Komponenten Gegenwart und Zukunft in Erinnerung an die Vergangenheit bildet.

61  Toaspern: Diakonisches Lernen, 208-209. Der Systematisierung von Hanisch u. a. folgend wird deutlich, dass die Ge schichte einen Bereich des diakonisch-sozialen Ler-nens bildet und zur diakonischen Profilierung gehört, wodurch wiederum Wechselwir-kungen mit der professio nellen Orientierung, den diakonischen Institutionen und der Persönlichkeitsent wicklung zu erwarten sind. Hanisch u. a. Diakonisches Lernen, 152.

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Identität und Gedächtnis 39

Identität lässt sich in Ich-Identität und kollektive Identität differenzieren. Kollek-tive Identität ist die

„Eigenschaft und Fähigkeit von Gruppen, sich im zeitlichen Wandel ohne Einbuße an in-nerer und äußerer Glaubwürdigkeit zu behaupten und zugleich zu ändern […] ungeachtet aller Unterschiedlichkeiten der sie tragenden Individuen in der Anerkennung gemeinsa-mer Vorstellungen über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft durch die in ihr zusam-mengeschlossenen und an sie gebundenen Personen.“62

Dieses historische Selbstverständnis kann auch als historische Identität bezeich-net werden. Geschichte ist für Gruppen wie für Individuen identitätsstiftend.63 Wobei zur Ich-Identität immer die historische Identität der Gruppen gehört, derer man sich zugehörig fühlt. Identität heißt, sich in der Zeit orientieren und ein Be-wusstsein seiner selbst entwerfen zu können.64

Identität entsteht durch Erinnerungen an eigene Erfahrungen oder die einer Gruppe. Identitäten kann jeweils ihr Gedächtnis zugeordnet werden, wodurch sich die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen konstituiert. Menschen defi-nieren sich über gemeinsames Vergessen und Erinnern und sie brauchen ihr Ge-dächtnis, um Identität aufzubauen, zu bewahren und ggf. zu verändern.65

Den Lebenswelten und Zeithorizonten entsprechend kann man drei Identitä-ten unterscheiden: das innerste Selbst, die soziale Person, die durch Interaktion mit anderen Menschen entsteht, und die kulturelle Identität, die durch Erziehung und Bildung erworben wird.66 Der Begriff innerstes Selbst kann durch den oben verwendeten Begriff der Ich-Identität ersetzt und für die soziale Person der Be-griff der sozialen Identität verwendet werden. Hier zeigt sich, dass die Konzepte der historischen Identität und der Gedächtnisformen dasselbe veranschaulichen.

Alle drei Identitäten sind für das diakonisch-soziale Lernen bedeutsam. Die Ich-Identität betrifft das Selbstbild der Lernenden, welches die Motivation be-stimmt. Sie wird im diakonisch-sozialen Lernen durch die vielfältigen Erfahrun-gen, die für die Lernenden möglich sind, und das Wechseln zwischen den „Welten“ gestützt. Ebenso erwerben die Schülerinnen und Schüler die historische Identität, wenn sie teilhaben am Lernen in der Gemeinschaft, sie sich der Gemeinschaft zu-gehörig fühlen sowie die gemeinsamen Vorstellungen und Ideale teilen. Im Unter-

62  Klaus Bergmann: Identität. In: Handbuch der Geschichtsdidaktik. Hg. v. Klaus Berg-mann; Klaus Fröhlich; Annette Kuhn; Jörn Rüsen; Gerhard Schneider. Seelze-Velber 51997, 23-29: 23.63  Etienne François; Hagen Schulze: Einleitung. In: Deutsche Erinnerungsorte. München 2003, 9-24: 13.64  Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. In: Erinnerung. Dokumentation einer Ver-anstaltung der UNESCO-Stätten im Raum Dessau-Wittenberg. Hg. v. Biosphärenreservat Mittelelbe; Kul turstiftung Dessau-Wörlitz; Stiftung Bauhaus Dessau; Stiftung Lutherge-denkstätten in Sachsen-Anhalt. Dessau 2007, 66-85: 73.65  Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ge-dächtnisses. München 32006, 62; Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 66-85.66  Ebd., 67-68.

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40 Geschichte als Dimension des diakonisch-sozialen Lernens

richt gilt es, ablaufende Identitätsbildungsprozesse sowie die daraus resultieren-den Zugehörigkeitsgefühle bewusst zu machen, indem die ansonsten unbewusst und beiläufig ablaufenden Prozesse reflektiert werden. Dazu gehört, dass über Identität und Fragen, wie ein Individuum sich entwickelt, wie es sich selbst sieht, gesprochen wird. Das diakonisch-soziale Lernen bietet Raum für solche Themen.

Die soziale Identität entsteht durch die zunehmende Partizipation in der dia-konischen Gemeinschaft, und die kulturelle Identität wird geprägt durch die Er-innerungsgemeinschaft der Diakonie.

Den Identitäten entsprechend lassen sich drei Gedächtnisformen unterschei-den, das innere bzw. individuelle Gedächtnis, das soziale bzw. kommunikative Gedächtnis sowie das kulturelle Gedächtnis. Das individuelle Gedächtnis bein-haltet alle individuellen Erinnerungen des Individuums, umschließt demzufolge eine Lebensspanne. Das kommunikative Gedächtnis ist das Kurzzeitgedächtnis einer Gesellschaft und umfasst im Allgemeinen die Zeitspanne von drei Genera-tionen. Das kulturelle Gedächtnis ist das Langzeitgedächtnis, das in Symbolen ausgelagert ist und Jahrtausende umfassen kann.

In der community of practice werden Geschichten erzählt und bewahrt. Diese Geschichten gehören teilweise zum kommunikativen Gedächtnis und zum ande-ren Teil zum kulturellen Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis speichert die Erfahrungen der Mitarbeiter, die vergangene Lösungsansätze beinhalten, die Arbeitspraxis erklären und die Geschichte der Einrichtung und der lokalen Dia-konie der letzten vierzig bis fünfzig Jahre umfassen, was bei Entscheidungen hilf-reich sein kann. Dem kommt entgegen, dass im situierten Lernen nicht in erster Linie über etwas gesprochen werden soll (talking about) - wie dies in der Regel beim akademisch orientierten schulischen Unterricht geschieht -, sondern an der Gesprächskultur der Gemeinschaft teilgenommen werden soll (talking within).67

Vom kommunikativen Gedächtnis gehen bestimmte Erinnerungen in das kul-turelle Gedächtnis über, wo die Erinnerungen bewahrt bleiben. Das kulturelle Gedächtnis umfasst in der Erinnerungsgemeinschaft Diakonie unter anderem die Geschichte der Diakonie, den Umgang der Diakonie damit sowie diakonische Tra-ditionen und Entwicklungen.

Durch das kulturelle Gedächtnis erschließt sich zugleich dem Individuum ein „Raum der Unsterblichkeit, den wir vermutlich brauchen, um mit dem Wis-sen um die Begrenztheit unserer Existenz zurechtzukommen.“68 Dieser „Raum der Unsterblichkeit“ ermöglicht den diakonisch Tätigen, sich bewusst zu werden, dass sie sich einerseits in einer diakonischen Kontinuität und einer Gemeinschaft befinden, was Zugehörigkeit und Geborgenheit vermittelt und andererseits die Begrenztheit der eigenen Existenz vor Augen führt und dem Einzelnen deutlich macht, dass nicht alle Probleme durch den Einzelnen zu lösen sind.

67  Hanisch u. a.: Diakonisches Lernen, 133-141.68  Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 84.

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Identität und Gedächtnis 41

Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit, die zu symbolischen Figuren gerinnen, an denen die Vergangenheit haftet, und die als schicksalhaft und bedeutsam markiert werden.69 Diese Erinnerungsorte können materiell, immateriell, real, mythisch, Ereignisse, Gebäude, Denkmäler, Begriffe oder Institutionen sein. Bei Erinnerungsorten handelt es sich

„um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinne-rung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten einge-bunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrneh-mung, Aneignung, Anwendung und Übertra gung verändert.“70

Das Erinnerungsort-Konzept wurde für die Diakonie-Geschichtsschreibung be-reits übernommen und bietet sich an, um die Diakoniegeschichte und ihre Rezep-tion zu erklären und darzustellen.71

Zu beachten ist, dass eine Erinnerungskultur nur so lange bestehen kann, „wie Grundkenntnisse vorhanden sind, an die Erinnerungen anknüpfen können.“72 Am Beispiel der Diakonissen zeigt sich, wie alltägliche Erfahrungen und damit auch Erinnerungen sich verändern. Heutige Jugendliche werden nur noch wenig mit dem Bild der Diakonissen verbinden können, obwohl sie über Jahrzehnte die allgemeine Vorstellung von Diakonie geprägt haben. Im 21. Jahrhundert sind die Diakonissen so sehr zur Ausnahmeerscheinung geworden, dass für die Erinne-rung kaum noch Anknüpfungspunkte bestehen. Dabei muss berücksichtigt wer-den, dass die Erinnerungsgemeinschaften sich verändern und dass dies Folgen für die Gruppenidentität und die Erinnerungskultur hat.73

Das Gedächtnis in seinen verschiedenen Ausprägungen wird von Individu-en nicht einfach übernommen, weil sie sich einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, sich aktiv mit den Überlieferungen auseinanderzusetzen, sie sich überhaupt entsprechend der eigenen Bedürfnis-se anzueignen und in Beziehung dazu zu setzen,74 wenn die Gedächtnisformen

69  François; Schulze: Einleitung, 18; Harald Welzer: Das soziale Gedächtnis. In: Das sozi-ale Gedächtnis. Ge schichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. v. Harald Welzer. Hamburg 2001, 9-21: 13.70  François; Schulze: Einleitung, 18. Die Diakonie hat eine Vielzahl solcher Erinnerungs-orte, beispielsweise Kaiserswerth mit Gartenhaus und Taube, das Rauhe Haus, Wicherns Rede auf dem Kirchentag 1848.71  Vgl. Ute Gause: Vom Umgang mit ‚verlorenen‘ kirchlichen Arbeitsfel dern: Kaisers-werth als Erinnerung sort der weiblichen Diakonie. Ta gungsbericht Jens Murken: Erinne-rungsorte und Erinnerungskultur im Pro testantismus des 20. Jahrhundert. 2003, 1-8: 5, einzusehen unter <http://www.staff.uni-marburg.de/~kaiserj/ pdf/Bericht_JM_Ndd 2003.pdf> (07.05.2007); Friedrich: Lernen, 183-186.72  Ulrich Lambrecht: Rezension zu Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt. Hg. v. Elke Stein-Höl keskamp; Karl-Joachim Hölkeskamp. München 2006. In: H-Soz-u-Kult. 02.04.2007.<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-002> (07.05.2007).73  Friedrich: Lernen, 183; Murken: Erinnerungsorte, 5.74  Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächt-