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0036-6978/94/010027-12 $1.50 + 0.20 9 1994BirkhiaserVerlag,Basel ,,Die akademische Schlacht bei Waterloo"- Zum Verh/iltnis zwischen Encke und Jacobi Herbert Pieper Summary ,,J'ai entendu parler de la bataille acad6mique de Waterloo. Rien ne pouvoit 8tre plus imprudent que l'attaque de Mr. Encke... On dit cependant que notre grand et illustre g~'om~tre [Jacobi] a us6 de sa grosse Artillerie, mais aussi a-t-il 6t~ attaqu6 imprudemment le premier." (From a letter of A.v. Humboldt to Dirichlet in 1850.) The astronomer Encke reported on the quantity of papers of the mathematicians in the ,,Abhandlungen der Berliner Akademie", on August 1 st, 1850. Encke attacked the mathematician Jacobi, especially. In this paper are published extracts from his report for the first time. ,,Ich habe vonder akademischen Schlacht bei Waterloo geh6rt. Nichts k6nnte t6richter sein, als der Angriff yon Herin Encke", schrie'b Alexander von Humboldt in Potsdam am 11. August 1850 in einem Brief I an den Mathematiker Gustav Dirichlet in Berlin. Under fuhr fort: ,,Er [Encke] muB einen grol]en Aufruhr auf einem Gebiet auf sich ziehen, das nicht das seinige ist und auf dem er mit Unschicklichkeit den Herrscher spielt. Reaktion~irer Radikalismus mischt sich in alles. [...]2 Die Ausbriiche haben den Vorteil, jedem seinen Platz zuzuweisen. Man sagt jedoch, dab unser grol]er und bertihmter Mathematiker [Jacob Jacobi] seine schwere Artillerie benutzt hat, aber unvorsichtigerweise war er auch zuerst angegriffen worden." [4, Brief 55] Mit der ,,akademischen Schlacht" meinte Humboldt die Plenarsitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften vom 1. August 1850. Der Angrifferfolgte vom Astronomen Encke, angegriffen wurden die Mathematiker unter den ordent- lichen Akademiemitgliedem, vor allem Jacobi. Der Angriff vemrsachte Encke, so schrieb sein Biograph Carl Bruhns, ,,viele Verdriesslichkeiten und Unannehm- lichkeiten und machte besonders den Bruch zwischen ihm und Jacobi unheilbar" [7, S. 318]. Welches Verhaltnis bestand zwischen Encke und Jacobi? Johann Franz Encke war 13 Jahre alt (geboren am 23. September 1791 in Hamburg), als Jacques Simon Jacobi am 10. Dezember 1804 in Potsdam geboren wurde. (Biographisches tiber Encke: [7], tiber Jacobi: [ 12, 15, 16].) 1816 trat der noch nicht 25j~ihrige Encke nach dem Astronomiestudium bei Gaul] in G6ttingen sein Amt als Adjunct der Stemwarte auf dem Seeberg bei Gotha an. Im selben Jahr trat der noch nicht 12j/ihrige Jacques Jacobi in das Potsdamer Gymnasium NTM N.S. 1 (1994) 27

„Die akademische Schlacht bei Waterloo”— Zum Verhältnis zwischen Encke und Jacobi

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0036-6978/94/010027-12 $1.50 + 0.20 �9 1994 Birkhiaser Verlag, Basel

,,Die akademische Schlacht bei Waterloo"- Zum Verh/iltnis zwischen Encke und Jacobi

Herbert Pieper

Summary

,,J'ai entendu parler de la bataille acad6mique de Waterloo. Rien ne pouvoit 8tre plus imprudent que l'attaque de Mr. Encke... On dit cependant que notre grand et illustre g~'om~tre [Jacobi] a us6 de sa grosse Artillerie, mais aussi a-t-il 6t~ attaqu6 imprudemment le premier." (From a letter of A.v. Humboldt to Dirichlet in 1850.) The astronomer Encke reported on the quantity of papers of the mathematicians in the ,,Abhandlungen der Berliner Akademie", on August 1 st, 1850. Encke attacked the mathematician Jacobi, especially. In this paper are published extracts from his report for the first time.

,,Ich habe vonder akademischen Schlacht bei Waterloo geh6rt. Nichts k6nnte t6richter sein, als der Angriff yon Herin Encke", schrie'b Alexander von Humboldt in Potsdam am 11. August 1850 in einem Brief I an den Mathematiker Gustav Dirichlet in Berlin. Under fuhr fort: ,,Er [Encke] muB einen grol]en Aufruhr auf einem Gebiet auf sich ziehen, das nicht das seinige ist und auf dem er mit Unschicklichkeit den Herrscher spielt. Reaktion~irer Radikalismus mischt sich in alles. [...]2 Die Ausbriiche haben den Vorteil, jedem seinen Platz zuzuweisen. Man sagt jedoch, dab unser grol]er und bertihmter Mathematiker [Jacob Jacobi] seine schwere Artillerie benutzt hat, aber unvorsichtigerweise war er auch zuerst angegriffen worden." [4, Brief 55]

Mit der ,,akademischen Schlacht" meinte Humboldt die Plenarsitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften vom 1. August 1850. Der Angrifferfolgte vom Astronomen Encke, angegriffen wurden die Mathematiker unter den ordent- lichen Akademiemitgliedem, vor allem Jacobi. Der Angriff vemrsachte Encke, so schrieb sein Biograph Carl Bruhns, ,,viele Verdriesslichkeiten und Unannehm- lichkeiten und machte besonders den Bruch zwischen ihm und Jacobi unheilbar" [7, S. 318]. Welches Verhaltnis bestand zwischen Encke und Jacobi?

Johann Franz Encke war 13 Jahre alt (geboren am 23. September 1791 in Hamburg), als Jacques Simon Jacobi am 10. Dezember 1804 in Potsdam geboren wurde. (Biographisches tiber Encke: [7], tiber Jacobi: [ 12, 15, 16].) 1816 trat der noch nicht 25j~ihrige Encke nach dem Astronomiestudium bei Gaul] in G6ttingen sein Amt als Adjunct der Stemwarte auf dem Seeberg bei Gotha an. Im selben Jahr trat der noch nicht 12j/ihrige Jacques Jacobi in das Potsdamer Gymnasium

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FOi~CHUNG - RESEARCH Herbert Pieper

ein. 1821 wurde Jacobi an der Bediner Universit~it immatrikuliert. Er entschied sich bald, der Mathematik sein Leben zu widmen. Im September 1824 wurde dem 19j~arigen Carl Gustav Jacob Jacobi (wie er sich nach dem Ubertritt vom jiidischen zum christlichen Glauben nannte) das Oberlehrerzeugnis ausgestellt.

Zu der Zeit, als Jacobi sich entschloB, sich ganz der Mathematik zuzuwenden, erschienen in Bodes Astronomischem Jahrbuch die Bahnberechnungen von Encke, seit Oktober 1822 Direktor der Stemwarte auf dem Seeberg, fiir den von ihm so genannten Kometen von Ports. Die Untersuchungen fiber diesen kurzpe- riodischen, schon damals so genannten Enckeschen Kometen warenes , die seinen Ruf als Astronom begriindeten.

Encke wurde 1824 korrespondierendes Mitglied der Bediner Akademie der Wissenschaften. Ein Jahr sp~iter wurde er als Nachfolger Bodes zum Direktor der Bediner Stemwarte berufen. Er war kurz vorher zum ordentlichen Mitglied der Akademie und zum Sekretar der mathematischen Klasse g e w ~ l t worden. Im Sommersemester 1826 begann der 34j~trige Encke auch, an der Berliner Uni- versit~it Vorlesungen zu halten. Die Berliner Universit~t hatte ihm zuvor honoris causa die Wiirde eines Doctor philosophiae verliehen.

Bereits ein Semester friiher, im Wintersemester 1825/26, hat der 2 l j~ r ige Privatdozent Jacobi an der Berliner Universit~it seine erste Vodesung gehalten. Er hatte im Sommer 1825 das Doktordiplom erhalten und sich zeitgleich mit der Promotion als Privatdozent habilitiert.

In dem Zeitraum zwischen dem 11. Oktober 1825 (als Encke in Berlin eintraf) und Anfang Mai 1826 (als Jacobi nach K6nigsberg iibersiedelte) haben sich Franz Encke und Jacob Jacobi auch pers6nlich kermengelernt. Encke erirmerte sich am 1.8.1850 in seinem Vortrag vor dem Akademieplenum daran:

,,Kurz nach meiner Anktmft hierselbst vor etwa ftinfundzwanzig Jahren, beehrte mich e i n

jetziger College [Jacobi], der damals, wenn ich nicht irre, im Begriff war, nach KOnigsberg als Privatdocent zu gehen, mit seinern Besuche. Die Unterhaltung betraf neben anderen G-egenst~- den auch die Verpflichtungen der Akademiker in Bezug auf die Abhandlungen. W'~e diese freundschaftliche Unterhaltung eine offizielle gewesen, so wtirde nach dem Inhalte derselben, bei dem Eintritte des geehrten Herrn Collegen in die Akademie allerdings die Frage aufzuweffen gewesen seyn, ob der ganze Etat der Akademie ausreichend seyn m6chte for die Publikation der Arbeiten des neuen Mitgliedes allein." [9, Blatt 4, 4r]

Hatte der 24j~-trige Jacobi am Beginn seiner Laufbahn sich wirklich in der Weise ge~uBert, oder doch nur auf Euler Bezug genommen, dessen Werke er schon als Student las, und von dem die Aul3erung iJbediefert worden ist, er werde so viele Abhandlungen hinterlassen, dab die Akademie mit dem Druck 20 Jahre besch~f- tigt sein werde?

Anfang Mai 1826 siedelte Jacobi also nach K6nigsberg fiber, wo er 17 Jahre lehren und forschen sollte. Seine Forschungsresultate fiber elliptische Funktio- hen, zusammengefaBt in der im April 1829 erschienenen Monographie Funda. menta nova theoriaefunctionum ellipticarum, begriindeten seinen Ruf als Ma- thematiker.

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Schon Ende Dezember 1827 war Jacobi zum aul3erordentlichen Professor an der K6nigsberger Universitiit ernannt worden. Am 1. Juli 1832 fand die Dispu- tation Jacobis zur Obemahme der ordentlichen Professur statt. Encke war am 13. Mai 1844 zum ordentlichen Professor der Berliner Universit~t ernannt worden. Im gleichen Jahr 1844 kehrte Jacobi nach Berlin zurtick. Bereits 1829 war er zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie, 1836 zum ausw~irtigen Mitglied gewahlt worden. Nun konnte er seine Rechte und Pflichten als ordent- liches Mitglied wahrnehmen. Am 28. Oktober 1844 war Jacobi erstmals auf einer Sitzung der physikalisch-mathematischen Klasse anwesend. Deren stiindiger Sekretar war Encke.

Die beiden Gelehrten waren sich zwischen 1825/26 und Oktober 1844 nur selten begegnet.(Wahrscheinlich 1830 in K6nigsberg [7, S. 277], im Frtihjahr 1839 in Berlin [7, S. 317], im S ommer 1841 in Berlin [ 12, S. 277].) Nach Jacobis Wahl zum auswartigen Mitglied der Berliner Akademie hatten sie gelegentlich korrespondiert. (Im Encke-NachlaB, aufbewahrt im Berliner Akademiearchiv, befinden sich 26 Briefe Jacobis an Encke, davon sind 20 Briefe zwischen 1836 und 1843 verfaBt.) An den Astronomen Hansen schrieb Jacobi einmal: ,,Mit Encke habe ich mich lange bemtiht, ein freundschaftliches Verh~ilmiB zu unter- halten, was mir auch wegen der litterarischen Verbindungen, die er als Direktor einer Stemwarte und Secretar einer Akademie haben muB, bequem ist" [12, S. 445]. Das spiegelt sich auch in den Briefen wider.

Ab Oktober 1844 wurden Encke und Jacobi also Kollegen in der physika- lisch-mathematischen Klasse der Berliner Akademie. Sie sahen sich hiiufiger.

In einem Brief an A. v. Humboldt (vom Juni 1844) hatte Encke allgemein tiber die Beziehung zu Mathematikem geschrieben, dab ,,in der best~digen Span- nung, mit welcher der Mathematiker prtift, ob auch Alles richtig sei, eine Anstrengung liegt, welche den Umgang mit ihm schwer macht." Under ergiinzte: ,,Es sind hiiufig etwas eigensinnige und manchmal auch einseitige Miinner, von denen die kliigeren nur dieses Selbstbewul3tsein des eigenen Werthes zu bem~n- teln [besch6nigen] wissen. [...] Der Ehrgeiz wird bei diesem isolirenden Studium entsetzlich angeregt [...]" [2, S.115].

Gab es somit for Encke Grtinde, die ihm den Umgang mit Mathematikem schlechthin erschwerten, so diirfte sein Umgang mit Jacobi wegen gewisser Eigentiimlichkeiten Jacobis noch erschwert worden sein. Sicher erinnerte sich Encke im Oktober 1844 auch daran, dab ihm frtiher Jacobis iiuBere Form und seine Sch~rfe nicht immer angenehm gewesen waren (wie BriefiiuBerungen Enckes aus den Jahren 1828 und 1839 belegen: [16, S.166]; [7, S. 317]). Jacobis Auftreten hat bei seinen Zeitgenossen in der Tat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Die einen machte er sich zu Feinden, den anderen erschien er als ,,artiger Mann"; ,,von vielen" wurde er ,,fOr iiuBerst anmal3end gehalten" [1, S. 168], sie ldagten ,,tiber Jacobis hohes SelbstbewuBtsein" [ 10, S. 926], warfen ihm vor, daB er sich ,,seiner geistigen Kraft zu sehr bewuBt gezeigt habe" [8, S. 23], ftirchteten ihn ,,wegen seiner groBen Schlagfertigkeit und seiner geistreichen, oft

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FORSCHUNG- RE~EARCli Herbert Pieper

allerdings sehr sarkastischen Konversation" [1, S. 166]; andere waren ,,bezaubert yon dem Reichtum seines Geistes" [10, S. 925f.] (Siehe auch [10, S. 926]; [15, S. 25]; [16, S. 10f.].)

Uber Encke schrieb sein Biograph Brulms:

,,Encke [hatte] sowohl umer den Akademikem als in allen Kreisen der Gesellschaft, mit welchen er in Bertihrung kam, viele Freunde, welche seine Offeraheit, seinen Freimuth, sein grades Wesen lobten. [...] Er gait in den Privatgesellschaften, welchen er angeh6rte .... ftir einen geisa'eichen Mann und war wegen seines reich sprudelnden Humors tiberaU gem gesehen, gem geh6rt" [7, S. 318].

Der Biograph betonte mehrfach Enckes ,,gr6Bte Bescheidenheit" [7, S. 48, 51, 64, 90, 103f., 217]. Bessel, der Direktor der K6nigsberger Stemwarte, sah in ihrn lange Zeit einen offenen, herzlichen Freund, ,,dessen Charakter ebenso liebens- wtirdig ist, als seine Kennmisse in der Astronomie" [7, S. 50].

Als Akademiker in Berlin ~iu~rte Encke in Briefen ,,mannichfache Klagen tiber eigene innere Unzufriedenheit" [7, S. 278]. Auch glaubte Encke, so lesen wit bei Bruhns, ,,dab man ihn, da er ~iuBerlich besser gestellt war als viele Collegen, beneide, und sah, gequ/ilt yon Argwohn, Feindseligkeiten, wo vielleicht nut Gleichgtiltigkeit vorhanden war" [7, S. 267]. Hagen in seiner Ged/ichtnisrede auf Encke rtihmte Enckes Geschicldichkeit und Humanit/it in Ftihrung der Akademie- geschiifte. Harnack in seiner Akademiegeschichte ergiinzte: ..... aber sein streng conservativer Sinn und eine gewisse Starrheit des Urtbeils brachten ihn doch in manche Spannung zu seinen Collegen" [ 10, S. 802]. Enckehielt,,seine Meinungen und Ansichten nicht zurtick", sondern sprach sie often aus, ,,und dies manchmal in einer Form, woran die Collegen mehrfach Anstoss nahmen" [7,S. 315].

Mit dem eigenttimlichen Wesen Jacobis kam er offenbar nicht zurecht. Was Encke einmal an Bessel tiber Alexander von Humboldt schrieb, traf wohl auch auf Enckes Verh/iltnis zu Jacobi zu: ..... kann ich nicht sagen, dab ich reich yon ihm angezogen ftihle, so hoch ich auch in jeder Hinsicht ihn setze" [7, S. 313f.]. Nach Jacobis Tod schrieb Encke, nachdem er yon dem Minister yon Wtistemann in Gotha aufgefordert worden war, sich bei dem preuBischen Minister fiir die Witwe Jacobis zu verwenden (Jacobis groSe Familie lebte in Gotha):

.,Kaum durfte es n6thig sein, noch zu bernerken, dab leider zwischen Herin Jacobi, so lange er lebte, und mir eine Anngtherung nicht im Entfemtestan stattgefunden hat, ebensowenig zwischen meiner Familie und tier seinigen, so dab etwas anderes als das rein wissenschaftliche Interesse an seiner eminenten Bef'~igung und das rein menschliche an dem Schicksal einer zahlreicben Familie, die in groBer Bedr~ngniB lebt, reich nicht zu dem so h6chst gewagten Schritte verleiten konnte" [12, S. 515].

Und an Gaufi schrieb Encke:

,,Es hat mir leid gethan, dab es mir nicht hat gelingen wollen, mit diesem ausgezeichneten Mathematiker auch nur auf einem leidlichen FuB zu stehen zu kommen.Die Disharmonie in vielen Beziehungen, biirgerlichen und wissenschaftlichen, war zu groB. Seine langj/ihdge Krankheit [Zuckerkrankheit] mag ihren groBen Theil daran haben" [7, S. 317].

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Jacobi drtickte seine Ansicht fiber Encke in einem Brief an Hansen (in Gotha) vom Februar 1848 aus: Encke

,,hat einen wenig angenehmen Charakter, dem rein menschliches interesseloses Wohlwollen fremd zu sein scheint; man kann es sich kaum denken, dab er etwas aus edlen Motiven thut. Ich weiB nicht, ob er friiher so war, denn es ist wohl m/~glich, dab dutch das unangenehme Geftihl, seine Stellung nicht so ausfiillen zu k/Snnen, wie er es wohl mOchte, sein Charakter wohl verdorben worden ist" [12, S. 445].

Unterschiede zwischen Encke und Jacobi zeigen sich nattirlich in ihrer wissen- schaftlichen Betiitigung. 3 Encke war zuallererst Astronom, Jacobi vor allem Mathematiker, der auch die theoretische Astronomie bereichert hat. Nattidich ist es (so iiuBerte Bessel einmal) ,,liichedich .... einen Astronomen mit dem mathe- matischen Stabe und einen Mathematiker mit dem astronomischen zu messen" [7, S. 276], was auch hier nicht geschehen sotl. Gegens~itzlich war neben der Forschung Enckes und Jacobis auch ihre Lehre. Encke scheint, so berichtete Bruhns, ,,nicht besondere Neigung, Vorlesungen zu halten, gehabt zu haben" [7,S. 156]; sein ,Vortrag war nicht besonders anziehend" [7, S. 160]. Jacobi dagegen war ein mitreil3ender Vortragender (vgl. [15, S. 8]).

Encke stand ,~zu Jacobi im schroffsten politischen [...] Gegensatze" [12, S. 514]. Das zeigte sich vor aUem im Revolutionsjahr 1848 und ftihrte dazu, dab -- wie Bruhns betonte - ,,besonders nach 1848 kein gutes Verh~iltnis bestand" zwischen Encke und Jacobi [7, S. 316].

Jacobi verhielt sich lange Zeit politisch indifferent. Als sich 1847 die sozialen und politischen Gegens~itze in Deutschland versch~irften, hatte er Beziehungen zu mehreren liberalen Ftihrem angekntipft. Nach den Barrikadenk~npfen im Miirz 1848 in Berlin trat Jacobi selbst tiffentlich politisch auf, im ,,Konstitutio- nellen Klub" und anderen Vereinen des liberalen Btirgertums. Jacobi vertrat eine fortschrittliche, liberale Position, ohne jedoch die Monarchie bekarnpfen zu wollen (vgl. [13]).

Obwohl man vom Jahre 1837 an (,,G6ttinger Sieben"!) ,,den Umschwung zum Liberalismus in weiten Kreisen der deutschen Gelehrten datieren" kann [ 10, S. 777], blieb Encke konservativer Staatsbtirger. Bruhns:

,,Encke, voll Patriotismus for Preu~n, roll Liebe fOr das K/Snigshaus, verwachsen mit den bestehenden Einrichtungen, abhold jeder Veranderung, die Ruhe liebend, dutch und dutch conservativ gesinnt, konnte sich in einem Alter yon 57 Jahren nicht leicht in die Vefiinderungen hineinf'mden, welche die plOtzliche Bewegung und Erhebung in allen Klassen des Volkes mit sich brachte" [7, S. 323].

Die im Juli 1848 erfolgte, von Encke untersttitzte Ablehnung von Jacobis Ersu- chen um die Verleihung der ordentlichen Professur an der Berliner Universittit war eindeutig eine Reaktion auf Jacobis progressive politische Bettitigung (siehe [15]). Eine zweite Reaktion darauf folgte ein Jahr sptiter. Jacobi sollte dureh fmanzielle Repressalien zur Rtickkehr nach K6nigsberg gen6tigt werden. Jacobi sah sich gezwungen, einen Ruf nach Wien anzunehmen. Es war Alexander yon

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Humboldt, der sich erfolgreich dafiir einsetzte, Jacobi geldlich wieder abzusi- chem, so dal3 sein drohender Fortgang nach Wien verhindert werden konnte.

In diesem Zusammenhang ~iuBerte Encke eine Kritik an Jacobi, die sich in der ,,akademischen Schlacht yon Waterloo" acht Monate sp~iter verst~rkt wiederho- len soUte. Im Protokoll der Plenarsitzung der Berliner Akademie der Wissen- schaften vom 31. Januar 1850, auf der Dirichlet den Antrag stellte, eine Eingabe beim Ministerium zu machen, um die Anwesenheit Jacobis in Berlin zu sichem, heiBt es, dab ,,gegen die Einreichung einer solchen Eingabe... kein Einwand gemacht" wurde, ,,wermgleich bemerkt ward, dab die Mittel der Akademie nicht vonder Art seyen, um durch eine solche Erkl~rung die Ansicht zu veranlassen, als k6nne sie dazu beitragen, eine Ablehnung des Rufs durch eine Verbesserung seiner bisherigen hiesigen Stellung zu bewirken, und wenngleich auch die bisherige Th~itigkeit des Herrn Jacobi fiir die Akademie insoferne beriihrt ward, als der Unterzeichnete [Encke] sich dartiber aussprach, dab bei zahlreichen Aufs~itzen in den Monatsberichten unsere Abhandlungen bis jetzt noch keine yon Herin Jacobi aufzuweisen haben" [16, S. 143]. Und dieser Vorwurf wurde nun am 1. August 1850 auf der Plenarsitzung der Berliner Akademie massiv wiederholt. Ira Protokoll der Sitzung heil3t es:

,,Herr Encke las nach einer Einleitung fiber die Zusammensetzung der Abhandlungen in den jiihrlicben B~aden der Abhandlungen der Akademie: iiber die Ableitung und Construction der Variation der Constanten bei Planeten-St6rungen" (Archiv AdW Berlin, II-V,3 I).

Die damals einmal wSchentlich stattfindenden Gesamtsitzungen vereinten die (maximal 50) ordentlichen Mitglieder der Akademie, sowohl die der physika- llsch-mathematischen Klasse, als auch die der philosophisch-historischen Klasse, zu einer Veranstaltung. Am 1. August 1850 hSrte etwa die H~ilfte aller ordentli- chen Mitglieder Enckes Vortrag, darunter die Mathematiker Crelle, Dirichlet und Jacobi, die Physiker Magnus und Dove, die Chemiker Mitscherlich und Heirtrich Rose, der Sprachforscher Jakob Grimm, der Philosoph Trendelenburg.

Auf ausdriicklichen Wunsch von Encke wurde sein die Sitzung einleitender Vortrag ,,Ober die Zusammensetzung der Berliner akademischen Abhandlungen" nicht publiziert. Encke sagte: ..... so wiJnsche ich, dab in dem Protokolle angefiihrt werde, es sey meiner heutigen Vorlesung eine Einleitung fiber die Zusammenset- zung unserer Abhandlungen vorhergegangen. Zugleich beehre ich mich, die Zeilen... in dem Archiv niederzulegen, damit, wenn sp~iter einmal der hier berichtete Gegenstand zur Sprache kommt, under wird zur Sprache kommen miissen, werm keine ,~mderung eintritt, daraus hervorgehe, dab selbst die Besorg- nil3, als Ankl~iger oder Verketzer meiner Collegen zu gelten, mich rticht abgehal- ten hat, ihn mit einiger Ausfiihrlichkeit zu erw~hnen" (Encke 1850, Blatt 8).

Das Manuskript des Vortrages, 16 Seiten in Enckes sorgf~iltiger deutscher Schrift, liegt noch heute im Berliner Akademie-Archiv (Encke 1850=-[9]).

Einleitend konstatierte Encke, dab die mathematische Abteilung der Abhand- lungen derBerlinerAkademie in den letzten Jahrg~ugen mehrmals nur eine oder

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,,Die akademische Schlacht bei Waterloo" FORSCHUNG - RESEARCH

zwei Arbeiten der Mathematiker enthalten habe. Er fragte nach den ,,Ursachen einer solchen Verarmung" (BI. 1). Er geh6re nun fast 25 Jahre der Akademie an. Deshalb habe er die Jahrg~irlge derAbhandlungen von 1825 an durchgesehen und die Anzahl der mathematischen Abhandlungen mit der Anzahl der Mitglieder der mathematischen Klasse (bzw. der mathematischen Abteilung der physikalisch- mathematischen Klasse) verglichen. Danach w~re ,,die Thtitigkeit der Mitglieder ftir Mathematik im Jahre 1825 fast 6mal so grol] gewesen, als im Jahre 1848 die der gegenw~.rtigen" (BI. lr).

Merklich nachgelassen habe die Publikation in den Abhandlungen seit dem Jahre 1837. Ein Jahr zuvor hatte sich die Akademie ntimlich ein neues Organ fiir Publikationen, neben ihren Abhandlungen, geschaffen: die Monatsberichte iiber die zur Bekanntmachung geeigneten Verhandlungen. ,,Die Eim'ichtung erwies sich als sehr praktisch und erreichte wirklich ihren Zweck", schrieb Hamack dartiber; ihren Zweck: ,,sowohl... kiirzere Mitteilungen tiberhaupt und schneller als in den Abhandlungen ver6ffentlichen zu k6nnen, als auch.., in einen leben- digeren Verkehr mit dem gelehrten Publikum zu treten und dasselbe ftir die Arbeiten der Akademie zu interessieren" [10, S. 770].

Die Mathematiker zogen daraufhin ftir ihre Publikationen die Monatsberichte vor. Encke sagte:

,,Es geht daraus hervor, dab diese durch ihre Beitrtige zum Monatsberichte das effiillt zu haben glaubten, was sie ohne denselben ftir die Abhandlungen zu leisten verpflichtet gewesen wtiren. Diese Ansicht hare ich fur durchaus irrig" (BI. 2).

Eine mathematische Publikation soll nicht nur aus Stitzen und Beweisskizzen bestehen, wie in den Monatsberichten oder den Pariser Comptes rendus meist praktiziert, sondem sie soil (so Encke:)

,,ein abgeschlossenes Games seyn, aus welchem dem Leser.. . ein mathematischer Geist anweht, der yon der Art der Untersuchung Rechenschafi giebt, von dem Zusammenhange derselben mit anderen verwandten [Untersuchungen], yon dem, was noch zu wtinschen Ubrig bleibt" (B1.2).

Die Ausdehnung der Pariser Comptes rendus wtire ,,nicht als Fortschritt zu betrachten" (B1. 2r).

Und Encke ftigte hinzu: ,,An sich aber schon ist die Vergleichung der hiesigen Zustande mit den Parisem oder Londonem keineswegs zutreffend" (B1. 2r). Encke machte beispielsweise darauf aufmerksam, dab die glanzenden Seiten der Wirksamkeit und ,,m/~chtigen Zentralisation" (BI. 3) in Imperien der Wissen- schaft, wie Paris, notwendig mit ,,Nachteilen verbunden" wtiren, ,,die sich in dem Zustande der Wissenschaften in den Provinzen Frankreichs, verglichen mit der Hauptstadt, am auffallendsten zeigen, und die durch die verschiedene Gliederung Deutschlands glticklicherweise in unserem Vaterlande vermieden sind" (B1.3).

,,Zu den krankhaften Erscheinungen der Zeit", so Encke, ,,die in der soge- nannten 6ffentlichen Meinung (eigentlich doch nur die Stimme der Wenigen, die im Besitze der 6ffentlichen Organe Dreistigkeit genug haben, ihre Ansichten als

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die des Volkes auszuschreien) ihren h6chsten Richter erkennt", z~ihlte er die Tatsache, ,,durch stete Hinweisung auf Vorztige und darauf gegrtindete Einrich- tungen, die der Natur der Sache nach f'tir uns im augenblicklichen Aufschwunge zu erreichen unm6glich sind, die Vortheile, welche sich uns von selbst und v011ig sicher erreichbar darbieten, heruntersetzen und dadurch vemichten wollen" (B1. 3).

Encke kam nun auf die Abhandlungen zurtick:

,,PreuBen ist aus schwachen Anfangen in verhiilmism~ig sehr kurzer Zeit gros geworden durch die Ordnung seiner Verwaltung, und als solche Verwaltungsregel kann man auch die in unsem Statuten enthaltene Vorschrift ansehen, nach welcher jedes Mitglied in seiner Reihe eine druckfertige Abhandlung zu lesen hat" (BI. 3). ,,Der j~arliche Termin, der festgesetzt ist, ist eine hinl~agliche Zeitperiode, um yon einem akademischen Mathematiker erwarten zu diirfen, dab er irgendeinen Gegenstand zur l~geren Betraehtung auswihlen wird, der einen anziehenden Stoff darbietet" (BI. 3r).

Encke wiJrde auch eine stillschweigend modifizierte Verwaltungsregel akzeptie- ren, wonach der Akademiker alle 2 Jahre eine Arbeit in den Abhandlungen publizierte, ,,sobald nur daftir gesorgt wiirde, dab in keinem Bande ein... Haupt- fach unvertreten bleibt" (B1. 3r, 4).

,,Wenn abet", so fuhre r fort und begann seinen Angriff,

,,wenn aber gerade unter den Vertretem der reinen Mathematik Herr Steiner im Jahre 1835 und 1837 zwei Abhandhmgen liefert, und claim sich bis zum Jahre 1847 dispensiert, wenn Herr Dirichlet, nachdem er yon 1833 bis 1841 mit groSer Regelm~Bigkeit beigeu'agen hat, seitdem keinen Beitrag in 7 Jahrg~ngen geliefert hat, wenn yon der Anwesenheit des Herin Jacobi hinselbst in unserenAbhandlungen noch keine Spur zu bemerken ist, so scheim es, daft wir uns mit raschen Schritten dem Ziele nahem, dab die Nachwelt zwar aus dem Verzeichnisse der Mitglieder mit groBem Interesse ersehen wird, welche bertihmte Namen unsere Akademie zieren, aber aus den Abhandlungen nicht sich deutlich machen kann, welche Ficher yon den einzelnen bearbeitet wurden" (Bi. 4).

Encke verwies auf die Beispiele von Lagrange und Euler, deren Arbeiten die B~Lnde der Akademieabhandlungen ftillten. (Leonhard Euler wirkte von 1741 bis 1766 an der Berliner Akademie der Wissenschaften, Joseph Louis Lagrange von 1766 bis 1787.)

Er erinnerte sich nun in seinem Vortrag an seine schon oben erw~ihnte Begegnung mit dem 24j~Lrigen Jacobi (er nannte seinen Namen nicht, doch diarfte jeder gewuBt haben, wer gemeint war) vor etwa 25 Jahren, und dessen angeblicher Meinung, er wiirde, wenn er Akademiemitglied sein wiirde, die B~inde der Akademie fiillen. Encke: ,,Reifere Jahre und die wirkliche Ubemahme der neuen Pflichten haben die Ansichten des geehrten Herrn Collegen wesentlich modifiziert" (BI. 4r).

Encke waf t Dirichlet, Steiner und Jacobi also vor, in den B~inden derAbhand- lungen zu wenig oder gar nicht zu publizieren, im Gegensatz zu Lagrange und Euler in der Vergangenheit. Doch gerade diese Mathematiker, Dirichlet (ordent- liches Akademiemitglied seit 1832), Steiner (seit 1834) und Jacobi (seit 1844),

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sind als Begriinder des mathematischen Ruhms von Berlin im 19. Jahrhundert anzusehen (vgl. [6]).

Jacobis Produktivitat in der Mathematik war auch in der Berliner Zeit im wesentlichen ungebrochen. (Nur seine Aktivit~iten im Hochschulunterricht hatten gegen/aber K6nigsberg stark nachgelassen.) In seiner Berliner Zeit von 1844 bis zu seinem Tod im Februar 1851 (in sechseinhalb Jahren) hat Jacobi 40 Arbeiten publiziert (in der K6nigsberger Zeit, in 18 Jahren, 85 Arbeiten). Von den sp~iter aus dem Nachlab herausgegebenen Arbeiten stammen iiberdies zahlreiche aus Jacobis letzten Lebensjahren, gleiches gilt fiir unpublizierte Archivalien im Jacobi-Nach- lab des Akademie-Archivs. In den Klassensitzungen der Akademie hielt er im Durchschnittjiihrlich einen Vortrag; in den Plenarsitzungen trug er im Durchschnitt j~ihrlich zweimal vor. Nicht alle in der Akademie gelesenen Abhandlungen wurden von ihm publiziert; einige erschienen in den Monatsberichten, andere im 1826 von Crelle gegrtindeten Journal fiir die reine und angewandte Mathematik. In diesem Journal vor allem publizierten Jacobi, Steiner und Dirichlet ihre Arbeiten!

Encke fuhr fort:

,,Man sagt wohl, die Form der Akademie sey eine veraltete, sie passe nicht mehr ffir den raschen Aufschwung der Zeit. Diese Ansicht scheint mir so irrig, dab ich fast das Gegentheil behaupten m6chte, die Akademie werde, wenn sie noch nicht da ware, vonder Zeit hervorgerufen" (BI. 4r). Die Akademie wfirde ein ,,geistiges Gegengewicht gegen das allzupraktische Treiben", ,,das fibermiiSige Hindrangen unserer Zeit auf materielle Genfisse, und praktische Vervollkommnun- gen in den Lebensverh~iltnissen aller Classen" bilden (BI. 4r).

Die ,,eigentlichen Sttitzen der Theorie" d/irften in der Institution ,,Akademie" ,,nicht blofl ein Mittel sehen, ihren Ruf blo8 zu erh6hen, und nicht glauben, dab der Name Mitglied der Akademie zu seyn, ihr alleiniges Ziel seyn miilBte, ohne dab fiir denselben von ihrer Seite irgendein Opfer oder eine Anstrengung gefor- dert werden d/irfte" (B1. 5).

Ein Wissenschaftler erfiillte

,,nicht ganz die Pflichten, die ihm obliegen, wenn er von dem Antheil an der Verwaltung, der ihm seiner Stellung nach zukommt, sich zurfickzieht, und nur seine Vorlesungen regelm~6ig h~t. l...] Es ist nichts leichter als fiber Mi6griffe der Verwaltung im Allgemeinen sich tadelnd zu iiul?,em, wenn man mit vorsichtiger Klugheit die selbst amtlich gebotenen Veranlassungen vermeidet, die Schwierigkeiten auch der kleinsten Verwaltung aus eigener Erfahrung kennen- zulemen. [...] Die Gegenwart derer, welche in irgendeinem Fache den wissenschaftlichen Werth der Institute begrfinden, [deren Mitarbeit in der Verwaltung] wird an sich schon manche Schwierigkeiten ebenen und zu manchen Verbesserungen der Form hinffihren, welche die Verwaltung stfitzen werden und das Bestehen der allgemeinen Form sichern. Allerdings ge- schieht eine solche Theilnahme an dem Institute im Ganzen nicht ohne dab man einige Opfer bringt" (BI. 5, 5r).

Encke:

,,Als ein solches [Opfer] wird h~iufig erwiihnt, d ~ durch die verspatete Publikation die Arbeiten nicht schnell genug und auch nur einem kleinen Kreis bekannt werden" (BI. 5r).

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FORSCI-IUNG- RESEARCH Herbert Pieper

Encke fand Argumente dafiJr, dab dieses Opfer ,,doch nicht so sehr groB" w~ire.

,,Es mag seyn, ~ bei andem Wissenschaften die momentane Wirkung der Ver6ffentlichung sehr anzuschlagen ist. Bei der reinen Mathematik ist es... zuved~sig nicht der Fall" (BI. 5r, 6).

Hier ime Encke gewilL Es sei nur an den mathematischen Wettkampf zwischen Abel und Jacobi um den Ausbau der Theorie der elliptischen Funktionen erinnert (vgl. [14]), geftihrt mit Publikationen im Crelleschen Journal and in den Astro- nomischen Nachrichten. Hier spielte die Schnelligkeit der Publikation durchaus eine Rolle.

Encke verwies noch einmal darauf, dab die VerSffentlichungen in den Ab- handlungen zu den ,,amtlichen Verpflichtungen" des Akademikers z~ihlten, des- sen Stelle ja auch mit einem Gehalt verbunden ware. Encke:

,,Das gewOhnlich mit der Stelle eines Akademikers verbundene Gehalt ist gering, wlihrend ich auf dem Etat der Akademie mit einer betr~chtlichen Summe aufgefiihrt bin. Allein da es nur in den friiheren Verhiltnissen liegt, dab ich ftir die Stelle eines Direktors der Sternwarte und Professors der Universitat, yon welchen Instituten ich auch nicht das mindeste an Gehalt beziehe, ganz anf die Akademie angewiesen bin, so glaube ich reich nicht als Akademiker in anderem Lichte betrachten zu mtissen als meine Herin Collegen. Es klingt allerdings schtin, wenn der Staat jedem ausgezeiehneten Manne ein so groBes Gehalt aussetzen kann, d ~ er ganz yon allen andem Gesch~ten befreyt seine Zeit ungetheilt der Wissenschaft widmen kann. Aber die Erfahrung spricht gegen den Nutzen einer solchen im h6chsten Sinne liberalen Einrichtung. Stellen ohne die amtliehe Verpflichtung, arten auch bei Gelehrten sehr leicht in Sinecuren aus, wovon nahe liegende Beispiele anzufiihren die Akademie mir erlassen wird" (BI. 6).

Encke sagte dann:

,,Betrachtet man das gewOhnliche akademische Gehalt [far die Akademiemitglieder unter den Dozenten der Berliner Universit~t] als eine Zugabe, einen Antrieb, auch dem Studium der reinen Wissenschaft einen Theil seiner Zeit zu widmen .... oder sieht man das Gehalt an als Honorar fur die Abhandlungen, welche geliefert werden, yon denen hOchsten eine j~lhrlich gefordert, selten eine alle zwei Jahre liar jedes Mitglied zum Drucke bestimmt wird, oder in dem Fache tier reinen Mathematik, der Erfahrung getable, nur alle 21 Jahre auf jedes Mitglied kommt, da drey Mitglieder [Dirichlet, Steiner, Jacobi] in sieben Jahrg~ngen nur eine geliefert haben, so kann man - so wiinschenswert es ist, die Gelehrten m6glichst.befreyt yon l~tigen Nebemlmtem zu sehen die HOhe des Gehaltes nicht so unangernessen finden. Dabei ist noch gar nieht in Ansehlag gebracht, was mir den regelmiiBigen Besuch der Versarnmlungen immer hOchst angenehm mad belehrend gemacht hat, dab man in ein n~theres persOnliches Verh~llmis mit den ausgezeichneten Mannem aller Facher a'itt, und selbst bei den Fachem, die dem eigenen am femsten stehen, alas dem Inhalt der gelesenen Abhandlungen, den Gang und die Richtung des Studiums in denselben e r fu r t ' (BI. 6r).

Da Encke offenbar immer wieder die ,,drey Mitglieder im Fache der reinen Mathematik" (Dirichlet, Steiner, Jacobi) im Auge hatte, diirfte sich auch die folgende besonders verletzende Kritik auf sie beziehen:

,,Zu allen Z~iten hat es gewig stattgefunden, dab werm Rechte zu erwerben waren, verbunden mit Verpflichtungen, die iibemommen werdcn mugten, das Streben der Mensclmn im AUgemei- nen darauf gerichtet war, die Rechte m6glichst zu erwr and der Verpflichtungen mSglichst bexluem sich zu entlexligen" (BI. 7).

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,,Die akademische Schlacht bei Waterloo" F O R S C H U N G - R E S E A R C H

Nach Betrachtungen fiber Rechte und Pflichten gab er noch die ,,Quelle" der von ihm beschriebenen ,,MiBsttinde" an: es w/ire ,,nicht der Mangel der Verordnun- gen, sondern der Mangel an Corporationsgeist, das 13berwiegen der Rticksicht auf die eigene Bequemlichkeit" (B1. 7r).

In den seinen Vortrag abschlieBenden ,~uBerungen tiber seine ,,ftinfundzwan- zigj~ihdge Mitgliedschaft" in der Akademie sagte Encke unter anderem:

,,Es ist nie meine Ansicht gewesen, und es konnte nie meine Ansicht seyn, dab meine kleinen Abhandlungen gerade fiir das Fach der reinen Mathematik, oder der Mathematik iiberhaupt, yon so groBer Wichtigkeit fiir die akademischen Abhandlungen seyn k6nnten, dab sie in denselben das were Fach dieser Wissenschaft allein rep~sentirten, wie es mir jetzt zum zweitenmale begegnet ist. Ich habe nur dahin gestrebt, das nach Kr~ften zu erfiillen, wozu ich amtlich verpflichtet zu seyn glaubte" (BI. 8).

Die Verpflichtung, regelm/iBig eine Abhandlung zu lesen, war fiir ihn eine willkommene Gelegenheit ,,mich yon Zeit zu Zeit auch mit solchen Gegenstan- den zu besch/iftigen, zu denen mein eigentliches astronomisches Amt mich weniger aufforderte 5, vielleicht mich selbst davon abgehalten h/itte" (B1. 8r).

Die Fmge, ob es neben Humboldts eingangs genanntem Kommentar zum Enckeschen Vortrag noch andere Reaktionen in Mitschriften, Briefen oder Pro- tokollen gibt, mug l'tier unbeantwortet bleiben. DaB Enckes Angriff aber eine ,,akademische Schlacht" heraufbeschworen hatte (wie Humboldt sich augerte) und einen ,,grogen Aufruhr auf einem Gebiet auf sich ziehen mugte, das nicht das seinige ist und auf dem er mit Unschicklichkeit den Herrscher" spielte, und dab Jacobi bei der Verteidigung ,,seine schwere Artillerie" benutzte, ist wohl auf Grund der Enckeschen Ausftihrungen nur allzu verst~ndlich. Zwischen dem Astronomen und dem Mathematiker 6 kam es zum offenen Bruch.

Anmerkungen

Original franzOsisch. Ubersetzung yon K.-R. Biermann, der den Briefwechsel zwischen Humboldt und Dirichlet ediert hat: [4]. Hier steht: ,,Das ist die wiedererstandene Aft'are Raumer." Siehe FuBnote 4. Gegenstitzlich auch ihre Meinung: zur Verwendung der ,,lebenden Rechenmaschine" Z. Dase vgl. [3], zur Besetzung der durch Bessels Tod vakanten Stellen vgl.[ 17]. Die konservative Haltung Enckes spiegelt sich auch in der Raumerschen Angelegenheit wider (siehe [I0, S. 929-942], [11,220f.], [5, S. 98], [17, S. 316]). So beschtiftigte er sich beispielsweise mit Primzahlen. Jacobi starb am 18.2.1851.

Quellenverzeichnis

[1] Ahrens, W.: ,,C. G. J. Jacobi und die Jacobi-Biographie". In: Math. nat. Bldtter 1 (1904), S. 165-172.

[2] Biermann, K.-R.: ,,Uber die F6rderung deutscher Mathematiker durch Alexander von Hum-

NTM N.S. 1 (1994) 37

F O ~ C H U N G - ~ A R C H Herbe~P~pzr

boldt". In: A.-v.-Humboldt-Gedenkschrift. Herausgegeben yon der A.-v.-Humboldt-Kommis- sion der DAW zu Berlin. Berlin 159, S. 83-159.

[3] Biermann, K.-R.: ,,Beurteilung und Verwendung einer ,lebonden Rechenmaschine' durch C. E Gau6 und die Bediner Akademie. In: Forschungen und Fortschrine 41 (1967), S. 361-364.

[4] Biermann, K.-R. (Hrg.): Briefwechsel zwischen Alexander yon Humboldt und Peter Gustav Lejeune Dirichlet. Berlin 1982.

[5] Biermann, K.-R.: Briefwechsel zwischen Alexander yon Htvnboldt und Carl Friedrich Gaufl. Neu herausgegeben. Berlin 1977.

[6] Biermann, K.-R.: Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universitdt 1810-1933. Berlin 1988.

[7] Bruhns, C.: Johann Franz Encke. Sein Leben und Wirken. Leipzig 1869. [8] Dirichlet, J. P. G. L.: Ged~chtnisrede auf Carl Gustav Jacob Jacobi. Gehalten am 1.7.1852.

In: Jacobis Gesammelte Werke Bd.1 (1881), S. 2-28. [9] Encke, E: ,,[.)ber die Zusammensetzung der Berliner akademischen Abhandlungen". Gelesen

am 1.8.1850. Bedim Archiv der Akademie der Wissenschaften, NachlaB Encke 190. [ 10] Harnack, A.: Geschichte der K6niglich-Preuflischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

Faster Band - Zweite H~lfte. Berlin 1900. [ 11] Gespr~che Alexander yon Humboldts. Herausgegeben yon H. Beck. Berlin 1959. [12] Koenigsberger, L.: Carl Gustav Jacob Jacobi. Festschdft. Leipzig 1904. [ 13] Pieper, H.: ,,Gegen die Schmach des Belagerungszustandes". In: spectrum 11 (1980), H. 1,

S. 22-24. [14] Pieper, H.: ,,Abel und Jacobi gehOren in der Geschichte der Mathematik zusammen wie

Leibniz and Newton". In: Mitt. MGDDR 1980, H. 2/3, S. 133-144. [ 15] Pieper, H.: ,,Jacobi in Berlin". In: Kolloquien, Inst. f. Theorie, Geschichte and Org. der Wiss.,

H. 30. Berlin 1982, S. 1-35. [ 16[ Briefwechsel zwischen Alexander yon Humboldt und C. G. J. Jacobi. Herausgegeben yon H.

Pieper. Berlin 1987. [17] Wattenberg, D.: Nach Bessels Tod. Ver0ffentlichungen der Archenhold-Sternwarte, Nr.7.

Berlin 1976.

Anschrif t des Verfassers :

Dr. Herber t P i e p e r

E n k e n b a c h e r Weg 120

D - 12559 B e r l i n - M t i g e l h e i m

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