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Die Alte Welt

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Volker Krämer

Die Alte WeltDie Alte Welt

Professor Zamorra Hardcover

Band 30

ZAUBERMOND VERLAG

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Professor Zamorra beobachtete Dalius Laertes aus den Augenwinkeln heraus.Der Uskuge war nach wie vor ein undurchsichtiger Charakter. Zamorra wusste viel über Laertes, kannte seine Vergangenheit, wusste von der unglaublichen Verantwortung, unter der Dalius litt. Das änderte sich nie, auch nicht in der ungewöhnlichen Umgebung, in der sie sich hier befanden: Über die Meegh-Spider war mittlerweile vieles bekannt … und doch noch lange nicht alles.Zamorra und seine Spezialisten konnten das Schiff fliegen, ohne Angst zu haben, durch eine Fehlschal-tung eine Katastrophe auszulösen. So weit – so gut. Aber die offenen Fragen, die Rätsel um den Schatten-schirm oder den Antrieb durch die schwarzen Dhyar-ra-Kristalle nahmen eher noch zu …

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Vorwort

Wir alle versuchen in unserem Leben einen möglichst geraden Weg zu gehen. Wir suchen die bestmögliche Strecke von A nach B, von C nach D. Nach Möglichkeit sollte es dabei nicht zu viele Kurven und unerwartete Abzweigungen geben.

Und? Bei wem klappt das schon wirklich? Wahrscheinlich bei kei-nem von uns.

Vielleicht haben wir zwischen diesen Streckenabschnitten ja ein-mal ein wenig Zeit für eine Rast. Dann wäre es keine schlechte Idee, sich einmal umzudrehen. Was werden wir dort sehen? Ganz sicher all die angefangenen und unerledigten Dinge, die wir links und rechts vom Weg haben liegen lassen. Beim einen mehr – beim ande-ren weniger.

Glauben Sie mir, liebe Leser – irgendetwas wird da jeder finden.Vielleicht sollte man sich dann doch die Zeit nehmen, Kontakte

neu aufleben zu lassen, beinahe vergessene Orte noch einmal zu be-suchen … oder eine »verschütt gegangene Rechnung« zu bezahlen. Oder?

Warum – so denken Sie nun sicher – textet der Krämer uns hier mit solchen beinahe philosophischen Dingen zu?

Ganz einfach: Jeder Autor, der für eine Serie wie Professor Zamor-ra schreibt kennt das – man verfolgt den roten Serienfaden, macht hier und da einen Nebenschauplatz auf, führt einen Charakter in die Reihe ein, mit dem man eigentlich noch viel vor hat.

Und dann überholt einen die Realität, denn die Serie muss weiter nach vorne geführt werden. Andere Dinge werden plötzlich ganz wichtig, andere Protagonisten rücken in den Vordergrund … und was am Ende bleibt, das sind die unerledigten Handlungsstränge, die Leichen im Keller. Sie passen einfach nicht mehr in das laufende Konzept.

In meinem Keller stapeln sich auch so einige dieser Untoten, denn sie sind ja nicht wirklich von uns gegangen, richtig?

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Sie sind es, Sie, die Leser, die uns Autoren immer wieder an die unfreiwilligen Bewohner im Basement erinnern. Und so komme ich zum Bezug auf dieses Buch, das nun vor Ihnen liegt. Zwei unerle-digte Handlungen will ich aufarbeiten – lassen Sie sich überraschen.

Und da gibt es noch die Geschichte um einen bestimmten Lebens-abschnitt eines unserer Freunde zu erzählen, um deren Klärung man mich ebenfalls mehrfach gebeten hat. Das alles eingebettet in eine Rahmenhandlung, die zunächst einmal überhaupt nichts verrät.

Also – Kellerentrümpelung!Viel Spaß in der ALTEN WELT.

Volker Krämer, März 2009

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1. Alte Welt – Neue Welt

Es gibt in der Chaos-Theorie das immer wieder gerne genommene Bild des Schmetterlings, dessen sanfter Flügelschlag irgendwo auf unserer Welt

einen Orkan auslösen könnte. Ich will dem nicht widersprechen, dennoch bleibt das reine Theorie. Was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist dies:

Ein unvorhergesehenes Ereignis kann die Entwicklung einer ganzen Welt kippen, sie regelrecht umkehren. Das ist allerdings keine Theorie – das ist

Realität, die ich selbst erlebt habe.Professor Zamorra

Frankreich, Mai 2009

Ketlin war überhaupt nicht glücklich mit der Situation, in die sie sich hier begeben hatte.

Einzig die Tatsache, dass Fiola sie um ihr vollstes Vertrauen gebe-ten hatte, rechtfertigte dies alles. Fiola war schon seit der Kindheit ihre Freundin, auch wenn Ketlin eher aus einer sehr armen Bauern-familie kam, Fiola hingegen die Tochter des Dorfweisers war, der Bürgermeister und Richter in einer Person darstellte.

Ketlin und Fiola hatten sich als Kinder immer vertraut – bedin-gungslos und ohne groß Fragen zu stellen. Den größten Unfug hat-ten sie gemeinsam angestellt. Später dann als ganz junge Frauen, da hatten sich ihre Wege getrennt, denn Fiola war schon mit fünfzehn Jahren eine Ehe eingegangen.

Ketlin hatte ihren Mann nie sonderlich gemocht, denn der war ihr zu vornehm, zu sehr auf sich selbst bezogen. Doch Fiola liebte ihn halt, das musste sie akzeptieren.

So also musste sich ein Blinder fühlen, den man außerhalb seines vertrauten Umfeldes ausgesetzt hatte. Das Tuch, das vor Ketlins Au-gen fest anlag, raubte ihr die Sicht vollständig. Das war Fiolas Be-dingung gewesen, denn Ketlin sollte nicht wissen, an welchen Ort sie von ihrer Freundin geführt wurde.

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Fiola führte sie an der Hand, doch plötzlich stoppte sie. »Wir müs-sen da hoch.« Diese Aussage half der blinden Ketlin nicht sonderlich, doch im nächsten Augenblick wurde ihr klar, was Fiola damit sagen wollte. Ketlin fühlte die Holzleiter, ertastete sie.

Dieses reichlich wackelige Gestell sollte sie also mit verbundenen Augen erklimmen?

So langsam verging Ketlin der letzte Rest ihrer guten Laune.Das war doch alles lächerlich.Sie spürte die Hand Fiolas auf ihrer Schulter.»Bitte – wir sind bald am Ziel. Lass mich nicht im Stich.« Sie hatte

Ketlins unwillige Reaktion sehr wohl bemerkt. »Sie wollen doch nur sicher sein, dass du es wirklich bist. Sie setzen so große Hoffnungen in dich.«

Ketlin wusste nicht von wem Fiola da sprach.Große Hoffnungen?Worauf sollte sich das beziehen?Wer in dieser Zeit von Hoffnung sprach, der meinte damit Linde-

rung der Not – endlich wieder eine halbwegs gute Ernte, endlich wieder Jagdglück … oder einfach ein Stück Brot um zu überleben. Ketlin klagte nicht, denn in dieser Gegend herrschte noch keine wirklich verheerende Hungersnot, doch weiter im Norden starben die Leute wie die Fliegen.

Die letzten beiden Ernten waren verdorben. Einfach so – ohne er-kennbaren Grund. Die lange Zeit des Friedens zwischen den Stäm-men, den Ländern und Kontinenten, hatte viele unvorsichtig wer-den lassen. Lagerhaltung existierte oft nur mangelhaft oder über-haupt nicht. Und nun, da Vorrat so wichtig, so überlebenswichtig war, wurde diese Trägheit bestraft. Doch die Lethargie existierte noch aus einem ganz anderen Grund …

Ketlin konzentrierte sich auf die Leiter, deren Sprossen nicht sehr vertrauenswürdig erschienen. 15 von ihnen erklomm sie mehr oder weniger sicher, dann war das Ziel erreicht. Ihre nackten Füße fühl-ten einen Holzboden – ihr ausgeprägter und trainierter Geruchssinn registrierte den Duft von Heu. Ketlin brauchte es nicht erst zu sehen, denn sie wusste, dass sie sich auf einem Speicherboden befand. Die Helligkeit deutete auf Fackeln hin, was auf so einem Speicher äu-

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ßerst unvernünftig war.Die junge Frau machte ein paar Schritte nach vorne, um sich von

der gefährlichen Kante zu entfernen. Direkt hinter ihr ging Fiola. Sie flüsterte irgendetwas, doch Ketlin hörte nicht mehr hin. Eine ganze Weile hatte sie das merkwürdige Spielchen ja mitgemacht, doch nun reichte es ihr endgültig.

Mit einen Ruck zog sie das Tuch nach oben, das ihren Blick beein-trächtigt hatte.

Rasch orientierte sie sich, ordnete die Eindrücke, die nun zu ihr drangen. Der Raum war rund – ungewöhnlich für einen Speicher in dieser Gegend. An der umlaufenden Wand hingen in regelmäßigen Abständen Fackeln; für Ketlins Geschmack viel zu dicht aneinander, denn ein einziger verirrter Funke mochte hier eine Katastrophe be-wirken.

Der gesamte Fußboden war mit Heu bedeckt, was ein wunderba-res Futter für die Flammen abgeben würde. Doch das alles verdräng-te Ketlin, weil sie sich auf die Frauen konzentrierte.

Es mochten fünfzehn, vielleicht auch zwanzig sein, die Ketlin im Kreis umstanden. Sie alle trugen blutrote Kleider, die bis zu ihren nackten Zehen reichten. Damit war für Ketlin schon klar, dass es sich um hart arbeitende Frauen handeln musste, denn barfuss auf Heu zu laufen war nichts für zartbesaitete Sohlen. Wahrscheinlich handelte es sich um die Bäuerinnen der Umgebung.

Mehr konnte Ketlin nicht erkennen, denn die Frauen trugen Ge-sichtsmasken – Raubtiere, Vögel und Nutztiere waren alle versam-melt. Ketlin konnte sich ein Grinsen nicht verbeißen, denn solche Verkleidungen waren im Grunde doch den Kindern vorbehalten, die gerne einmal in ein fremdes Ich schlüpfen wollten.

»Also bitte – was soll denn dieser Mummenschanz? Ist das ein neues Spiel, das ich noch nicht kenne? Dann muss ich euch alle ent-täuschen, denn solche Spiele mag ich nicht.« Ketlin schickte sich an, den Kreis zu verlassen um die wackeligen Sprossen nach unten zu steigen. Eine tiefe Stimme, fast zu tief für eine Frau, hielt sie auf.

»Bitte warte noch. Ich möchte deine Haare sehen. Tu mir doch den Gefallen …«

Irgendetwas in dieser Stimme sprach Ketlin an. Da war eine Men-

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ge Trauer enthalten, doch auch eine Spur verzweifelter Hoffnung. Ketlin wandte sich langsam um. Die Sprecherin war ein wenig klei-ner als sie, wirkte eher vollschlank. Ihre Maske zeigte einen Tork, ein friedliches Nutztier, dessen Fleisch ihm und seiner Rasse immer wieder zum Verhängnis wurde, weil es einfach zu gut schmeckte.

Wortlos griff Ketlin nach dem nachtblauen Kopftuch, das sie wie selbstverständlich trug. Sie war eine perfekte Jägerin – und als sol-che musste sie sich nicht minder tarnen als die Tiere, die sie erlegen wollte. Sie löste den Knoten und zog das Tuch von ihrem Kopf.

Ein Raunen ging durch die Reihe der Frauen.»Sie ist es …«»Ja, jetzt hoffe auch ich wieder.«»Sie wird helfen, ganz sicher.«Ketlins Haare strahlten im Weiß des ersten Schnees. Nur ihr Ge-

sicht wurde von einem schmalen Kranz rotbrauner Haare einge-rahmt. Ketlins Eltern hatten alles versucht, um dem Haar ihrer Tochter seinen Fluch zu nehmen, denn als solchen betrachteten sie es. Pasten, Tinkturen, künstliches Einfärben … das alles hatte Ket-lins Haar unbeeindruckt gelassen. Einige Male hatte man Ketlin kahl geschoren, doch am Ende setzte sich immer wieder das Schlohweiß durch.

Kein Wunder, wenn die Leute in der Umgebung ihr den Spitzna-men Winterfuchs gegeben hatten, denn ihr Haar war wie das Fell, mit dem sich der Fuchs in der kalten Jahreszeit zu tarnen pflegte. Später wurde dann Füchsin daraus – und so nannte man sie auch heute noch.

Ihr Vater war einer der führenden Jäger des Landes gewesen, der seine geliebte Tochter oft und gerne mit auf seine langen Wege ge-nommen hatte. Rasch hatte er Ketlins Talent zur Jagd entdeckt, doch um sich der Beute unbemerkt nähern zu können, musste der gute Jä-ger mit seiner Umgebung verschmelzen können. Schwierig mit ei-nem Haarschopf, der wie eine Warnfackel strahlte. Also verpasste er Ketlin das Kopftuch und dabei blieb es dann.

Auch zu der Zeit, in der Ketlin mit ihrem Mann gemeinsam gejagt hatte. Sie verdrängte diese Erinnerung sofort wieder, denn sie schmerzte noch immer heftig. Es war ja auch erst gerade einmal

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zwei Sonnenumläufe her …Die Tork-Maske machte zwei Schritte auf Ketlin zu.»Ich heiße dich willkommen, Füchsin. Wir haben lange gezögert,

ehe wir uns zu diesem Schritt durchringen konnten. Erst als wir ab-solut klar erkennen mussten, dass alle unsere eigenen Versuche end-gültig gescheitert waren, haben wir …«

»Da habt ihr mich hierher gelockt. Aber wozu? Ich kann keinen Grund erkennen, denn ich jage nicht mehr, kann euch also kein Fleisch besorgen. Der Hunger breitet sich auf dieser Welt immer schneller aus, doch ihr habt doch zumindest noch Weizen und Korn. Es gibt andere, die sind schlimmer dran als ihr.«

Die Tork-Maske machte mit den Händen abwehrende Gesten.»Du irrst dich – wir haben dich nicht an diesen Ort bringen lassen,

damit du für uns auf die Jagd gehst.« Einen Augenblick zögerte sie. »Obwohl das so auch nicht stimmt, denn deine Jagdfähigkeiten könnten uns vielleicht so sehr helfen.«

Ketlin begriff nicht. Die Frauen rückten immer näher an sie heran. Der Kreis verkleinerte sich zusehends. Die Sprecherin der Gruppe sprach es aus.

»Seit dem Tag, an dem der Block auf unsere Welt kam, verschwan-den Frauen und Männer, die nie wieder gesehen wurden. So viele grässlich entstellte Leichen wurden seither gefunden, aber doch nur ein Bruchteil der Verschwundenen. Sie sind irgendwo … werden ge-fangen gehalten, vielleicht gefoltert … vielleicht tut man ihnen un-beschreibliche Dinge an.«

Ketlin nickte. Sie wusste davon.Jeder wusste davon! Doch wie unter einer Glocke aus Gleichgül-

tigkeit und Passivität nahm man es hin. Einfach so … wenn der Block eine Gottheit war, dann hatte er die Verschwundenen zu sich geholt. Eine Gottheit? Oder ein unsäglicher Fluch. Ketlin spürte auch in sich die Lethargie. Es war wie es war … wenn niemand sonst bohrende Fragen stellte, wenn niemand sonst die Initiative er-griff, warum sollte es ausgerechnet sie sein? Ausgerechnet Ketlin?

»Warum erzählt ihr mir Dinge, die ich weiß? Sagt endlich was ihr von mir wollt.«

Die Sprecherin trat noch einen weiteren Schritt auf die Füchsin zu.

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Ihre Stimme zitterte ein wenig, doch war noch genug Kraft in ihr, um Ketlin zu beeindrucken.

»Wir wollen sie wieder haben. Du sollst sie für uns suchen, Füch-sin. Hörst du? Wir wollen unsere Männer zurück …«

Der bestialische Gestank war allgegenwärtig.Diese Mischung aus fauligem Wasser, verwesendem Fleisch und

Fäkalien war nahezu unerträglich. Und doch … die Männer lebten mit ihm. Sie hatten keine andere Wahl.

Doch es war nicht der furchtbare Mief der Jylge vom Schlafen ab-hielt. Die Felsenwände, die zwischen den einzelnen Gängen und ih-ren Kammern lagen, waren oft nur sehr dünn. Vor allem waren sie hellhörig.

Jylges Nachtruhe – zumindest bildete er sich ein, es wäre nun Nacht – wurde durch eindringliches Gelaber gestört. Er konnte jedes einzelne verdammte Wort hören, das die beiden Kerle in der an-grenzenden Kammer miteinander sprachen. Normalerweise hätte Jylge lautstark protestiert und Ruhe eingefordert, doch in diesem speziellen Fall schwieg er. Der Grund dafür war einfach:

Der eine der beiden Störenfriede war der Kerl, den alle nur den Schwätzer nannten – ein unerträglicher Schleimer, der jedem die Welt erklärte, ob der nun wollte oder auch nicht. Zudem steckte Schwätzer stets bis zu seiner Halskrause im After desjenigen, der hier gerade das Sagen hatte. Und das war zur Zeit Sebatt – der zwei-te Mann in Jylges Nachbarkaverne.

Sebatt war ein kräftiger Mann, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Jylge. Doch seine Körperkräfte setzte er nur selten ein, denn er war wirklich ein Meister darin, mit Intrige und geschickten Lügen die Leute an sich zu binden. Sebatt hatte sein Gewissen wohl an dem Tag verloren, an dem man ihn hier lebendig begraben hatte … so wie alle Insassen der Totenhöhle.

Ja, Totenhöhle, denn sie alle waren im Grunde schon um ihr Leben gebracht worden. Man hielt sie hier wie Vieh. Zu welchem Zweck? Jylge kannte all die Theorien, die hier die Runde machten. Manche ergaben sich der Strafe der alten Götter, die sie ereilt hatte, weil sie

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sich dem neuen Gott genähert hatten. Gott? Jylge glaubte eher, dass es sich bei diesem Gott um die schlimmste Plage handelte, die sich je über die Welt gelegt hatte.

Einige der Gefangenen redeten sich immer und immer wieder ein, sie wären die Auserwählten der neuen Herrscher, und sie mussten nur geduldig warten, bis die Herren sie zu sich holen würden. Wunschdenken verfestigte sich immer mehr zur eigenen Wahrheit, wenn man es sich nur immer selbst neu vorbetete.

Auserwählte waren sie sicher, da wollte Jylge nicht widerspre-chen. Man fütterte sie mit Dreck, der gerade ausreichend war, sie nicht am Hunger verrecken zu lassen. In Jylges Kopf hatte sich längst ein Bild geformt. Er ahnte, was sie alle hier für eine Funktion hatten, doch er versuchte nicht daran zu denken.

Sebatt und der Schwätzer kamen überhaupt nicht auf den Gedan-ken, dass jemand ihre Unterhaltung mithören konnte. Vielleicht war ihnen das auch gleichgültig, doch je länger Jylge dem Gespräch lauschte, je deutlicher wurde ihm, dass es um Dinge ging, die man durchaus geheim halten wollte.

»Nach oben? Bist du da sicher?« Schwätzer akzentuierte seine Worte so übertrieben, wie er es immer machte. Dennoch nahm ihm Jylge seine Verblüffung in diesem Fall wirklich ab. Ihm erging es nicht viel anders, als er Sebatts Worte belauschte.

»Sicher? So sicher, wie man in unserer Situation nur sein kann.« Sebatt klang überzeugt. »In den vergangenen Jahren sind unzählige Ausbruchsversuche durch die Gänge unternommen worden. Und? War auch nur einer davon erfolgreich?«

Der Schwätzer antwortete nicht, aber was gab es dazu auch noch zu sagen? Von der riesigen Haupthöhle aus gingen strahlenförmig Hunderte dieser schmalen Gänge ab, die in den meisten Fällen in winzigen Kavernenräumen endeten, in denen sich maximal drei Personen aufhalten konnten. Es gab so viele von ihnen, dass sich hier jeder der Gefangenen eine Einzelzelle aussuchen konnte.

Jeder sechste oder siebte Gang endete jedoch in einer wahren Sack-gasse – die Felswand war Endstation. Beide Varianten waren natür-lich zu Ausbruchsversuchen genutzt worden, doch die erhofften Hohlräume, den Weg in die direkte Freiheit, all das hatte es nie ge-

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geben. Bei den Grabarbeiten, die zum großen Teil mit Holzbalken und einigen wenigen Eisenstangen durchgeführt wurden, brachen die Fluchttunnel oft in sich zusammen … viele Männer hatten ihr Leben dabei verloren. Werkzeug – richtiges Werkzeug – gab es hier natürlich nicht. Sie mussten vorlieb nehmen mit den Fundstücken aus einer unbestimmten Vergangenheit, in der ihre Vorgänger hier ihr Dasein gefristet hatten.

Vorgänger? Keiner der Gefangenen hatte auch nur eine Idee, wo sie sich hier befanden. Es hatte immer Geschichten aus der Vorzeit gegeben, die sich um Sektierer gedreht hatten. Man munkelte von uralten unterirdischen Höhlen, in denen Gottesabtrünnige ihre Ri-tuale vollzogen hatten; blutige Rituale, die irgendwelchen erdachten Göttern huldigten. Aber das war nur eine vage Theorie.

Jylge glaubte eher an die Variante, dass diese Höhle tief unter die Erde getrieben geworden war, um dann die Seitengänge in das Ge-stein zu treiben – Erze, Edelsteine? Da gab es mehrere Möglichkei-ten. Und als dann die Ernte im Fels beendet war, da hatte man sie so belassen, wie sie war. Der Eingang war sicher verschlossen worden. Vielleicht war diese Unterwelt aber auch in früheren Zeiten ein Ver-steck gewesen? Für einen ungeheuer großen Schatz? Oder für Men-schen, die niemand entdecken sollte?

Die neuen Herren über diese Welt hatten jedenfalls einen anderen Verwendungszweck gefunden.

Jylge konzentrierte sich wieder auf Sebatts Stimme.»In die Tiefe haben wir es auch schon probiert. Die Zisterne in der

Höhle wurde für viele zum nassen Grab.« Er sprach von dem schwarzen Wasserloch, das es in der Haupthöhle gab – moderiges Wasser, das eher krank machte, als dass es erfrischte. Doch es war die einzige Wasserquelle, die sie besaßen.

»Durch die Decke fällt durch Risse und Spalten Licht. Nicht sehr viel, doch daran haben wir uns gewöhnt. Das bedeutet doch, dass dort oben die Erdoberfläche ist … und sicher nicht allzu weit ent-fernt von uns.«

Jylge hob die Augenbrauen hoch. Eine gewagte Theorie, denn die Decke mochte drei Fuß dick sein – oder vielleicht doch 30 Fuß? Möglicherweise fand das spärlich einfallende Licht ja seinen Weg

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hier herunter auf ganz anderen Wegen – möglicherweise türmte sich über ihren Köpfen ein ganzes Gebirgsmassiv. Sebatt spekulierte, weiter nichts.

»Ein Tunnel nach oben.« Der Schwätzer konnte seinen Unglauben nicht verbergen. »Womit willst du den abstützen? Den Männern werden die Brocken nur so auf die Köpfe prasseln.«

»Mach dir mal keine Gedanken um die Männer. Die habe ich im Griff. Was könnte uns Besseres passieren, wenn die Felsbrocken frei-willig den Weg nach oben frei machen? Und selbst wenn der Ver-such fehlschlägt, neue Aktivitäten und neuen Mumm wird er auf je-den Fall erzeugen. Oder willst du hier tatenlos hocken, bis sie dich holen?«

Der Schwätzer schwieg – ein Widerspruch in sich, doch hier passte das.

Bis sie dich holen …Männer verschwanden. Nicht regelmäßig, doch in zunehmendem

Maße. Wie das geschah, das wusste hier niemand. So mancher be-richtete von huschenden Wesen, die das Auge kaum wahrzunehmen wusste. Wenn man sie beobachtet hatte, war immer ein Gefangener verschwunden … oft auch zwei. Aber auch das konnte durchaus der kranken Phantasie der Insassen entsprungen sein.

Jylge hatte diese Wesen jedenfalls noch nie gesehen. Immer wieder kamen aber auch neue Gefangene, die entsetzt realisieren mussten, wo sie hier gelandet waren. So blieb die Anzahl der Gefangenen stets nahezu gleich.

Wie in einer gut geführten Vorratskammer …Sebatts Stimme riss Jylge erneut aus seinen Grübeleien heraus.»Ich habe alle Seitengänge untersucht. Die meisten führen ohne

Steigung oder Gefälle in den Fels hinein. Einige wenige jedoch stei-gen an. Einen von diesen Gängen habe ich ausgewählt. Es wird leichter fallen, die Felsbrocken aus dem Gang zu entfernen, wenn dieser zur Höhle hin abwärts führt.«

Jylge fragte sich, wozu Sebatt den Schwätzer brauchte? Warum er-zählte er ihm hier so intensiv von seinem Vorhaben? Jeder wusste, dass des Schwätzers Art Sebatt zuwider war. Die Antwort erhielt der Lauscher Jylge umgehend.

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»Dich, Schwätzer, brauche ich für eine ganz besondere Aufgabe. Es wäre nicht gut, wenn sich alle Männer bei dem Tunnel herum-trieben – viel zu gefährlich, falls die Decke tatsächlich einbrechen sollte. Niemand kann sagen, welche Auswirkungen das auf die Höhle selbst haben könnte. Also wirst du die Leute ablenken, sie vom Tunnel fernhalten. Erzähle ihnen irgendwelche Geschichten, lenke ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Was auch immer … dir fällt da sicher etwas ein.«

Das hörte sich für Jylge im ersten Moment vernünftig an, doch er ahnte, warum Sebatt plötzlich so besorgt um die Gefangenen war. Er wollte die erhoffte Freiheit als Erster genießen. Was dort auch auf sie alle warten mochte, Sebatt wollte es sein, der den ersten Rahm einstrich.

Die beiden im Nebengang verschwanden kurz darauf. Sicher woll-te Sebatt dem Schwätzer den Gang zeigen, den er ausgewählt hatte. Bei all seinem Machtstreben, seiner Hinterlistigkeit und Selbstherr-lichkeit war Sebatt im Grunde auch nur ein armer Kerl, der nach Anerkennung und Lob heischte.

Jylge blieb noch einige Zeit still liegen, denn er wollte sicher sein, dass die beiden auch wirklich verschwunden waren. Erst dann machte er sich auf in Richtung der großen Höhle. Hier war es ziem-lich still. Er konnte nur vereinzelte seiner Leidensgenossen entde-cken, denn die meisten schliefen sicher mehr oder weniger ruhig in ihren Gängen – wahrscheinlich eher unruhig, denn hier traute der eine dem anderen nicht. Lächerliche Unstimmigkeiten hatten hier schon zu Mord und Totschlag Anlass gegeben; wenn man schlief, dann hielt eine Hand einen Steinkeil oder einen langen Nagel von der Sorte, die man hier immer wieder einmal finden konnte.

Viel hatten die Menschen, die hier vor langer Zeit einmal die Höh-le ausgebaut hatten, nicht zurückgelassen. Hohlbalken zum Abstüt-zen von Decke und Wänden, ein paar Ketten – verrostet und un-brauchbar – Nägel, eine Hand voll Schlagwerkzeuge. Das war es schon. Nur ein paar halbwegs brauchbare Dinge, die allerdings wie wahre Schätze gehütet wurden.

Die Kronjuwelen jedoch waren drei kleine Dolche. Tausendmal ge-schärft waren ihre Klingen allzu dünn geworden, doch sie waren die

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einzigen realen Waffen, die es hier gab.Wer sie besaß, war den anderen überlegen, so unglaublich das

auch klingen mochte.Zwei der Dolche waren angeblich in Sebatts Besitz. Wer den drit-

ten besaß, das wusste wohl nur derjenige selbst. Jeder verdächtigte den anderen. Jylge war das gleichgültig, denn er verspürte in sich keinerlei Drängen nach Macht. Er hielt sich stets im Hintergrund. Bislang war er damit recht gut gefahren.

Sebatts Versuch, die Höhle durch die Decke zu verlassen, reizte ihn allerdings auch. Zumindest wollte er sich ansehen, wie weit die Männer kommen würden. Jylge war sicher, dass sie scheitern muss-ten. Es fehlte ganz einfach an Material, an Stempeln, an Holz für Querverstrebungen – einfach an allem.

In seinem Kopf formte sich eine Zeichnung … ja, so konnte das klappen. Jylge erschrak vor seinen eigenen Gedanken. Aus welchem Grund glaubte gerade er, dass er über entsprechendes Wissen ver-fügte? Die Zeichnung löste sich wie in einem Nebel auf. Wahr-scheinlich fehlte ihm ganz einfach nur Schlaf.

Er hockte sich für einen Moment auf den steinigen Boden. Diese Il-lusion hatte ihn mächtig verunsichert. Es geschah immer wieder ein-mal, dass einer der Männer vollkommen durchdrehte. Aber er doch nicht – oder doch?

Jylge schloss die Augen. Sicher … ihm fehlte nur ein wenig mehr Schlaf …

In den vergangenen Jahren, die er hier in dieser Höhle verbracht hatte, war es für ihn zu einer Instinkthandlung geworden, beim Aufwachen sofort klar und reaktionsfähig zu sein. Das war ganz einfach überlebenswichtig; den anderen Männern erging es nicht an-ders. Niemand war gegen Übergriffe gesichert – auch Jylge nicht, der unauffällige junge Mann, der sich möglichst aus allem heraus-hielt.

Er war tatsächlich eingeschlafen, mitten in der Höhle. Und nun entdeckten seine noch müden Augen etwas, das er hier noch nie zu-vor gesehen hatte. Etwas, über das hier nicht laut gesprochen wur-

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de, weil es doch sicher nur ein Hirngespinst war – eine Einbildung, eine gespenstische Erscheinung. Doch Jylge sah jetzt alles vor sich.

Deutlich und klar, auch wenn die Erscheinung immer wieder in sich flirrte, verschwamm und dann nahezu unsichtbar wurde. Das alles wiederholte sich ständig, doch auch wenn es noch so verwir-rend war – Jylge war sicher, drei Personen am Ende der Höhle zu erkennen, die hier nicht her gehörten.

Zumindest erkannte er ihre Körperumrisse, denn ihre Körper selbst wechselten vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, absolut will-kürlich. Jylge wagte es nicht sich zu bewegen. Waren die Gerüchte also doch wahr? Kamen sie um einen oder mehrere der Gefangenen zu holen? Jylge hätte die Wesen nicht beschreiben können. Größe und Umriss kamen einem Menschen gleich, doch das, was ihren Körper umschloss, war so fremdartig.

Sie schienen eine Hülle um sich zu tragen, die silbrig schimmerte, jedoch je nach Einfall des spärlichen Lichtes plötzlich durchschei-nend wurde. Irgendwie entstand der Eindruck, als wären die Wesen nicht wirklich hier. Dazu kam noch die Tatsache, dass sie sich ir-gendwie unsicher bewegten, als würde das Schummerlicht auch sie stark beeinflussen.

Sie suchen …Jylge war sich da ganz sicher und er ahnte, wonach die Wesen

Ausschau hielten.Sie waren Menschenfänger, Häscher … Jäger … und Kerkermeis-

ter in einem! Trotz seiner lähmenden Angst spürte Jylge, wie die kalte Wut in ihm aufstieg. Waren sie es, die für all das hier die Ver-antwortung trugen? Kaum zu glauben, denn die Wesen bewegten sich so ruckartig, so falsch. Doch sie verfolgten ihr Ziel.

Und dieses Ziel hieß Burk! Der Älteste der Gefangenen lag wie so oft zusammengerollt einem Embryo gleich auf dem Boden; Jylge hatte sich schon oft gefragt, welches Geheimnis wohl hinter Burks Rauschzuständen lauern mochte. Branntwein? Das konnte schlicht-weg nicht sein, denn hier unten gab es weder die technischen Mög-lichkeiten noch die erforderlichen Zutaten, um Fusel zu brennen. Rauschmittel? Unmöglich, es sei denn, der alte Mann konnte sich am Steinstaub berauschen. Dennoch schaffte er es immer wieder,

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sich in einen solchen Zustand zu versetzen, und war dann nicht an-sprechbar. Manchmal dauerte das einige Tage.

Hätte Burk sich in seinen Gang verkrochen, dann wäre er regel-recht mit dem Fels verschmolzen, gleich einem Megalith, der sein Phlegma zelebrierte. Hier allerdings, mitten in der Höhle, war er das perfekte Opfer. Das gefundene Fressen. Dieser Gedanke ließ Jylge das Blut in den Adern gefrieren – waren er und seine Mitgefangenen wirklich das, was er schon so lange vermutete?

Nahrung …Burk bemerkte die Fremden nicht. Ganz gleich, was sie mit ihm

tun wollten, er würde es nicht registrieren. Der Alte war tief in sei-nem Rausch gefangen. Jetzt waren sie schon nahe bei ihm.

Jylge begriff nicht, was er nun tat. Plötzlich begann er sich zu be-wegen, fuhr suchend mit der Hand über den Boden. Sein Kopf schrie ihm zu, er solle sich tot stellen, doch irgendetwas in seinem Unterbewusstsein war damit wohl nicht einverstanden. Er tastete und wurde fündig. Seine Finger schlossen sich um den Stein, der wie bestellt neben ihm lag.

Jylge sprang in die Höhe – die vielleicht letzte spontane Aktion in seinem Leben, denn er machte die Fremden auf sich aufmerksam. So genau wie möglich schleuderte er den Felsbrocken. Und Jylge traf! Nicht die Fremden, das hätte er dann doch nicht gewagt, sondern den alten Burk. Er erwischte ihn an der linken Schulter und war selbst verblüfft, welche Wirkung er damit erzielte. Der Alte erwach-te aus seiner selbst erwählten Starre, sah sich verwirrt um. Die We-sen waren schon dicht bei ihm, doch Burks Verstand vermochte die Situation nicht so spontan zu verarbeiten.

Jylge schrie ihn an.»Lauf, Burk, verdammt … nun lauf schon los!«Nur für einen kurzen Moment nahm Burk Blickkontakt zu Jylge

auf, dann reagierte er. Jylge sah mit Erstaunen, wie behände der alte Mann sich zu bewegen wusste. Er schlug im Laufen einen Haken um die Wesen, die anscheinend vollkommen überfordert mit der neuen Situation waren. Ihr erwähltes Opfer floh. Die Bewegungen der Fremden waren so gehemmt, so behäbig, dass selbst der alte Burk ihnen ohne Probleme entkommen konnte. Nur … wohin? Es

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gab keinen wahren Fluchtweg aus diesem Gefängnis. Jylge bemerk-te, dass Burk sich panisch umsah. Wohin jetzt?

Jylge spurtete nun auch los. Vielleicht war seine Idee ganz einfach dumm und unbrauchbar, doch er hatte keine Alternative in seinem Denken. Wieder schrie er so laut, wie er nur konnte.

»Hierher. Mir nach!« Burk war verzweifelt und angsterfüllt genug, um nach jedem Strohhalm zu greifen. Und sein Strohhalm hieß Jyl-ge. Er schaffte es tatsächlich, den jüngeren Mann einzuholen, der sich auf eine ganz bestimmte Stelle in der Höhlenwand konzentrier-te. Nahezu perfekt trafen die beiden Männer vor einem der unzähli-gen Gänge zusammen – es war Jylges Gang.

Burk wurde von Jylges kräftigen Händen bei den Schultern ge-packt und mit Schwung in den Gang geworfen. Äußerst unsanft kam er auf. »Weiter, bis zum Ende – los, los!« Er hörte Jylges Kom-mando und befolgte es. Es war ein Gang wie alle anderen. Wie also sollte er die beiden vor den Fremden schützen können? Burk hatte das Gefühl, jetzt erst recht in der Falle zu sitzen.

Was er dann zu sehen bekam, war für ihn absolut verblüffend. Jyl-ge kroch ebenfalls in den Gang, drehte sich in Rückenlage und trat dann heftig gegen einen Steinkeil, von dem Burk niemals gedacht hätte, dass er eine besondere Funktion besaß. So rasch er nur konnte robbte Jylge nach hinten auf Burk zu. Und dann geschah es:

Zunächst war es nur ein leises Grollen – und Burk hätte beinahe auf seinen leeren Magen getippt, doch in der nächsten Sekunde fiel der erste Steinbrocken zu Boden, dann der zweite. Nur Augenblicke später war der gesamte Gang mit dichtem Staub gefüllt, der die bei-den Männer zu heftigen Hustenattacken trieb. Als der Staub sich ein wenig legte, konnte Burk sehen, was wirklich geschehen war. Der Eingang war völlig verschüttet. Sie waren gefangen, doch es konnte auch von draußen nichts und niemand so rasch zu ihnen dringen.

Burk blickte Jylge an.»Hast du das gebaut?«Der Jüngere nickte. »Eigentlich als Absicherung, falls Sebatt und

Konsorten mal hinter mir her sein sollten. Sehr beliebt bin ich bei ihm ja nun nicht gerade. Aber jetzt – still! Ich höre die Wesen. Sie sollen glauben, wir wären umgekommen.«

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Jylge schloss die Augen, um sich besser auf die Geräusche aus der Höhle konzentrieren zu können, die jetzt noch zu ihnen drangen.

Jemand oder etwas kratzte gegen die Steine, die den Gang wie ein Korken verstopften. Natürlich war es kein großes Problem die Bro-cken zu entfernen, aber Jylge hoffte darauf, dass die Wesen den al-ten Burk und ihn für tot hielten, erschlagen vom Fels.

Die Männer wagten kaum zu atmen, als die Geräusche lauter und fordernder wurden.

Jylge roch wieder einmal den Gestank, der die Todeshöhle durch-drang. Doch in diesem Fall variierte der Geruch ein wenig. Da war noch etwas anderes … und Jylge begriff, dass es der eigene Angst-schweiß war, der ihm den Magen umdrehte.

Der Gestank der Todesangst kroch in seine Nase …

Alle sprachen vom Brocken, vom Klotz …Diejenigen, die ihn für einen Göttersitz hielten, für ein Heiligtum,

nannten ihn Tempel.All das traf die Sache nicht genau. Was da auf diese Welt niederge-

gangen war, konnte man im Grunde nur mit einem Berg verglei-chen. Niemand hatte es bisher gewagt ihn zu vermessen. Er war ein-fach nur … riesig.

Und er war abstoßend. Seine Oberfläche mochte einmal glatt und hell gewesen sein, doch nun konnte man überall riesige Schrammen, Verbeulungen und sogar vereinzelt Löcher erkennen. Im Grunde gab es kaum noch eine wirklich heile Stelle, doch der größte Teil war mit schmutzigen Wucherungen überzogen, deren Herkunft sich niemand erklären konnte, der so nahe an ihn herangekommen war.

Knapp ein Viertel der Oberfläche war zudem mit einer dünnen Masse überzogen, die an Krätze auf Kinderhaut erinnerte. Einfach nur abstoßend.

Je näher Ketlin dem Brocken gekommen war, je stärker spürte sie den lähmenden Einfluss, den dieser Berg auf alle Lebewesen ausüb-te. Einen bösen Einfluss, dem sich niemand zu entziehen wusste. Schließlich stoppte die Füchsin ihre lautlose Annäherung und ging in Deckung, verschmolz mit ihrer Umgebung.

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Wie viele Stunden sie so lag, konnte sie nur schätzen. Es tat sich nichts. Niemand ging zu dem Brocken, niemand kaum aus seiner Richtung. Einfach nichts und niemand. Tiere gab es im weiten Um-kreis nicht, denn die hielten sich von hier fern.

Ketlin beherrschte die Kunst des Wartens bis zur Perfektion. Sie hatte einen guten Lehrer gehabt. Den besten von allen. Die Erinne-rungen fielen über sie her wie eine Gruppe Mordschwärmer, die – wenn sie sich ihr Opfer ausgesucht hatten – vom Himmel stießen und ihre Beute vollständig bedeckten.

Flynx … der größte Jäger, den diese Welt je gesehen hatte. Flynx, der ihr Ehemann, Freund und Jagdgefährte in einem gewesen war. Er war älter als sie, doch als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, da stand ihr Entschluss fest, ihr Leben mit ihm zu teilen. Ketlin war damals vielleicht 10 Jahre alt gewesen, vielleicht auch elf … genau wusste sie das heute nicht mehr.

Es war ihr Vater gewesen, der zu einer großen Jagd geladen hatte. Der Hunger von so vielen Menschen der Gegend musste einfach wieder einmal gestillt werden. Dazu reichten kleine Jagdtrupps nicht aus, denn die wirklich lohnende Beute – die mächtigen Gro'-ons – konnten nicht von vier oder fünf Jägern erlegt werden. Das klappte wenn überhaupt nur mit einer gezielten Treibjagd, an der gut und gerne 50 Personen beteiligt waren.

Ketlin mochte die Gro'ons, denn sie waren friedliche Giganten, Fleischberge, die sich aufopfernd um ihre Herde kümmerten, die zärtliche Eltern und Gefährten waren. Doch wenn die Menschen hungerten, dann musste gejagt werden.

Stets waren auch professionelle Jäger bei solchen Gelegenheiten anwesend, die Erfolg garantieren sollten.

Damals munkelte man in Ketlins Elternhaus, dass er kommen soll-te. Viele der großen Jäger waren bereits alte Männer, denn nur wer über viele Jahre den tödlichen Zähnen der Gro'ons entkommen war, verfügte über die Erfahrung, die man als ganz Großer nun einmal benötigte; die anderen, die jungen Wilden … sie starben jung.

Eine Ausnahme gab es. Flynx, der mit seinen knapp 25 Jahren die Alten bereits bei weitem übertraf. Die betrachteten ihn natürlich mit Skepsis und oft offener Ablehnung, doch bei der Jugend war er der

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Held. Und Ketlin sollte ihn also kennen lernen. Am Vorabend der Jagd versammelten sich alle im Haupthaus von Ketlins Eltern, so wie es Tradition war. Die Frauen aus der Umgebung hatten noch einmal ihre nahezu leeren Vorratskammern geplündert, damit die Jäger am kommenden Tag gestärkt losziehen konnten. Die Männer hingegen opferten ihren besten Gebrannten und den einen oder an-deren Weinschlauch dazu.

Es wurde ein fröhlicher Abend, einer mit vollem Bauch.Einer, an dem die meisten viel zu viel tranken. Ketlins Vater tor-

kelte bereits in der dritten Stunde des Abends, doch das hinderte ihn nicht daran, ein ums andere Mal die Tanzfläche zu besuchen. Normalerweise wäre das Ketlin äußerst peinlich gewesen, denn eine 10-jährige Tochter schämte sich schnell für die Eltern, wenn sie sich selbst wie Kinder benahmen. An diesem Abend war das aber an-ders, denn Ketlin hatte nur für einen Augen – Flynx.

Es saß bei den anderen professionellen Jägern, die allerdings einen sichtbaren Abstand zu ihm hielten; ihnen war dieser junge Bursche nicht ganz geheuer, der sich schnell einen großen Namen gemacht hatte.

Ketlin jedenfalls fand ihn ganz wunderbar. Er war nicht das, was in den Köpfen von jungen Mädchen oft umher kreiselte – der strah-lende Held, mit einem Siegerlächeln und blonder Mähne. Nein, so war Flynx ganz und gar nicht. Er war nur mittelgroß, trug seine Haare – die übrigens nicht blond, sondern von einem undefinierba-ren Braun waren – schulterlang und ungekämmt. Er hatte breite Schultern, eine schiefe Nase, die ihm wohl eine Jagdbeute zu ihren Lebzeiten beigebracht hatte, einen klaren Blick aus blauen Augen … und einen nicht zu übersehenden Bauchansatz. Das alles störte Ket-lin nicht, denn sie sah nur die lebende Legende in ihm, den Mann, der im Alleingang einen Gro'on erlegt hatte. Zumindest eilte Flynx diese Geschichte voraus.

Nur langsam und schüchtern näherte sich ihm Ketlin an diesem Abend. Irgendwann jedoch hatte sie es geschafft, sich mitten unter die Jäger zu schummeln. Die hatten nichts gegen diesen unerwarte-ten Gast, denn Ketlin war ein wunderhübsches Mädchen, das gut er-zogen war und es verstand eine Konversation in Gang zu bringen.

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Nach und nach verschob sie ihre Position und endlich hatte sie es geschafft, direkt neben Flynx zu sitzen, der sie jedoch überhaupt nicht zu beachten schien. Mit Heißhunger biss er in eine gebratene Keule, als Ketlin ihren Mund nahe an sein Ohr brachte.

»Du frisst zuviel. Du wirst fett wie ein Tork, wenn du so weiter-machst.«

Ketlin stieg die Hitze in den Kopf, als sie diese Worte ausgespro-chen hatte. Was war nur in sie gefahren? Sie hatte den Verstand ver-loren, ganz sicher.

Sie rechnete fest damit, dass Flynx sie nun sofort zu den Göttern der Tiefe wünschen würde. Doch der Jäger lachte laut auf, senkte die Hand mit der Keule. Ketlin hätte schwören können, dass Flynx eine gutturale Stimme besaß, doch sein Lachen klang hell und freundlich.

»Das, kleine Frau, hat noch niemand zu mir gesagt.« Er warf einen kontrollierenden Blick auf seine Hüften. »Ja, du hast nicht ganz un-recht. Weißt du, meine Art der Jagd erfordert keine langen Läufe, keine unnötige Kraftanstrengung. Und wenn man dann so gerne isst wie ich, dann bleibt so ein Hüftring wohl nicht aus.« Er klatschte sich mit der freien Hand auf den Bauch und lachte Ketlin an.

Den restlichen Abend über unterhielten sie sich angeregt, lachten viel miteinander. Doch am folgenden Tag verschwand Flynx gleich nach erfolgreicher Jagd. Ketlin war traurig und enttäuscht, dass er sich nicht zumindest von ihr verabschiedet hatte. Aber sie war für den Jäger sicher nur ein dummes Kind …

Es dauerte ganze neun Planetenjahre, bis sie ihn wiedersah. Es war kein schöner Anlass, wahrhaftig nicht. Ketlins Vater war gestorben. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, was für ein bedeutender Mann er gewesen war. Natürlich hatte sie gewusst, wie sehr er sich um die Belange anderer gekümmert hatte. Immer war er für die Menschen dieser Gegend der erste Ansprechpartner gewesen, wenn es um Pro-bleme ging. Er hatte die Jagden organisiert, hatte jedem Ratschläge gegeben, wenn es um die Ernte ging, schlichtete Zwistigkeiten wo er nur konnte. Das alles war für Ketlin so selbstverständlich gewesen, dass ihr entgangen war, wie die Menschen ihn sahen – wie einen Pa-tron, der für alle ein offenes Ohr hatte.

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Es waren so viele Menschen zu der Beerdigung gekommen, wie man es hier zuvor wohl noch nie erlebt hatte. Der Tag lief an Ketlin vorbei, als wäre sie in einer Trance, die von der Trauer umhüllt wur-de. Irgendwann, es wurde bereits dunkel, fasste sie jemand beim Arm und hielt sie auf.

Es war Flynx – neun Jahre älter geworden, doch noch immer der Jüngste unter den großen Jägern. Er hatte sich kaum verändert, selbst der Bauchansatz war gleich geblieben. Sie sprachen lange mit-einander, redeten über Ketlins Vater und die Ernte. Am kommen-den Morgen hatte Flynx Ketlin abgeholt. Er nahm sie mit auf die Su-che nach der nächsten Gro'on Herde. Ketlin war ihm gefolgt, auch wenn sie wusste, dass so eine Suche oft mehrere Tage dauern konn-te. Das war ihr gleichgültig, denn nun, da ihr Vater nicht mehr war, brauchte sie einen festen Halt. Sie brauchte Flynx.

Die folgenden Tage waren beeindruckend, denn Ketlin begriff, mit welchem Respekt Flynx sich den Gro'ons näherte. Er töte nur um der Nahrung Willen, niemals aus Spaß am Morden, wie man es vie-len der Jäger nachsagte.

Eines ergab das andere …Sie heirateten nur ein halbes Jahr später und Ketlin begleitete ihren

Mann nun auf all seinen Jagden. Fünf ganze Planetenjahre war sie stets an seiner Seite. Als Ehefrau, als Jagdgefährtin … und schon bald als eigenständige Jägerin, denn Flynx hatte rasch das Talent Ketlins entdeckt. Nicht lange, da lud man das Paar gemeinsam zu den großen Jagden. Flynx und die Füchsin … wurde rasch zu einem stehenden Begriff.

Fünf Jahre.Das letzte davon war nicht gut für die beiden gelaufen. Immer

häufiger hatte man sie übergangen, denn Flynx weigerte sich strikt mit Donner zu töten, mit Rauch, die gemeinsam die großen Körper der Gro'ons zerfetzen konnten. Das war für ihn keine Jagd, sondern sinnloses Morden. Er blieb bei seiner Armbrust, die er wie kein zweiter beherrschte. Doch die neuen Waffen arbeiteten effektiver, schneller und ohne Gefahr für das Leben der Jäger.

Warum entsinnt sich heute niemand mehr der neuen Waffen?Ketlin hatte sich diese Frage immer wieder gestellt, doch es waren

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ja nicht nur diese Waffen, die in Vergessenheit geraten waren. So viele Dinge schienen aus dem Denken der Menschen ausgelöscht zu sein, ganz so, als hätte es sie nie gegeben. Ketlin war sicher, den An-fang einer ganz neuen Zeit miterlebt zu haben, doch wo war die ge-blieben?

Immer wieder einmal schien sie sich zu erinnern, doch dann war da wieder dieser Schleier, der alles zudeckte. Sie blickte von ihrer Position aus zu dem Brocken, dem Berg, der auf die Welt gefallen war. Als er gekommen war, da waren die Erinnerungen mit einem dicken Leichentuch zugedeckt worden. Zugedeckt und erstickt, wie man eine Flamme löschte, die zu hoch auflodern wollte.

An diesem Tag, als sich der Himmel verdunkelte und den Brocken ausspie – waren Ketlin und Flynx keine drei Tagesreisen von hier entfernt gewesen. Rasch machte die Neuigkeit die Runde, drang auch zu ihnen durch. Sofort waren sie aufgebrochen. Überall herrschte Panik, denn die Menschen fürchteten, ihr aller Ende sei gekommen. Niemand wagte sich näher als 500 Schritte an das Gebil-de heran, das zunächst rasend schnell aus dem Himmel gefallen war, dann jedoch relativ sanft auf dem Boden aufgesetzt hatte; es war jedoch kein freies Feld, auf dem es gelandet war. Niemand wusste so genau, wie viele Anwohner samt ihren Häusern unter ihm begraben worden waren.

Tage das Wartens folgten, denn da war keiner, der den ersten Ver-such machen wollte, den Klotz zu erforschen. Die Männer schwan-gen große Reden. Schnell bildete sich eine Gruppe, die dies für eine Heimsuchung der Götter hielt – einige begannen den Brocken anzu-beten.

Ketlins Blick ging immer öfter zu ihrem Mann, denn sie kannte Flynx mittlerweile durch und durch. Er war nicht der große Reden-schwinger, er hörte zu, bildete sich seine ganz eigene Meinung.

Und dann würde er handeln, da war Ketlin ganz sicher. Sie durfte ihn also nicht aus den Augen lassen, ehe er noch eine Dummheit machte. Dann war sie am nächsten Morgen erwacht, weil ihr durch das undichte Dach der Scheune die Sonne in die Augen stach. Ein freundlicher Bauer hatte ihnen Unterkunft gegeben.

Ihre linke Hand rastete nach Flynx, doch das Lager neben ihr war

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leer. Sie war nicht sofort aufgesprungen. Wozu? Sie wusste, dass Flynx in der Nacht gegangen war, ohne sie … die er nicht in Gefahr hatte bringen wollen. Sicher hatte er jetzt sein Ziel bereits erreicht. Sie lauschte. Draußen schien alles ruhig zu sein. Sie fuhr mit einer Hand zwischen ihre Schenkel. Für einen Augenblick glaubte sie ihn dort noch zu spüren. Doch dieser Moment zersprang wie Spiegel-glas, als sie den Schrei hörte.

»Schaut doch, bei allen Göttern, schaut hin!«Ketlin erhob sich. Die düsteren Ahnungen in ihr wurden beinahe

übermächtig. Als sie vor die Scheune trat, sah sie die Menschen, die alle zu dem Brocken hin starrten. Einige hatten beide Hände vor den Mund geschlagen, andere schüttelten nur in stillem Grauen die Köp-fe, denn sie wollten nicht glauben, was sie dort sahen.

Ketlin schloss die Augen, weil der Anblick ihr bis tief ins Herz stach. Es war deutlich zu erkennen, dass drei Körper am unteren Teil des Brocken klebten. Anders war es nicht zu bezeichnen – sie klebten dort wie Nachtfalter, die zu nahe an Baumharz geraten wa-ren. Arme und Beine hatten sie weit von sich gespreizt. Ein entsetzli-cher Anblick.

Und Ketlin wusste, dass einer der drei Flynx war …Ohne es wirklich zu wollen, setzte sie einen Fuß vor den anderen.

Irgendwer wollte sie aufhalten, stellte sich in ihren Weg. »Wo willst du hin? Bist du deines Lebens müde, Frau?«

Ketlin schob den Mann zur Seite. Niemand würde sie davon ab-halten, Flynx zu holen. Mit jedem Schritt, der sie näher zum Block brachte, wurde sie unsicherer. Warum mache ich das? Ich sollte zurück gehen … was für einen Sinn hat das alles … Der Druck auf Ketlins Be-wusstsein steigerte sich unaufhörlich. Waren das noch ihre eigenen Gedanken? Oder flüsterte ihr das alles nur jemand ein? Aber wer? Das musste doch bedeuten, dass der riesige Klotz sie zu beeinflus-sen versuchte.

Ketlin riss sich zusammen. Noch war eine Menge Wut, Hass und Trauer in ihr, die sich nicht unterdrücken ließen. Ihre Schritte wur-den schwerer, sicher, aber sie stoppten nicht. Dicht vor dem Gebilde konnte Ketlin nun die entsetzlichen Details erkennen. Drei Männer klebten auf der Oberfläche des Unikums, das diese Welt heimgesucht

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hatte. Alle drei mit den Gesichtern zum Block … Ketlin erkannte Flynx dennoch deutlich an seiner Kleidung, an seiner ganzen Ge-stalt. Waren die beiden anderen mit ihm gegangen? Das spielte doch keine Rolle mehr. Ketlin fasste zu, doch sie schaffte es nicht, ihren Mann vom Block zu trennen.

Sie sah sich hastig um, doch da war niemand der ihr zur Hilfe ei-len wollte. Die Menschen blieben in sicherer Entfernung. Sie fürchten sich … Ketlin konnte das sogar verstehen. Noch einmal verlieh ihr die Wut enorme Kräfte. Sie zerrte an Flynx' Leiche, doch ohne Er-gebnis. Voll Hass trat Ketlin gegen den Block, immer und immer wieder.

»Verfluchter Mörder, gib mir meinen Mann zurück. Gib mir we-nigstens das, was du von ihm übrig gelassen hast!« Sie schrie die Worte gegen die schwach silbrig schimmernde Oberfläche, auch wenn sie mit keiner Reaktion rechnete.

Erschrocken zuckte sie zurück, als Flynx' Körper ihr plötzlich ent-gegen fiel. Nur mit Mühe konnte sie ihn auffangen, denn der Jäger war um einiges schwerer als sie selbst. Hastig ließ sie die Leiche zu Boden gleiten und schrie ihm nächsten Moment entsetzt auf.

Die gesamte vordere Körperhälfte ihres Geliebten war … offen!Überall dort, wo sein Körper den Block berührt hatte, fehlte die

Haut, fehlten Fleisch und Blut. Eine einzige offene Wunde starrte ihr entgegen, nicht einmal das Gesicht war Flynx geblieben. Ketlin konnte nicht aufhören zu schreien, bis ihr die Gnade einer Ohn-macht zuteil wurde. Wer sie schlussendlich von dem Block geholt hatte, konnte sie nicht sagen. Drei Tage lang schwebte sie zwischen Traum und Fieber, so hatte man es ihr später berichtet.

Doch Ketlins Körper war jung und kräftig – sie überstand diese Phase.

Sie überstand auch die tiefe Trauer, die wie ein schwarzer Vogel auf ihrer Seele lag. Sie überstand sie, auch wenn sie nie ganz ver-schwand. Einige Tage ruhte Ketlin sich noch aus, war dankbar für die Gastfreundschaft, die man ihr entgegenbrachte. Dann jedoch stahl sie sich davon. Irgendetwas hatte Flynx' Tod in ihr bewirkt, so glaubte sie. Sie verstand einige Zusammenhänge nicht mehr, die ihr früher geläufig gewesen waren. Doch das schien nicht nur ihr so zu

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ergehen. Seit Tagen regnete es ohne Pause. Es kam ihr so vor, als würde die vom Regen geschwängerte Luft schwer und dick auf al-lem lasten. Die Menschen hielten sich fern vom Block, fern von al-lem, was sie so verwirrte.

Lethargie hielt reichliche Ernte …Als Ketlin den Dorfausgang erreicht hatte, da sah sie einen Mann,

der ratlos auf ein eisernes Rohr starrte, das er in den Händen hielt. Das Rohr besaß einen hölzernen Schaft, wie ihn auch eine Armbrust aufzuweisen hatte. Der Mann schien absolut unwissend, was das denn wohl sein mochte.

Ketlin drehte sich noch einmal zu ihm um, als sie ihn längst pas-siert hatte. Auch sie konnte den Sinn und Zweck dieses Rohres nicht erkennen. Doch sie erinnerte sich schwach, dass Flynx diese Dinger nicht gemocht hatte.

Phlegma und Vergessen rieselten auf die Welt … auf die Alte Welt.

Ketlin schüttelte die Erinnerungen von sich ab.Das eintönige Warten hatte sie aufkommen lassen, und Ketlin hat-

te sich nicht dagegen gewehrt. Noch immer rührte sich hier nichts. Ketlin wurde bewusst, dass sie seit damals nie wieder so nahe an den Block gekommen war wie jetzt. Nach Flynx' Tod war Ketlin durch das Land gezogen. Überall hatten die Menschen sie freund-lich empfangen, ihr Unterkunft gewährt. Sie wurde zu den großen Jagden bestellt, denn sie war die Füchsin, die Frau des Helden, der es gewagt hatte, sich dem Block entgegen zu stellen. Sein grausames Ende war bereits nach kurzer Zeit eine Legende geworden.

Ketlin hatte den Geschichten gelauscht, die man vom Verschwin-den einer großen Zahl an Männern berichtete. Und immer wieder hatte man auch Leichen gefunden, die wie die von Flynx zugerichtet waren. Das Grauen schien nicht zu enden. Und es weitete sich in alle Bereiche des Lebens aus. Jagd und Ernte hatten einmal den Hunger ins Vergessen verdammt, doch das war Vergangenheit. Die Jagden blieben so oft erfolglos, die Ernte ohne Ertrag, der all die Bäuche hätte füllen sollen.

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Ketlin erlebte es immer wieder: Wenn sie die Gro'on-Herden über-haupt noch aufstöbern konnte, fand sie meist nur kranke oder ver-endete Tiere vor. Niemand kannte den Grund dafür, doch Ketlin ahnte, dass die Tiere unter dem Einfluss des Blockes litten. Die Ko-losse waren überaus sensibel, wenn man ihnen das auch nicht an-sah.

Es klang verrückt, doch Ketlin hatte mehr als nur einmal gedacht, die Tiere starben an dem Kummer, der Hoffnungslosigkeit, die sich ihrer bemächtigt hatte. Vielleicht ertrugen sie die Macht nicht, die vom Block ausging?

Und so eroberte der Hunger das Land.Im Grunde war es eine erstaunliche Leistung, die von den Frauen

erbracht worden war. Sich zusammenzuschließen, eine Gemein-schaft zu bilden, die auf ein konkretes Ziel hin arbeitete, das war mehr als ungewöhnlich. Die Frauen hatten eine gemeinsame Trieb-feder, die sie dazu befähigt hatte. Ihre Männer waren verschwun-den. Ausnahmslos in der Nähe des riesigen Fremdkörpers, der diese Welt beherrschte. Niemand näherte sich dem Block ohne einen wirklichen Grund zu haben. Einige der verschwundenen Männer hatten Opfer darbringen wollen, weil ihnen in ihrer Verzweiflung nichts Besseres mehr eingefallen war. Andere waren ausgezogen, um zu erforschen, was es mit dem Brocken aus dem Weltall auf sich hatte – nur wenige hatten dazu überhaupt noch die Energie in sich.

Die Kraft der Hoffnung ruhte jedoch noch in den Frauen, die Ket-lin um Hilfe baten. Sie glaubten, mit ihren Fähigkeit als Jägerin wäre die Füchsin geradezu prädestiniert die Männer aufzuspüren.

Wenn sie denn noch lebten.Ketlin hatte gezögert, denn als Jägerin hatte sie noch nie nach

Menschen gesucht. Das konnte man sicher nicht mit der Jagd nach den Gro'ons vergleichen. Doch sie gestand sich ein, dass der Gedan-ke der Frauen sicher nicht gänzlich falsch war. Wahrscheinlich war sie für diese Aufgabe tatsächlich die beste Wahl. Aber das musste sich erst einmal bewahrheiten. Eine Sache hatte sie allerdings von vornherein klar gemacht – sie impfte den Frauen ein, dass sie sich keine großen Hoffnungen machen sollten. Ganz besonders nicht in dem Punkt, ihre Männer lebend und unversehrt in die Arme schlie-

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ßen zu können. Die Chance dazu war verschwindend gering.Ketlin hatte mittlerweile ihr Zeitgefühl verloren. Sie hätte nicht sa-

gen können, wie lange sie hier nun schon lag. Sie wusste nur, dass jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte. Es half nichts – sie würde sich erst einmal zurückziehen müssen, um ihre Glieder wieder or-dentlich zu durchbluten.

Zurückziehen? Es gab noch eine andere Möglichkeit, doch zu der konnte die Jägerin sich noch nicht durchringen. Warum nicht vor-rücken? Ein verrückter Gedanke, doch die Füchsin fühlte deutlich, dass der Druck in ihrem Kopf mit jeder Stunde erträglicher gewor-den war, die sie hier so nahe am Block verbracht hatte. Das war merkwürdig, vielleicht auch nur Einbildung. Doch die Idee, sich dem Block noch weiter zu nähern, ihn vielleicht sogar zu berühren, um eine Ahnung zu erhalten, woraus er bestand … diese Idee wuchs von Stunde zu Stunde in ihr.

Doch musste sie dadurch nicht ihre Mission gefährden? Sie war hier, um zu erkunden, wohin die Männer verschwunden waren. An-dererseits mochte das eine mit dem anderen zusammenhängen. Sie war bereits einmal dicht am Block gewesen, denn sie hatte ja die Lei-che ihres Gefährten von dort abgetrennt. Vielleicht konnte sie diese Stärke ja noch einmal aufbringen. Ihre Unentschlossenheit wurde mit einem Schlag beiseite gefegt, als sie das Wesen entdeckte.

Es kam um den Rand des Blocks herum – Ketlin korrigierte sich: Es kam aus dem Block heraus! Die Gedanken der Jägerin überschlugen sich. Was sie hier beobachtete, das war ganz einfach unglaublich. Lebte dieses Wesen in dem Block? Unmöglich …

Ketlin erstarrte selbst zu Stein, denn diese Kreatur – gehüllt in ein silbernes Kleidungsstück, das seinen gesamten Körper bedeckte, selbst den Kopf – durfte sie auf keinen Fall bemerken. Doch nun gab es für sie keine Zweifel oder Ausflüchte mehr. Wenn das Wesen zu-rück in den Brocken gehen sollte, würde sie ihm folgen.

Ihre Geduld wurde nicht überstrapaziert, denn die Gestalt schien nur flüchtig den Boden vor dem Block zu begutachten, dann jedoch wandte sie sich wieder um. Zielstrebig, jedoch ein wenig unsicher im Gang, steuerte sie die Stelle an, an der sie aus dem Brocken ge-spuckt worden war. Zumindest erschien dies Ketlin so.

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Die Füchsin beobachtete atemlos, was nun geschah. Die Gestalt be-tätigte keinen Öffnungsmechanismus, öffnete keine Tür, schob nichts beiseite.

Nein, sie … verschwand einfach so.Ketlin musste an sich halten, um ihre Gefühle nicht in die Welt zu

schreien.Sie hatte nie die alten Geschichten von Geistern und Göttern ge-

glaubt, die man sich so erzählte. In diesem Augenblick allerdings hätte sie alles geglaubt, was man ihr als Lösung präsentieren moch-te.

Minutenlang verharrte sie in ihrer Deckung und fixierte die Stelle, an der sich das Wunder abgespielt hatte. Nichts geschah. Langsam erhob sich die Füchsin und setzte Fuß vor Fuß. Alles in ihr sträubte sich, doch es gab keine Alternativen – auch wenn der Druck in ih-rem Kopf mit jedem Schritt größer wurde. Da war eine Stimme, die sie beschwor von hier zu verschwinden.

Geh – das hier wird dein Tod sein.Aber das kam für sie nicht in Frage. Sie hatte diese Aufgabe über-

nommen, also musste sie notfalls auch über ihre eigenen Grenzen gehen. Kalter Schweiß stand auf Ketlins Stirn, als sie plötzlich un-mittelbar vor dem Brocken stand. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und berührte die Oberfläche des Steins, der definitiv keiner war, denn Ketlins Hand zuckte erschrocken zurück. Die Außenschicht fühlte sich eiskalt an, als wäre sie ganz aus Metall. Dennoch war sie hart, massiv – also wahrlich nicht durchlässig. Doch sie hatte das Wesen hier verschwinden sehen, das war sicher.

Sie wagte es erneut, fuhr mit der Hand in alle Richtungen, doch es tat sich erneut nichts. Keine geheime Tür öffnete sich, kein Eingang tat sich vor ihr auf.

Vielleicht hatte sie sich doch an der Stelle geirrt. Ketlin machte einen Schritt nach rechts. Ein leises Summen ertönte zu ihren Füßen, dass die Füchsin so sehr überraschte, dass sie sich instinktiv gegen den Brocken lehnte.

Und dann war da kein Widerstand mehr vorhanden, der sie hätte halten können!

Ketlin stürzte nach vorne … direkt in den Block hinein …

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Alle Vorsicht war vergessen, jede Regel der Jäger wie weggewischt.Ketlin schrie in Panik auf. Ungebremst fiel sie zu Boden, schlug

hart mit Schultern und Gesicht auf. Für einige Sekunden war sie nicht bei Sinnen, doch die Furcht brachte sie wieder in klare Bahnen. Sie sprang hoch und wollte sofort wieder den Rückzug antreten, doch sie prallte hart von der Wandung zurück. Nun war Ketlin voll-kommen in Panik. Gefangen … im Block!

Mit fliehenden Blicken sah sie sich um. Ein breiter Gang erstreckte sich vor ihr, mit absolut ebenem Boden, Wänden und Decke. Von ir-gendwo her fiel Licht ein und Ketlin registrierte mit Ehrfurcht, dass in der Decke anscheinend unzählige Lichtquellen eingebaut waren. Kein Feuer – kaltes Licht. Schwach erinnerte Ketlin sich an Erzäh-lungen aus der Zeit, die vor der Ankunft des Blocks gelegen hatte. Man sagte damals, dass es schon bald Licht geben würde, wie man es hier bislang nicht gekannt hatte. Irgendwer würde daran arbeiten, dass bald alle in jedem Haus stets Helligkeit besitzen könnten. An Namen erinnerte sie sich allerdings nicht.

Erinnern – ihre Angst ließ kaum den Platz, sich um solche Dinge zu kümmern, aber eine Sache spürte Ketlin ganz deutlich: Hier im Inneren des Blocks ließ der Druck auf ihr Bewusstsein ein wenig nach. Ihre Gedanken klärten sich, auch wenn sie allesamt nur auf Flucht gebündelt waren.

Fliehen, aber wie? Sie war in den Block hinein gefallen, doch der Rückweg versperrte sich ihr.

Sie hatte ja nur eine Möglichkeit. Sie musste nach einem Ausgang suchen, doch den fand sie hier sicherlich nicht. Voll Angst begann sie in den Gang zu gehen. An den Wänden konnte sie deutlich Sym-bole erkennen, die ihr allesamt fremd und unheimlich waren. Ein erster Quergang folgte, doch Ketlin blieb auf gerader Spur. Ein zweiter Gang, ein dritter. Konnte es möglich sein, dass der gesamte Block hohl war?

Ketlin zuckte zusammen. Blitzschnell drückte sie sich in eine der Nischen, die es hier gab. Mit ihrer Schulter berührte sie irgendetwas, doch darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern.

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Von links kamen zwei in Silber gekleidete Wesen! Und sie waren nicht alleine. Auf einer Pritsche sah Ketlin drei Männer liegen, die sich nicht rührten. War das die Spur, die sie gesucht hatte? Wenn die Silbernen sie entdeckten, würde sie das sicher nie erfahren. Die Füchsin erinnerte sich ihrer Fähigkeiten. Sie verschmolz nahezu mit ihrer Umgebung.

Die Silbernen passierten die Nische schweigsam und ohne ihre umhüllten Köpfe zu bewegen. Und dann sah Ketlin, dass diese Prit-sche eine gute Handbreit über dem Boden schwebte. Keine Kufen, keine Räder … Ketlin presste die Lippen hart aufeinander, um kein Geräusch von sich zu geben.

Zauberei? Vielleicht waren diese Wesen tatsächlich die Götter, die so mancher in ihnen sah? Dann war der Block also ein Göttersitz. Ketlin wartete ab, bis sich dieser seltsame Zug von ihr entfernt hatte. Eine schwebende Plattform. Ketlin stieß hart an die Grenzen dessen, was ihr Verstand aufzunehmen bereit war.

Vorsichtig bewegte sie sich aus der Nische heraus. Was mochte sie mit ihrer Schulter eingedrückt haben. Sie hatte deutlich gespürt, wie etwas hinter ihr nachgegeben hatte. Ängstlich drehte sie sich herum. Ketlins Augen weiteten sich unnatürlich. Sie erblickte ein Viereck, das hell aufleuchtete und in dem … Bilder zu sehen waren. Bilder von der Stelle außerhalb des Blocks, an der sie durch die Wandung gefallen war! Dann bewegte sich das Bild, schwenkte nach links, dann nach rechts. Das war Zauberei …

Ketlin riss sich zusammen, denn nun musste sie beweisen, dass sie eine Jägerin und kein ängstliches Kind war.

Sie musste all diese Wunder akzeptieren und die Verfolgung der Silberwesen aufnehmen, denn die Füchsin war sicher, dass die We-sen die Männer auf der Pritsche dorthin bringen würden, wo auch die anderen Verschwundenen zu finden waren.

Sie hatte ihre Spur, ihre Fährte.Sie wollte sie nicht mehr verlieren.

Professor Zamorra beobachtete Dalius Laertes aus den Augenwin-keln heraus.

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Der Uskuge war nach wie vor ein undurchsichtiger Charakter – was der Parapsychologe durchaus nicht negativ meinte. Er wusste viel über Laertes, kannte seine Vergangenheit, wusste von der un-glaublichen Verantwortung unter der Dalius ständig litt.

Das änderte sich nie, auch nicht in der ungewöhnlichen Umge-bung, in der sie sich hier befanden. Es war wieder einmal Zeit für einen Testflug des Meegh Spiders gewesen. Das war etwas, dass Za-morra stets wie Feuer unter den Nägeln brannte. Was sie über dieses Raumschiff der Meeghs wussten, wurde beinahe täglich mehr, denn bei Tendyke Industries gab es einen festen Stab von Wissenschaftlern und Technikern, die nicht anderes zu tun hatten, als sich um das Schiff zu kümmern, seine Geheimnisse zu erforschen.

Vieles war mittlerweile bekannt … und doch noch lange nicht al-les. Zamorra und seine Spezialisten konnten das Schiff fliegen, ohne Angst zu haben, durch eine Fehlschaltung eine Katastrophe auszu-lösen. So weit – so gut. Aber die offenen Fragen, die Rätsel um den Schattenschirm oder den Antrieb durch die schwarzen Dhyarra-Kristalle, um nur einen Bruchteil der ungeklärten Themen zu nen-nen, nahmen eher noch zu.

Wirklich lernen konnte man nur im Einsatz, das war Zamorra längst klar. Nicole Duval, die sicher die beste Pilotin des Spiders war, sowie Doktor Artimus van Zant hatten die Teilnahme an die-sem Flug verweigert. Beide hatten wahrlich anderes zu tun, als durch das All zu düsen, wie sie Zamorra sinngemäß mitteilten. Der Professor hatte das akzeptiert, denn im Grunde war ihm ein Test-flug mit minimaler Besatzung sogar ganz recht.

Er übernahm den Pilotenjob, Aartje Vaneiden war die perfekte Na-vigatorin und der Pole Valentin Kobylanski der mit Abstand beste Techniker, der im Prinzip jede Aufgabe an Bord übernehmen konn-te. Die beiden waren an Bord des Spiders nahezu unentbehrlich.

Überrascht war Zamorra allerdings, als sich Dalius Laertes vor dem Start bei ihm meldete und um Mitflugmöglichkeit ersuchte.

»Spielt die Richtung eine Rolle?« Laertes war wie meist einsilbig, als er die Zentrale des Spiders betrat.

Zamorra sah den Vampir verblüfft an.»Hast du ein spezielles Ziel?« Der Parapsychologe wusste nur zu

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gut, dass Laertes in Perfektion eine Variante des zeitlosen Sprungs be-herrschte und selbst wirklich große Entfernungen für ihn kaum ein Problem darstellten.

»Richtung Uskugen.« Laertes Heimatplanet hatte sich von der Bürde der weißen Stadt befreit, die sie weltumspannend in ihren Würgegriff genommen hatte. Nach und nach nahmen die Überle-benden Uskugen ihre Heimat wieder in Besitz. Ein langwieriger Prozess, an dem Dalius nicht teilnehmen konnte.

Zu groß wäre die Gefahr gewesen, die von ihm ausging.Von ihm – das war allerdings nur vereinfacht dargestellt, denn die

Sache war weitaus komplizierter. Dalius Laertes und seine Frau Mo-jica hatten Zwillinge bekommen. Das Mädchen Jicada hatte die ganz normale Magie in sich, die ein jeder Uskuge sein eigen nannte. Der Junge jedoch … Sajol zeigte ein magisches Potential, dass weit über alles hinaus ging, was man je erlebt hatte.

Recht schnell war klar geworden, dass seine Anwesenheit auf Us-kugen eine Gefahr für die Zivilisation bedeuten konnte – früher oder später.

Dalius Laertes hatte konsequent gehandelt. Gemeinsam mit Sajol hatte er seine Heimat hinter sich gelassen, seine Tochter, seine ge-liebte Frau, seine Karriere als Ratsmitglied und die eines umjubelten Sportstars. Er hatte nur so handeln können. Sajol war sein Sohn und Dalius war verantwortlich für ihn.

Ziellos waren die beiden durch das All gereist, immer auf der Su-che nach einer Welt, auf der die schlummernde magische Bombe in Sajol nicht zum Ausbruch kommen würde. Eine sinnlose Suche, wie Laertes nach und nach begriff. Und schließlich hatte Sajol den eige-nen Vater angegriffen, ihn ganz einfach außer Gefecht gesetzt. Doch Dalius wehrte sich – es kam zum Kampf zwischen Vater und Sohn, in dessen Folge das Raumschiff der beiden auf einem unbewohnten Planeten notlanden musste. Es kam zum Crash. Laertes dämmerte tödlich verwundert in einem Zustand zwischen Leben und Sterben dahin; Sajol träumte sich seine eigene Welt, erschuf Realitäten, ver-warf sie – tötete und ließ neues Leben entstehen.

Als der Prozess endete, da spürte Laertes, dass sein eigenes Leben nun enden musste. Selbst wenn er es noch gekonnt hätte, so wollte

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er seinen Sohn nicht töten. Doch er tat etwas anderes, Beispielloses:Im Moment seines Todes verschmolz er sein eigenes Bewusstsein

mit dem Sajols, umhüllte es, so wie man sein Kind in eine Decke hüllt, wenn man es vor Kälte schützen wollte. In diesem Moment begann die nun über 400 Jahre währende Wache, die Dalius Laertes im Körper seines Sohnes hielt.

Denn Sajols Bewusstsein schlief nie wirklich. Irgendwann … Dali-us wusste es genau, würde der Tag kommen, an dem sein Schutz versagen würde.

Zamorra musste sich das immer wieder in Erinnerung rufen, denn er hatte sich vorgenommen, auf jede noch so kleine Veränderung in Laertes' Verhalten zu achten.

»Uskugen?« Zamorra hielt kurz inne. »Du darfst Sajol nicht zu nahe an eure Heimatwelt bringen, das weißt du. Zudem soll das hier nur ein Testflug werden, der nicht auf solche Entfernungen hin ausgelegt ist.«

Laertes nickte langsam. »Ich habe nicht gesagt, dass ich nach Us-kugen will. Es geht mir um die Richtung. Also?«

Zamorra zögerte noch einen Augenblick, doch dann befand er für sich, dass dem nichts entgegen sprach. Die Frage nach Laertes' Gründen lag ihm auf der Zunge, doch er kannte den Vampir gut ge-nug, um sie nicht auszusprechen. Laertes würde sich erklären, wenn es an der Zeit war.

Professor Zamorra blickte zu Aartje Vaneiden, doch die rothaarige Niederländerin winkte lächelnd ab. »Ich habe einen schnurgeraden Kurs in Richtung Uskugen programmiert. Von mir aus kann es los-gehen.«

Kobylanski grinste. »Okay, wenn unser neuer Commander das so sieht – an mir soll es auch nicht liegen.« Er erntete von Zamorra ein müdes Grinsen und von Aartje einen giftigen Blick.

Die ersten beiden Tage waren mit einer gebündelten Portion an Tests ausgefüllt. Langeweile kam da keine auf. Laertes erwies sich als absoluter Gewinn an Bord. Zamorra konnte nur immer wieder staunen, über welches technische Verständnis der Vampir verfügte,

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vor allem aber, wie selbstverständlich er es umzusetzen wusste.Dennoch gab es immer wieder Phasen, in denen Laertes wie zu

Stein erstarrt vor dem die Zentrale umfassenden Bildschirm stand und in der Sternenpracht zu versinken schien, die dort so plastisch gezeigt wurde. Einen dieser Momente nutzte Zamorra aus, um Laer-tes die Gelegenheit zu geben, den Grund seiner Anwesenheit an Bord zu erklären.

Lange standen die beiden so unterschiedlichen Männer nebenein-ander, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Dann wandte sich Laer-tes dem Parapsychologen zu.

»Pass nur auf, Zamorra. Zwischen deinen Lippen hat sich eine Fra-ge festgekeilt. Verschluck dich nur nicht an ihr.« Tatsächlich war da so eine Art von sarkastischem Lächeln um Laertes' Mund zu entde-cken. Zamorra lachte laut auf, was ihm verblüffte Blicke von Aartje Vaneiden und Kobylanski einbrachte. Doch eine humorvolle Bemer-kung von Laertes war sicher außergewöhnlich genug, um darauf ge-bührend zu reagieren.

Der Vampir war bekannt dafür, zum Lachen in den Keller zu ge-hen … in einen verflixt tiefen Keller.

»Eine Frage? Nun, mir ist längst klar, dass du hier irgendetwas zu finden hoffst, doch ich kann mir nicht vorstellen, worum es sich da-bei handeln soll. Was zwischen der Erde und Uskugen ist dir so wichtig?«

Dalius Laertes wandte sich wieder dem Bildschirm zu, der so großartige Abbildungen von dem zeigte, was den Spider umgab. Manchmal glaubte auch Zamorra, dass er die Sternenpracht berüh-ren konnte, die dort zu sehen war. Die Meegh-Technik war all dem so unglaublich weit überlegen, was die Menschheit zu erschaffen in der Lage war.

Dalius Laertes antwortete nicht sofort. Seine Augen hingen nach wie vor an dem Sternenteppich, der jeden in seinen Bann zog, der ihn erblickte. Man konnte süchtig danach werden.

»Etwas, das wohl für jedes Wesen wichtig ist, Zamorra. Ich suche nach meinem Leben, meinem alten Leben. Noch genauer gesagt nach dem Ort, an dem es jäh endete.« Er deutete mit einer Hand auf den Bildschirm. »Schau hin – irgendwo dort hinten liegt meine Hei-

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mat. Dazwischen liegt ein eiskalter Steinbrocken, nahezu ohne Le-ben, und für niemanden von irgendeiner Bedeutung. Außer für mich, denn dort liegt mein Leichnam; ich selbst habe ihn dort begra-ben … im Körper meines Sohnes. Ist das nicht ein Grund, um einen solchen Ort zu suchen?«

Professor Zamorra runzelte zweifelnd die Stirn. Er kannte Laertes gut genug, um zu wissen, dass der Vampir sich um solche Symbolik im Grunde nicht scherte.

»Ich halte dich nicht für sentimental, das liegt dir ganz sicher fern. Es muss schon einen triftigen Grund geben, wenn du nach dieser Welt Ausschau hältst.«

Laertes wandte sich erneut dem Professor zu.»Ich will nicht auf diese Welt, wie du sie fälschlich bezeichnet hast.

Eine solche Bezeichnung hat sie nicht verdient. Es geht mir nur dar-um die Koordinaten zu kennen – zumindest den Bereich, in dem ich sie finden könnte. Ich kann dir nur sagen, dass in mir ein Gefühl wächst, das mir einzureden versucht, wie wichtig dies einmal sein mag. Es geht natürlich um Sajol und mich, das ist klar, aber warum wir einmal dorthin zurückkehren müssen, ist auch mir ein Rätsel.«

»Und?« Zamorra wies auf den Screen. »Hast du nun eine Ahnung, wo du im Ernstfall fündig werden könntest?«

Dalius Laertes schüttelte den Kopf. »Nein, aber es war einen Ver-such wert. Das Schiff, mit dem Sajol und ich von Uskugen aus gest-artet waren, landete irgendwann auf der Erde. Ich habe keine Erin-nerungen mehr daran, also ist meine Chance gleich null, nach über 400 Jahren noch irgendwelche Überreste davon ausfindig machen zu können – selbst Uskugen-Technik hält nicht ewig. Somit gibt es keinerlei Aufzeichnungen, auf die ich zurückgreifen könnte. Ich muss meine Suche also fortsetzen.«

Der Parapsychologe schwieg. Laertes hielt die technologischen Er-zeugnisse seines Volkes also für rasch vergänglich, wenn man bei 400 Jahren von rasch reden konnte. Andererseits glaubte er offen-sichtlich, dass sein Körper nach dieser langen Zeitspanne noch exis-tierte? Das ergab für Zamorra keinen wirklichen Sinn, doch er fragte nicht nach. Deutlich spürte er, dass Laertes das Thema für beendet hielt.

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Zamorra räusperte sich. »Einen letzten Test haben wir noch vor uns: Beschleunigung und Abbremsen bis zur Nullgeschwindigkeit. Ich hoffe, dass die Wissenschaftler bei Tendyke Industries dann erst einmal mit dem zufrieden sein werden, was wir ihnen als Ergebnis-se mitbringen.«

Dieser Test gehörte zum Standard eines jeden experimentellen Fluges. Es ging dabei um Messung von Abweichungen – besser ge-sagt: Man wollte wissen, ob es Abnutzungserscheinungen gab. Manchmal glaubte Zamorra, den Weißkitteln bei Tendykes wäre es eine Genugtuung gewesen, wenn Abnutzung erkennbar gewesen wäre.

Zamorra startete das Programm – der Spider lief zur Höchstform auf, raste mit unglaublichen Werten in die eingegebene Richtung. Im Schiff war davon nichts zu spüren, denn die Absorber leisteten eine perfekte Arbeit.

Im exakt richtigen Moment fiel die antreibende Energie auf Null zurück; das Schiff wurde abgebremst, bis es zum relativen Stillstand kam.

Zamorra blickte auf die Werte, die vom Computer ermittelt wor-den waren. Ein Grinsen machte sich um seinen Mund herum breit. Die Zahlen, die er hier vor sich sah, kamen ihm reichlich bekannt vor.

»Abweichung zu den letzten fünf Tests – hinter der siebten Stelle, also absolut zu vernachlässigen. Tja, der Spider tut den Kittelträgern nicht den Gefallen.«

Aartje Vaneiden zuckte mit den Schultern. »Sollen sie doch froh sein, denn reparieren können sie das Teil ja eh nicht.«

Valentin Kobylanski schien außerordentlich froh zu sein, den letz-ten Test nun auch hinter sich gebracht zu haben. »Können wir also den Rückflug antreten? In zwei Tagen beginnt mein wohlverdienter Urlaub … den ich nicht so gerne im All antreten möchte.«

Aartje drehte sich zum Professor um. »Er hat mal wieder eine neue Freundin.« Zamorra grinste nur. Kobylanski sah zugegebenermaßen blendend aus, benahm sich allerdings auch dementsprechend. Er war der Ansicht, jede Frau sollte das Recht haben, ein kleines Stück von ihm ihr eigenen zu nennen … was dazu führte, dass er in seiner

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Planung oft den Überblick verlor. Dass ausgerechnet Aartje Vanei-den seinem überirdischen Charme widerstand, war wie ein Gift-pfeil, der in seinem Selbstbewusstsein steckte. Oft genug hatte er es bei ihr versucht, doch alle Anstrengungen waren vergeblich. Aartje lebte blendend ohne den Schwerenöter und das wollte sie auch so belassen.

Zamorra ahnte, dass nun ein längerer Wortwechsel zwischen den beiden folgen würde – alles auf freundschaftlicher Basis, aber auf Dauer nervend – also bremste er die zwei aus, ehe sie starten konn-ten.

»Okay, wir haben unsere Schuldigkeit getan. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht sofort und auf schnellstem Wege den Heimflug antreten sollten. Aartje – berechne den effektivsten Kurs und dann ab dafür.«

Ihm war das ganz recht, denn auf der Erde und anderswo wartete mehr als genug Arbeit auf ihn. Und ja … er vermisste Nicole. Was hatte Valentin gesagt? Urlaub. Was für ein Zauberwort. Irgendwo ein paar ungestörte Tage mit Nicole verbringen. Ein Traum – mehr nicht.

Ein lautes Stöhnen riss den Professor aus seinen Tagträumen, die ja so weit von der Realität waren. Er wirbelte herum und sah, dass Dalius Laertes in die Knie gegangen war. Mit Kraft presste er beide Hände gegen seine Schläfen. Als Zamorra bei ihm war, entspannten sich die Züge des Vampirs bereits wieder.

»Schon gut … ich habe es im Griff.« Laertes ließ sich dennoch von Zamorra in die Höhe helfen. »Nicht weit von hier muss es einen be-wohnten Planeten geben. Können die Sensoren des Spiders ihn aus-machen?« Er ließ sich in einem der von den Menschen hier instal-lierten Sessel nieder. Laertes hätte es nicht zugegeben, aber seine Beine zitterten heftig.

Es dauerte einige Minuten, dann meldete sich Kobylanski von sei-nen Konsolen.

»Wir haben ihn. Durchaus erdähnlich. Und vor allem bewohnt.«Zamorra ging dazwischen. »Nicht so einsilbig, Valentin. Was sa-

gen die Meegh-Scanner?«Kobylanski brummelte etwas vor sich hin, doch dann rückte er mit

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den Ergebnissen heraus.»Die Bevölkerung ist humanoid, vergleichbar mit uns. Der Stand

der Zivilisation entspricht etwa dem des späten Mittelalters auf der Erde. Allerdings ist ein regelrechter Ruck in der Entwicklung zu er-kennen – Technologie in den Kinderschuhen. Obwohl … ich kann keinerlei Spuren von Energie entdecken.« Er machte eine Kunstpau-se. »Merkwürdig. Simple Technologie, die aber in keiner Weise ge-nutzt wird. Als hätte da jemand einen Schalter auf Aus gedreht.«

Zamorra legte eine Hand auf Laertes' Schulter. »Was hast du ge-spürt? Es hat dich ja regelrecht umgehauen. Also?«

Dalius schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Zamorra. Es war ein so intensiver Impuls, dass er mir beinahe das Bewusstsein ge-raubt hätte. So mächtig. Irgendetwas ist dort unten und es greift nach der gesamten Welt. Mehr noch. Es greift bis ins All hinein!«

Zamorra, Vaneiden und Kobylanski hatten nichts davon gespürt – sie waren mental geschützt, doch das sollte auch bei Dalius Laertes der Fall sein. Es musste ein außergewöhnlicher Impuls gewesen sein, den nur der Uskuge aufgefangen hatte. Merlins Stern jedenfalls verhielt sich ruhig. Doch das mochte nicht unbedingt viel bedeuten. Nach dem Tod des Magiers Merlin hatte das Amulett außerordent-lich merkwürdige, sogar beängstigende Reaktionen gezeigt. Zamor-ra war schmerzhaft bewusst geworden, dass er sich auf die Silber-scheibe nicht mehr vollkommen verlassen konnte.

»Zamorra, ich muss auf diese Welt. Dieser Impuls galt mir … oder doch zumindest dem, was ich bin. Begleitest du mich?«

»Ich glaube nicht, dass wir dort unten so einfach landen sollten.« Kobylanski sah vor seinem geistigen Auge den ersten Tag seines Ur-laubs am Horizont verschwinden. Und es mochte nicht bei diesem ersten Tag bleiben. Andererseits gab es da noch ganz andere Proble-me, die auch Zamorra bereits bedacht hatte.

»Valentin hat Recht. Wir können es nicht riskieren einfach so bei einer unbeleckten Zivilisation aufzutauchen. Okay, wir können den Spider mittels Schattenschirm tarnen, doch eine Restgefahr bleibt. Ich will diese Lebewesen nicht dem Schock aussetzen, plötzlich mit einer fremden Lebensform aus dem All konfrontiert zu werden. Nein, der Spider muss hier im Raum bleiben.«

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Aartje Vaneiden meldete sich zu Wort. »Vielleicht wäre das aber kein Erstkontakt. Hier, schaut euch das an.«

Sie wies auf ihre Konsole, auf der schwache Energieanzeigen zu erkennen waren, die von einer ganz bestimmten Stelle des Planeten kamen. Zamorra fühlte, wie sein Interesse erwachte. War das mögli-cherweise ein dort notgelandetes Raumschiff? Vielleicht die EWI-GEN? Doch die Signatur, die er aus den Anzeigen lesen konnte, war ihm fremd.

Er blickte zu Laertes. Der Uskuge nickte. »Ja, von dort kam der Im-puls. Zamorra, es war mehr als das, es war ein fordernder Ruf, ein Schrei. Fremd und doch bekannt. Wir müssen da runter.«

Wir!Laertes betonte das Wort vielleicht unbewusst, doch es schien, als

gäbe es für ihn in diesem Punkt keine Alternative. Wir – Zamorra und Dalius Laertes. Der Parapsychologe fragte sich, was es auf die-ser merkwürdigen Welt gab, dass dieses »Wir« erforderlich machte?

Er ahnte, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde …

Jylge hielt sich fern des Brennpunkts.Das war nicht immer seine Art gewesen, doch hier hatte er sich

dieses Verhalten angewöhnt. Es schützte sein Leben, auch wenn es absolut inkonsequent war, denn was konnte ihm das Überleben in der Gefangenschaft schon wert sein? Offenbar eine ganze Menge, die groß genug war, um aus ihm einen Feigling zu machen.

Aus seinem Versteck heraus konnte er sehen, wie der schwere Holzknüppel nur um Haaresbreite an Schwätzers Schädel vorbei sauste. Das war keine Warnung mehr gewesen, das war ein eindeu-tiger Mordversuch! Die Männer waren gereizt.

In einem der zahlreichen Gänge tat sich etwas – und man versuch-te es vor ihnen geheim zu halten. Ein halbes Dutzend von Sebatts Schlägern jagten jeden davon, der den Gang betreten wollte. Und vor ihnen schwang der Schwätzer große Reden, in denen er den Männern versicherte, Sebatt würde zu ihrer aller Vorteil agieren. Se-batt wusste, was gut für die Leute war – Sebatt würde jeden einzel-nen an dem teilhaben lassen, was er nun gerade tat … nur halt ein

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wenig später. Sie sollten geduldig sein.Sie waren es nicht.Mit Macht rückte die aufgebrachte Menge zum Gang vor. Auch

die besten Wachen würden sie nicht aufhalten können. Kam jetzt das, wovor Jylge sich schon lange gefürchtet hatte? Drehten die Ge-fangenen nun durch? Jylge hatte schon frühzeitig bemerkt, wie die Aggressionen sich immer mehr aufbauschten. Es fehlte nur ein An-lass, um den Korken fliegen zu lassen, der bisher noch wie eine Bremse gewirkt hatte. Die Männer hatten sich immer noch als Ge-meinschaft gefühlt, auch wenn viele hier ihr eigenes Süppchen kochten. Doch diese Gemeinschaft wandelte auf einem schmalen Grad, der jetzt wegzubrechen drohte.

Das Ergebnis würde ein Massaker sein – Gewalt und Tod … viel-leicht ihr aller Tod.

Steine flogen und trafen. Jylge sah, wie einer der Wachtposten eine klaffende Wunde auf der Stirn einkassierte. Gezwungenermaßen zo-gen die Gangposten sich ein wenig zurück. Sie hatten keine Lust hier ihr Leben zu opfern. Auch der Schwätzer begriff nun auf die harte Tour, dass hier niemand seine Geschichten hören wollte. Ein großer Bursche schlug ihm mit der flachen Hand auf sein Maul und verschluss es erst einmal. Blut rann zwischen den Lippen des Schwätzers hervor; wie ein geprügelter Hund kauerte er sich neben dem Gang zusammen.

Die ersten Männer drangen in den Gang vor. Der Wahnsinn be-gann.

Plötzlich hörte Jylge eine laute Stimme, die sich an den Höhlen-wänden brach. Eine Stimme – seine Stimme.

Er konnte es nicht glauben, doch irgendetwas in ihm hatte sich ge-regt, als er die drohende Katastrophe kommen sah. »Hört doch auf!« Jylge war von der Lautstärke seiner eigenen Stimme beeindruckt. »Was tut ihr da? Ihr mordet euch gegenseitig? Wir werden hier wie die Tiere gehalten, und anstatt dagegen aufzubegehren, bringt ihr euch gegenseitig ums Leben?«

Jylge war verblüfft – sie hielten tatsächlich inne. Sie hörten ihm zu. Ausgerechnet ihm, der sich hier stets aus allem herausgehalten hat-te. Nur eine Stimme ertönte plötzlich und stellte sich gegen die sei-

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ne. Es war Sebatt, der plötzlich am Eingang auftauchte, in der linken Hand hielt er eines der drei legendären Messer, die es hier geben sollte.

Er machte ein paar Schritte in die Höhle hinein. Tatsächlich wi-chen die eben noch mordlüsternen Männer vor ihm zurück, bildeten eine Gasse.

»Bist du jetzt hier der neue Friedenssprecher, Jylge?« Seine Stimme war voller Sarkasmus, doch Jylge hörte auch eine Spur Angst darin. Sebatt wusste nur zu genau, dass Jylge gerade einen schrecklichen Kampf verhindert hatte. Zumindest war ihm das kurzfristig gelun-gen. »Hast du vielleicht eine Erscheinung gehabt – hast du die gese-hen, die uns hier festhalten? Du? Das kann ich aber überhaupt nicht glauben, nicht wahr, Männer?«

Die Umstehenden begannen zu lachen. Ein geschickter Schachzug von Sebatt, die Situation ins Lächerliche zu ziehen. Doch das würde ihm nicht gelingen. Jylge sprang nun mitten in die Höhle, verließ seine Deckung. Mit erstaunlichem Selbstbewusstsein näherte er sich Sebatt. Keine drei Schritte von ihm entfernt baute sich Jylge auf.

Was er zu sagen hatte, war von jedem hier deutlich zu hören.»Vor drei Nächten waren sie hier um den alten Burk zu holen. Ich

habe sie entdeckt, weil ich noch so spät wach war – ich hatte näm-lich dich, Sebatt, und den Schwätzer von meinem Gang aus be-lauscht, weißt du?«

Die Farbe wich aus Sebatts Gesicht. Jylge sah, wie seine Hand, die das Messer hielt, sich langsam hob. Doch noch hielt sich Sebatt zu-rück.

»Burk? Ausgerechnet ihn? Aber warum liegt der alte Kerl dann noch immer in seinem Gang und träumt sich weit fort? Hast du ihn vielleicht gerettet?« Die Männer begannen zu lachen. Niemand trau-te eine solche Tat ausgerechnet Jylge zu.

»Genau das hat er getan.«Die Köpfe aller ruckten herum. Der alte Burk torkelte auf unsiche-

ren Füßen auf die Versammlung zu. Sebatt hätte den Ältesten der Gefangenen am liebsten zum Schweigen gebracht, aber er biss die Zähne zusammen. Burk stellte sich direkt neben Jylge.

»Jylge hat mich in seinen Gang gebracht und einen künstlichen

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Steinschlag ausgelöst, der den Eingang vollständig verschüttete.« So viele klare und vernünftige Worte hintereinander hatte hier noch niemand von Burk zu hören bekommen. »Und dann haben wir ge-zittert, denn die Wesen begannen die Steine beiseite zu räumen. Aber irgendwann waren sie das wohl leid … oder sie schafften es ganz einfach nicht. Viele Stunden haben wir in dem Gang gehockt, wagten kaum zu atmen. Irgendwann waren wir überzeugt, dass die Fremden aufgegeben hatten. Sie müssen uns wohl für tot gehalten haben. Also haben wir uns von innen heraus befreit. Jylge hat Recht – wir müssen uns alle gemeinsam gegen diese Wesen wehren.«

»Ihr Schwächlinge wollt uns weismachen, dass ihr den Wesen ent-kommen seid – wenn es die überhaupt gibt?« Sebatt war deutlich verunsichert, doch er hielt mit aller Kraft dagegen.

Jylge hob beide Arme in die Höhe, um sich der Aufmerksamkeit aller sicher sein zu können.

»Hört mir zu. Ich habe die Wesen beobachten können. Körperlich schienen sie mir nicht sonderlich kräftig zu sein. Zudem bewegten sie sich unsicher, torkelten und waren nicht in der Lage, uns schnell zu verfolgen. Wir müssen diese Wesen überwältigen, dann sind sie gezwungen uns den Weg aus diesem Kerker zu zeigen. Wie viele Fluchtversuche durch die Gänge sind fehlgeschlagen? So erringen wir unsere Freiheit nie. Auch nicht durch die Decke, wie Sebatt es gerade versucht.«

Das Gemurmel der Männer nahm an Intensität zu.»Was planst du da, Sebatt? Sag es uns.«»Ja, raus mit der Sprache, wir wollen es alle wissen.«Die Stimmen kamen von allen Seiten und Sebatt fühlte, wie ihm

alle Felle davon schwammen. Er musste sich erklären …Ein Schrei hallte durch die Höhle, der die Männer alles andere ver-

gessen ließ.»Das Gitter … das Gitter ist offen! Essen! Endlich wieder …«Wie ein Mann setzen sich die Gefangenen in Bewegung.Es gab jetzt nur noch ein Ziel …

Die Männer umklammerten die Gitterstäbe, die sie jetzt noch von

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dem breiten Gang trennten, an dessen Ende ein zweites Gitter auf sie wartete. Das jedoch war nun endlich wieder einmal geöffnet worden.

Jeder hier wusste, was das zu bedeuten hatte: Nahrung! In unre-gelmäßigen Abständen wurden Tröge mit Essen in den Gang ge-schoben, bevor sich dann das äußere Gitter wieder schloss. Es war nicht viel, was die Männer von diesem Vorgang erkennen konnten. Irgendetwas schob die Tröge in den Gang hinein … ein großes grau-es Ding, das sich dann sofort wieder zurückzog. Manche hier hielten es für einen der Götter, der sie hier so grausam bestrafte. Für Jylge war es ein eckiges Ding, in dem sicher Menschen saßen … oder die silbrigen Wesen.

Das äußere Sperre aus dicken Eisenstäben schloss sich wieder. Mi-nuten vergingen, dann fuhr das Gitter direkt vor den Gefangenen mit knirschenden Geräuschen langsam in die Höhe. Was nun folgte, war immer der exakt gleiche Ablauf der Dinge – und Jylge beobach-tete ihn wie stets mit Abscheu. Die Männer zwängten sich unter den sich nur langsam hebenden Stäben hindurch, riskierten es dabei so-gar, sich zu verletzen.

Dann begann die Hatz! Wie wahnsinnig geworden rasten sie auf die Tröge zu, gingen auf die Knie und begannen zu fressen. Ja, an-ders konnte man es nicht bezeichnen.

Jedes noch so hungrige Tier hätte sich dabei gesitteter benommen. Jylge wurde übel. Nicht lange, dann begann die Meute sich gegen-seitig zu bekämpfen … um ein Stück Fleisch, einen Brotfladen. Jylge hielt sich wie immer zurück. Er wollte lieber von den kargen Resten leben, als sich so zu erniedrigen.

Sebatt blieb ebenfalls vor dem nun weit geöffneten Gitter stehen. Er musste sich nicht an den Kämpfen um die besten Stücke beteili-gen, denn die sicherten seine Leibwächter bereits für ihn. Niemand würde sie daran hindern können, denn die Männer waren kräftig, skrupellos und bewaffnet. Man ließ sie besser gewähren.

»Da ist nichts mehr übrig geblieben von den stolzen Männern, die sie einmal gewesen sind.«

Jylge blickte überrascht zu Sebatt. Solche Worte hätte er von ihm überhaupt nicht erwartet. Sebatt deutete den Blick richtig. Er lachte

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freudlos auf.»Du hältst mich für einen Mann ohne Gewissen, der nur auf sei-

nen Vorteil aus ist, richtig? Ich kann es dir nicht verdenken, aber glaube mir – ich wünsche für uns alle die Freiheit zurück. Und ein Leben, wie es früher einmal eines gegeben hat. Ein Leben, in dem wir keinen Dreck essen mussten.«

Sebatt wandte sich um und ging in Richtung der großen Höhle zu-rück.

Jylge konnte ihm nicht widersprechen. Man konnte sicher nicht von Essen sprechen, wenn man sich den Fraß betrachtete, der ihnen vorgesetzt wurde. In der Hauptsache bestand dieser Fraß aus altem Brot – steinhart und kaum noch zu verdauen –, Erdknollen, ein we-nig Gemüse und einem stets kleiner werdenden Anteil von Fleisch … stinkenden Abfällen, die kein Mensch, nicht einmal ein Tier mehr freiwillig zu sich genommen hätte. Doch den Gefangenen blieb nichts anderes übrig.

Burk trat zu Jylge. Er hatte sich irgendwie seinen Anteil beschafft, wenn der auch außerordentlich klein ausgefallen war.

»Weniger Fleisch als sonst. Vielleicht glauben die Wesen, wir wä-ren noch viel zu gut genährt, wenn wir ihnen entwischen können. Wer weiß das schon?« Der alte Mann schlurfte davon. Er würde sei-nen Anteil in den Gang bringen, den er für gewöhnlich nutzte. Die beste Lösung war, die noch einigermaßen verdaubaren Teile sofort zu verzehren, denn man lief stets Gefahr, dass irgendwer den Rest stehlen würde.

Jylge wartete ab, bis die Meute ihr unwürdiges Ritual beendet hat-te. Erst dann ging er zu den Trögen. Viel war nicht mehr darin, doch es würde ihm ausreichen … irgendwie hatte es ja immer gereicht, um zumindest nicht zu verhungern. Sein Blick ging zu dem äußeren Gitter, das nur verschwommen zu erkennen war. Niemand schaffte es bis an die Eisenstäbe zu gelangen. Da war eine unsichtbare Wand, die jeden bremste; wer sie berührte, den durchzuckte ein heftiger Schlag. Auch das war für viele ein Indiz, dass ihre Gefängniswäch-ter Götter sein mussten. Jylge vermutete, dass diese unheimliche Vorrichtung den Blick nach draußen verhindern sollte. Was hätte man dort wohl sehen können? Einen hoffnungsvollen Sonnenstrahl?

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Die Sonne – sie war es, die Jylge am heftigsten vermisste.Eine Weile stand er so da, doch schließlich wandte er sich wieder

in Richtung der Höhle. Die Zeit wurde knapp, denn das innere Git-ter würde sich schon bald wieder senken.

Bis zur nächsten Fütterung der Kreaturen, die aus ihnen geworden waren.

Tiere – sicher nicht mehr.Jylge wunderte sich nicht, dass die Höhle nahezu menschenleer

war. Alle waren nun in ihren Gängen und schlugen sich die Bäuche voll. Dann würden sie in schlechten Träumen versinken, unruhig und mit schmerzenden Därmen vor sich hin dämmern, bis sie schließlich das faulige Fleisch, die madigen Knollen wieder von sich geben mussten – oben oder unten, je nachdem. Ein Wunder, dass nicht bereits die Hälfte der Männer daran verreckt war.

Und er, Jylge, machte da keine Ausnahme. Der böse knurrende Magen zwang auch ihn zum Fressen. Doch dazu kam er nicht. Kaum hatte er sich in seinem Gang verkrochen, da begann es auch schon.

Die Erde erbebte, doch Jylge ahnte, was der Auslöser dieser Schwankungen war.

Es hatte so kommen müssen.Sebatts Schacht in die Freiheit war eingestürzt.

Plötzlich war die Höhle gefüllt mit gestikulierenden, verwirrten und mit ihrer Angst ringenden Männern. Schnell wurde klar, dass Jylges Ahnung den Tatsachen entsprach. Sebatt und einige seiner Männer hatten hektisch begonnen die Felsbrocken beiseite zu räumen, die aus dem Gang heraus bis in die Höhle gepresst worden waren. So nach und nach begriffen nun alle Gefangenen, was Sebatt geplant und durchgeführt hatte.

Jylge zögerte nicht lange. Soweit es seine Kraft zuließ, half er den Männern, die versuchten den Gang wieder freizulegen. Schnell hatte sich eine Kette gebildet – die Männer schufen die Brocken in die Höhle hinein, wechselten einander ab. Tatsächlich waren sie plötz-lich das, was sie im Grunde immer hätten sein sollen: eine Gemein-

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schaft.Irgendwann tauchte Sebatt neben Jylge auf. »Wie viele Männer

sind da drin?«Sebatt antwortete sofort. »Fünf, für mehr ist kein Platz, wenn man

noch einigermaßen arbeiten will. Fünf meiner besten Männer.« Er schwieg betroffen, denn ihm war klar, dass den Einbruch niemand überlebt haben konnte. Einen Augenblick lang presste er die Lippen hart aufeinander, bis sie nur noch ein schmaler Strich waren, aus dem jedes Blut gewichen schien.

»Ich gebe nicht auf. Der Weg ist richtig, Jylge. Der Einsturz kann doch nur bedeuten, dass da etwas von oben nachsackt. Vielleicht sind wir nur noch ein paar Ellen vom Ausgang entfernt … und dann sind wir alle frei.«

Jylge sah das anders, denn es konnte auch sein, dass das Gestein nur nachgerutscht war. Möglicherweise türmten sich hundert Ellen Gestein oder mehr über dem Schacht, den Sebatts Männer in die De-cke getrieben hatten. Doch Jylge schwieg. Er würde Sebatt sicher nicht überzeugen können.

Vorne am Gang schrie einer der Männer laut auf. »Hierher, schnell!«

Sie hatten den ersten Toten gefunden. Er war schrecklich zugerich-tet. Vier weitere folgten. Irgendwann war der Gang bis zu der Stelle frei, an der Sebatt den Kamin in die Felsendecke hatte treiben lassen. Jylge sah, dass die wenigen Holzstützen wie Grashalme geknickt waren. Das nachdrückende Gestein hatte enorme Kraft bewiesen. Und nun verkorkte es den Kamin, der in die Freiheit führen sollte. Man musste kein Experte sein, um zu sehen, dass es hier kaum einen zweiten Versuch geben konnte.

Die Toten wurden unter Steinen begraben, denn der felsige Boden ließ es nicht zu, dass man die Leichen verscharren konnte. Es waren nicht die ersten Opfer eines Ausbruchsversuches, doch fünf Männer … das hatte es noch nie gegeben. Kaum einer der Männer verkroch sich in seinem Gang. Irgendwie hatten alle das Gefühl, in der Ge-meinschaft besser aufgehoben zu sein. Zumindest für kurze Zeit.

Sebatt versuchte bereits, seine Männer für einen zweiten Anlauf zu gewinnen, doch zum ersten Mal bekam er Widerspruch zu hören.

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Niemand wollte in diesem Gang elendig verrecken. Sie waren Sebatt nach wie vor ergeben, doch nicht verrückt genug, um ihm nun noch zu folgen. Nach einiger Zeit gab der selbsternannte Anführer auf, zumindest für den Moment.

Jylge war überrascht, dass ausgerechnet Sebatt seine Nähe suchte.»Sie wollen nicht. Aber ich kann es ihnen nicht verdenken. Den-

noch – der Weg nach oben ist richtig, ich bin davon überzeugt. Was denkst du …« Sebatt blickte Jylge ernst an. »Haben wir diese Wesen, von denen du gesprochen hast, nun aufgeschreckt? Der Einsturz war sicherlich auch außerhalb unseres Kerkers zu vernehmen.«

Zum ersten Mal spürte Jylge bei Sebatt so etwas wie Angst. Er fürchtete, die Götter erzürnt zu haben. Jylge wusste darauf keine Antwort.

»Ich glaube nach wie vor, dass wir sie überwältigen könnten, wenn wir uns alle zusammen täten. Wäre es nicht zumindest einen Versuch wert? Sie sollen spüren, dass noch Leben und Energie in uns steckt.«

Die beiden Männer sprangen hoch, als in dieser Sekunde eine Ex-plosion von der anderen Höhlenseite zu hören war. Jylge sah die gleißende Stichflamme, die vom Boden zur Decke schoss. Ganz be-nommen torkelte ein Mann aus dieser Richtung in die Mitte der Ka-verne. Sein Kopf war von Ruß geschwärzt und kleine Flammen kräuselten sich durch die wenigen Überreste seiner Haarpracht. Jyl-ge wusste nicht, ob er lachen und schreien sollte. Jeder hier kannte den Burschen. Er hieß Lornenz und wurde von allen für leicht durchgedreht gehalten. Ständig bastelte er aus irgendwelchen Res-ten Sachen, mit denen niemand etwas anzufangen wusste er am we-nigsten. Was auch immer er hier und heute gemacht hatte, war zu-mindest beeindruckend in seiner Wirkung gewesen, ganz besonders beeindruckend in Hinsicht auf seine Haare, die schlicht und ergrei-fend nicht mehr vorhanden waren.

Die Männer lachten. Ein befreiendes Lachen, das die Toten und die Lage der noch lebenden Männer für Momente vergessen ließ. Nur Jylge und Sebatt lachten nicht. Sie blickten einander an, und es war beiden klar, was der andere gerade dachte.

Als sich die Welle der Belustigung gelegt hatte, rief Sebatt Lornenz

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zu sich.»Was, bei allen Göttern, war das? Wie hast du das gemacht? Keine

Sorge, Jylge und ich lachen nicht über dich.«Lornenz sprach nicht oft und schon überhaupt nicht gerne. Er

wusste sehr wohl, dass seine hohe Fistelstimme viele der Männer hier zur Weißglut trieb. Sie hielten ihn alle für zu weibisch, für zu weich. Jeder hier sehnte sich nach einer wohlklingenden Frauen-stimme, doch Lornenz' Organ glich da eher einer vollkommen ver-stimmten Leier. Irgendwann hatte er ein Lied intoniert, das alle noch aus ihrer Zeit in Freiheit kannten. Es hatte ihm eine ordentliche Tracht Prügel eingebracht, die er niemals vergessen sollte. Das war das rasche Ende seiner musikalischen Ambitionen gewesen.

Der junge Mann rollte mit den Augen.»Als die Steine kullerten … da hab ich an das gedacht, was ich frü-

her immer gemacht habe, damit sie so rollen, wie sie sollten. Das hat immer so schön geknallt, wisst ihr?« Jylge hatte Lornenz immer nur als zurückgeblieben eingestuft. Doch das schien nicht die ganze Wahrheit zu sein, wie er nun aus den Worten des Mannes zu hören glaubte. Sie alle hier waren einmal Arbeiter, Bauer, Schmied oder Zimmermann gewesen, auch wenn die Lethargie ihnen die Erinne-rung an viele ihrer Talente genommen hatte.

Und Lornenz? Ständig bastelte und werkelte er an unsinnigen Dingen herum, baute aus Stein und Holzresten die wildesten Gebil-de. Und was, wenn das alles einen viel tieferen Sinn in sich barg, als man es ahnen konnte? Was, wenn der Bursche früher einmal ein Techna gewesen war? Einer, der all diese merkwürdigen Dinge er-funden und gebaut hatte, die man auf der Welt finden konnte, von denen aber niemand mehr wusste, welche Bewandtnis es mit ihnen gehabt haben mochte. Das große Vergessen – es war mit dem Bro-cken gekommen.

Sebatt schien ganz ähnliche Gedanken zu haben.»Kannst du das noch einmal machen? Ich meine – könntest du den

Knall, die Explosion in eine bestimmte Richtung lenken?«Jylge wusste genau, was Sebatt vorhatte. Und diese Idee mochte

sogar funktionieren. Allerdings wusste Jylge nun wirklich nicht, wie man das praktisch durchführen sollte.

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In Lornenz' Augen flackerte mit einem Mal ein Licht. Etwas in Se-batts Frage hatte es angezündet und nun erlosch es nicht mehr. Man konnte tatsächlich sehen, wie es in Lornenz' Kopf zu arbeiten be-gann.

»In eine bestimmte Richtung. Nach oben, nicht wahr?« Sebatt nick-te heftig. »Das müsste gehen, kommt mit mir.« Lornenz hüpfte da-von. Sein Gang war mehr als ungewöhnlich, aber Sebatt und Jylge interessierte das jetzt wirklich nicht. Sie folgten ihm, krochen hinter dem jungen Mann in dessen Gang hinein.

Jylge traute seinen Augen nicht. Was er hier sah, das erinnerte ihn an das Lager eines Alchemisten oder Zauberers, wie es sie früher einmal gegeben hatte; Scharlatane, sicherlich, doch von der Bevölke-rung waren sie hoch geschätzte Personen gewesen. Jedenfalls hatte das hier große Ähnlichkeit mit den Utensilien, die man von diesen Leuten gewohnt war.

Fein säuberlich voneinander getrennt lagen hier lauter Häufchen – zerriebenes Holz, Steinstaub, irgendwelche Flechten, die an den Höhlenwänden wucherten, und einige Materialien, die Jylge über-haupt nicht zuordnen konnte. Angewidert entdeckte er einen Hau-fen menschlicher Haare. Daneben eine beträchtliche Ansammlung von Fruchthülsen, deren Inneres Lornenz fein säuberlich ausgelöst hatte. Wozu er diese teilweise steinharten Hülsen aufbewahrte, war Jylge überhaupt nicht klar.

Doch Minuten später wusste er es.Lornenz gestikulierte und schwatzte unverständliches Zeug, doch

ausgerechnet Sebatt – der ob seiner Ungeduld bekannt war – lausch-te dem Geschnatter aufmerksam. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis auch Jylge zu begreifen begann, was Lornenz seinen beiden Besu-chern mitzuteilen versuchte, was er ihnen zeigte. Alles, was in sei-nem Kopf geschlafen hatte, schien nun mit einem Schlag auszubre-chen.

Mit flinken Fingern mischte er ein wenig von den unterschiedli-chen Haufen zusammen, verrieb es, bis alles zu feinem Staub gewor-den war. Jylge beugte sich über Lornenz' wilde Sammlung und schnupperte. Einige der Ingredienzien hatten keinen nennenswerten Eigengeruch, andere hingegen rochen umso intensiver. Bei einem

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der Haufen zuckte Jylge angewidert zurück. Der Gestank biss ihn heftig in die Nase, ließ seine Augen tränen. Lornenz sah Jylge strah-lend an und begann mit den Fingern über die Wand zu kratzen. Of-fensichtlich wollte er damit sagen, dass dieses Zeug hier überall wu-cherte. Jylge ließ von weiteren Versuchen ab. Er hatte mehr als ge-nug gerochen, wie ihm seine Nase signalisierte.

»Schau hin, Jylge. Sieh, was er macht.« Sebatt war ganz bei der Sa-che.

Lornenz' flinke Finger griffen nach einer der Fruchthülsen, die er sorgfältig ausgeweidet hatte. Das eine Ende verschloss er mit einem Stein, füllte dann die von ihm angefertigte Mischung ein. Ein zwei-ter Stein verschloss die Hülse dicht und fest.

Jylge hatte nun auch begriffen, was Lornenz so unverständlich zu erklären versucht hatte. Das Pulver, das in der Höhle entzündet und rasch verpufft war, musste so fest eingeschlossen einen ungeheuren Druck entfesseln. Jylge sah Sebatt an.

»Du bist wahnsinnig. Ein wenig zu viel von diesem Zeug … und wir alle fliegen in die Luft.«

Sebatt lachte auf, schlug Lornenz begeistert auf die schmalen Schultern. »Und? Ist denn nicht alles besser, als hier zu warten, bis sie einen holen?« Er blickte Jylge tief in die Augen. »Ja, ich habe sie auch schon gesehen, wie du. Aber ich habe nichts gesagt, denn ich wollte Panik verhindern. Sie holen uns, einen nach dem anderen. Sie halten uns hier wie ihre Herde … ich ahne wie du, warum sie das tun. Du hältst mich für einen Tyrannen, der hier die Macht an sich reißen will. Ich widerspreche dir nicht, aber ich will auch noch et-was anderes erreichen – die Freiheit für uns alle. Also schließ dich mir an, lass uns dieses Zeug hier gemeinsam zur Explosion bringen. Du bist nicht dumm, Jylge. Zusammen machen wir sicher weniger Fehler als jeder von uns alleine.«

Einen Moment lang dachte Jylge daran, Lornenz' explosives Ge-misch doch besser gegen das Gitter einzusetzen, doch die Idee ver-warf er wieder. Was hätte das gebracht? Spätestens die unheimliche Sperre vor dem äußeren Gatter hätten sie auch mit dieser neuen Waffe sicher nicht überwinden können. Vielleicht war Sebatts Idee die einzige, die überhaupt Erfolg versprach.

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Jylge nickte Sebatt zu. »Gut, dann lass uns planen, denn sicher werden wir nur einen einzigen Versuch haben. Scheitert der, sind wir entweder alle tot … oder unsere Gefängniswärter werden sich unser annehmen.«

Sebatt sagte nichts. Jylges Gedanken waren die seinen.Gemeinsam mit Lornenz krabbelten sie zurück in die Höhle –

dorthin, wo die anderen Verlorenen schon auf sie warteten.

Ketlin war übervorsichtig.Lieber verlor sie die Silbernen mit ihrer Fracht kurzfristig aus den

Augen, als dass sie Gefahr lief von ihnen entdeckt zu werden. Wie oft wohl hatte sie mit Flynx zusammen ihre Jagdbeute verfolgt, um so von einem einzelnen Tier zur ganzen Herde geführt zu werden? Im Grunde war das hier ja nichts anderes, doch nie zuvor hatte die Jägerin sich wie das eigentliche Opfer gefühlt. Was sie im Inneren des Brocken gesehen hatte, ließ ihr keine Ruhe mehr. Verfolgte sie denn tatsächlich Götter? Was maßte sie sich dann an?

Die Füchsin spürte ein heftiges Kribbeln, das sich auf ihren gesam-ten Körper verteilt hatte.

War das Angst? Die Angst sich zu übernehmen? Sicher hätten die Silbernen sie mit einer Handbewegung töten können.

Die Verfolgung dauerte noch nicht sehr lange an. Die Silbernen be-wegten sich unsicher auf den Beinen. Manchmal hatte Ketlin den Eindruck, diese Wesen waren es nicht gewöhnt sich auf ihren eige-nen Beinen fortzubewegen. Mussten Götter laufen? Hätten sie denn im Grunde nicht fliegen sollen? Ketlin hatte wie jeder Bewohner die-ser Welt so ihre eigenen Vorstellungen von überirdischen Wesen, aber vielleicht waren die ja alle falsch.

Die Füchsin vergaß nicht sich zu orientieren. Den Weg, den die Sil-bernen eingeschlagen hatten, kannte sie nicht. Das hier war nicht unbedingt ihr Revier, doch sie wollte natürlich zu jeder Zeit den Rückweg finden – vielleicht in heilloser Flucht? Sie hielt sich an die Sonne, die ihr den Rückweg zeigen würde, und an ihren Instinkt, der unter Flynx' Anleitung zur vollen Entfaltung gekommen war.

Was hätte Flynx in diesem Moment wohl getan? Ketlin verdrängte

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diese Frage, denn sie war nicht relevant. Sie war alleine, musste also auch alleine die möglichst richtigen Entscheidungen treffen.

Es wurde Ketlin rasch klar, wo das Ziel der Fremden lag. In der Ferne konnte sie die Überreste einer Festung erkennen, besser ge-sagt die Ruinen der Zitadelle, des am stärksten befestigten Teils, das einem angreifenden Feind bis zuletzt die Stirn bieten sollte. Hier al-lerdings war es wohl weniger um den Schutz vor Invasoren gegan-gen, vielmehr um die Sicherung von Eigentum.

In der frühen Zeit hatte es viele solcher Bauten gegeben, die in den meisten Fällen schlicht und ergreifend dort erbaut wurden, wo Landbesitzer ihre Minen und Bergwerke schützen wollten. Wer das Glück hatte, unter seinem Land auf Bodenschätze zu treffen, der musste stets damit rechnen, überfallen und vertrieben zu werden. Erze und Edelmetalle waren ein begehrtes Handelsgut. Landwirt-schaft und Jagd erlebten ihre Blütezeiten erst viel später, als die Menschen das Bedürfnis verspürten, sesshaft zu werden.

Sesshaft und friedfertig, denn die Frühzeit war martialisch geprägt gewesen. Ganze Heere wurden damals zusammengestellt, um Raubzüge nach Metallen, Edelsteinen … und nach Menschen durch-zuführen. Ja, Menschen – Sklavenhandel war ein einträgliches Ge-schäft, das sich die Kriegsherren nicht entgehen ließen.

Irgendwann war der Wandel eingetreten. Soldaten wurden zu Bauern und Jägern, denn dieses Geschäft verstanden sie besonders gut. In vielen Teilen der Länder verschwanden nach und nach die Bergwerke. Zu mühsam war das Buddeln nach Erz und Edelstein – es kostete Kraft und Leben, denn immer wieder kam es zu Einstür-zen, die oft Hunderte nicht überlebten.

Die Festungen über den Minen zerfielen im Lauf der Zeit, bis sie überwuchert von Unkraut in Vergessenheit gerieten. Manchmal spielten Kinder dort, bis ihre Eltern es ihnen verboten.

Die Silbernen steuerten auf die höher gelegenen Ruinen zu. Ketlin begann zu ahnen, dass sie dort unter Umständen finden konnte, was sie suchte – einen besseren Ort mochte es kaum geben, um Gefange-ne verschwinden zu lassen.

Der Druck auf Ketlins Bewusstsein, der im Inneren des Blocks na-hezu verschwunden war, hatte sich wieder aufgebaut. Sie fühlte,

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wie die Ausstrahlung des Brockens sich bleischwer über sie legte. Was sie im Block gesehen und erlebt hatte – all dies fremdartigen Dinge, die wie reine Magie erschienen –, hatte sie erschreckt, jedoch nicht gelähmt. Jetzt aber musste sie sich wieder zu jedem neuen Schritt zwingen.

Und wurde dabei offenbar zu unvorsichtig.Plötzlich blieben die beiden Silbernen stehen. Die Plattform stopp-

te ebenfalls und schwebte über dem Weg. Einer der Fremden drehte sich langsam um.

Ketlin reagierte rein instinktiv. Mit einem langen Sprung brachte sie sich in den an beiden Seiten angrenzenden Wald. Sie verschmolz mit den Bäumen, den Büschen – unbeweglich, still und starr. Sie wagte es nicht einmal zu atmen, als der Silberne in ihre Richtung ging. Panik wollte sich in Ketlin aufbauen, doch nun war es die Le-thargie, die lähmende Ausstrahlung des Blocks, die ihr hier half. Der Fluchtimpuls in ihr wurde übergroß, doch das Bleichtuch des Phleg-mas ließ ihn nicht zum Ausbruch kommen.

Keine zwei Schritte entfernt ging das Wesen an ihr vorbei. Nun konnte Ketlin es genau betrachten, was ihr in ihrer Panik allerdings schwer fiel. Es war bedeckt mit einer dünnen silbrigen Schicht, ganz und gar. Seine Augen blickten verschwommen durch einen schma-len Schlitz. Ketlin konnte es atmen hören. Also konnte es auch rie-chen, sicherlich. Dann musste es doch ihren Angstschweiß riechen. Gleich würde es sie entdecken und töten – sicher, ganz sicher …

Der Silberne blieb nur wenige Schritte weiter stehen und blickte sich nach allen Seiten hin um. Als sein Blick Ketlin traf, hätte sie schreien können, doch ihr Mund blieb wie zugenäht. Sekunden ver-harrten die Augen auf ihr, dann wanderten sie weiter. Noch kurz blieb das fremde Wesen so stehen, dann richtete es seine Schritte wieder auf den Ort, an dem der zweite Silberne auf es wartete. Als wäre nichts geschehen setzten sie ihren Weg fort, gefolgt von der Plattform, auf der die bewusstlosen Männer lagen.

Ketlin sank zu Boden, lehnte sich gegen den Baumstamm, der ihr ein wenig Deckung verschafft hatte. Als Witwe des besten Jägers der Welt hatte sie gelernt, ihr Ego praktisch vollkommen auszuschalten, wenn es sein musste. Tiere – und speziell die Gro'ons – konnten

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Emotionen wittern, die von ihren Hetzern ausgingen. Wahrschein-lich hatte diese Fähigkeit ihr soeben das Leben gerettet. Das, und die Tatsache, dass diese Fremden offenbar ihre Sinne unter der Silber-haut nicht wirklich entfalten konnten.

Ketlin ließ den Fremden einen größeren Vorsprung, ehe sie ihnen mit noch zittrigen Knien folgte. Das durfte ihr nicht noch einmal passieren. Der Weg begann nun langsam anzusteigen und wand sich direkt auf die Ruinen zu.

Viel war nicht übrig von der sicher einmal beeindruckenden Feste. Am höchsten Punkt, direkt vor den Überresten der Zitadelle, teilte sich der Weg. Die Silbernen stoppten und machten sich an der Platt-form zu schaffen. Aus sicherer Entfernung beobachtete die Füchsin sie, doch Einzelheiten konnte sie nicht ausmachen. Das Ergebnis der Manipulation ließ sie wieder einmal verblüfft innehalten. Aus der Unterseite der Platte fuhren vier Räder aus, die aus ihr eine Art Kar-re machten, die von den Silbernen leicht gelenkt und geschoben werden konnte.

Sie wählten nicht den Weg, der direkt in die Ruine geführt hätte, sondern den Abzweig, der schon nach wenigen Schritten in die Tiefe zu führen begann. Ketlin drückte sich an den Wänden entlang. So kurz vor dem Ziel durfte ihr kein Fehler unterlaufen. Die Silbernen ließen den Karren über die stets nur leicht abschüssige Bahn laufen. Dann lief die Schräge langsam aus, ging in eine ebene Strecke über. Die Silbernen bremsten den Wagen und lenkten ihn nach rechts.

Ketlin überlegte fieberhaft, wo sie sich verbergen konnte, falls die Wesen nun wieder den Rückweg antreten würden. Die Wände wa-ren glatt und kahl, in ihnen gab es keine Nischen, um sich zu verste-cken. Doch dieses Problem löste sich augenblicklich, denn die Silber-nen hatten andere Pläne. Einen kurzen Wimpernschlag lang war Ketlin abgelenkt gewesen … und nun lag der Weg vor ihr frei und leer da.

Die Silbernen waren samt der seltsamen Karre und ihrer makabe-ren Last verschwunden.

Ganz einfach so, als hätten sie sich in Luft aufgelöst …

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Ketlin nahm ihren verbliebenen Mut zusammen. Wie sie ver-schwunden waren, so konnten sie auch wieder auftauchen. Doch die Füchsin musste das Risiko eingehen. Geduckt näherte sie sich der Stelle, an der das scheinbare Wunder geschehen war. Ketlin tastete mit der rechten Hand über die glatte Wand, die den Gang begrenzte … und griff ins Leere!

Ketlin atmete erleichtert auf, als sie begriff, nicht schon wieder vor einem Wunderwerk der Silbernen zu stehen. Nein, dies hier war von Menschenhand geschaffen worden, allerdings so geschickt, dass die Füchsin nur anerkennend nicken konnte. Wer das hier so ange-legt hatte, der musste ein Meister seines Faches gewesen sein. Ein schmaler Seitenweg ging von dem Gang ab, doch der war so gut ge-tarnt, dass man ihn erst dann entdeckte, wenn man direkt vor seiner Öffnung stand. So also waren die Fremden verschwunden. Ketlin lauschte, aber aus dem Geheimweg kamen keinerlei Laute zu ihr.

Einen Augenblick dachte die Jägerin daran, den Silbernen zu fol-gen, doch das Risiko, entdeckt zu werden, war ihr zu groß. Sie konnte etwas viel Besseres tun, denn sie musste sich hier nur ein or-dentliches Versteck suchen und abwarten, bis die Fremden wieder zum Vorschein kamen – dann sicher ohne die bewusstlosen Männer, denn Ketlin war sich ziemlich sicher, den Ehegatten ihrer Auftrag-geberinnen schon recht nahe zu sein. Warum man die Männer aller-dings hier gefangen hielt, erschloss sich ihr in keinster Weise. Das machte keinen Sinn. Ein schlimmer Gedanke zuckte in ihrem Kopf auf, aber den verwarf sie wieder. Nein, die Silbernen konnten keine menschenfressenden Ungeheuer sein. Oder doch? Warum sollte man hier so eine Art von Lager errichten? Ketlin hatte die Wunder im Block gesehen; es musste den Fremden ein Leichtes sein, ungebe-tene Gäste, die zu nahe an den Block kamen, ein für alle Mal zu ver-jagen.

Sie würde dieses Geheimnis nur lösen können, wenn sie die Män-ner fand. Vielleicht wussten die ja die Antwort.

Ketlin folgte mit Bedacht dem Hauptgang. Irgendwo musste sie hier ein passendes Mauseloch für sich finden, bis die Silbernen ver-schwunden waren. Dann würde sich alles Weitere schon ergeben. Der breite Weg führte nicht mehr weit in den Fels hinein. An seinem

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Ende angekommen, stand die Füchsin vor einem hohen Gitter, des-sen Stäbe ungewöhnlich massiv waren.

Was dahinter lag, blieb ihr weitestgehend verborgen, denn ein grauer Schleier lag hinter den Stäben, der ihre Sicht behinderte. Viel-leicht war er auch dazu erschaffen worden, die Sicht von der ande-ren Seite aus zu stören. Ketlin wollte sich nicht zu lange mit diesem Phänomen beschäftigen, denn nur zu rasch konnten die Silbernen wieder auftauchen.

Außerdem war ihr Bedarf an Wunderdingen für diesen Tag bereits voll und ganz erfüllt … und noch mehr als das!

Vor dem Gitter, das sicher in das Abbaugebiet für irgendein Erz führte, wie Ketlin vermutete, standen mehrere Tröge. Allesamt groß genug, um einen Menschen aufzunehmen. Sie beugte sich über einen der Behälter. Sicher kein perfektes Versteck, doch besser als nichts. Angewidert zuckte sie zurück. Bestialischer Gestank schlug ihr entgegen. Eine Mischung aus fauligem Fleisch, schimmligem Brot und vergorenen Früchten. Einfach ekelhaft. Ketlin hielt sich die Nase zu und wagte einen Blick. Wände und Boden des Troges wa-ren mit einer schmierigen Schicht behaftet, die diesen Gestank pro-duzierte.

Es war nicht schwer zu kombinieren: das Gitter, die verschwunde-nen Männer … nun diese Tröge, in denen ganz eindeutig Essen transportiert wurde. Das alles ergab ein Gesamtbild, das mit kurzen Worten zu umreißen war.

Sie lebten, man fütterte sie mit Dreck, aber man fütterte sie, denn man brauchte sie lebend.

Es gab also die Chance, die Männer zu befreien. Das durfte nicht an Ketlins Geruchsinn und dem Ekel scheitern, der ihr den Magen umdrehte.

Hinter ihr wurde es unruhig. Die Silbernen kamen aus dem Seiten-gang zurück. Ketlin hatte keine Zeit mehr, ihren Magen vorsichtig auf das einzustellen, was nun unweigerlich auf ihn zu kam. Sie holte tief Luft, wie ein Taucher vor dem Sprung ins Wasser, dann enterte sie geschickt den Trog. Ihre Hände glitten unweigerlich an dem schmierigen Belag ab, und Ketlin versuchte sich nicht vorzustellen, was sie da gerade berührte.

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Sie hoffte nur, die Silbernen würden schnell abziehen, ehe sie sich in diesem Trog ganz einfach übergeben musste.

Ihre Hoffnung bestätigte sich jedoch nicht. Das genaue Gegenteil trat ein. An den Schritten der Fremden konnte sie nur zu genau aus-machen, dass die beiden sich auf ihr Versteck zu bewegten.

Natürlich … sie wollten die leeren Tröge mit sich nehmen, um sie wahrscheinlich wieder mit verdorbenen Lebensmitteln zu füllen.

Ketlin war klar, dass sie entdeckt werden würde. Was dann kom-men würde, mochte sie sich nicht ausmalen.

Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg aus dieser Misere, doch all ihre Gedanken flatterten nur hilflos in ihrem Kopf umher. Keiner davon war auch nur im Ansatz brauchbar.

Die Schritte der Silbernen waren nun schon ganz nahe. Drei, vier Atemzüge noch, dann waren sie da. Ketlin spürte eine Panik, die sie so noch nie erlebt hatte. Aus, es war aus …

Genau in diesem Augenblick wollte die Welt vergehen. Alles was Ketlin davon mitbekam, war, dass der Trog in dem sie hockte, von einer Titanenfaust in die Höhe gehoben wurde.

Doch was oben war, das musste auch wieder runter kommen.Ketlin schrie, als ihr Versteck auf den Boden zu raste …

Jylge konnte seine Bedenken nicht mehr bei sich behalten.Er beobachtete, wie Sebatts Männer die sorgfältig an beiden Enden

verschlossenen Fruchthülsen in den Gang brachten. Es waren zehn dieser mit dem hochexplosiven Gemisch gefüllten Behältnisse, aus denen je ein kurzes Stück Faden heraushing. Die Männer hatten be-reitwillig Teile der Lumpen hergegeben, die ihnen in Fetzen am Leib baumelten – anders konnte man das nicht bezeichnen. Daraus hat-ten geschickte Finger eine lange Lunte gemacht, die bis ins Höhlen-innere reichte. Wenn man die einzelnen Fäden der Fruchthülsen nun damit verband, ergab das eine sicher funktionstüchtige Verknüp-fung.

Zehn …Jylge sah, wie die Männer unter Sebatts Anleitung die provisori-

schen Zündladungen befestigten. Dann kam die wichtigste Arbeit –

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mit Steinen verdämmten die Leute die Ladungen so, dass deren Ex-plosionsdruck nach oben in den Schacht gerichtet sein sollte. Sollte, denn niemand konnte hier auf eigene Erfahrung in diesen Dingen zurückgreifen. Auch Lornenz nicht, der nur unverständliches Zeug brabbelte, als Sebatt ihn danach fragte.

Ansonsten ließ sich Lornenz hier im Gang nur selten blicken. In seiner Alchimistenhöhle verkrochen, stellte er noch mehr von seiner gefährlichen Mischung her, bis Sebatt ihn gemahnte, damit nun auf-zuhören, denn mehr brauchte man nicht.

Mehr? In Jylges Augen waren diese zehn Kapseln bereits mehr als genug. Niemand konnte auch nur ahnen, was nach der Zündung wirklich geschehen mochte. Auch Sebatt nicht, obwohl der so tat, als sei alles unter seiner absoluten Kontrolle. Jylge suchte Sebatt, der ge-rade die Fäden mit der Hauptschnur verknotete.

»Ich habe Angst, dass uns das alles hier außer Kontrolle gerät.«Sebatt drehte sich nicht einmal zu Jylge um. Er konzentrierte sich

auf die Knoten. Seine Stimme klang beruhigend, einlullend.»Mach dir keine Sorgen, ich bin sicher, dass ich alles richtig be-

rechnet habe. Außerdem hast du selbst gesagt, dass wir nur diesen einen Versuch haben. Wir können also nicht kleckern, wenn du ver-stehst was ich damit sagen will.«

Jylge verstand durchaus, aber Sebatts Beteuerungen schmälerten seine Furcht um keinen Deut. Es gab so viele Dinge, die genau falsch laufen konnten. War die Verdammung vielleicht nicht ausreichend? Dann würde die Explosion die Felsbrocken in die Höhle schießen lassen, was katastrophale Auswirkungen haben würde. Oder war die Ladung zu stark? Jylge mochte erst gar nicht daran denken, was dann alles geschehen konnte.

Sebatt war mit seinen Vorkehrungen fertig. Noch einmal kontrol-lierte er alle Knoten und nickte zufrieden. »Komm, Jylge, gehen wir in die Höhle. Ist es nicht verrückt, dass wir erst jetzt bemerkt haben, was Lornenz da die ganze Zeit über in seinem Gang getrieben hat? Und ich habe immer gedacht, ich wäre über alles informiert, was hier abläuft.«

Jylge folgte Sebatt, nicht ohne einen beunruhigten Blick über die Schulter zu werfen. Irgendetwas sagte Jylge, dass die Sache schief

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gehen musste.In der Höhle warteten alle Männer ungeduldig auf Sebatt. Der ge-

noss die Aufmerksamkeit und machte eine große Geste mit seinen über den Kopf gestreckten Armen. Das Murmeln der Männer erstarb. Alle konzentrierten sich auf ihren Anführer – zumindest sah Sebatt sich selbst so.

»Mit ein wenig Glück endet unsere verfluchte Gefangenschaft nun endlich.« Wenn er mit Beifall gerechnet hatte, so wurde er ent-täuscht, denn die Männer regten sich nicht. Viele von ihnen begrif-fen überhaupt nicht, was vor sich ging, das konnte Jylge deutlich in den Gesichtern erkennen. Die Gefangenschaft hatte sie endgültig ab-gestumpft. Für sie zählte nur noch fressen und irgendwie überleben. Sebatt fuhr fort. Seine Stimme klang bis in die letzte Ritze der Höhle.

»Ich werde nun gleich die Sprengsätze zünden. Dann wird die La-dung die Decke in dem Gang zum Einsturz bringen und wir werden so in die Freiheit entfliehen können. Wenn es so weit ist, dann rate ich euch, dass ihr um euer Leben lauft. Meidet die Nähe des Bro-ckens! Selbst wenn eure Familien dort leben – wählt eine andere Richtung und lauft! Und nun sucht euch alle eine gute Deckung. In der Höhle, in den Gängen – ich kann euch nicht sagen, wo es siche-rer ist, aber auf alle Fälle so weit wie möglich von diesem Eingang entfernt.«

Langsam kam Bewegung in die Männer. Jylge sah, wie Sebatt die Gefangenen links und rechts von dem Gang an die Höhlenwände dirigierte; seine Männer halfen nach, wenn der eine oder andere sich nicht rasch genug entscheiden konnte. Ein Teil verschwand in ihren Gängen. Jylge selbst blieb in der Höhle.

Er konnte erkennen, wie Sebatt eine Handvoll trockener Flechten direkt an das Ende der Zündschnur platzierte. Dann schlug er kräf-tig die beiden Feuersteine gegeneinander, die ihm Lornenz aus sei-ner Sammlung überlassen hatte. Drei, vier Versuche fruchteten nicht, doch dann begann es in den Flechten zu glimmen. Nur Augenblicke später flackerte das Feuer auf, noch unentschlossen, aber stark ge-nug um die Zündschnur in Brand zu setzen.

Sebatt wartete noch einige Sekunden, um sicher zu gehen, dass die Schnur auch wirklich brannte, dann wandte er sich um und rannte

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auf die Stelle zu, an der Jylge und Sebatts Leibwächter Deckung ge-nommen hatten.

Die Zündschnur brannte aufreizend langsam ab, doch schließlich hatte sie den Eingang des Stollens erreicht und verschwand darin. Sebatt presste die Worte durch fast geschlossene Lippen hindurch. »Brenne, du verdammtes Miststück – brenne.«

Irgendwer schrie plötzlich auf. Jylge brauchte einige Atemzüge bis er den Grund für diesen plötzlichen Ausbruch entdeckt hatte. Eine einsame Gestalt durchquerte die Höhle auf unsicheren Füßen. Ihr Ziel war klar … es war der Gang, in dem in wenigen Augenblicken die Explosion erfolgen sollte.

Und dann erkannte Jylge, wer dieser Irre war.Lornenz!Niemand hatte sich mehr um den verdrehten Burschen geküm-

mert. Das rächte sich nun bitter.Jylge hörte Sebatt schreien. »Verschwinde da. Du Wahnsinniger,

mach, dass du da weg kommst!«Lornenz blieb stehen, ganz dicht bei dem Einstieg zum Gang. Er

drehte sich einmal um die eigene Achse, bis er Sebatt entdeckte. »Verschwinden? Aber warum?« Der Mann schien vollkommen ver-wirrt. »Ich bringe doch mehr. Noch viel mehr, seht ihr?« Ohne sich um Sebatt und die anderen zu kümmern machte er zwei lange Schritte, die ihn im Gang verschwinden ließen.

»Was hat der Idiot da an seinen Körper gepresst?« Jylge wusste die Antwort, doch er wollte sie nicht wahr haben. Es waren gut und gerne ein Dutzend Fruchthülsen, die Lornenz mit beiden Armen fest an sich gedrückt hielt. Und Jylge wusste nur zu gut, was sich in den Hülsen befand. Er stieß sich von der Höhlenwand ab und wollte in Richtung des Ganges sprinten, doch Sebatts kräftige Hände hielten ihn zurück.

»Das schaffst du nicht mehr. Die Lunte muss jeden Augenblick bei der Verdämmung ankommen. Es ist zu spät … alles zu spät.«

Für Sekunden blickten sich Sebatt und Jylge an. Beide wussten nur zu genau, was nun folgen musste.

Dann schrie Sebatt in die Höhle hinein.»Alles runter auf den Boden. Schützt eure Köpfe. Los, sofort run-

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ter!«Sebatt riss Jylge mit sich nach unten.»Ihr Götter, steht uns bei …« Jylge hörte die Worte des anderen,

doch er hatte keine Hoffnung mehr – schon gar nicht in Richtung ir-gendwelcher Götter, an die er noch nie hatte glauben können.

Dann explodierte die Welt …

Ketlin hatte unverschämtes Glück.Ehe der Trog noch auf dem Boden aufschlug und dort in Tausende

von winzigen Teilen zersprang, die wie Geschosse gegen Wände und Boden schlugen, wurde sie aus dem ungastlichen Behältnis ge-schleudert.

Wie ein Tier, das sich bei Gefahr instinktiv zusammen rollte um dann geschickt auf den Pfoten aufzukommen, überlebte sie den Flug. Rings um sie herum schien die Welt zu vergehen. Mit Entset-zen sah die Füchsin, wie das schwere Gitter der Detonation, die dies alles ausgelöst hatte, mit letzter Kraft widerstand. Der Boden schwankte unter Ketlins Füßen. Dann schlug der erste Stein dicht neben ihr zu Boden, gefolgt von einem zweiten, der sie getroffen hätte, wenn sie nicht zur Seite gesprungen wäre.

Der Gang brach ein!Wild blickte sich Ketlin nach allen Seiten hin um. Die Silbernen

waren verschwunden – geflohen. Dieser Impuls kam nun auch in Ketlin auf, doch er kam zu spät, denn hinter ihr, dort wo der retten-de Ausgang lag, regnete es nun Steine, die eine Flucht in diese Rich-tung unmöglich machten.

Der Seitengang – er war ihre einzige Chance. Die Steine brachten Staub und Unrat mit sich, eine Mischung, die Ketlin beinahe die Sicht nahm. Sie tastete sich an der Wand entlang, immer den Blick nach oben gewandt, um den Steinen ausweichen zu können. Dann endlich fühlten ihre Finger die Kante, die sie so verzweifelt gesucht hatten.

Ein einziger Schritt nur, dann war sie vorläufig in Sicherheit, denn die Decke hielt sich hier noch. Noch! Der Gang lag im Halbdunkeln. Dennoch konnte es Ketlin nicht leisten, sich vorsichtig Schritt für

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Schritt zu bewegen. Sie musste rasch weiter, immer in der Hoff-nung, einen zweiten Ausgang zu finden. Wenn es den aber nicht gab? Dann saß sie in der Falle, wie sie tödlicher nicht sein konnte.

Der schmale Gang verlief schnurgerade. Hinter Ketlin schien sich ein wahres Desaster abzuspielen, wenn sie die Geräusche richtig deutete. Die komplette Ruine schien sich in die Tiefe zu senken.

Erfreut registrierte Ketlin, dass der Gang sich nun in die Höhe wand. Konnte das bedeuten, dass sie schon bald einen Ausgang fin-den würde? Und tatsächlich konnte sie einen feinen Lichtschimmer entdecken, der ihre Hoffnungen nährte. Ketlin beschleunigte ihre Schritte. Immer wieder wurde der Gang von Erschütterungen durchgeschüttelt, doch er hielt. Irgendwo weit entfernt, durch den ganzen Lärm hindurch, glaubte sie Stimmen zu hören. Schreie der Todesangst!

Die Männer, die Verschwundenen. Entsetzt wurde Ketlin klar, dass nicht allzu weit von ihr entfernt ein Drama ablief, wie es schlimmer nicht mehr sein konnte. Hatten die Männer etwas mit dieser Detonation zu tun? Hatten sie das alles ausgelöst? Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Wenn sie hier heil herauskam, würde sie ih-ren Auftraggeberinnen wohl nur vom schrecklichen Tod der Män-ner berichten können.

Ketlin rannte nun, denn sie wollte nicht das Schicksal der Un-glücklichen teilen, die sicher unter den Gesteinsmassen begraben wurden. Das Licht, sie hatte es erreicht, doch voll Panik musste sie erkennen, dass sie sich nicht unter freiem Himmel befand.

Über ihr wölbte sich die Decke der Zitadelle, des stabil erbauten Teils der gesamten Anlage, die noch nicht in sich zusammengebro-chen war. Ketlin rannte zu einem der großen Fenster, von denen aus die Wachen in vergangenen Zeiten das Land ringsum beobachtet hatten.

Erschrocken stellte die Füchsin fest, dass sich unter ihr ein Ab-grund befand, den sie nicht so ohne weiteres hinabspringen konnte. Dazu fehlte ihr der Mut.

Aus den Augenwinkeln heraus nahm Ketlin eine Bewegung war.Plötzlich war sie nicht mehr alleine …

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Jylge rollte sich blitzschnell zur Seite, als ein Stein – groß wie ein Findling – auf ihn zu sauste. Er entkam nur knapp, sprang auf die Füße und sah nun das gesamte Ausmaß der Katastrophe direkt vor sich.

Die Männer starben … einer nach dem anderen wurde von den Felsen erschlagen. Nur wenige Meter von ihm entfernt sah er Sebatt am Boden liegen, Kopf und Schultern waren von seinem Rumpf ab-getrennt – offenbar hatte eine Steinkante ihn in zwei Teile geschnit-ten. Die Leibwächter Sebatts hatte es ebenfalls erwischt, sie waren von Quadern zerquetscht worden. Jylge wandte sich mit Grausen ab. Er blickte nach oben, wo sich die Decke beinahe vollkommen aufgelöst hatte. Er wusste nicht, ob außer ihm noch jemand lebte, aber wenn er diesen Status erhalten wollte, dann musste er nun rasch handeln. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch er dem steinernen Regen zum Opfer fallen musste.

Sebatts Verdämmung hatte funktioniert, absolut perfekt. Jylge spürte den bitteren Geschmack auf seiner Zunge … oh ja, es hatte funktioniert, doch Lornenz, dieser Irre, hatte das Fass wahrlich zum Überlaufen gebracht. Vielleicht war schon die eigentliche Ladung zu stark gewesen, doch die zwölf zusätzlichen Sprenghülsen waren für dieses alte Gemäuer einfach zu viel gewesen.

Sie alle hatte nach Freiheit gelechzt. Bekommen hatten sie den Tod.

Jylge spürte, wie sich sein Magen umkehrte, als er beinahe in einer glitschigen Massen ausglitt, die er als Gehirn identifizierte. Die Köp-fe der Männer waren von den fallenden Steinen wie Nüsse geknackt worden. Das war der Augenblick, in dem etwas in Jylge zerbrach. Wie ein Schlafwandler begann er über die sich auftürmenden Fels-hügel seinen Weg nach oben.

Er warf keinen Blick mehr zurück, schaute nicht nach links oder rechts. Es gab jetzt nur noch ihn. Er war nun wichtig, denn die Men-schen da draußen mussten erfahren, was hier geschehen war. Ir-gendwer musste den Widerstand aufrütteln. Wenn das seine Be-stimmung war, dann sollte das eben so sein.

Mit aller Kraft, die ihm verblieben war, kämpfte er sich noch oben

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– hin zum Licht, das er deutlich über sich sehen konnte. Helligkeit, die seinen Augen Schmerzen bereitete. Nach so langer Zeit im Halb-dunkel der Höhle wehrten sich seine Augen gegen so viel Glanz. Er ignorierte es, ebenso wie die Schnitte, die er sich an beiden Händen zuzog.

Langsam ebbten die Schreie hinter ihm ab. Diese entsetzlichen Schreie, die vom Tod sprachen, in ihrer ganz eigenen Sprache.

Hatte Sebatt nicht noch die Götter beschworen, als die Explosion gekommen war? Götter … hier waren sie sicher nie anwesend gewe-sen; diese Männer waren bei ihnen wohl in Vergessenheit geraten. Jylge schüttelte abwehrend den Kopf, als könne er so diese Gedan-ken aus sich schütteln. Denn sie waren dumm, nutzlos.

Endlich konnte er mit wehen Händen einen kleinen Rest der De-cke fassen, sich daran nach oben ziehen. Minuten lang blieb er er-schöpft liegen. Was auch immer geschah, sein Körper brauchte diese Pause. Mühsam kam er schließlich wieder auf die eigenen Füße. Erst jetzt begriff er, wo es ihn hin verschlagen hatte. Ein schmaler Gang lag vor ihm, dessen Decke ebenfalls eingebrochen war. Und am Ende des Weges? So rasch er es nur konnte, stolperte und stieg Jylge über die Brocken, die ihm das Laufen erschwerten.

Doch er erreichte nicht die Außenwelt, wie er es erhofft hatte, son-dern fand sich in einer runden Halle wieder, die in regelmäßigen Abständen große Fensteröffnungen aufwies. Jylge konnte diese Hal-le nicht einordnen, doch das war ihm gleichgültig. Die Öffnungen mussten in die endgültige Freiheit führen. Seine Füße setzen sich na-hezu automatisch in Bewegung. Er würde sich ganz einfach aus ei-ner solchen Öffnung in die Freiheit fallen lassen.

Als er bemerkte, dass er nicht allein war, blieb ihm beinahe das Herz stehen.

Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand sie. Eine … eine Frau! Nach mehr als zwei Jahren unter gut und gerne zweihundert Män-nern, hatte Jylge beinahe vergessen, wie das aussah – eine Frau!

Ihr schneeweißes Haar lugte unter einem verrutschten Kopftuch hervor, und ihr Gesicht – wenn es auch erschöpft wirkte und mit kleinen Kratzern übersät war – erschien ihm als der schönste An-blick seines Lebens. Viel zu viele Gefühle stürmten nun gleichzeitig

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auf ihn ein. Doch noch immer überwiegte der Fluchtgedanke in ihm.Die Frau hob beschwichtigend beide Hände.»Nicht … spring nicht da hinunter! Es geht steil in die Tiefe, diesen

Sprung solltest du nicht wagen.«Jylge blickte sich um, aber einen anderen Ausweg konnte er nicht

entdecken.»Wir müssen hier aber weg. Das Gebäude wird auch einstürzen.«

Wie zur Bestätigung begann der Boden unter ihren Füßen zu beben. Risse wurden sichtbar, die sich rasch verbreiterten. »Wir müssen da hinunter. Komm!«

Beide standen nun dicht an dicht vor dem Mauerdurchlass. Sie blickten sich kurz in die Augen, dann nahm Jylge die Frau bei der Hand. Doch die hielt ihn noch zurück. »Jylge? Bist du es? Ich kann es nicht glauben.«

Jylge hatte keinen Schimmer, woher sie ihn wohl kannte, doch so vieles aus der Zeit vor dem Gefängnis lag verschüttet in seinem Be-wusstsein. Er ignorierte ihr Erkennen, fasste ihre Hand noch härter. Hinter ihnen brach der Boden der Zitadelle weg – einfach so, als wäre er aus Papier.

Die beiden machten einen Schritt nach vorne.Dann raste der Boden auf sie zu …

»Die Schmerlen die du mir gibst –ich will sie gut bewahren, Stück um Stück.

Glaube mir und zweifle nicht –Sie fallen bald zu dir zurück.«

– Lied der Gila –

Professor Zamorra hatte den zeitlosen Sprung – oder den Schritt – mit Dalius Laertes schon oft getan. Immer endete er für den Para-psychologen mit heftigen körperlichen Schmerzen. Warum das so war? Er wusste es nicht, eine Erklärung hatte er von dem Uskugen dafür auch nicht bekommen. Diese unangenehmen Nachwirkungen gab es bei einem solchen Transfer mit dem Silbermond-Druiden Gryf ap Llandrysgryf nicht. Doch die Magie der Uskugen war mit

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der des Druiden ja auch nicht vergleichbar.Die Schmerzen hatte er akzeptiert, wenn auch nur widerwillig,

doch es war einfach nicht möglich, mit dem Spider auf dieser Welt aufzutauchen. Das hätte Verwirrung und Gefahr für die dort leben-den Wesen bedeutet; nach wie vor war die wahnsinnig machende Ausstrahlung des Meegh-Schiffes ein großes Problem. Wer den Raumer ohne seinen Schattenschirm anblickte, verlor augenblicklich den Verstand.

Also gab es nur eine Möglichkeit. Kobylanski und Aartje Vaneiden blieben in einer sicheren Umlaufbahn um diese geheimnisvolle Welt, während Laertes und der Professor auf die Oberfläche spran-gen.

Doch schon in dem Augenblick des Transfers wusste Zamorra, dass alles anders als üblich ablief. Er spürte plötzlich, wie Laertes sich von ihm entfernte – mitten im Sprung. Die Schmerzen kamen wie erwartet, doch in diesem Fall so heftig, dass Zamorra sie nicht kompensieren konnte. Er verlor das Bewusstsein. Das Erwachen kam rasch und heftig. Der Parapsychologe wollte sofort auf die Bei-ne kommen, doch die schienen plötzlich aus Gummi zu bestehen. Zamorra blickte sich um. Er war alleine. Von Laertes keine Spur, aber auch nicht von den Bewohnern dieser Welt, die sich sicher ge-wundert hätten, woher dieser komische Kauz denn wohl gekommen war. Diese Peinlichkeit – gepaart mit wirren Erklärungsversuchen – blieb ihm zumindest erspart.

Allerdings erinnerte Zamorra sich selbst eher an einen Gassenpen-ner, als an einen ehrbaren Professor. Denn genau dort war er gelan-det: in einer Gasse. Er entsann sich der Zivilisationsbeschreibung, die er von den Meegh-Sonden bekommen hatte. Die Lebewesen auf dieser Welt befanden sich in einem zeitlichen Abschnitt, der sich mit dem Mittelalter der Erde vergleichen ließ.

Und so wirkte auch die Umgebung, die Zamorra aus seiner Froschperspektive erkennen konnte. Kleine Häuser, alles ein wenig schief, dicht an dicht gebaut … und dazu mit einem großen Packen an Charme versehen. Solche Kleinstädte gab es auch noch in Frank-reich – natürlich auch in Deutschland. Zamorra hatte einige davon auf seinen oft unfreiwilligen Reisen besucht.

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Zudem wohnte er selbst in einem uralten Château. Das alles war ihm nicht fremd. Mühsam rappelte er sich auf. Zwei alte Frauen gin-gen dicht an ihm vorbei und straften ihn mit unfreundlichen Bli-cken. Wahrscheinlich hielten sie ihn für sternhagelvoll. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Innerlich verfluchte er Laertes. In welchen Schlamassel hatte der Uskuge ihn nun schon wieder gebracht?

Vor allem jedoch … wo war Laertes geblieben?Zamorra blickte sich um, dann ging er die schmale Gasse hinunter,

die direkt auf dem Marktplatz mündete. Wie auf der Erde, so war dieser Ort stets der Mittelpunkt einer Ansiedlung. Nicht ungewöhn-lich, doch auf seiner Welt hätte Zamorra jetzt hier auch noch einen Kirchturm sehen können. Der fehlte hier jedoch. Keine Götter? Un-wahrscheinlich, doch wer wusste schon, wo die Götter dieser Welt ihre geweihten Versammlungsorte haben mochten?

Es war ein buntes Treiben, das der Franzose hier vor sich sah. Bunt … aber ungewöhnlich still. Solche Marktplätze waren im Allgemei-nen laute Orte. Ihre Waren anpreisende Händler schrien um die Wette, keifende Frauen stritten sich um die besten Stücke, dazwi-schen brummelten die Männer – Kinder schrien, weinten, bettelten um eine Süßigkeit, Musik erklang, vielleicht spielte irgendwo eine Laientruppe ein selbst erdachtes Theaterstück … so war das üblich.

Hier lag Stille über dem Platz. Zamorra fühlte, wie das dem Gan-zen das Flair nahm, den Reiz, ganz einfach jeden Spaß. Die Men-schen eilten von Marktstand zu Marktstand, doch sie sprachen nicht miteinander, niemand winkte fröhlich, wenn er einen Freund er-blickte.

Die Stände selbst boten nur armselige Waren feil. Zamorra ahnte, dass die Ernte der hiesigen Bauern mehr als schlecht ausgefallen sein musste. Fleisch war wohl absolute Mangelware, Obst und Ge-müse ebenfalls.

Und über all dem schwebte eine böse, eine niederdrückende Stim-mung, wie der Parapsychologe sie nur selten erlebt hatte. Dagegen waren die Sklavenmärkte in den Schwefelklüften fröhliche Veran-staltungen.

Zamorra sah sich um. Natürlich lagen um den Markt herum die Gaststätten und Kaschemmen dicht aneinander aufgereiht, wie die

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Perlen einer Kette. Der Professor hatte keine Ahnung, wie er Laertes ausfindig machen sollte. Es würde ihm nicht viel anderes übrig blei-ben, als abzuwarten, bis der Uskuge ihn fand. Laertes mochte wer weiß wo auf dieser Welt gelandet sein. Sicher würde er bereits nach Zamorra suchen.

Der jedoch wollte diese Zeit nicht unnütz verstreichen lassen. Er musste einfach in Erfahrung bringen, was hier so schwer auf den Be-wohnern lastete. Er selbst war mental geschützt, doch das bedeutete nicht, dass Zamorra den Druck nicht fühlen konnte, der wie ein Lei-chentuch über allem schwebte.

Es gab auf allen Welten einen Ort, an dem man allen Unfug sowie die Quintessenz der entscheidenden Dinge mitgeteilt bekam. Es war nicht der Markt, nein, auch nicht die religiösen Treffpunkte – es war die Kneipe, die Schenke oder Gaststätte, wie man sie auch nennen mochte.

Schulterzuckend entschied Zamorra sich für das wohl größte Haus am Platze. Durst hatte er auch. Womit man hier allerdings bezahlte, das wusste er nicht. Aber das würde sich dann schon ergeben. Not-falls würde er zum Zechpreller avancieren, was allerdings nicht die feine Art war. Doch der Zweck heiligte die Mittel. Zumindest ver-suchte er sich das einzureden.

Im Wein steckte die Wahrheit – im Bier die Ruhe.Beides konnte Zamorra durchaus brauchen.

Es war schon erstaunlich, wie die Bilder sich doch glichen. Grobe Ti-sche und Stühle – Bedienstete, die den Gästen Speis und Trank brachten – eine breite und hohe Theke, vor der sich die Zecher ver-sammelten, die sich ihren Rausch möglichst schnell und im Stehen geben wollten. Ein bärbeißiger Wirt, die schöne Frau Wirtin, es war wirklich auf allen Welten der immer gleiche Anblick. Der perfekte Ort um unerkannt zu bleiben, wenn man das wollte, und dennoch den neuesten Klatsch zu erfahren.

Zamorra hatte genau das vor. Er wollte nur die Ohren spitzen, den Gesprächen lauschen.

Diese Gaststätte bot jedoch eine Besonderheit, die man auf der

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Erde leider immer seltener fand: eine Bühne, wenn dieser Begriff auch ein wenig hochgestochen erschien. Es waren nur ein paar rohe Balken, auf die man nicht minder rohe Bretter genagelt hatte. Doch immerhin …

Zamorra orderte einen Krug mit einer Flüssigkeit, die angenehm säuerlich roch. Das Zeug hatte große Ähnlichkeit mit dem irdischen Bier, schien allerdings ziemlich obergärig zu sein. Zamorra war das recht.

Auch hier, mitten im voll besetzten Schankraum, war es verhält-nismäßig still. Die Gäste redeten zwar miteinander, doch von groß-spurigen Schwätzern oder angesäuselten Rednern vor dem Herrn war hier nichts zu entdecken. Der Professor musste seine Ohren wirklich gewaltig spitzen, wenn er überhaupt etwas mitbekommen wollte.

Doch das wurde in dem Augenblick zweitrangig, als eine hochge-wachsene Frau die Bühne enterte. Professor Zamorra war seiner Le-bensgefährtin Nicole Duval absolut treu, da gab es für ihn keine Ausnahmen. Diese Frau jedoch war zumindest eine geistige Sünde wert, die der Franzose zu begehen bereit war.

Sie trug ein eng anliegendes Kleid, dessen weiße Färbung sich zu wandeln schien, je nachdem, wie das Licht einfiel. Von Rosa bis zu einem blassen Gelb war alles an Varianten vorhanden. Ein bemer-kenswerter Stoff, zudem er unverkennbar reichlich durchsichtig war. Was Zamorra da erahnen und auch erkennen konnte, ver-schlug ihm schon den Atem.

In den Händen hielt sie ein Instrument, das entfernt einer Harfe ähnelte. Sie setzte sich auf einen Hocker, schlug die Beine überein-ander. Ihre Haare trug sie bis zur Hüfte – eine wahre Haarpracht, die in einem intensiven Rot schimmerte. Ob Zamorra wollte oder nicht, fiel er vollkommen in den Bann dieser Frau.

In der ersten Reihe, direkt vor der Bühne, saßen vier Männer, die sich nicht einmal bemühten ihre Lüsternheit zu verbergen. Die Frau schienen die geilen Blicke allerdings nicht zu stören. Mit flinken Fin-gern und enormer Musikalität intonierte sie auf ihrer Harfe eine simple Melodie, die Zamorra sofort ins Ohr ging.

Kaum jemand in der Schankstube wandte seinen Blick zur Bühne,

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ganz so, als würde der Vortrag sie überhaupt nicht erreichen. Wie dumpf mochte es in den Hirnen dieser Menschen aussehen? Diese Überlegungen endeten in dem Augenblick, da die Frau zu singen begann. Der Parapsychologe war tief beeindruckt. Er achtete kaum auf die Worte, die wohl von Liebe, Verrat und Tod handelten. Die Stimme an sich war es, die ihn einnahm. Keine Frage, auf der Erde wäre die Sängerin ganz groß raus gekommen – Zamorra war kein Experte in diesen Dingen, doch ihm war sofort klar, dass sie das Po-tential zu einem großen Star in sich barg.

Das erste Lied verklang und kaum eine Hand regte sich zum Ap-plaus. Auch das schien für die Sängerin keine ungewöhnliche Situa-tion zu sein. Unbeeindruckt ließ sie das zweite Lied erklingen. Die vier Typen am ersten Tisch machten obszöne Gesten in Richtung der Bühne … zumindest drei von ihnen. Der vierte massierte mit der linken Hand sein Doppelkinn, als könne er damit seinen Hirnkasten ankurbeln. Offenbar grübelte er über eine ganz bestimmte Sache. Seine Blicke ruhten dabei auf der Musikerin.

Die beendete das zweite Stück mit einer instrumentalen Kadenz von schlichter Schönheit. Sie verbeugte sich in Richtung Zamorras, der eindeutig am heftigsten klatschte. Dann machte sie eine Ansage, während ihr Blick langsam zu den vier Männern am Tisch vor ihr wanderte.

»Jetzt singe ich ein Lied, dessen Text direkt aus meinem Leben heraus entstanden ist.«

Eine Dissonanz ertönte, die selbst einige der Uninteressierten kurz zur Bühne blicken ließ. Dann setzte eine monotone Melodie ein, die bedrückend und zugleich bedrohlich wirkte. Zamorra wunderte sich, was die Frau alles aus dem schlichten Instrument heraus lo-cken konnte. Der Inhalt des Textes sprach von Liebe und Verrat – ganz wie der des ersten Liedes – und von Gefangenschaft, Schmer-zen, von Folter und unsäglicher Gewalt. Zamorra stellte den Krug ab. Irgendetwas stimmte da nicht. Die Frau fixierte den feisten Bur-schen, der noch immer sein Kinn malträtierte und intensiv auf jedes einzelne Wert achtete.

Der Refrain mutete Zamorra jedoch ein wenig seltsam an:

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»Die Schmerzen, die du mir gibst –ich will sie gut bewahren, Stück um Stück.Glaube mir und zweifle nicht –Sie fallen bald zu dir zurück.«

Dann geschah alles gleichzeitig und so schnell, wie es in dieser trä-gen Umgebung für Zamorra kaum vorstellbar gewesen war. Der Mann sprang von seinem Stuhl hoch, der mit Gepolter nach hinten kippte. Die Augen des Kerls schienen beinahe aus ihren Höhlen quellen zu wollen. Es waren wohl diese Worte, die seine Grübelei abrupt beendet hatten. Nun wusste er, wer die Frau dort auf der Bühne war.

»Du … dich habe ich auf meiner Folterbank gehabt. Du hast über-lebt? Und nun – was willst du von mir, du verfluchte Witga.«

Die Frau erhob sich von ihrem Hocker und trat an den Bühnen-rand vor. Ihre Stimme klang vollkommen unaufgeregt.

»Was ich will, Folterer? Dich will ich – dein Leben!«»Dann komm und hole es dir, wenn du dazu fähig bist.« Der stier-

nackige Mann griff mit der rechten Hand an seinen Gurt, an dem ein schwerer Holzknüppel befestigt war, dessen Kopf mit Nägeln ge-spickt eine tödliche Waffe ergab. Doch er schaffte es nicht mehr, den Totschläger in die Hand zu bekommen.

Die Frau war schneller, viel schneller als er.Sie kippte die Harfe zur Seite, schlug gleichzeitig mit der flachen

Hand gegen das massiv wirkende Fußstück des Instrumentes und legte so ein verstecktes Fach frei. Routiniert griff sie zu und zog einen schmalen Dolch mit langer Klinge daraus hervor. Dann sprang sie! Ansatzlos und mit Präzision.

Sicher kam sie auf dem Tisch auf und machte nur eine einzige Handbewegung. Die Klinge funkelte im Tavernenlicht auf. Hellrotes Blut spritzte, und der Mann fiel leblos nach vorne. Zamorra sah, dass der Dolchstreich ihm die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt hatte. Der Bursche war tot, bevor sein Kopf hart auf den Tisch knallte.

Wie eine Katze wich die Frau nach hinten, brachte sich so außer Reichweite der drei anderen Männer, die allesamt blankgezogen

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hatten und auf sie eindrangen. Zamorra hatte keine Ahnung warum, aber instinktiv stellte er sich auf die Seite der Frau … der Mörderin. Das war nicht logisch, aber diese Tatsache interessierte ihn in diesem Augenblick nicht.

Er selbst war unbewaffnet, konnte gegen die Klingen der Männer also nicht viel ausrichten, aber er konnte etwas anderes tun. Seine Instinkte waren für solche Situationen geschult, also erkannte er so-fort den einzigen Ausweg aus dieser unhaltbaren Lage. Die Frau stand nur zwei Schritt mit dem Rücken vor einem Fenster, das mit einer Butzenscheibe verziert war. Dickes Glas und eine Bleifassung – zu stabil, um so ohne weiteres zerbrochen zu werden. Zamorra packte sich einen der Holzstühle, die ein erstaunliches Eigengewicht aufwiesen.

Mit aller Kraft schleuderte er den Stuhl gegen das Fenster, das tat-sächlich mit lautem Klirren zerbrach und den Weg nach draußen freigab.

»Raus da – schnell … hinter dir!«Die Frau blickte einen Herzschlag lang direkt in Zamorras Augen,

dann reagierte sie wie ein Tier, dessen Käfigtür mit einem Male of-fen stand. Ihr Dolch zuckte noch einmal nach vorne, was einem der Angreifer eine blutige Furche auf seinem Handrücken einbrachte, dann wirbelte sie herum. Wie sie sich bewegte … Zamorra wurde schwer an Nicole Duval erinnert, denn beide Frauen bewegten sich unnachahmlich geschmeidig. Die Sängerin war mit einem einzigen Sprung durch das ruinierte Fenster hindurch draußen auf der Stra-ße.

Nun hatte Zamorra die Probleme, denn die drei Bewaffneten wandten sich ihm zu, wie auch der verärgerte Wirt, der langsam und unheilsdrohend hinter der Theke hervorkam; der Mann hatte Hände wie Kohlenschaufeln, mit denen der Parapsychologe keine Bekanntschaft machen wollte. Ebensowenig mit den Waffen der drei Kerle, die nun auf ihn eindrangen. Dass er unbewaffnet war, interes-sierte hier offenbar niemanden. Doch so ganz hilflos war der Meister des Übersinnlichen dann doch nicht.

Der Erste der drei kam ihm einen Schritt zu nahe. Zamorras Fuß-spitze touchierte seinen Solarplexus und schickte den Angreifer zu

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Boden. Der Zweite wischte seinen Degen gegen den Kopf des Pro-fessors, doch der tauchte blitzschnell nach unten weg. Als er wieder hochkam, schickte er seine Faust voran, die krachend gegen die Schläfe des Mannes prallte; wie ein nasser Sack verabschiedete er sich aus der Szene.

Und als der Dritte seinen Mut kühlen wollte, da blickte er direkt auf die Spitze des Degens, den sein Kumpan hatte fallen lassen. Auf einen Waffengang verzichtete er, denn dieser Mann, der ihn überle-gen angrinste, war ihm nicht geheuer.

Also gab er Fersengeld.Zamorra sah sich hastig um. Der Wirt war direkt vor seiner Theke

geblieben. Ansonsten machte niemand eine Anstalt sich ihm zu nä-hern. Mit einem Satz war er durch das Fenster draußen auf der schmalen Gasse, die zur linken Hand wieder auf den Marktplatz führte. Rechts mochte er überall und nirgends hinkommen, doch das war ihm immer noch lieber, als der wahrscheinlich vom Markt aus anrückenden Staatsgewalt in die Hände zu fallen. Das konnte er nun wirklich nicht brauchen. Polizisten – auf welcher Welt sie auch existierten – stellten immer viel zu viele Fragen, und sie waren mit den Antworten, die man ihnen daraufhin gab, nie zufrieden.

Eine Silhouette erschien in der Gasse, nur wenige Schritte von Za-morra entfernt. Dieser Umriss war unverkennbar die messerschwin-gende Musikantin von vorhin. Sie winkte Zamorra auffordernd zu. Was blieb ihm schon für eine Wahl?

Zamorra folgte der Schönheit …

Stumm liefen sie hintereinander her, denn Zamorra hielt stets einige wenige Schritte Abstand. Nicht, dass er ihr nicht traute – oder doch? Die Frau konnte mit dem Dolch umgehen, also hielt er sich tunlichst außer Reichweite ihrer Armlänge.

Die Gassen, die sie als Fluchtweg nutzten, um so viel Raum wie nur möglich zwischen sich und die Gaststätte zu bringen, glichen einander wie ein Ei dem anderen. Ohne Führung hätte Zamorra jetzt sicher nicht mehr so einfach zum Marktplatz gefunden. Schließlich kam das, worauf Zamorra schon irgendwie gewartet hatte. Sie stan-

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den vor einer zwei Mann hohen Mauer. Auch das verband solche Städte auf vielen Welten miteinander. Man schützte die Bürger durch eine Stadtmauer, einen steinernen Wall, der es marodieren-den Banden schwer machen sollte, ihr Unwesen in der Ansiedlung zu treiben. Ein richtiges Heer konnte man damit kaum stoppen, aber das war auch nicht der Sinn.

Die Frau blieb nicht stehen, sondern nutzte den Schwung ihres Laufes, um mit einem Sprung die Mauerkrone zu erklimmen – dann war sie verschwunden. Zamorra blieb keine Wahl, als es ihr nachzu-machen. Hinter der Mauer erwartete ihn weiches Gras, das seinen Sprung in die Tiefe freundlich abbremste. Die Sängerin war bereits weitergelaufen.

Sängerin? Zamorra war ein gebranntes Kind in jeder Hinsicht – von den Schwefelklüften über raumfahrende Rassen wie die EWI-GEN, bis hin zu den bleichen Gassen und Häusern der weißen Städ-te. Auch wenn ihm diese Dame noch so sympathisch und beeindru-ckend erschien, so mochte hinter ihrer Maske die Fratze eines Dä-mons stecken. Vorsicht war stets ein guter Begleiter.

Direkt an die Mauer schloss sich ein Waldgebiet an, das natürliche Deckung versprach. Für lange Minuten war es Zamorras größtes Problem, den Anschluss an die Frau nicht zu verlieren, denn die be-wegte sich sicher und geschickt zwischen all den Bäumen und Bü-schen.

Schließlich blieb sie auf einer winzigen Lichtung einfach stehen und ließ sich zu Boden fallen, was der Parapsychologe für eine gute Idee hielt und es ihr gleichtat.

Eine Weile lagen sie einfach nur so da und pumpten Sauerstoff in ihre gequälten Lungen. Schließlich drehte die Frau sich zu Zamorra. Ihre Augen leuchteten in einem satten Grün.

»Ich danke dir, Fremder. Du hast mir vorhin wahrscheinlich das Leben gerettet. Gegen die drei Kerle wäre ich sicher nicht lange klar gekommen.«

Zamorra setzte sich auf. »Reiner Instinkt. Obwohl du nur Sekun-den zuvor einen eiskalten Mord begangen hattest.«

»Mord?« Die Frau schien ehrlich verblüfft. »Er war bewaffnet und hätte mich sofort erschlagen, wäre ich nicht schneller als er gewe-

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sen.« Zamorra erinnerte sich an den mit Nägeln versehenen Tot-schläger, den der Mann bei sich hatte. Die Musikantin erriet seine Gedanken.

»Du meinst Knüppel gegen Dolch wäre nicht fair? Dann sieh her, was er mit diesem Prügel so alles anstellen konnte.« Rasch war sie auf den Füßen und ließ einfach so ihr Kleid zu Boden sinken.

Zamorra hatte schon enorm viele schöne Frauen nackt gesehen – nicht zuletzt seine Nicole, die einen unvergleichlich schönen Körper besaß. Doch dies hier … ihm blieb die Luft weg. Sie war ganz ein-fach perfekt. Die Hüften, die unglaublichen Brüste … ihre Scham.

Doch dann drehte sie sich um.Entsetzt starrte Zamorra auf den Rücken der jungen Frau. Von den

Schulterblättern bis hinunter zu ihrem Gesäß verliefen schlecht ver-heilte Narben, die waagerecht dicht an dicht saßen. In ihrem linken Schulterblatt war eine Vertiefung zu sehen – ein Loch … als hätte dort jemand einen Batzen Fleisch herausgerissen. Und genau das war wohl auch geschehen. Der Professor hatte viele Opfer von Folte-rung und sinnloser Gewalt gesehen. Dieser Frau hatte man so bitter mitgespielt, wie es schlimmer wohl kaum ging.

Sie zog das Kleid wieder an und blickte Zamorra ehrlich und gera-de in die Augen.

»Ich heiße Gila. Manche nennen mich aber auch Gila, die Witga.« Zamorra fragte nicht nach. Witga … Witch … Hexe. Die Begriffe wa-ren dehnbar, aber im Endeffekt lief es wohl auf den gleichen Nenner hinaus.

»Ich war blutjung, als der Verwalter der kleinen Stadt, in der ich mit meinen Eltern lebte, nach mir gierte. Vater und Mutter waren arme Leute. Sie hatten gegen seinen Willen keine Chance. Also wur-de ich seine Frau, zog in sein Herrenhaus – das größte und schönste weit und breit. Ich habe unter ihm leiden müssen, das darfst du mir glauben, aber ich blieb still und gefügig, weil ich meine Eltern nicht gefährden wollte.« Sie hielt inne, denn das Erinnern war schmerz-haft. »Nach zwei Jahren erkrankte er plötzlich, magerte bis auf die Knochen ab und starb. Ein neuer Verwalter wurde bestimmt, doch nach dem Gesetz stand mir als Witwe das Erbe meines Mannes zu. Ich holte meine Eltern zu mir. Alles hätte gut sein können, doch da

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brach im Dachgeschoss meines Hauses ein Feuer aus und meine El-tern kamen darin um. Es war entsetzlich.«

Zamorra ahnte, was nun kommen musste, doch er schwieg, ließ sie reden. Sie lachte verbittert auf. »Drei Menschen kamen ums Le-ben … und ich war noch immer da, gesund und jung. Das reichte den Leuten voll und ganz aus. Sie nannten mich eine Witga – eine böse Frau, die mit den schlechten Göttern im Pakt stand. Irgend-wann holten sie mich, stellten mich vor ein Gericht, das schnell mit seinem Urteil zur Hand war. Ich sollte unter der Folter gestehen, eine Witga zu sein, und dann dem Feuer übergeben werden.«

Zamorra konnte nicht umhin die Parallelen zu sehen. Das Mittelal-ter auf der Erde kannte diese Praktiken nur zu gut. Hier hatten die sich bis zum Beginn der Industrialisierung gehalten, die jedoch brach lag. Das Geheimnis, das hinter all dem steckte, reizte den Pro-fessor. Gila setzte ihre Erzählung fort.

»Und so geschah es dann. Der Verbrecher, den ich getötet habe, war mein Folterknecht – nicht er allein, doch er hat mir mit seinem Nagelstock die schlimmsten Wunden zugefügt. Er hat es genossen.« Sie blickte zu Boden. »Und … er hat auch mich genossen, wenn du verstehst, was ich damit sagen will?« Zamorra verstand sehr wohl. Sein Verständnis für die Rachetat Gilas wuchs mit jeder Sekunde.

»Wie konntest du entkommen?«Gila lächelte. »Zwischen den Foltergängen brachte man mich stets

in eine Zelle, die ich mit einer sehr alten Frau teilte. Sie hat mich ge-lehrt, Schmerzen und Erniedrigung zu überstehen – sie zu überle-ben. Sie war einmal das Oberhaupt einer Gauklerfamilie gewesen, bis man auch sie als böse Frau in die Folterkammern brachte. Als sie starb, da schlüpfte ich in ihren Leichensack mit hinein. Die Wachen bemerkten es nicht, denn wir waren beide nur noch Haut und Kno-chen, wogen nicht mehr viel. Man warf uns in die Totengrube, die hinter dem Gefängnis lag. Nachts befreite ich mich und floh.«

Zamorra zog die Augenbrauen in die Höhe. Diese Geschichte kam ihm in Teilen mehr als bekannt vor. Nur dass seine Gräfin von Monte Christo hier sicherlich keinen Reichtum erlangt hatte. Als Racheengel war sie allerdings ebenfalls unterwegs – wie Edmond Dantes in Du-mas' Buch.

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»Ich floh, aber nicht ohne einen Plan zu haben. Meine Zellengenos-sin hatte mir genau gesagt, wie und auch wo ich nach ihrer Familie suchen sollte. Ich fand sie schließlich, nachdem meine Wunden auch nur halbwegs geschlossen waren. Man nahm mich freundlich auf, pflegte mich und gab mir so etwas wie eine neue Heimat.«

»Und dort hast du Spielen und Gesang gelernt, nicht wahr?«Gila blickte ihren Gegenüber verblüfft an. »Woher weißt du, aber

vielleicht ist das ja nur eine logische Folgerung. Du bist schlau … und du hast mir das Leben gerettet. Das ist auch der Grund, warum ich dir das alles erzähle. Ja, meine neuen Freunde – fast meine neue Familie – erkannten mein Talent. Als ich sie schließlich wieder ver-ließ, da war ich sicher, damit nie hungern zu müssen. Doch es hat sich viel verändert auf dieser Welt. Seit der Brocken zu uns gekom-men ist …«

Der Brocken? Das war genau der Punkt, auf den Zamorra gewartet hatte. Er lauschte in Richtung Stadt, doch offenbar verfolgte sie wirklich niemand. Der Tod eines Folterers war wohl nicht Anlass genug dazu.

»Erzähl mir von diesem Brocken. Was ist hier geschehen?«Gila stutzte. »Das weißt du nicht? Sag, woher kommst du eigent-

lich?«Zamorra schüttelte den Kopf. »Von sehr weit her. Bitte, mach mich

schlau. Stell dir vor, ich wäre von einer anderen Welt und weiß da-her von nichts.«

Gila lächelte hintergründig. »Genau so kommst du mir auch vor.« Sie lachte kurz auf. »Gut, dann will ich es dir erzählen.«

Professor Zamorra erfuhr von dem Brocken aus dem Himmel, der sich auf die Welt gesenkt hatte, und er hörte von der seltsamen Le-thargie, die sich über die Menschen hier gelegt hatte, über das Ver-gessen, die Gleichgültigkeit und Kälte der Gefühle. Nichts war mehr wie zuvor. Als Gila geendet hatte, brannte Zamorra eine Frage auf der Zunge.

»Du erzählst das alles wie eine Außenstehende, als wärest du da-von überhaupt nicht betroffen. Wie kann das sein?« Er erntete ein Schulterzucken.

»Ich weiß es nicht, aber ich komme mir so vor, als wäre ich eine

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Lebende und lauter Toten. Niemand wagt mehr etwas, alles, was vor dem Tag vor zwei Sonnenwenden geschehen ist, was es an neu-en Dingen gegeben hat … es scheint aus den Köpfen der Leute ver-schwunden zu sein. Ich erinnere mich aber an alles.«

Was dieser Brocken auch sein mochte, welche Macht er über die Wesen dieser Welt auch hatte – offensichtlich war diese Kontrolle nicht so ganz perfekt. Sicher gab es außer Gila noch andere, die un-beeinflusst geblieben waren.

Zamorra war klar, wohin sein Weg nun gehen musste.»Kannst du mich zu diesem Brocken bringen?«Gila zögerte nicht. »Natürlich. Es sind ungefähr zwei Tagesreisen,

die wir hinter uns bringen müssen. Aber zunächst einmal sind es nur gut zwei Stunden bis zur nächsten Ansiedlung. Ein wenig Geld ist noch in meiner Tasche.« Zamorra fragte sich, wo sich die wohl befinden mochte? Vielleicht ein geheimes Fach in ihrem Kleid. Er wollte nicht fragen. Gila fuhr fort. »Ich jedenfalls habe Hunger und Durst. Wie steht es mit dir?«

»Wenn du mich einlädst, gerne.« Sie lächelte nur und schritt vor-an. Zamorra folgte Gila dicht auf.

Der Brocken – das war nun sein Ziel. Irgendwie ahnte er, dass er dort auch auf Dalius Laertes treffen würde.

Vielleicht ja sogar auf die eine oder andere Überraschung.

Jylge erwachte wie aus einem Todesschlaf, der im Grunde nie mehr hätte enden dürfen.

Das Gesicht, das dicht über dem seinen schwebte, war eingerahmt von einem Schwall weißer Haare, die von braunen Strähnen einge-fasst wurden – wie ein Torbogen aus Haar. Augen, Nase und Mund der Frau erschienen Jylge nahezu perfekt; sie war eine Schönheit, wenn auch der herbe Anteil nicht zu verschweigen war.

Er … er kannte sie. Mit ihr war er von der einstürzenden Zitadelle gesprungen. Eine Wahnsinnstat, doch sie hatten den Sturz wohl bei-de überlebt. Dies war jedenfalls sicher nicht die Welt der Toten, an die er sowieso nie hatte glauben können. Und wenn es sie doch gab, dann hätte er in ihr sicher keinen so dröhnenden Schädel gehabt.

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»Jylge, bist du wach?«Jylge nickte, überrascht, denn diese Stimme weckte Erinnerungen

in ihm, die weit vor seinem Martyrium in der Höhle zu liegen schie-nen. Ja, diese Frau hatte zu seinem früheren Leben gehört. Nur wie? In welcher Form? Jylge wollte die Erinnerung erzwingen, was sei-nem schmerzenden Kopf alles andere als gut tat.

»Bleib noch liegen.« Die Stimme zu hören tat gut, also befolgte Jyl-ge ihren Rat.

»Was ist geschehen?« Mühsam brachte er die kurze Frage hervor.»An den Sprung erinnerst du dich?« Jylge nickte. »Gut, die Lan-

dung war verdammt hart, aber irgendwie haben wir es geschafft, ohne uns jeden Knochen im Leib zu brechen. Dann sind wir gelau-fen, als wären die bösen Götter hinter uns her. Vielleicht waren sie es ja sogar. Ich habe dich an der Hand gehalten und mit mir gezo-gen. Irgendwann bist du zusammengebrochen.«

»Was ist mit …«»Die Zitadelle ist im Berg versunken. Da ist nichts mehr übrig. Du

hast wie im Fieber gesprochen, während du schliefst. Ich glaube, ich habe eine ungefähre Ahnung, was du hinter dir hast. Aber nun sag – erinnerst du dich nicht an mich? Erinnerst du dich denn nicht an deinen Bruder?«

Jylge riss die Augen auf. Mit einem Schlag kam das Erinnern. Sein Bruder war von dem verfluchten Klotz getötet worden und er – Jyl-ge – hatte ihn rächen wollen. Natürlich, wie hatte er das verdrängen können? Und diese junge Frau hier, der er letztendlich sein Leben zu verdanken hatte, war niemand anderes als seine Schwägerin, die Witwe des größten Jägers dieser Welt: Flynx.

Jylge erinnerte sich auch daran, dass er und Flynx nicht eben das beste Verhältnis zueinander gehabt hatten. Jylge hatte dem Jäger vorgeworfen, die Jagd an sich nur noch für seinen eigenen Vorteil zu betreiben, und nicht mehr als das, was sie eigentlich sein sollte: Nahrungsbeschaffung. Sie hatten sich oft gestritten, doch irgendwie hingen sie ja doch sehr aneinander. Als Flynx dann umgekommen war, konnte Jylge die Hassgefühle nicht in sich verschließen – Hass gegen den Mörder, Hass gegen den Block, der sich diese Welt mit Gewalt Untertan machen wollte.

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Seine Rachegelüste waren elend abgestürzt, als man ihn nahe dem Block gefangen nahm. Waren es die Silbernen gewesen, die auch Ketlin getroffen hatte? Wahrscheinlich war dem so. Dann erinnerte er sich erst wieder daran, in der Höhle aufgewacht zu sein.

Als Ketlin ihm ihre Geschichte erzählte, da erwachten die alten Le-bensgeister in Jylge.

»Du bist im Block gewesen?« Was Ketlin ihm berichtete, das war kaum zu glauben. »Wenn es tatsächlich einen Weg dort hinein gibt, dann lass ihn uns gehen. Jetzt … sofort. Von außen scheint dieser Moloch nicht antastbar zu sein, aber wenn es ein Innen gibt, wie du sagst, dann ist das vielleicht verwundbar.« Spontan nahm er seine Schwägerin in die Arme und Ketlin wehrte sich nicht dagegen. Mit Jylge war ein kleines Stück von Flynx zu ihr zurückgekehrt.

»Komm, Füchsin, führe mich. Ich vertraue mich dir voll und ganz an.«

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2. Alte Welt – Alter Feind

Nur mit Mühe schaffte er es, sich die silbrige Schutzhülle auszuzie-hen.

Als er es endlich geschafft hatte, ließ er sich erschöpft auf die Liege in seinem Raum sinken. Er schloss die Augen, zumindest für ein paar Augenblicke wollte er entspannen. Dann würde es sicherlich neue Aufgaben für ihn geben. Wahrscheinlich als Wache, denn rund um den Block patrouillierten ständig einige von ihnen. Der Schatten in ihrem Kopf wollte es so.

Seine Füße schmerzten. Auch wenn es nun schon einige Zeit her war, da sie diese Welt betreten hatten, so hatten sich seine Beine noch nicht an die Tatsache gewöhnt, auf einem Planeten ihre Arbeit verrichten zu müssen. Offenbar waren sie dazu nicht geschaffen worden.

Ganz speziell nicht für einen Tag wie diesen.Er setzte sich aufrecht hin und massierte sein linkes Bein. Es

schmerzte ja immer irgendwie, doch heute …Nur mit viel Glück waren er und Rocar der Katastrophe entkom-

men, deren Auswirkungen noch überhaupt nicht absehbar waren. Die Gefangenen waren mit Sicherheit alle ums Leben gekommen. Vielleicht das leichtere Ende für sie.

Er wusste, dass er diese Gedanken nicht denken durfte, doch jetzt war ihm das gleichgültig. Er war müde, war ausgelaugt und hatte dieses Leben satt. Wenn sein Herr ihn für ketzerische Gedanken be-strafen wollte, dann sollte er das tun. Er hing nicht mehr sonderlich an seinem Leben.

Mit großer Freude dachte er an die Zeit zurück, da er ohne Him-mel leben durfte. Nicht alles war gut gewesen, wahrhaftig nicht, doch in der Erinnerung verklärte sich vieles. Er war nicht dumm – gut erinnerte er sich an die Läufe durch die Gänge, an seine Feinde, an die Angst, die er oft ausgestanden hatte.

Dennoch …

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Er versuchte sich abzulenken. Diese Explosion hatte ihn tatsäch-lich beinahe völlig aus der Fassung gebracht. Er hatte zusammen mit Rocar neue Gefangene zur Höhle gebracht, als es geschehen war. Irgendwie hatte er schon lange damit gerechnet, dass sich diese armen Seelen einen Weg in die Freiheit bahnen würden. Allerdings nicht mit so einem bitteren Ende für sie.

Was würde nun geschehen? Er hatte eine böse Vorahnung. Es würde darauf hinauslaufen, dass neue Gefangene in einem anderen Verließ ihr Dasein fristen mussten. Bis … bis zu dem Tag, an dem man sie holte. Und diese Gefangenen würden er und die anderen aus seinem Volk besorgen müssen.

Besorgen bedeutete Menschenjagd. Er hasste den Gedanken daran. Vielleicht ließ man ihm und seinen Artgenossen zumindest eine Nacht der Ruhe, denn die konnten alle brauchen. Er lachte leise in sich hinein.

Was für seltsame Gedanken?Als hätten sie je etwas wie Ruhe und Frieden erleben dürfen, seit

der Brocken auf dieser Welt gelandet war.Der Brocken – ihre Heimat …

Es war mitten in der Planetennacht.Schlagartig war er wach. Ganz sicher erging es all seinen Artge-

nossen in dieser Sekunde wie ihm. Es war keine Stimme, die zu ih-nen sprach. Es war, als würden ihre eigenen Gedanken formuliert, auch wenn sie die des Parasiten waren, des Schattens, der in ihren Köpfen Einzug gehalten hatte.

Sie alle hatten sich verzweifelt gefragt, woher er wohl gekommen sein mochte, wie man ihn wieder verscheuchen konnte. Niemandem war eine Antwort eingefallen und geistiger Widerstand wurde so-fort bestraft … mit unsagbaren Schmerzen, die viele ganz einfach nicht überlebt hatten.

Irgendwann hatten sie sich gefügt. Sie waren keine Kämpfer, also hatte der Schatten leichtes Spiel mit ihnen gehabt. Und auch jetzt zwang er ihnen erneut seinen Willen auf.

Geht – sucht Menschen. Bringt sie hierher. Es wird keine weitere Höhle

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mehr geben. Die Gefangenen werden hier untergebracht. Nun geht.Er lauschte seinen eigenen Gedanken, die diesen Befehl ausformu-

lierten. Es war also genau, wie er es sich gedacht hatte. Menschen-jagd, damit der Parasit stets auf ein lebendes Opfer zugreifen konn-te, wann immer er es wollte. Ein weiteres Außenlager sollte es also nicht geben, denn die Gefangenen würden hier im Block eingeker-kert werden.

Es spielte ja auch keine Rolle, wo sie nach und nach ihr Leben las-sen mussten.

Er zog sich mühsam wieder die Schutzkleidung an, diesen silbri-gen Anzug, der den gesamten Körper umschloss. Zuletzt zog er den integrierten Helm aus dem Halskragen. Diese Gewandung hatte frü-her einmal den Sinn gehabt, vor Schmutz und Verletzung zu schüt-zen, wenn Reparaturarbeiten im Block erledigt wurden.

Langsam trat er auf den Gang hinaus.Gangläufer hatten sie ihn früher genannt. Er war in seiner eigenen

Welt wohl derjenige gewesen, der sich in den Gängen und den Ebe-nen am besten ausgekannt hatte. Manchmal träumte er noch von dieser Zeit, in der alles geregelt, alles klar abgegrenzt gewesen war. Es gab die Gänge, die Ebenen, die nur die wenigsten wirklich kom-plett gekannt hatten. Er war der Neugierigste von allen gewesen. Ir-gendwann hatte er die Welt hinter den Gängen entdeckt. Damit hat-te alles begonnen.

Sein Bein schmerzte höllisch, doch er konnte sich dem Befehl des Schattens nicht widersetzen. Er reihte sich in die Linie seiner Artge-nossen ein, die ebenfalls aktiviert worden waren. Menschenjagd … er und sein Volk waren diesen Planetenbewohnern natürlich technisch überlegen, dennoch war es für sie problematisch, sich den Wesen rasch genug zu nähern. Ihre Heimat war der Block, und nun beweg-ten sie sich auf einer Welt, die nicht wie die ihre war. Sie waren draußen ganz einfach unsicher, zu langsam, das Laufen fiel ihnen schwer. Auch wenn sie nun doch schon eine gewisse Zeit auf dieser Welt waren, so hatten sich ihre Körper noch nicht umgestellt.

Er überprüfte die kurzläufige Waffe, die er an seiner rechten Hüfte trug. Auch sie war ein Überbleibsel aus einer fernen Zeit, da sein Volk zwischen den Sternen gelebt hatte. Die Waffe konnte ein Lebe-

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wesen für viele Stunden betäuben. Wie das genau funktionierte, das war ihm unbekannt. Sie lebten mit dem Erbe ihrer Vorfahren, doch sie verstanden längst nicht alles, was die ihnen hinterlassen hatten. Zudem mochte er keine Waffen. Für die Jagd auf Gefangene waren sie aber unerlässlich. Nur so konnte das überhaupt gelingen.

Als er den Block verließ, empfing ihn eine kalte Nacht mit einem klaren Sternenhimmel.

Etwas wie einen Himmel hatte es früher für ihn auch nicht gege-ben. Er wandte sich um, blickte auf die Außenhülle seiner Heimat.

Block – Brocken – Klotz.Das alles waren keine schönen Namen. Es war nicht einmal sehr

lange her, da hatte seine Welt anders geheißen. Sie hatte einen wun-derschönen Namen gehabt.

Man nannte sie nur die Silberwelt …

Dalius Laertes sah zu, wie der wunderschöne blaue Planet in den Haupt-bildschirm des kleinen Raumschiffes hineinwuchs. Zumindest wurde dieser Eindruck vermittelt, da sich das Schiff mit hoher Geschwindigkeit auf diese Welt zu bewegte.

Nur zu gerne hätte er diesen Anblick ganz und gar genossen, doch das blieb ihm verwehrt. Zu stark musste er sich konzentrieren, damit er die Kontrolle behielt – die Kontrolle über den Körper und das Bewusstsein sei-nes Sohnes Sajol. Er hatte sich in beides hineingestohlen, hatte seinen Sohn niedergekämpft, als der ihm – seinem Vater – den Tod gab.

Und nun rangen die beiden Bewußtseine miteinander. Laertes hatte die Oberhand gewonnen, indem er Sajol regelrecht eingelullt hatte. Der Junge schlief, doch das war nur oberflächlich gesehen die ganze Wahrheit. Ein Teil seiner ungeheuren Magie war immer wach, versuchte sich aus der Klammer zu befreien. Laertes wurde klar, dass ein ewig währender Kampf auf ihn wartete, den er mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann einmal verlieren würde.

Sajol war nicht für immer inaktiv zu halten. Sein magisches Potential war viel zu überragend. Er würde einen Weg finden – irgendwann einmal.

Doch jetzt brauchte Dalius Laertes einen festen Ankerplatz. Er konnte nicht für alle Zeiten zwischen den Sternen schweben. Diese Welt dort, die

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nun den gesamten Bildschirm ausfüllte, erschien ihm vergleichsweise ge-eignet, auch wenn ihm bewusst war, in welche Gefahr er die Bewohner dort bringen würde. Er wählte einen Landeplatz aus, der weit entfernt von den Ballungszentren des Planeten lag. Er brauchte einen Platz für sich, an dem er die Kontrolle über Sajol festigen konnte. Einen ruhigen Ort.

Er wählte eine Wüstenregion, die nur sehr karg bevölkert war.Mit Mühe leitete Laertes den Landevorgang ein …… und schrie gellend auf, als der Sprung so vollkommen abrupt

gestoppt wurde …Laertes' Verwirrung hätte nicht vollkommener sein können. Die

Erinnerung an die Vergangenheit, die im Moment des Transfers über ihn gekommen war, mochte noch erklärbar sein, denn diese Welt, die jetzt das Ziel des Uskugen war, hatte sicher Ähnlichkeiten mit dem Planet Erde.

Doch ein Unterbrechen des zeitlosen Transits war absolut undenk-bar. Und doch war es ja geschehen. Entsetzt spürte Dalius, wie Za-morra ihm entrissen wurde. Er konnte den Professor ganz einfach nicht halten. Sie wurden getrennt … oder noch schlimmer? Er hatte keine Ahnung, wie ein solcher Vorgang auf einen Menschen wirken mochte.

Auf ihn, den Uskugen und Vampir, wirkte er jedenfalls verhee-rend!

Laertes wälzte sich schreiend über den Boden, auf dem er gelandet war. Seine Arme und Beine brannten heißer, als das höllische Fege-feuer selbst es gekonnt hätte. Er riss die Augen auf, schloss sie sofort wieder geblendet. Um ihn herum war gleißende Helligkeit, die seine Augäpfel fressen wollte. Sein Rumpf wollte sich aufblähen, zerplat-zen wie ein Ballon. Bis in die Haarspitzen hinein bestand er nur noch aus Schmerz.

Eine gnädige Ohnmacht blieb ihm verwehrt. Minuten – oder wa-ren es Stunden? – kämpfte er so gegen all diese Attacken auf seinen Körper an. Und dann ebbte seine Pein binnen weniger Augenblicke ab. Laertes wusste nur zu genau, dass er seinem Ende gerade nur um Haaresbreite entgangen war.

Seine Fähigkeit, sich ohne Zeitverlust auch über große Entfernun-gen hinweg zu bewegen, hatte ihm deutlich ihre böse Fratze gezeigt.

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Laertes war klar, dass er eine zweite Erfahrung dieser Art wohl nicht mehr überleben würde. Erst einmal musste er zur Ruhe kom-men, musste sich selbst finden, denn er durfte die ewige Kontrolle über Sajol nicht gefährden.

Er zwang sich zur Gelassenheit, eine Übung, die er im Lauf der letzten Jahrhunderte intensiv studiert und verinnerlicht hatte. Erst als Laertes sich dieser Kontrolle sicher war, befasste er sich mit sei-ner gegenwärtigen Situation. Ihm war bewusst, wie hilflos er in die-ser Zeitspanne war, doch daran ließ sich nichts ändern.

Vorsichtig öffnete er die Augenlider ein wenig. Es dauerte bis sich seine Augen an diese Helligkeit gewöhnt hatten, doch dann konnte er endlich wieder klar und deutlich sehen. Er befand sich nicht unter freiem Himmel, wie er zunächst vermutet hatte. Er lag auf dem Bo-den eines vielleicht vier mal vier Meter messenden Raumes. Boden, Decke und Wände bestanden aus einem völlig glatten Material, das eine gewisse Wärme ausstrahlte. Wahrscheinlich eine Art Kunst-stoff. Es gab hier nur eine Farbe – alles war in einem neutralen Mit-telgrau gehalten. Und es gab weder ein Fenster noch eine Tür.

Um von hier zu fliehen, konnte es also für Laertes nur einen Weg geben. Er musste erneut einen Transit wagen, doch das riskierte er in diesem Augenblick ganz einfach nicht. Zunächst einmal wollte er wissen, wer ihn in diese Lage gebracht hatte – wer oder was? Laer-tes versuchte vorsichtig auf die Füße zu kommen. Der Schmerz kam schnell wie ein Blitzschlag und warf ihn wieder zu Boden. Der Us-kuge atmete heftig … anscheinend wollte jemand nicht, dass er sich zwischen diesen vier Wänden bewegte. Er war kaum noch verwun-dert, als intensive Gedanken sich in seinem Kopf formten. Fremde Gedanken. Bleib liegen. Und nun erinnere dich …

Erneut kamen die Bilder so klar und deutlich zu Dalius Laertes, wie vorhin. Und sie knüpften beinahe nahtlos an das bereits Gesehe-ne an:

… der Sandsturm hatte sich verzogen. Wie ein böser Geist war er über die Wüste gekommen, wie ein Geist war er auch wieder gegan-gen. Dalius Laertes wagte sich aus dem Erdloch hervor, in das er ge-

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flohen war. Diesen Ort hatte er sich als Landeplatz auf dem blauen Planeten ausgesucht. Hier, so hoffte er, würde ein landendes Raum-schiff unentdeckt bleiben.

Er hatte sich getäuscht, denn ganz in der Nähe von hier gab es eine kleine Ansiedlung. Dort lebten vielleicht 30 Männer, Frauen und Kinder, die in dieser Wüste tatsächlich ausharrten. Sie fristeten ein primitives Dasein, doch sie schienen glücklich und zufrieden zu sein.

Bis zur nächsten größeren Siedlung waren es vier Tagesmärsche. Laertes hegte eine gewisse Bewunderung für die Menschen, die das harte Leben hier vorzogen. Zudem hatten sie ihn freundlich aufge-nommen, hatten ihn bewirtet … und keine Fragen gestellt. Er war si-cher, die Wüstenmenschen hatten die Landung des Schiffes gesehen, doch sie bedrängten ihn nicht, wollten keine Erklärung, die er ihnen nicht freiwillig geben wollte.

Zwei Tage und Nächte hatte der Uskuge bei den Menschen ver-bracht, dann wollte er zurück zu seinem Schiff um es besser zu si-chern. Der Sandsturm hatte ihn völlig überrascht und er war nicht einmal bis zum Schiff gekommen. Ein Loch im Boden, tief genug, um sich darin zu verstecken und den Sturm abzuwarten, das war al-les, was er gefunden hatte.

Nun stand Laertes da und drehte sich langsam um die eigene Ach-se. Das Schiff war verschwunden. Einfach so. Nur allmählich begriff er, dass der Sturm die Wüstenlandschaft neu erschaffen hatte. Ir-gendwo unter einer dieser Dünen war sein Raumschiff begraben. Er war sicher, dass er es ohne Hilfe niemals wiederfinden würde. Hilfe konnte er nur von den Menschen bekommen, die ihn aufgenommen hatten. Er versuchte sich zu orientieren. Endlich erkannte er im glü-henden Schein der Sonne die Umrisse der wenigen Häuser.

Sie hatten dem Sandsturm widerstanden, wie sicherlich so man-chem zuvor. Dalius hatte damit gerechnet, dass die Menschen ihn freudig begrüßten, doch um ihn herum herrschte Stille. Kein Kin-derlachen … kein Singsang der Frauen, kein Brummen der Männer-stimmen.

Er ging in das erste der simpel erbauten Häuser hinein. Der Sand hatte vor der Haustür nicht kehrtgemacht, sondern war durch Rit-

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zen und Risse gedrungen. Im hinteren Raum endlich fand Laertes die Bewohner des Gemäuers. Sie waren tot.

Der Uskuge lief von Haus zu Haus – immer war es der gleiche schreckliche Fund, der ihn erwartete.

Knapp 30 Leichen. Keine von ihnen hatte auch nur noch einen Tropfen Blut im Leib.

Freundliche Wesen, bei denen er Gast sein durfte, Wesen, die ihm ein wenig Hoffnung gemacht hatten, vielleicht auf dieser Welt so et-was wie eine Zukunft aufbauen zu können. Dalius Laertes begrub die Toten. Er wusste, wie unsinnig dies war, denn der nächste, spä-testens der übernächste Sandsturm würde die Gräber weiter in die Wüste hineintragen. Doch das war ihm gleichgültig.

Als er diese Arbeit beendet hatte, versorgte er sich mit allem, was er für eine lange Wanderung durch die Wüste brauchte. Es gab hier ja niemanden mehr, dem er etwas wegnehmen konnte. Dann brach er auf. Auf dieser Welt gab es Wesen, die schnell und brutal morde-ten.

Er wollte sie suchen. Und dann sollten sie ihm Rede und Antwort stehen, warum diese Menschen hier hatten sterben müssen. Er machte eine Sache zu der seinen, die nicht die seine war.

Doch er konnte nicht anders handeln.

… und die Bilder verschwanden.Dalius Laertes lag still da. Das alles hatte er verdrängt, und nun

zwang ihm jemand diese Erinnerungen auf. Hier auf einer fremden Welt.

»Wer bist du? Wer wagt es, sich in meine Gedanken zu stehlen? Los, nenne mir deinen Namen.«

Er bekam keine Antwort. Schließlich versuchte er erneut aufzuste-hen. Es gelang ihm ohne Schmerzen. Dalius tatstete die Wände ab. Da war nichts, so wenig, wie auf dem Boden. Eine Flucht schien wirklich unmöglich zu sein. Dalius Laertes gestand sich ein, dass er zur Tatenlosigkeit verdammt war.

Ein Gefühl, das ihm absolut nicht behagte.

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Ketlin und Jylge schienen zu Baum und Strauch geworden zu sein.Die Füchsin war als große Jägerin darin geübt, doch Jylge fiel es

schwer, sich absolut unbeweglich zu halten. Was er jedoch von sei-nem Standort aus beobachten konnte, das erleichterte ihm die Sache dann doch.

Sie befanden sich in Sichtweite des Brockens. Jylge hatte sich die ganze Zeit über dicht hinter Ketlin gehalten, deren geschickte Bewe-gungen ihm große Bewunderung abverlangten. Sie glitt zwischen den Bäumen hindurch, als wären die im Grunde überhaupt nicht vorhanden. Es war einzigartig, wie sie das machte.

Plötzlich jedoch war sie erstarrt und mit unendlich langsamer Be-wegung in die Hocke gegangen. Jylge tat es ihr nach. Dann sah er den Grund für Ketlins Vorsicht. In der Außenhülle des Brockens, der aus der Nähe betrachtet einfach nur riesig und plump erschien, formte sich ein Tor. Jylge war versucht nun doch an die Geschichten von Göttern und Zauberern zu glauben, die in der Höhle stets kur-siert hatten, doch dann erinnerte er sich an Ketlins Bericht. Sie selbst war in den Block hineingelangt. Also konnte das mit Zauberei doch nichts zu tun haben. Jylge bewunderte seine schöne Schwägerin, aber mit Zauberei hatte sie nun sicher nichts zu tun. Dann riss er den Mund weit auf, konnte einen verblüfften Schrei gerade noch hinunterschlucken. Er sah, wie ein ganzer Trupp der Silbernen aus dem Brocken kam. Deutlich war zu erkennen, dass die Wesen unsi-cher liefen. Das wirkte tapsig und ein wenig ungeschickt. Er selbst hatte ja erlebt, wie man die Silbernen mit Schnelligkeit verunsichern konnte.

Jylge zählte mit – es waren 42 dieser Wesen, die sich in alle Rich-tungen verteilen. Zwei von ihnen gingen so nah an ihm und Ketlin vorbei, dass Jylge beinahe das Herz stehen geblieben wäre. Und nun konnte er sie auch aus aller Nähe betrachten. Die Silberhaut erschien ihm jetzt eher wie eine sehr seltsame Kleidung. Steckten vielleicht ganz normale Menschen in diesen Anzügen?

Ketlins Blick verriet ihm lautlos, dass sie es auch nicht einmal ahn-te. Wie lange die beiden so am Rand des kleinen Waldes ausharrten, konnte keiner von ihnen hinterher mehr sagen. Sie warteten, bis sie

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ganz sicher waren, dass die Silbernen weit genug entfernt waren. Die Toröffnung im Brocken schloss sich wieder.

Jylge war enttäuscht, denn er hatte gehofft, dass sie so ohne Pro-bleme in den Brocken gelangen konnten, doch Ketlin winkte nur ab. Sie flüsterte: »Keine Sorge, ich kenne einen Weg hinein. Folge mir, aber vorsichtig, denn hier gibt es Wachen.«

Sie schlichen sich an, als hätten sie eine Gro'on-Herde erspäht, die ihre Jäger auf keinen Fall wittern durfte. Jylge warf einen Blick nach oben. Es war dunkel, doch im Schein der Sterne konnte er noch ge-nug erkennen.

Mehr als genug … denn dort oben, weit über seinem Kopf, klebten Menschen an der Hülle des Blocks. So war sein Bruder gestorben. Er hatte die Leiche nicht gesehen, aber Ketlin hatte ihm davon berich-tet.

Ein fürchterliches Gefühl beschlich Jylge. Hatte er mit seinen Ver-mutungen denn wirklich richtig gelegen? Wer waren die Unglückli-chen, die dort wie Motten an der Leimspur klebten? Kannte er die Männer vielleicht sogar gut?

Hatte er mit ihnen sein Leben geteilt – seit dem Tag, da ihn die Hä-scher eingefangen und in die Höhle gebracht hatten? Ein ihm sonst unbekanntes Hassgefühl stieg in Jylge hoch. Dieses Schicksal hatte wohl auch ihn treffen sollen. Nun wurde ihm klar, dass es nicht die Silbernen waren, die sich von Menschen ernährten. Es war der Block selbst!

Ketlin zog ihn mir sanfter Gewalt weiter, weil Jylge wie angewur-zelt verharrte. Der Anblick war für ihn ganz einfach zu viel. Als sie direkt vor der Außenhülle des Brockens angekommen waren, ver-suchte Ketlin erneut den Trick, den sie bei ihrem ersten Besuch hier angewandt hatte. Erneut geschah das Wunder – die Wand wurde durchlässig und Ketlin machte einen Schritt nach vorne, zog den entsetzen Jylge einfach mit sich.

Sie drückte ihm eine Hand auf seinen Mund und erstickte so Jyl-ges Aufschrei. Sie führte einen Finger an ihre Lippen. Jylge ver-stand. Niemand konnte wissen, ob es hier nicht vor Silbernen nur so wimmelte. Doch der Gang war leer. Ketlin huschte voraus, gefolgt von Jylge, der mit jedem neuen Blick etwas entdeckte, das er nicht

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kannte und noch weniger verstand.In einer tiefen Seitennische machten sie einen Zwischenstopp.»Und nun? Wohin laufen wir eigentlich?« Jylge blickte Ketlin an,

doch die zuckte mit den Schultern.»Wenn man dem Brocken von innen heraus Schaden zufügen

kann, dann müssen wir den Ort finden, an dem das möglich ist. Aber ich kenne ihn sowenig wie du. Wir müssen suchen und uns auf unser Glück verlassen. Ich hoffe nur, wir laufen den Silbernen nicht in die Arme. Also los, weiter.« Sie wartete seine Antwort gar nicht ab und war schon aus der Nische verschwunden. Jylge hetzte ihr nach. Verzweifelung machte sich in ihm breit. So hatte er sich das hier nicht vorgestellt. Wie sollten sie – zwei einfache Menschen – diesen Wundern hier einen Schaden zufügen? Womit? Mit den blo-ßen Händen vielleicht?

Sie hatten sich auf ein Abenteuer eingelassen, das sie ganz einfach nicht bestehen konnten. Doch nun war es für einen Rückzieher zu spät. Jylge sah, wie Ketlin an einer der vielen Abzweigungen stehen blieb und die Hand hob. Für ihn ein Zeichen, sich still zu verhalten. Er vertraute sich ihr voll und ganz an. Flynx und er waren vielleicht nicht immer das perfekte Bruderpaar gewesen, doch die Entschei-dung des Jägers, Ketlin zu seiner Frau zu machen, die hatte Jylge mehr als nur begrüßt. Sie war einfach die perfekte Partnerin für Flynx gewesen. Und wenn Jylge ehrlich zu sich selbst war, dann musste er sich eingestehen, dass er damals schon ein wenig verliebt in Ketlin gewesen war.

Und als er sie oben auf der berstenden Zitadelle getroffen hatte, war sein Verstand zu umnebelt gewesen, sie sofort zu erkennen. Was hatte die Zeit in Gefangenschaft nur aus ihm gemacht? Doch anderen wäre es sicher nicht viel besser ergangen, denn wenn man einen freien Menschen einsperrte, dann raubte man ihm nicht nur die Freiheit, sondern auf die Dauer auch seinen klaren Verstand.

Ketlin winkte – es ging weiter, nach links in einen weiteren Gang hinein, der nur schwach beleuchtet war. Dieses Licht … Jylge hatte keine Vorstellung davon, woher es kam, wie es erzeugt wurde. Und plötzlich standen sie vor einer Wand! Sie waren in eine Sackgasse geraten. Ketlin lief einige Schritte zurück und lauschte. Scheinbar

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hielt sich weit und breit keiner der Silbernen auf. Doch die Füchsin war sicher, dass sie nicht alle den Block verlassen hatten. Im Augen-blick jedoch waren sie und Jylge hier wohl sicher. Sie ging in die Hocke, lehnte sich gegen die Seitenwand. Jylge tat es ihr gleich. Sie waren noch nicht lange im Inneren des Blocks, doch sie waren er-schöpft, als hätten sie Tausende von Gängen durchlaufen.

»Es ist die Luft, oder?« Jylge atmete schwer.Ketlin nickte.»Ja, etwas ist hier anders. Der Druck im Kopf lässt nach, aber das

Laufen fällt so schwer. Vielleicht bewegen sich die Silbernen drau-ßen deshalb so unsicher?«

Daran hatte Jylge auch schon gedacht. Wenn die Silbernen hier schon lange lebten, das vielleicht sogar immer schon getan hatten, dann war ihre tapsige Art zu gehen, sich zu bewegen, eigentlich nicht mehr so verwunderlich.

»Wenn wir nur eine Ahnung hätten, wonach wir suchen müssen.« Ketlin antwortete ihm nicht. Wahrscheinlich war sie zu erschöpft, zu sehr außer Atem.

Er blickte zu ihr hin und riss die Augen weit auf. Sie war ver-schwunden … Ketlin war verschwunden.

Jylge drückte gegen die Wand, doch es rührte sich nichts. Ein schlimmes Gefühl breitete sich rasend schnell in ihm aus. Er war al-lein. Völlig allein in diesem Ding, das Menschen fraß, in dem seltsa-me Wesen lebten, das innen hohl und so fremdartig war.

Schiere Panik griff nach ihm. Panik … und eine Hand! Jylge schrie auf. Die Hand war durch die Wand gekommen, ganz einfach so. Im nächsten Moment saß Ketlin wieder neben ihm und grinste ihn an, als hätte sie soeben den bösen Göttern auf die Köpfe gespuckt.

»Es funktioniert also auch hier drin.« Jylge sah sie mit einem ziem-lich dummen Gesichtsausdruck an. Er begriff kein Wort. Ketlin lach-te. »Komm mit, dann wirst du staunen.«

»Mitkommen? Wohin denn?« Er spürte, dass Ketlin ihn bei den Schultern packte und nach hinten drückte. Und in diesem winzigen Moment wechselte die Welt um ihn herum schlagartig. Er blickte

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sich um. Sie waren in keinem weiteren Gang gelandet, sondern in ei-nem weitläufigen Raum, der so ganz anders war als alles, was Jylge bisher hier gesehen hatte.

Ketlin sinnierte. »Wie funktioniert das nur? Einmal ist die Wand hart wie ein Felsblock, dann wird sie weich und durchlässig wie … wie ein Wasserfall.« Sie wusste, dass dieser Vergleich hinkte, aber er kam der Realität zumindest ein wenig nahe. Jylge hatte das Wand-wunder schon wieder vergessen. Zu sehr fing ihn der Anblick der Dinge ein, die sich hier befanden.

An den Seitenwänden befanden sich Schränke mit Glasfronten, die vom Boden bis zur Decke reichten. Hinter dem Glas blinkte und glitzerte es, als gäbe es dort Tausende von Edelsteinen. Der hintere Teil des Raumes war mit einer Konsole belegt, die von Wand zu Wand ging. Und auch auf ihr funkelte es wie in einem Haufen der edelsten Steine dieser Welt. Rot, grün, blau, ein warmes Gelb, dann wieder Stellen, die glühender Kohle ähnlich waren.

Jylge stand auf und schlich sich vorsichtig zu der Konsole hin, als sei er ein Dieb, der jeden Augenblick ertappt werden konnte. Aus der Nähe betrachtet, erkannte er dann, dass es sich natürlich nicht um Diamanten oder Rubine handelte, sondern um kleine Lichter, die in unregelmäßigen Abständen ihre Farbe wechselten. Es war für ihn ein überwältigender Anblick, doch bei sich selbst gestand er sich ein, dass er sich so langsam an Wunder zu gewöhnen begann.

Vor der Konsole standen Stühle, eher Sessel, doch die hier schie-nen mit dem Boden verbunden zu sein. Vorsichtig setzte Jylge sich in einen von ihnen hinein. Nie zuvor in seinem Leben hatte er so majestätisch gesessen. Ihm kam es vor, als würde das Material, aus dem diese Stuhlsessel bestanden, sich an seinen Körper schmiegen. Jylge blickte nach vorne zu der Stirnwand des Raumes, die einige Armlängen von ihm entfernt war.

Dort gab es nichts als eine einzige hellgraue Fläche, deren Sinn sich Jylge nicht offenbaren wollte. Es juckte ihn in seinen Fingern. Diese ganzen Lichter, die Knöpfe und Hebel, die Regler … sei reiz-ten ihn ungeheuer.

»Fass nur ja nichts an.« Ketlin stand plötzlich direkt neben ihm. »Kein Risiko, ja? Wir dürfen nichts tun, was auf uns aufmerksam

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machen könnte.«Jylge nickte und behielt die Finger tunlichst bei sich. »Was mag

das alles bedeuten? Wo sind wir hier gelandet?«Ketlin setzte sich in den Sessel neben Jylge. »Ich weiß es nicht.

Aber ich habe das Gefühl, dieser Ort ist sehr wichtig für den Block.« Einen Moment lang nur blitzte eine Erinnerung aus früheren Zeiten auf. Hatte es nicht einige Leute gegeben, die behaupteten, der Mensch könne fliegen? In einer Maschine? Diese Theorie war in Ver-gessenheit geraten, wie so vieles andere auch, aber was, wenn daran ein Stück Wahrheit gewesen wäre? Und … vielleicht gab es ja Wel-ten, deren Bewohner dazu in der Lage waren. Wenn der Block nun von einer dieser Welten zu ihnen gekommen war?

Nein, Ketlin schalt sich selbst eine Närrin. Doch der Gedanke hatte dennoch etwas für sich.

Vor ihr leuchtete ein besonders intensives Licht, von dem sie ein-fach den Blick nicht mehr wenden konnte. In regelmäßigen Abstän-den flackerte es kurz auf, um dann weiter in einem strahlenden Sil-berton zu erstrahlen. Doch dann nahm es von einem Augenblick zum anderen die Farbe des Nachthimmels an. Ketlin sprang aus dem Sessel, denn plötzlich schoss eine Strahlbahn aus dem Licht hervor, senkrecht zur Decke gerichtet.

Der Strahl verbreiterte sich zusehends, bis er beinahe die gesamte Stirnseite des Raumes einnahm. Ketlin und Jylge hatten sich zurück-gezogen, doch dann erstarrten sie zu Salzsäulen. Mitten in dem auf-gefächerten Strahl erschien das absolut realistische Abbild eines al-ten Mannes. Nur das immer wieder auftretende kurze Flackern ließ Ketlin und Jylge glauben, nicht vor einem lebenden Wesen zu ste-hen. Und dann begann dieses lebende Bild auch noch zu sprechen. Zunächst kamen nur unverständliche Worte aus seinem Mund, doch schon nach einigen Sekunden konnten die beiden ihn genau verstehen.

»Ich weiß nicht, wer dies nun sieht. Ich hoffe, du oder ihr seid in friedli-cher Absicht in meine Welt gekommen. Also lasst euch von mir warnen! Meine Heimat ist befallen – ein bösartiger Parasit, ein Schatten, lastet auf ihr. Wir, die wir wahrscheinlich die letzten unseres einst so großen Volkes sind, wollten nichts weiter, als eine neue Heimat für uns suchen. Wir

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wussten, dass wohl erst unsere Kindeskinder dieses Glück haben würden, doch wir wollten ihnen den Weg bereiten, hin zu einer Heimat über die sich ein Himmel wölbt, eine Sonne die Tage erhellt, und in der Nacht Mil-lionen von Sternen über ihnen leuchten. Mehr wollten wir nicht.«

Die Stimme wurde plötzlich sehr leise und unverständlich. Das Bild flackerte heftig, schien in sich zusammenzufallen. Doch noch einmal stabilisierte sich alles. Erneut klang die Stimme zu Jylge und Ketlin.

»… alles versucht, uns ihm zu entziehen. Viele von uns verloren dabei ihr Leben. Und nun werde ich sterben, denn er weiß, dass ich sein größter Feind bin. Heute noch wird er mich holen, seinen Durst an mir stillen. Ich bin alt – soll er nur kommen. Aber ihr, die ihr mich nun hört: Wenn ihr mächtig genug seid, dann vernichtet ihn! Mit all eurer Kraft. Wenn nicht, dann flieht noch in dieser Minute. Flieht und rettet eure Leben! Flieht! Flieht!«

Dann brach der Strahl zusammen. Absolute Ruhe kehrte ein. Jylge und Ketlin sahen einander an. Sie hatten längst nicht alles begriffen, was der alte Mann gesagt hatte. Aber wenn sie zumindest einen Teil davon für sich in ihre Denkstrukturen umwandelten, dann kamen sie zu einem Ergebnis, das sich erstaunlich mit dem deckte, was sie vorhin beschäftigt hatte. Fliegende Wesen von einer anderen Welt?

Der Brocken … er war ganz sicher nicht so einfach vom Himmel gefallen. Er war ganz gezielt auf diese Welt gekommen, gesteuert von den Silbernen? Oder von dem Wesen, das der Alte einen Parasi-ten genannt hatte. Einen Schmarotzer also, der sich von anderen er-nährte, der auf deren Kosten sein Leben lebte?

Flieht, hatte er gesagt – immer und immer wieder.Fliehen. Nur wohin? Die Bewohner dieser Welt hatten keine Mög-

lichkeit dazu.Jylge und Ketlin fassten sich bei den Händen. Sie hatten eine

Chance gesucht, dem Block Schaden zuzufügen, ihn vielleicht sogar zu vernichten. Was sie gefunden hatten, waren Antworten.

Doch die halfen ihnen jetzt auch nicht weiter.

Professor Zamorra beobachtete amüsiert, mit welchem Charme Gila

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den Wirt der kleinen Gaststätte um ihre Finger wickelte. Gestern hatten sie gut gegessen, doch dabei war wohl das ganze Barvermö-gen der rothaarigen Frau drauf gegangen.

Anschließend waren sie die Nacht hindurch marschiert, hatten sich nur eine kurze Schlafphase gegönnt, ehe sie dann ihren Weg fortsetzten. Gila wusste geschickt die Hauptstraßen zu vermeiden, denn es gab wohl gewissen Menschen hier in der Gegend, denen sie nicht begegnen wollte.

Jetzt neigte sich der Tag erneut und Hunger machte sich in den Mägen der beiden breit. Während Gila mit dem Wirt um zwei or-dentliche Mahlzeiten feilschte, verfluchte Zamorra die Tatsache, dass er keine Möglichkeit hatte, mit dem Spider in Kontakt zu kom-men. Kobylanski und Aartje Vaneiden konnten zwar Zamorras Vi-talzeichen orten, sicher auch, dass er sich nicht fest an einem Ort aufhielt, sondern ständig in Bewegung war – das war es, was man mit einer Meegh-Wanze anmessen konnte, von der Zamorra eine bei sich trug. Mehr jedoch nicht. Also würden die beiden irgendwann die Geduld verlieren und landen. Genau das wollte der Professor vermeiden, denn die Bewohner dieser Welt hatten schon genug da-mit zu tun, diesen ominösen Brocken zu verdauen, der da auf ihren Planet gefallen war.

Zamorra glaubte nicht an die Geschichte, wie sie Gila erzählt hatte. Wäre ein solch riesiger Klotz aus dem All mit dieser Welt kollidiert, hätte das ungeheure Auswirkungen gehabt. Einen Einschlagskrater von gewaltigen Ausmaßen, Erdbeben, Überschwemmungen – der Tod hätte fette Beute gehabt.

Der Parapsychologe brannte darauf, endlich diesen Brocken mit eigenen Augen zu sehen. Er war nahezu sicher, ein Raumschiff vor-zufinden, keinen Meteoriten.

Zamorra musste grinsen, als er die ersten Töne einer Laute hörte. Gila hatte sich das Instrument vom Wirt ausgeliehen; ihre Harfe hat-te sie ja leider nicht retten können, als sie den ungastlichen Ort so schnell verlassen musste, an dem sie ihre Rache durchgeführt hatte. Allerdings hatte Zamorra so das Gefühl, dass es da noch etwas gab, das Gila zu erledigen hatte. Zweifellos würde sie sich davon von nichts und niemandem abhalten lassen. Irgendjemanden gab es

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noch auf dieser Welt, der sicher sein konnte, Gilas Dolch zu spüren zu bekommen. Zamorra hätte nicht an der Stellte dieser Person sein wollen. Sicher nicht.

Nun jedoch lauschte er Gilas Stimme und den Klängen der Laute, die sie meisterhaft zu spielen wusste. Vier Lieder bekamen die Gäste und die Wirtsleute zu hören. Begeisterter Applaus brandete nach je-dem einzelnen auf. Am Ende wollte man sie nicht ohne ein fünftes Lied gehen lassen, doch Gila blieb hart. Geschäft war eben Geschäft, und für vier Lieder hatte der Wirt zwei gute Essen versprochen. Die bekamen sie nun auch prompt geliefert. Zamorra hatte keine Ah-nung, wie das Tier wohl ausgesehen haben mochte, das er nun ver-speiste, doch es schmeckte einfach nur großartig. Also fragte er erst gar nicht nach und genoss den Braten nebst der Beilagen.

»Wann erreichen wir den Brocken?« Zamorra ließ die Frage beina-he nebenbei fallen, zwischen zwei Bissen und einem Schluck dieses Getränkes, das man in etwa mit Bier vergleichen konnte. Irgendwie konnte er das Gefühl nicht verdrängen, dass Gila nicht unbedingt den direkten Weg gewählt hatte. Was hatte sie vor? Doch sie ließ sich nicht in die Karten sehen.

»Ein paar Stunden sollten wir schlafen – der Wirt hat nichts dage-gen, wenn wir es uns in der Scheune hinter dem Gasthof bequem machen. Dann sollten wir noch vor Morgengrauen weiter. Du wirst den Brocken schon bald sehen, glaube es mir.«

Es waren dann höchstens zwei Stunden Schlaf, die Zamorra sich stehlen konnte, doch das war ihm nur recht. Die Sonne dieser Welt ging gemächlich auf und Zamorra war froh, dass die Dunkelheit endlich wich. Irgendwann stoppte Gila.

»Schau genau hin, Zamorra.« Sie wies mit ausgestrecktem Arm auf eine Stelle, die einige Schritte vor ihnen lag Zunächst begriff der Professor nicht, was sie ihm zeigen wollte, doch dann sah er es: Quer zu ihrer eingeschlagenen Richtung glänzte etwas am Boden, das von der frühen Sonne zum Blinken gebracht wurde. Es war nur schwer auszumachen, um was es sich handelte, denn es war nahezu komplett mit Moos und Unkraut bedeckt. Zamorra näherte sich dem Phänomen und ging in die Hocke, um es genau betrachten zu kön-nen.

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Mit beiden Händen rupfte er die Überwucherungen aus dem Bo-den, bis er ein Stück des blitzenden Etwas frei vor sich hatte. Schie-nen? Zamorra wollte es nicht glauben, aber es war eindeutig. Vor ihm lag ein Teil eines doppelten Schienenstrangs, dessen Profil da-für ausgelegt war, schwere Eisenräder aufzunehmen. Der Parapsy-chologe blickte zu Gila.

»Vergessen, mit Unkraut überwuchert … nicht einmal an den Na-men erinnern sie sich. Man nennt das die Silberschlangen. Schau – sie erstrecken sich bis zum Horizont, aber kein Mensch weiß mehr, wozu sie hier verlegt wurden.«

»Du erinnerst dich, nicht wahr?«Gila nickte. »Hier sollte ein Teilstück der Dampfbahn entstehen,

doch sehr weit sind die Männer nicht gekommen, die hier die Schie-nen verlegt haben. Hinter dem Horizont enden die Silberschlangen; an anderen Stellen des Landes kann man sie auch finden – irgend-wann hätten sie miteinander verbunden eine enorme Strecke erge-ben, doch dann kam der Brocken.«

»Und die Bahn selbst? Ist sie gebaut worden?« Zamorra war er-staunt. Die technische Revolution hatte diese Welt gepackt, doch da-von war nichts geblieben – außer diesen Relikten einer Zeit, die ja noch gar nicht lange zurück lag.

»Die gibt es auch. Willst du sie sehen? Unser Weg führt uns direkt zu ihr.« Gila wies entlang der Schienenstränge.

Zamorra kam wieder in die Höhe. »Direkt? Tatsächlich?«Die Schönheit blickte ihn von der Seite an. »Gut, vielleicht machen

wir dabei einen winzig kleinen Bogen, doch unser Ziel finden wir so dennoch, glaube mir. Ich muss …«

Zamorra unterbrach sie. »Du musst noch etwas erledigen, nicht wahr?« Sie schwieg. »Gut, ich vertraue mich dir an, was bleibt mir auch schon anderes übrig.« Er machte eine Handbewegung, die Gila nicht richtig einzuschätzen wusste. »Also los. Worauf warten wir noch?«

Sie setzen den Weg fort, jetzt allerdings immer den Schienen ent-lang. Zamorra hoffte noch immer, dass Laertes ihn bald holen wür-de. Irgendwo jedoch war ihm schon klar, dass er sich drauf wohl besser nicht verlassen sollte.

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Sie liefen gut und gerne drei geschätzte Stunden, bis Gila ihre Schritte verlangsamte.

»Da ist er.« Manchmal ertrug Zamorra solche Einsilbigkeiten ganz einfach nicht. Glaubten die Leute denn, er würde ihre Gedanken-gänge lesen können? Dem war nicht so – und darauf legte er auch überhaupt keinen Wert. Manche Köpfe sollten das wirre Zeug, das in ihrem Inneren brodelte, wirklich besser für alle Zeiten bei sich be-halten. Hier jedoch sah das anders aus. Der Professor verlor ein we-nig die Geduld.

»Wer? Wo genau? Was genau? Von mir aus auch noch warum!« Gila sah ihn nichtverstehend an. Zamorra seufzte.

»Du solltest mich schon ein wenig an deinem Gedankengut beteili-gen, wenn du mich schon hierherschleppst.« Er blickte direkt in ihre verführerischen Augen, doch deren Wirkung verpuffte momentan vollkommen. Und erneut bekam er keine ordentliche Antwort, hatte allerdings eine Reaktion aus ihr herausgekitzelt.

»Komm, aber vorsichtig und besser geduckt.« Gila schlich sich zu einer kleinen Baumgruppe, die in der Nähe stand. Behände enterte sie einen der Bäume, stieg leicht und locker bis in dessen obere Zweige, die noch stark genug waren, einen Menschen zu tragen. Za-morra folgte ihr. Verblüfft zog er die Augenbrauen in die Höhe, denn was man von hier oben großartig erblicken konnte, das hätte er so nicht erwartet.

Mitten auf den Schienen stand ein Monstrum aus schwarzem Stahl.

Zamorra war kein Fachmann für historische Dampfloks, doch so in etwa hatten wohl auch die Exemplare auf der Erde ausgesehen, als die Ära dieses Fortbewegungsmittels begann. Nur schien ihm dieses Gefährt ein wenig überdimensioniert. Hinter ihm waren drei Wagons angekoppelt, die so schwer und klobig aussahen, dass der Franzose bezweifelte, ob die Lok sie auch nur eine Handbreit hätte ziehen können. Alles schien unfertig, übereilt gebaut und weit da-von entfernt, eine echte Funktionalität zu beinhalten.

Schlauerweise hatte man dieses Ungetüm mit seinen Anhängseln direkt auf die Schienen gebaut. Die Überreste der Fertigung waren unübersehbar. Eingefallene Schuppen, behelfsmäßig erscheinende

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Hebelkräne … und so etwas wie eine Dampfmaschine, deren Kraft wohl die Kräne angetrieben hatte – aber festlegen wollte der Profes-sor sich da nicht.

Sein Blick wanderte hinter den letzten Wagon. Dort endeten die Schienen nach nur zwei weiteren Metern. Anscheinend sollte das hier der Startpunkt für die ersten Fahrversuche dieses eigentümli-chen Gespanns sein. Doch daraus war offenbar nichts geworden. Al-les lag brach und schien verwahrlost, doch dann sah Zamorra die beiden Männer, die um das Gespann patrouillierten. In ihren Hän-den hielten sie schwere Schlagstöcke, die aus Metall gefertigt waren. Vielleicht hatten die zwei Reste der Lok zur Waffe umfunktioniert. Zamorra hatte jedenfalls keine Ambitionen in die Reichweite dieser Eisenkeulen zu geraten.

Ein Blick zu Gila ließ ihn erahnen, dass ihm exakt das wohl durch-aus blühen konnte. Es war nicht daran zu deuteln, dass die Sängerin wohl genau das vor sich sah, wonach sie gesucht hatte. Vorsichtig und geräuschlos ließen die beiden sich von dem Baum wieder in die Tiefe.

Gila sprach kein einziges Wort, sondern schlich, jede nur mögliche Deckung nutzend, in Richtung des Lok-Monstrums. Sie wartete bis die beiden Wachposten hinter dem Ungetüm verschwunden waren, dann wollte sie loslaufen, doch genau in dieser Sekunde riss Zamor-ra sie zurück, drückte ihr die flache Hand auf den Mund.

Eine weitere Person war auf der Bühne erschienen, der Bühne, die Zamorra nur zu gerne umgangen hätte. Die Person war relativ klein und vom Kopf bis zu den Zehen in ein silbernes Kleidungsstück gehüllt, das den Professor unangenehm an einen Raumanzug erin-nerte.

Und wenn Gila noch so toben sollte – sie mussten zunächst einmal abwarten, was hier überhaupt ablief. Alles andere wäre reiner Selbstmord gewesen, und Zamorra wollte noch ein wenig länger le-ben.

Wenn auch nicht unbedingt auf dieser Welt, die er zu verfluchen begann.

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Er wählte den für ihn besten, den Erfolg versprechenden Weg.Seine Gehbehinderung machte ihn als Opferfänger für den Parasi-

ten denkbar ungeeignet. Selbst die gesunden Mitglieder seines Vol-kes würden darin stets nur magere Erfolge aufweisen können. Sie alle konnten sich einfach nicht an das Leben auf einer Welt wie die-ser gewöhnen. Sie fühlten sich außerhalb des Blocks unsicher, schwankten beim Gehen, spürten die – wohl nur geringfügig – hö-here Schwerkraft deutlich. Sie waren einfach nicht geschaffen, um auf einem Planeten zu existieren.

Also führte ihn sein Weg dorthin, wo er schon mehrfach gefunden hatte, was der Parasit forderte: Menschen, möglichst nur die männli-chen Exemplare von ihnen.

Er wusste, dass er bei Sonnenaufgang den Nimbus des Silberwe-sens, das sich meist nur bei Nacht zeigte, verlor, doch das war für ihn unerheblich. Langsam schob er den Helmteil zurück und ver-staute ihn im Kragen seiner Kombination. Er atmete schwer, denn die Luft bekam ihm nicht so besonders gut. Sie war atembar, sicher-lich, doch es gab Bestandteile in ihr, die seinem Volk nicht gut taten. Der Weg war nicht sehr weit gewesen. Immer wieder war er ver-blüfft und ratlos, wenn er das schwarze Ding vor sich auftauchen sah, dessen Räder auf ehernen Strängen ruhten. In seiner Welt gab es so etwas nicht – hatte es ganz sicher auch in der Frühzeit nicht ge-geben. Oder vielleicht doch? Er wusste nur wenig von dem, was sein Volk einmal ausgemacht hatte.

Zwei Wachen kamen auf ihn zu. Gewalttätige Männer, wie er von früheren Besuchen her wusste. Also fasste er vorsichtshalber seine Waffe fester. Als sie ihn erkannten, machte sich einer der beiden so-fort auf, um seinen Herrn zu benachrichtigen.

Und der erschien dann auch rasch auf der Bildfläche. Ein unange-nehmes Wesen, sicher nicht minder gewaltbereit als seine Männer. Dazu war er auch von seinem Äußeren her ein ungeschlachter Ty-pus. Der Mann nannte sich Claws und war so groß, dass der Silber-ne den Kopf ein wenig in den Nacken legen musste, wenn er mit ihm sprach. Claws war fett, ungepflegt und hatte eine Stimme, die seinem Gegenüber Kopfschmerzen machten konnte. Sein Respekt vor dem Silbernen war nicht sonderlich ausgeprägt, obwohl er nur

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zu gerne Geschäfte mit ihm machte.Der Silberne zahlte nämlich in Kuriositäten, die Claws mehr faszi-

nierten als alles Geld und Gut. Es waren Gegenstände aus dem Block. Claws wusste, dass die Silbernen dort lebten. Wie das sein konnte, wie die Zusammenhänge dort waren, das interessierte den Mann nicht. Er lebte ganz gut in diesen Zeiten, in denen es vielen so schlecht ging. Ausbleibende Ernten und Lethargie langten ihn nicht an. Er holte sich, was er brauchte. Er und seine Männer waren die Blutegel, die sich an der Armut der anderen festsaugten, ihnen noch das letzte Hab und Gut abpressten, das sie besaßen.

»Ah, mein Silberfreund. Ich freue mich sehr, dass du wieder ein-mal zu mir gekommen bist. Brauchst du wieder Männer?«

Der Silberne, der sich schon daran gewöhnt hatte, so von Claws angesprochen zu werden, nickte nur. Es war widerlich, was er hier tat, doch es blieb ihm keine andere Wahl. Oder doch? Wenn er die Befehle des Schattens, des grausamen Parasiten, nicht befolgte, wür-de er sterben, so, wie die Männer starben, die nichts weiter als Blu-topfer waren. Und wenn schon. Wäre das nicht der konsequente Weg gewesen, den er und sein Volk hätten gehen sollen? Einen kol-lektiven Selbstmord, denn schließlich waren sie es gewesen, die den Block samt Parasiten hierher gebracht hatten.

Doch er wusste nur zu genau, dass ihm zu diesem Schritt der nöti-ge Mut fehlen würde. Zumindest jetzt war das noch so. Der Parasit kontrollierte viel zu stark seinen Willen. Er blickte Claws in die Au-gen.

»20 Männer – und du sollst sie mir zum Block bringen, Claws. Dort werden wir dann tauschen. Ich habe gute Ware für dich. Lauter glänzende Dinge.« Er wusste genau, wie er Claws anzupacken hatte. Der hässliche Kerl bekam leuchtende Augen.

»Gut, so soll es geschehen.« Er wandte sich um und gab seinen Männern einen Wink. Die beiden hatten sich in gebührendem Ab-stand aufgehalten. Sie hatten Respekt vor dem Silbermann, denn sie hatten einmal mit seiner Waffe Bekanntschaft gemacht. Dieses klei-ne Ding, kaum größer als eine Faust, spuckte irgendetwas aus, das dem davon Getroffenen alle Lebenskraft raubte. Erst Stunden später konnte man sich dann wieder bewegen. Das war den Schlägertypen

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nicht geheuer.Die beiden machten sich zum letzten Wagon auf. Claws blickte auf

seinen Kunden herab. Ihm machte der Silberne keine Angst. Ihm doch nicht. »Komm mit in den Wagen Nummer 1. Es wird nicht lan-ge dauern, bis die Männer zu deiner Verfügung stehen.«

Der Silberne folgte Claws. Nummer 1 – so stand es in großen Buch-staben auf dem schwarzen Ungetüm, in dem Claws sein Hauptquar-tier aufgeschlagen hatte. Im Inneren stank es, schien es immer kalt zu sein, auch wenn die Sonne wärmend schien. Der Silberne mochte Claws Behausung nicht, doch es blieb ihm nicht viel anderes übrig, als dem Mann zu folgen.

Das würde er nun hinter sich bringen und dann mit 20 Gefange-nen zum Block zurückkehren. Er hoffte inständig, dass dies hier der letzte Handel sein mochte, den er mit diesem Menschen abwickeln musste.

Es würde wahrscheinlich nur bei der Hoffnung bleiben.Der Silberne ahnte es. Seine düsteren Ahnungen hatten sich in der

letzten Zeit im Grunde ja immer bewahrheitet.

Erst als die beiden so verschiedenen Wesen in dem Zug verschwun-den waren, lockerte Zamorra den harten Zugriff seiner Hand auf Gi-las Mund. Der Meister des Übersinnlichen hatte sich auf den kurzen Dialog zwischen dem Fremden und dem fetten Kerl konzentriert. Letzterer erinnerte Zamorra frappant an gewisse Typen, die man auch auf der Erde finden konnte – leider.

Sie repräsentierten die übelsten Machenschaften überhaupt. Sie lebten vom Elend und der Not anderer, lebten vom Krieg, der Angst, dem Hass. Wie oft hatte Zamorra sie schon getroffen – die Waffenhändler, die Kriegstreiber und Sklavenhändler. Ja, auch die gab es noch auf der Erde des 21. Jahrhunderts. Doch da konnte man auch noch andere Typen sehen, die im Grunde vom gleichen Schlag waren: Die Saubermänner, die Manager des Elends, die Spekulanten mit Schlips und Kragen, die auch hinter so manchem Bankschalter und in den oberen Etagen der Politik lauerten.

Und wenn sie dann aktiv wurden, dann mussten die unter ihrem

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Tun leiden, die sich am wenigsten wehren konnten. Armut war ein Kind der Gier, so sagte man. Kinder waren es, die schließlich und endlich unter ihr zu leiden hatten.

Zamorra hasste diese Entwicklung, die immer weiter und weiter auf die Spitze getrieben wurde. Es war der Traum von so manchem Schriftsteller gewesen, dass es dort draußen im All sicher Welten gab, die dies alles nicht kannten, auf denen man fair miteinander umging und keiner den anderen wegen eines Vorteil über die Klin-ge springen ließ. Doch weit gefehlt … das gab es überall. Es war wie ein Virus, der in allen Galaxien existierte. Diese Welt hier machte ab-solut keine Ausnahme.

Alles hatte Zamorra nicht verstanden, was die beiden miteinander beredet hatten. Doch die Satzfetzen, die bei ihm angekommen wa-ren, die reichten ihm aus. Gila befreite sich aus Zamorra Umklam-merung.

Ihr Blick war starr auf die Lokomotive gerichtet, die wie ein Ana-chronismus wirkte. Gila spuckte das Wort voller Wut aus: »Claws …« Zamorra ließ ihr Zeit, denn augenscheinlich musste sie das alles hier erst verarbeiten.

»Du hast nach ihm gesucht, nicht wahr?«Gila nickte hart und mechanisch. »Du erinnerst dich, dass ich dir

von dem Haus erzählt habe, in dem ich schließlich als Witwe lebte? Ich fühlte mich sehr alleine dort, weil ich merkte, dass die Leute in der Stadt mich mit Argwohn betrachteten. Der plötzliche Tod mei-nes Mannes wurde mir angekreidet. Also holte ich meine Eltern zu mir. Dann kam das Feuer, du erinnerst dich noch?«

Zamorra nickte, natürlich war ihm davon jedes Wort im Gedächt-nis geblieben. Gilas Eltern waren bei dem Brand ums Leben gekom-men.

Die schöne Frau wandte den Blick keinen Augenblick lang von der Lok. Ihre Worte klangen nun hart und voller Hass.

»Das Feuer war nicht einfach so ausgebrochen, durch Unachtsam-keit oder eine umgefallene Kerze. Der neue Verwalter, der die Nach-folge meines verstorbenen Mannes übernahm, hatte seine gierigen Augen auf mein Haus geworfen. Er wollte es – also holte er es sich. Er heuerte einen Mann an, der skrupellos in das Haus eindrang und

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die oberen Räume anzündete. Er verriegelte alle Türen, so dass mei-ne armen Eltern keine Chance hatten. Sie verbrannten bis zur Un-kenntlichkeit.«

Zamorra begann zu verstehen. »Und dieser Feuerteufel war Claws?«

Ketlin nickte.»Der Verwalter war der Erste auf meiner Liste.« Ihre Augen blick-

ten zum Professor. Sie schienen von einer Sekunde zur anderen erlo-schen zu sein, denn das unglaubliche Feuer, das in ihnen geglüht hatte, existierte nicht mehr. Zamorra konnte nur Kälte und Hass er-kennen. In diesem Augenblick wirkte Gila alles andere als anzie-hend und erotisch auf ihn. Hass konnte alles fressen, einfach alles.

»Er hat mich sofort erkannt, als ich vor ihm stand. Der Feigling versuchte nicht einmal zu kämpfen. Er rannte fort wie ein Kind bei Blitz und Donner.«

»Er hatte keine Chance, nicht wahr?« Zamorra versuchte seine Stimme ohne Vorwurf klingen zu lassen, doch das misslang ihm. Gila blickte ihn mit einer Mischung aus Ärger und Unverständnis an.

»Nein, ich ließ ihm keine Chance. Hättest du es anderes gemacht, Zamorra?«

Der Parapsychologe gab darauf keine Antwort … er wusste keine. Er hätte nun vielleicht vom Unsinn der Rache sprechen können, doch er ließ es bleiben. Niemand konnte so genau wissen, wie er in einer ähnlichen Situation gehandelt hätte. Auch er nicht.

Und nun wollte Gila ihren Feldzug beenden.»Du hast gewusst, wo du Claws finden kannst, nicht wahr?«Gila nickte. »Zumindest habe ich geahnt, dass es sich um ihn han-

delt, der hier die Menschen terrorisiert. Man muss oft nur die richti-gen Fragen stellen, dann erfährt man viel mehr, als man glaubt. Also hindere mich jetzt nicht an dem, was ich tun muss.«

Zamorra fasste Gilas Schultern. »Hör zu. Wenn du jetzt da hinein stürzt, um Claws zu töten, dann wirst du nicht mit dem Leben da-von kommen. Was für einen Sinn hätte dann deine Rache gehabt? Denk an die zwei Schlägertypen, die dich draußen erwarten würden – und vergiss nicht den Silbernen. Vielleicht verfügt er über Waffen,

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denen du nichts entgegensetzen könntest. Also hör mir genau zu.« Zamorra hoffte, dass er überhaupt zu Gil vordringen konnte, denn ihr Gesicht war wie versteinert, ihr Blick abwesend.

»Es wäre schlauer, wenn wir abwarten, bis der Silberne abzieht. Claws wird ihn sicher begleiten, denn er wird seinen Lohn haben wollen. Vielleicht finden wir so einen Weg, wie wir in den Block kommen können.«

»In den Block …?« Die Frau begriff nicht, was Zamorra fest zu glauben wusste.

»Ja, denn der Block ist sicher alles andere als ein Stern, der vom Himmel gefallen ist. Ihr habt das bisher geglaubt, aber ich bin sicher, da steckt viel mehr dahinter. Also – stimmst du mir zu? Vielleicht können wir so deiner ganzen Welt einen Dienst erweisen. Sicher bin ich mir da nicht, aber wir sollten es versuchen.«

Gila überlegte angestrengt, dann traf sie ihre Entscheidung.»Gut, wir machen es so, aber eines darfst du niemals vergessen,

Zamorra. Claws gehört mir! Nur mir – und wenn ich spüre, dass er sich mir entziehen könnte, töte ich ihn auf der Stelle.«

Sie mussten nicht lange warten, bis die 20 armseligen Männer von den Schlägertypen direkt vor die Lok getrieben wurden. Claws und der Silberne erschienen nur Minuten später, und der Zug setzte sich in Bewegung. Die Wachen blieben bei dem Zug.

Es ging in Richtung des Brockens. Sie kamen nicht schnell voran, aber der Weg war ja nicht sehr weit.

Weder der Silberne noch Claws ahnten, dass vier Augen stets auf sie gerichtet waren …

Laertes zwang sich zur Ruhe. Wer oder was ihn hier gefangen ge-nommen hatte, musste damit ein Ziel verfolgen. Ihm Erinnerungen aufzuzwängen, die Dalius ganz tief in sich schlummern ließ, konnte nicht der eigentliche Grund sein. Also würde da noch mehr kom-men.

Der Uskuge musste immer an diesen Schrei denken, den er an Bord des Spiders empfangen hatte. Nur er hatte ihn vernommen. Zamorra und die anderen nicht. Warum? Vor allem musste er in Er-

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fahrung bringen, wer ihn ausgestoßen hatte. War es überhaupt ein Schrei gewesen oder nicht doch eher ein Ruf?

Ein Ruf, den er schon oft vernommen hatte?Du magst diese Erinnerungen nicht? Mir helfen sie sehr.»Wer bist du? Zeige dich.« Laertes wollte endlich wissen, wem er

seine momentane Lage zu verdanken hatte. Wie konnte er gegen ein Phantom kämpfen?

Das kann ich nicht. Noch nicht. Wer ich bin? Deine Erinnerungen wer-den uns beiden helfen. Also sträube dich nicht …

Laertes versuchte sich zu wehren, doch er spürte, wie er über-mächtig gezwungen wurde, erneut in seine Vergangenheit abzutau-chen:

Das 16. Jahrhundert auf der Erde brachte große Not für die Men-schen.

Dalius Laertes war eine solche Epoche nicht unbekannt. Die Reli-gionen übten Macht aus, Kriege brachten Zerstörung und Tod, gleichzeitig blühten die Wissenschaften auf – Kunst, frühe Techno-logien und die Medizin machten zarte Fortschritte. Doch das blieb den Metropolen vorbehalten. Die Landbevölkerung lebte im Elend.

Laertes war kein Mediziner, doch was er als Uskuge über die Be-handlung von Brüchen, Infektionen, selbst über einfachere Operati-onstechniken wusste, das reichte vollkommen aus, um hier als Wun-derdoktor zu erscheinen. Er half, wo er es nur konnte. Die Menschen erwiesen sich als äußerst dankbar und sorgten dafür, dass er nicht hungern musste. Zudem stellte man ihm eine Art Hütte zur Verfü-gung, in die er sich zurückziehen konnte.

Und das geschah oft, denn der Kampf mit Sajol tobte unentwegt fort. Immer wieder versuchte Laertes' Sohn sich von der Umklam-merung zu befreien, die in Form von Dalius' Bewusstsein um ihn lag. Doch Laertes siegte immer wieder, wenn auch oft nur denkbar knapp.

Diese Welt befand sich in einer schwierigen Epoche. Die Uskugen kannten viele bewohnte Welten, denen sie ihre Hilfe angedeihen lie-ßen. Daher war Laertes mit einer solchen Entwicklung einer Rasse

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durchaus vertraut. Die Menschen hatten eine große Zukunft vor sich, da war er sicher, doch wie die genau aussehen mochte, das konnten sie nur selbst entscheiden. Er maßte es sich jedenfalls nicht an, dies zu beeinflussen.

Laertes war klar, dass er hier zwar freundlich aufgenommen wur-de, dass man ihn ob seiner Fähigkeit zu helfen durchaus schätzte, doch er blieb der Fremde, der sich tagelang in seiner Hütte einschloss, bis er schließlich bleich und müde wieder zu den Menschen kam. Es war Sajols Körper, der diese Tortur zu ertragen hatte, doch Laertes Bewusstsein litt nicht minder darunter.

Fünf Erdenjahre vergingen so für ihn, bis der Tag kam, an dem er einen Hinweis auf das erhielt, was er zu finden suchte. Es war an ei-nem Vormittag, als Dalius gerade seine Sprechstunde abhielt. Nichts von Belang – zwei Knochenbrüche, ein vereiterter Zahn, dessen Ent-zündung er zunächst mit Kräutern bekämpfen wollte, eine Fleisch-wunde, die sich ein Bauer beim Pflügen zugezogen hatte – eine Handvoll unterernährter Kinder, die ganz einfach erschöpft waren, weil sie ohne ordentliche Ernährung ihren Eltern auch noch auf dem Feld mithelfen mussten. Die Steuereintreiber waren gnadenlos – und die Kirche nahm den Menschen dann auch noch einen Teil von dem, was kaum zum Überleben reichte.

Rom war nicht weit von hier entfernt. Laertes hasste es zu wissen, wie dort im Vatikan die Kirchenfürsten in Prunk und Pracht lebten, während das Volk so litt. Aber auch das war eine Entwicklung, die es auf vielen Welten so oder ähnlich gab.

Laertes legte gerade einen Verband um das verstauchte Handge-lenk eines vielleicht fünfjährigen Mädchens, das ihn mit tränennas-sen Augen ansah, als wäre er ein Weltwunder, da stürzte ein Mann in den Raum, den Laertes als Praxis nutzte.

»Heiler, komm mit mir. Großes Unglück ist geschehen, die Nacht-wesen haben uns heimgesucht.« Laertes verstand nicht, was der Mann ihm damit sagen wollte, doch er folgte ihm so rasch es ging.

Am Rande eines Ackers stoppte der Mann schließlich. Dort hatten sich einige Dorfbewohner eingefunden, die um zwei am Boden lie-gende Personen herum standen. Bereitwillig ließen sie Laertes durch.

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Der Uskuge sah in die schlohweißen Gesichter von zwei jungen Menschen, ein junger Bursche und ein Mädchen, das sicher einmal bildhübsch gewesen war. Jetzt jedoch war ihr Gesicht angstverzerrt. Der Tod war nicht leicht zu ihr gekommen. Bei dem Jungen war das nicht anders.

Dalius konnte nicht viel mehr machen, als den Tod feststellen. Sie waren ums Leben gebracht worden – in ihren Körpern gab es keinen Tropfen Blut. Laertes erinnerte sich nur zu gut an die 30 Leichen, die er in der Wüste auf der arabischen Halbinsel gefunden hatte. Er hat-te sich geschworen, die Verursacher dieses Massakers zu suchen. Nun schien es, als wäre er fündig geworden.

Laertes wandte sich an die umstehenden Menschen.»Wer kann mir sagen, welches Wesen so tötet?«Die Menschen wichen alle einige Schritte zurück. Laertes sah nur

zusammengekniffene Lippen. Anscheinend wollte niemand darüber reden. Das war nicht verwunderlich, denn der Aberglaube blühte in dieser Zeit – niemand wollte das nächste Opfer sein, nur weil man den Mund nicht gehalten hatte.

Schließlich fand sich doch ein mutiger Mann – es war der, der Laertes hierher geholt hatte.

»Du bist noch nicht so lange bei uns. Es sind viele Jahre vergan-gen, seit sie zuletzt hier gewesen sind. Weißt du denn wirklich nicht, wer das hier getan hat?«

Laertes schüttelte den Kopf und der Mann fuhr fort.»Es sind die Nachtwesen, die Vampire. Sie kommen, wenn ihr

Durst zu übermächtig wird. Dann suchen sie sich ihre Opfer aus und saugen ihnen den roten Saft aus den Adern. Es gibt sie überall, man sagt, dass sie selbst bei den Schwarzen ihr Unwesen treiben, dort, wohin sich sonst kaum jemand zu gehen wagt. Unsere heilige Kirche bekämpft sie mit Weihwasser und Silberklingen, doch sie sind ein großes Volk, das sich nicht ausrotten lässt.«

»Du solltest nicht so viel reden, sonst holen sie auch dich.« Die alte Frau, die direkt neben Laertes stand, keifte den Sprecher an, doch der winkte nur ab.

»Sie kommen und gehen, wann immer sie wollen – und sie holen sich, wen immer sie wollen. Der Herr möge uns beistehen.«

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Laertes spürte, dass er aus den Menschen hier nicht viel mehr her-ausbringen konnte. Zu groß waren Aberglaube und Furcht. Lang-sam löste sich die Menge auf. Niemand wollte zu lange an diesem unheiligen Ort bleiben. Einzig der gesprächige Mann blieb bei Laer-tes.

Der Uskuge ging auf die Knie, beugte sich tief über die Leichen. Er musste nicht lange suchen, bis er die Einstiche in den Hälsen der To-ten entdeckte. Zumindest hatte er jetzt eine Vorstellung, wie der Tod zu ihnen gekommen war. Wesen, die vom Blut anderer lebten – das war ihm auf seinen früheren Reisen noch nie untergekommen, aber er wollte sie finden. Es musste einen Weg geben, sie zu bekämpfen.

Der Tag verging mit der Pflege seiner Patienten. In der folgenden Nacht war für Dalius kaum an Schlaf zu denken. Sajol rührte sich tief in ihm, versuchte alles, um aus der väterlichen Umklammerung zu entfliehen. Doch erneut obsiegte Laertes. Schließlich fiel er in den frühen Morgenstunden in einen tiefen, von bösen Träumen geplag-ten Schlaf.

Als er erwachte, war da eine Vorahnung in ihm. Er öffnete die Fensterläden. Da lag er – mitten auf dem Platz, an dessen Rand Laertes' Hütte stand. Es war der Mann, der ihn gestern zum Tatort geholt hatte, der Gesprächigste unter den Leuten hier. Jetzt schwieg er für immer, denn an seinem Hals konnte man deutlich die beiden Einstiche erkennen. Laertes ließ den blutleeren Körper in seine Hüt-te bringen, doch auch bei intensiverer Untersuchung fand er keine weiteren Hinweise auf den Mörder.

Die würde er woanders suchen müssen. Zu einer anderen Tages-zeit. In der Nacht …

Die kam nach quälend langsam verstreichenden Stunden, in denen Laertes nicht die Ruhe fand, sich um die Kranken in der Ansiedlung zu kümmern. Die Menschen versteckten sich in ihren Häusern und Hütten, denn sie fürchteten die kommende Nacht. An einigen der Wohnstätten sah Dalius seltsame Symbole, die von den Bewohnern über den Haustüren mit Kreide oder Holzkohle gezeichnet worden waren. Aberglaube? Oder ein wirklicher Schutz vor dem Mörder, der das Dorf erneut heimsuchen würde, da war selbst Laertes sicher.

Doch er wollte sich nicht verkriechen. Viel hatte er aus den Men-

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schen hier auch heute nicht herausbringen können. Zumindest eini-ge vage Hinweise hatten sie ihm zugeraunt. Das alles klang für den Uskugen zwar wie ein Ammenmärchen, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Leuten zu glauben und sich entsprechend vorzubereiten.

Der Mond stand voll am Himmel, als Dalius seine Hütte verließ. Er war auf der Jagd, doch er kannte sein Opfer nicht, wusste nicht, worauf er vorbereitet sein musste.

Er hatte sich mit den Utensilien ausgestattet, von denen die Men-schen hier glaubten, den Mörder damit erlegen zu können, auch wenn das – so sagten sie übereinstimmend – dennoch nahezu un-möglich war. Niemand hatte ihn begleiten wollen, denn die Angst lähmte sie alle. Laertes machte mehrere Runden durch die Siedlung, umkreiste sie immer wieder, doch nichts geschah. Kam er nicht? Oder hatten diese Zeichen an den Häusern ihn so intensiv abge-schreckt?

Es war weit nach Mitternacht, als Laertes das Ziel seiner Jagd plötzlich vor sich sah.

An einer Stelle, wo der Wald bis dicht an die Häuser heran reichte, sah er ihn auf dem Boden kauern. Ein Mensch … oder täuschte der erste Eindruck? Laertes schlich näher an ihn heran. Es war ein Mann, dessen ausgemergelter Körper in zerfetzten Lumpen steckte. Die Haare standen wirr von seinem Kopf ab, seine dünnen Arme wiesen lange Kratzer auf und Hämatome, die sicher einige Tage alt waren. Offenbar hatte sich eines seiner Opfer heftig zur Wehr ge-setzt.

Dalius konnte nun erkennen, was der Mörder in diesem Augen-blick tat. Er hockte tief über eine Tierleiche gebeugt, einen Hirsch, wenn Laertes sich nicht irrte. Der Mund des Mannes ruckte immer wieder nach vorne, riss Fleischfetzen aus dem Tier, dann spuckte er die Teile wieder angewidert und würgend aus. Als er endlich bis zur Schlagader vorgedrungen war, spritze hellrotes Blut. Und der Mörder soff es in unsäglicher Gier. Dann beugte er sich zur Seite und übergab sich quälend.

Laertes machte ein paar schnelle Schritte auf die Stelle zu, an der sich das grausame Schauspiel zutrug.

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»Du brauchst Menschenblut, nicht wahr?« Die Stimme des Usku-gen riss den Mörder aus seinem Tun heraus. Er sprang in die Höhe und fuhr herum. Laertes konnte die Augen des Mannes erkennen – dicke Tränensäcke lagen darunter. Die Wangen schienen eingefallen zu sein. Blutiger Schmier war um seine Lippen herum verteilt.

Für Sekunden standen die beiden sich einfach nur so gegenüber, dann kamen zischende Worte aus dem Mund des Blutsaugers. »Ja, Menschenblut. Doch in dieser Nacht hatte ich einfach kein Glück, weißt du? Die Leute hier wissen sich zu schützen. Keiner aus dem Nachtvolk mag das Blut von Tieren. Es schmeckt furchtbar, aber nun sind meine Probleme ja beendet. Jetzt habe ich ja dich.«

Und er sprang mit einer Behändigkeit auf Laertes zu, die der ihm niemals zugetraut hätte. Doch der Uskuge war vorbereitet. Er mach-te einen raschen Schritt zur Seite und ließ den Blutsauger ins Leere laufen.

Als der sich voller Wut umwandte, um sich erneut auf sein Opfer zu werfen, stieß Dalius Laertes zu. Der Holzpflock – vorne ange-spitzt – drang scheinbar mühelos in den Körper des Mannes ein. Die Wirkung war ungeheuerlich. Der Blutsauger schrie entsetzt auf, fasste mit beiden Händen nach dem Pflock, doch er hatte nicht mehr die Kraft, um ihn aus der Wunde zu ziehen. Zudem ließ Dalius ihm auch nicht die Zeit, um es vielleicht noch einmal zu versuchen.

Das Sensenblatt, scharf wie ein Rasiermesser geschliffen, beschrieb eine horizontale Kurve und traf präzise sein Ziel. Der Kopf des Nachtwesens wurde glatt abgetrennt. Laertes blickte in die toten Augen des Vampirs, dann auf das Sensenblatt, das er wie ein Schwert gehandhabt hatte. Er wunderte sich über die eigene Kalt-blütigkeit, über sein Potential an Gewaltbereitschaft. Dennoch konn-te er keine Reue oder Selbstzweifel spüren. Dieses Wesen hatte si-cher schon unzählige Menschen getötet.

Laertes wandte sich ab, ging müde und entkräftet in Richtung des Dorfzentrums. Er hoffte inständig, dass ihm kein zweites dieser We-sen begegnen mochte – nie wieder.

Laertes sprang aus seinen Erinnerungen. Er schrie auf, denn dieses

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gewaltsame Entfernen bereitete ihm körperliche Schmerzen.Erinnerst du dich jetzt wieder an alles?Natürlich erinnerte der Uskuge sich, doch es hatte gute Gründe

für ihn gegeben, dies alles tief in seinem Unterbewusstsein verbor-gen zu halten.

Deine Erinnerungen bringen mir die meinen zurück. Immer deutlicher werden sie … und wenn wir am Ende angekommen sind, dann werde ich dich töten, denn auch du hast mich ja vernichtet. Zumindest das weiß ich nun genau.

Laertes verstand nicht. Doch zu einer Frage blieb ihm keine Zeit mehr. Erneut tauchte er in die Erinnerungen ab:

Sie waren zu dritt.Zwei Tage waren seit dem Ende des Blutsaugers vergangen, und

nun, die Nacht war noch jung, waren sie plötzlich da. Laertes sprang von seiner Liege hoch, doch einer der drei Eindringlinge trat blitzschnell zu. Laertes spürte, wie zumindest eine seiner Rippen splitterte. Der Schmerz war schier unerträglich, doch der Uskuge schaffte es, sich zur anderen Seite hin aus dem Bett zu rollen. Der Schmerz brachte ihn beinahe um den Verstand, als er am Boden auf-schlug, doch er schaffte es, mit der linken Hand das Sensenblatt, das er unter der Liege versteckt hatte, zu greifen und kam irgendwie auf die Beine. Torkelnd ließ er sich nach hinten gegen die Hüttenwand fallen. Zumindest war er nun nicht mehr unbewaffnet.

Er konnte im einfallenden Mondlicht die Gesichter der unge-schlachten Burschen erkennen. Alle drei waren hochgewachsen und breitschultrig. Absolute Schlägertypen, wie Laertes sie hier zuvor noch nie gesehen hatte. Und er erkannte noch mehr: Die spitzen Eckzähne verrieten die Vampire sofort.

Wollten sie Rache üben? Damit hatte der Uskuge rechnen müssen.Aber er wollte sein Leben so gut wie möglich verteidigen. Er ver-

fluchte die Tatsache, dass er seine angeborene Uskugen-Magie nicht zum Einsatz bringen konnte. Mit ihr wäre es ihm leicht gefallen, die drei in ihre Schranken zu verweisen. Hätte er es getan, wäre Sajol sofort zu voller Stärke erwacht.

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»Was wollt ihr hier? Verschwindet – sofort.«Ein hämisches Gelächter antwortete ihm. Einer der drei ergriff das

Wort.»So sieht also ein Jäger der Nachtkinder aus? Nicht sonderlich im-

ponierend.« Schlagartig wurde er ernst. »Du hast einen der unseren vernichtet. Kein besonders wichtiges Mitglied des Volkes, aber das spielt ja keine Rolle. Wenn es nach uns ginge, würden wir dich jetzt sofort bis auf den letzen Tropfen austrinken, Menschlein.« So hatte man Laertes bisher noch nie genannt, doch er schwieg, suchte ver-zweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit. Es gab keine. Der Vampir sprach weiter.

»Doch du hast unverschämtes Glück, Menschlein. Unser Herr will dich sehen, warum, das weiß sicher nur er selbst. Also wirst du noch ein wenig weiter leben dürfen.« Er machte mit der Hand eine kurze Geste und im gleichen Augenblick stand einer seiner Kumpane di-rekt neben Laertes. Sie waren so unglaublich schnell …

Der Uskuge hatte nicht die geringste Chance seine Waffe zum Ein-satz zu bringen, zumal ihm die gebrochene Rippe entsetzliche Schmerzen zufügte und ihn nahezu lähmte. Der Vampir schlug an-satzlos zu.

Laertes ging lautlos zu Boden.Das Erwachen war schmerzhaft. Seine Verletzung brannte wie ein

Feuersturm in ihm. Ihm war klar, dass die Rippe ein Organ beschä-digt haben konnte. Wenn man ihm nicht schnell half, dann würde er hier elend verrecken. Doch wer hätte helfen können? Den Chirurgen dieses Zeitalters hätte er sich sicher nicht freiwillig anvertrauen mö-gen. Die wenigen wirklich guten mochten in den Metropolen der Erde praktizieren … sicher nicht hier, weit vor den Toren Roms.

Laertes versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Er lag auf kahlem Boden – festgestampfter Lehm, was in dieser Zeit die Norm war. Halb aufgerichtet blickte er sich nach allen Seiten hin um. Das war kein normales Haus, eher schon eine der verlassenen Villen, die man hier und da finden konnte. Roms Oberklasse verarmte dann und wann. Was blieb, das waren die Gebäude. Riesig, prächtig ge-baut, doch im leeren Zustand einfach nur deprimierend anzusehen. Das hier mochte einmal das prunkvolle Herzstück einer solchen Vil-

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la gewesen sein. Eine weitläufige Halle, an deren Wänden in regel-mäßigen Abständen schwere Fackeln angebracht waren. Und die brannten jetzt allesamt, erzeugten ein gespenstisches Licht.

Laertes hörte bösartiges Lachen. Dann sah er sie. Es waren sicher gut vier Dutzend Menschen, die im weiten Kreis um ihn herum an den Wänden standen. Er korrigierte sich – keine Menschen, sondern Vampire. Also hatte man ihn hierher gebracht, um ihn zu opfern?

Aus einem offenen Durchgang zum nächsten Raum trat ein Mann in die Halle.

Er war nicht besonders groß, wirkte alt und gebrechlich. Auf sei-nem Kopf gab es kein einziges Haar mehr, nur noch Warzen und seltsame Wucherungen, die ihn abstoßend erscheinen ließen. Laertes schätze ihn auf gut 70 Jahre, was in dieser Zeit für einen Mann ein erstaunlich hohes Alter war. Doch seine geschmeidigen Bewegun-gen sprachen eine andere Sprache. Sie wirkten jugendlich und durchtrainiert. Seine hervorstechende Hakennase prägte sein Ge-sicht, seine Lippen wirkten wie schmale Striche. Die Augen … kalt und ohne jede Emotion.

Er trat dicht an den Uskugen heran, so dicht, dass Laertes den fau-lig stinkenden Atem riechen konnte, der ihm entgegenwehte. Als der Alte zu sprechen begann, da war das mehr ein Krächzen als eine wirklich wohl modulierte Stimme.

»Vampirtöter – du hattest Glück, dass ich gerade einen Besuch bei meinen Untertanen dieser Region abgehalten habe. Großes Glück, denn meine Leute hier hätten dich sonst sofort getötet.«

Laertes war klar, dass ihm das dennoch bevorstand. Zu verlieren hatte er nichts mehr. Hier also würde seine lange Reise enden.

»Glück?« Jedes Wort schmerzte ihn; es schien, als hätte sich seine geborstene Rippe in die Lunge gebohrt. So oder so – durch den Vampirbiss oder durch die Verletzung an sich – er würde sterben. »Glück für diese Welt wäre es, wenn man euch allesamt ausrotten würde. Doch das zu erleben ist mir sicher nicht mehr vergönnt.«

Der Alte grinste. »So ist es, denn das Nachtvolk wird niemals ver-gehen. Nicht, solange ich über meine Brüder und Schwestern herr-sche. Aber noch ist es nicht soweit. Noch sind wir nicht alle vereint, noch gibt es Machtkämpfe um den Thron. Es ist aber nur eine Frage

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der Zeit, bis sich unter meiner Herrschaft alle Sippen der Erde und der Hölle selbst vereinen.« Er blickte lange schweigsam auf Laertes, der nicht mehr fähig war, eine Antwort zu geben.

Den Uskugen beschäftigte nur noch die eine Frage – wie würde Sajol im Augenblick des Todes reagieren? Schließlich war es ja sein Körper, der hier sterben musste. Würde die unheimliche Macht von Laertes' Sohn zum Ausbruch gelangen. Das konnte dann – selbst wenn Sajol es nicht überleben würde – das Ende dieses Planeten be-deuten.

»Irgendetwas ist an dir … ich kann es nicht ergründen, doch du hebst dich von den anderen Wesen dieser Welt deutlich ab. Da ist Kraft in dir, Kraft und Wissen. Wer oder was bist du wirklich?«

Laertes röchelte, hustete qualvoll. Ein dünner Blutfaden lief aus seinem Mundwinkel. Es ging zu Ende mit ihm. Der alte Mann rich-tete sich wieder auf.

»Nein, du sollst nicht sterben. Mit dir habe ich großes vor. Einen wie dich kann ich an meiner Seite brauchen, wenn ich meinen Weg zur absoluten Herrschaft beschreite.« Er wandte sich zu den Vampi-ren, die sich alle hinter ihm versammelt hatten; sie saugten regel-recht die Worte von seinen Lippen.

»Seht zu, wie es geschieht – er soll einer von uns werden, einer, der mit mir meine glorreiche Zukunft teilen wird. Seht, was euer Herr erschaffen wird!«

Er wandte sich wieder dem Uskugen zu. »Nun sieh deinen Herrn in seiner wirklichen Gestalt an.«

Laertes' Augen weiteten sich. Der alte Mann schien zu wachsen, seine Haut platzte auf, machte einer schwarzen Schwarte Platz, die runzelig und mit einzelnen Haarbüscheln versehen war.

Dann breiteten sich plötzlich zwei weite Schwingen auf seinem Le-derrücken aus, die speckig glänzten. Der Kopf deformierte sich, wurde breiter, länger … bis er dem eines unendlich hässlichen Tie-res ähnlich war. Zwei spitze Zähne ragten aus dem sabbernden Maul heraus – und das näherte sich Dalius nun.

Er wollte schreien, doch da kam kein Ton aus seinem Mund, nur ein weiterer Schwall hellroten Blutes. Als die Zähne seinen Hals be-rührten, hoffte er, dass seine Verletzung ihn rasch töten möge, ehe

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er das Opfer dieses Königs der Blutsauger werden würde.Doch die Hoffnung fiel in sich zusammen, als er die Zähne in sei-

nen Hals schlagen fühlte.Dalius Laertes fiel in ein Meer aus Blut und Angst, tauchte ein, bis

der rote Saft über seinem Kopf zusammenschlug. Sein Verstand setzte aus … grausame Phantasien schlichen sich in sein Gehirn, Vi-sionen von Mord, von Krieg und Gemetzel.

Er fiel tiefer in dieses entsetzliche Meer hinein – und wusste plötz-lich, dass es unter ihm enden würde. Er musste es nur geschehen lassen. Dann war es vorbei. Er fiel aus dem roten Traum in die Reali-tät zurück. Doch war die wirklich besser zu ertragen?

Laertes schnappte nach Luft, wie ein Fisch an Land. Er drohte zu ersticken, doch dann strömte ein warmes Gefühl durch seinen Kör-per und beendete die Qual. Hechelnd wie ein Hund versuchte er wieder Normalität in seine Atemwege zu bringen. Es gelang ihm. Erstaunt registrierte er, dass die stechenden Schmerzen in seiner Brust abebbten, bis sie vollkommen verschwunden waren. Wie war das nur möglich? Mit einer Hand tastete er über seine Rippen. Kein Schmerz … nicht einmal im Ansatz.

»Vampire haben erstaunliche selbstheilende Kräfte.«Laertes zuckte zusammen. Er war nicht alleine. Die Versammlung

der Vampire hatte sich aufgelöst, doch der Alte saß im Schneidersitz keine fünf Schritte von ihm entfernt. Er hatte wieder seine alte Ge-stalt angenommen.

»Was hast du mit mir gemacht?« Laertes wunderte sich, wie pro-blemlos er wieder sprechen konnte. Es war, als hätte es die gebro-chene Rippe und seine verwundete Lunge nie gegeben.

»Ich habe dich infiziert, könnte man sagen. Ich habe den Keim in dich versenkt, den Keim, der dich nun zu einem von uns macht. Du bist jetzt ein … wie hast du es genannt? … ein Blutsauger. Ich bin si-cher, du wirst es in unserem Volk weit bringen, denn ich spüre in dir ein Potential, das höher kaum sein könnte. Du wirst dicht an meiner Seite kämpfen und das Vampirdasein lieben lernen.«

Dalius Laertes fand keine Worte, die seine Bestürzung über diese Worte ausdrücken konnten. Es konnte nicht sein, was der Alte ge-sagt hatte. Es durfte ganz einfach nicht die Wahrheit sein.

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»Wer bist du?« Mehr brachte Laertes nicht heraus.Der alte Mann erhob sich mit einer spielerischen Leichtigkeit vom

Boden.»Weißt du es noch immer nicht? Nein, du bist ahnungslos. Ich bin

dein Herr, der Herr aller Vampire. Ich bin der Vampirdämon Sarka-na. Und nun verlasse ich dich. Lerne, wie wundervoll deine neue Existenz sein kann. Du musst sie nur richtig genießen.«

Er verschwand einfach so, löste sich in Luft auf.Laertes war alleine. Tief horchte er in sich hinein. Sajol war inak-

tiv, es schien, als hätte er von all dem nichts mitbekommen. Laertes stand vom Boden auf. Er spürte keine Veränderung an sich. War das alles nur eine Lüge gewesen? Ein unglaublicher Albtraum? Langsa-men Schrittes verließ er die Villa, die nun wieder von ihrer glänzen-den Vergangenheit träumen durfte – ungestört und ganz mit sich al-leine.

Draußen orientierte sich Dalius. Es war nicht sonderlich weit bis zu der Ansiedlung, in der er lebte. Als er auf den Platz vor seiner Hütte kam, da spürte er einen brennenden Durst in sich, den er so an sich überhaupt nicht kannte. Mitten auf dem Platz stand der Brunnen, der stets frisches Trinkwasser lieferte. Dalius ging auf ihn zu, drehte an der hölzernen Kurbel, mit dem der gefüllte Wasserei-mer zu Tage gefördert wurde … und ließ die Kurbel auf halbem Weg wieder los. Der Eimer fiel in den Brunnen zurück. Wasser wür-de seinen Durst nicht mehr löschen. Nie mehr.

Dalius Laertes stieß sich vom Brunnenrand ab und drang mit ro-her Gewalt in das Haus ein, das direkt neben seiner Hütte lag. Er töte das Ehepaar, das darin wohnte, tötete ihre drei Kinder … und schlug seine Zähne in ihre Hälse. Er besoff sich, bis er weinend und zitternd neben den Leichen zusammenbrach. Entsetzt und verzwei-felt war er, aber der nie versiegende Durst war erst einmal gestillt. Für einen gewissen Zeitraum nur.

Noch in der selben Stunde verließ er die Ansiedlung für immer …

Dann hast du wirklich Karriere im Volk der Vampire gemacht, nicht wahr?

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Laertes schwieg. Die letzte Erinnerung war die, die er wirklich für alle Zeiten hatte in sich verschließen wollen. Nun war sie mit Macht nach oben gespült worden. Der Uskuge war erschüttert, wie stark sie ihn aufgewühlt hatte.

»Wer bist du, dass du dies alles mit mir teilen willst, es provo-zierst?«

Ich lerne mit deinen Erinnerungen. Du wurdest damals zu einem geleh-rigen Schüler deines Herrn. Er gab dir Verantwortung, ließ dich planen, studieren, experimentieren. Er schätzte dich sehr. Doch du hattest ganz andere Ideen im Kopf. Du wolltest erreichen, dass Vampire und Menschen eine Allianz bilden – ein Bündnis, das beiden Seiten Vorteile bringen wür-de. So hast du gedacht. Und du hast ihn verraten, deinen Herrn.

Verraten? Dalius hatte unendliche Kämpfe mit sich ausgestanden, denn er hatte irgendwann beschlossen, auf keinen Fall mehr menschliches Blut zu sich zu nehmen. Es war ihm gelungen. Doch wie konnte er diese Überwindung von den anderen Vampiren ver-langen? Er hatte geforscht, um einen Ersatz zu finden. Es war ihm nicht gelungen, doch er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Verraten … ja, er hatte Sarkana den Kampf angesagt, hatte sich Pro-fessor Zamorra und dessen Team angeschlossen. Lange hatte es ge-dauert, bis man ihn dort akzeptiert hatte, doch dann war der Tag ge-kommen, an dem Zamorra unter Mithilfe des Physikers und Tüftlers Artimus van Zant die ultimative Falle für den Vampirdämon er-schaffen hatte. Der selbsternannte König der Vampire hatte nicht entkommen können.

In Dalius Laertes keimte in dieser Sekunde ein schrecklicher Ver-dacht.

Im Grunde war es unmöglich, doch nun wusste er, wer ihn hier gefangen hielt, wer ihm seine Erinnerungen abzwang.

»Du? Bist du es wirklich? Das kann doch nicht sein!«Die Stimme antwortete sofort.Nein? Aber vielleicht bist du der Wahrheit ja schon sehr nahe gekommen

Jylge erholte sich von dem Schock schneller als Ketlin, die mit der

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Erscheinung des alten Mannes nicht klar kam. Er war so deutlich da gewesen – und doch wieder nicht. Das war Zauberei, keine Frage. Ketlin fürchtete sich nicht vor den wildesten und größten Tieren, doch das hier war einfach zu viel für sie.

Jylge fasste sie bei den Schultern. »Wir müssen hier verschwinden. Hier können wir nichts ausrichten, aber draußen, da können wir zu-mindest versuchen die Nachricht unter das Volk zu bringen. Die Menschen müssen wissen, was das hier alles in Wahrheit ist. Viel-leicht raffen sie sich dann zum Widerstand auf.« Irgendwie glaubte er seinen eigenen Worten nicht so ganz, aber eine Hoffnung brauch-te auch er … wenn sie auch nur ganz klein und weit hergeholt war. Er wollte nicht so lange ein Gefangener dieses seltsamen Kastens hier gewesen sein, um so wie alle anderen weiter zu machen. Sein Volk benahm sich wie eine Herde Opfertiere, die blökend und jam-mernd alles hinnahmen.

Ketlin nickte. »Du hast Recht. Ich will hier weg, ganz schnell. Das alles ist so fremd, so unheimlich. Lass uns den Rückweg antreten. Wir müssen nur die gleiche Strecke zurück, dann kommen wir auch wieder ins Freie.«

Also verließen sie den unheimlichen Raum mit all seinen blinken-den und glitzernden Lichtern. Ketlin übernahm erneut die Führung, denn sie vergaß einen einmal zurückgelegten Weg niemals; das war etwas, das ein Jäger perfekt beherrschen musste, denn es konnte über Leben und Tod entscheiden.

So sehr es sie auch nach draußen drängte, so vorsichtig blieb sie dennoch. Doch alle Vorsicht half nichts, denn plötzlich standen acht der Silbernen vor ihnen. Es sah ganz danach aus, als hätten sie den beiden Menschen hier aufgelauert. Jylge zog Ketlin zurück. Die Sil-bernen machten keine Anstalten, die beiden anzugreifen.

»Wir können sie überrumpeln. Wir müssen nur schnell sein. Sie bewegen sich um einiges langsamer, als wir das tun. Also los – du links und ich rechts.« Ketlin verstand und sprintete los. Sie lief im Zick-Zack und bremste nicht, als sie die Silbernen erreicht hatte. Ge-schickt schlängelte sie sich durch die Reihen hindurch. Arme wur-den nach ihr ausgestreckt, doch sie wand sich an ihnen vorbei.

Jylge erging es nicht so gut, weil er kaum über die Geschmeidig-

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keit der Jägerin verfügte, aber er setzte seinen Körper wie eine Ram-me ein. Zwei der Fremden gingen zu Boden, doch dann zückte einer der Übriggebliebenen ein Ding, das Jylge als Waffe einstufte. Und der Silberne drückte ab. Jylge ließ sich zu Boden fallen – und der Blitz, der aus der Waffe austrat, zuckte haarscharf über seinen Kopf hinweg.

Jylge rappelte sich auf und jagte hinter Ketlin her, die bereits eini-ge Schritte vor ihm her lief. Warum schickt der keinen zweiten Blitz? Waren die Fremden wirklich so langsam? Jylge hatte einen anderen Eindruck. Ihm kam es so vor, als hätte er Kinder vor sich, die zwar taten was man ihnen sagte, dies jedoch nur so gut oder schlecht wie es eben kam. Motiviert erschienen sie nun wirklich nicht. Vielleicht hatte er ihnen ja Unrecht getan, als er sie für die Bösen im Spiel ge-halten hatte.

Vielleicht waren sie ja auch nur Opfer, wie die Bewohner dieser Welt? Wer aber lenkte das alles hier? Wer war der, der die Befehle gab?

Jylge hatte eine Ahnung, doch das war im Augenblick zweitran-gig. Zunächst einmal mussten er und die Füchsin diese unheimliche Stätte verlassen. Er sah, wie Ketlin auf die Stelle zustürmte, an der sie in den Block eingedrungen waren. Ein Schrei kam aus ihrem Mund, als sie ohne jede Vorwarnung von einer unsichtbaren Faust gestoppt wurde. Jylge versuchte noch die Richtung zu wechseln, der Falle zu entgehen, doch der Schwung seines Laufes trug ihn zu weit nach vorne. Auch er wurde brutal abgebremst.

Zunächst dachte Jylge an das seltsame Feld, das in der Höhle die Gefangenen vom Außengitter fern gehalten hatte, doch das hier war anders. Es war brutaler und … es schien zu leben, ja, zu leben! So wie eine Kinderfaust eine Puppe umklammerte, so fühlte er sich von einer Titanenfaust gepackt und gedrückt.

Und dann – wie zur Bestätigung seiner Gedanken – kam die Stim-me scheinbar aus dem Nichts heraus direkt in seinen und Ketlins Kopf.

Nein, ihr bleibt hier. Ihr seht kräftig aus, viel geschickter und angriffslus-tiger als die Silbernen. Die sind nur träge und ohne jeden eigenen Antrieb. Ihr bleibt hier bei mir. Vielleicht werde ich euch noch gut für meine Zwecke

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benutzen können Jylge hätte sich nur zu gerne zur Wehr gesetzt, doch dazu ließ die Faust ihm keine Chance. Ketlin schrie noch immer. Nur einmal hatte sie sich in ihrem Leben so ausgeliefert und hilflos gefühlt. Das war an dem Tag gewesen, an dem sie die schrecklich entstellte Leiche ihres Mannes dem Block entrissen hatte. Nun hatte das Monstrum auch sie in seiner Hand und konnte sie zerstören, sie quälen und töten, ganz wie es ihm beliebte.

Jylge glaubte ein meckerndes Lachen zu vernehmen. Ihrem Peini-ger gefiel diese Situation offenbar sehr. Dann wurden die beiden langsam, aber unwiderstehlich, zur Außenwand gedrückt, bis sie an ihr klebten, wie zwei tote Falter, die ein Sammler hier aufgespießt hatte.

Die Umklammerung verschwand, doch so sehr Jylge es auch ver-suchte – er konnte sich keinen Millimeter bewegen. Er hörte Ketlins leises Weinen; die Füchsin war am Rande ihrer Kraft angelangt. Sie ergab sich in ihr Schicksal.

Und Jylge wurde klar, dass er noch immer ein Gefangener der un-heimlichen Kraft war, die hier alles beherrschte, die eine ganze Welt unter ihrer Knute hielt.

Er schloss die Augen und versuchte sein Bewusstsein vor dem Wahnsinn der Situation zu schützen. Doch das war eine Aufgabe, an der er auf Dauer scheitern musste.

Gila hielt Zamorra zurück, als sie sich langsam dem Block näherten, dem Klotz, der auf diese Welt gefallen war. Dem Anfang allen Übels, der den größten Teil der Bevölkerung in einen Zustand des Dämmerns geschickt hatte. Sie alle lebten, sicherlich, doch jede An-strengung des Geistes, die über das reine Dahinsiechen hinaus ging, war gestorben, existierte nicht mehr. Ein paar wenige von ihnen ka-men damit besser zurecht als die große Masse. Doch sie allein konn-ten diese Welt nicht wieder auf den Stand bringen, die sie einst ge-habt hatte.

Gila zählte zu der Minderheit, die den lähmenden Impuls nicht oder nur in geringem Maße spürten.

»Wir müssen jetzt noch vorsichtiger sein. Ich bin sicher, der Block

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kann uns spüren.«Zamorra war von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt. Er

war mental geschützt, und doch konnte er die Präsenz einer un-glaublich starken Macht fühlen, die sich hier wie ein Mantel über al-les legte, die auch nach ihm greifen wollte. Es gelang ihr nicht. Er blickte zu Gila, doch deren Verhalten blieb stabil. Aus irgendeinem Grund blieb sie von der Beeinflussung verschont. Es konnte durch-aus sein, dass dies eine Auswirkung der Folter war, die sie so lange hatte ertragen müssen – es gab auf der Erde durchaus Beispiele da-für.

Wer sich physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sah, und das über einen langen Zeitraum hinweg, der suchte als letzte Chan-ce, das zu überleben, den Weg in sich hinein, tief in seine Psyche. Es war nur eine Theorie des Parapsychologen, aber sie mochte durch-aus nicht abwegig sein. Gila ließ einfach nichts und niemanden mehr an sich heran, selbst die Macht des Brockens nicht.

Die makabere Prozession, die der Professor und die Sängerin seit geraumer Zeit verfolgten, näherte sich also ihrem Ziel. Und dann, direkt hinter einem kleinen Hügel, den sie hinter sich brachten, sah Zamorra ihn:

Den Brocken – den Block – er hatte viele Namen bei den Bewohnern dieses Planeten.

Sie alle waren passend und doch falsch. Doch wie hätten die Men-schen hier das auch wissen können? Sie wussten nichts von den Völ-kern, die durch das All reisten. Denn Zamorras Theorie wurde nun schlagartig zur Gewissheit. Er blickte auf ein Raumschiff, auf ein enorm großes sogar, das den Namen Brocken durchaus verdient hat-te.

Sicher war seine ursprüngliche Farbe einmal ein mattes Silber ge-wesen, was man an verschiedenen Stellen der Außenhaut durchaus noch erkennen konnte. Das allerdings war nicht der dominierende Teil der Wandung. Überall waren großflächige Stellen, die ge-schwärzt waren. Kollisionen mit Meteoriten? Wahrscheinlich war dem so.

Kaum eine Stelle allerdings, die nicht mit kleinen oder auch größe-ren Dellen versehen war. Das Schiff war offenbar durch Schwärme

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kleinerer Meteore schwer in Mitleidenschaft genommen worden. Al-lerdings schien das Material der Außenhülle unglaublich stabil zu sein, denn Durchschläge konnte Zamorra nirgendwo entdecken.

Natürlich überkam ihn ein Déjà-vu-Effekt, denn er erkannte sofort den Schiffstyp, den er hier nicht zum ersten Mal vor sich sah. Mehr noch – er war schon einmal an Bord eines solchen Raumers gewe-sen. Ob es sich hier aber um dasselbe Schiff handelte? Es war eigent-lich unmöglich.

Als Zamorra seine Position wechselte, um mehr von dem Raumer sehen zu können, da zweifelte er jedoch an dem Wort unmöglich, denn die rechte Seite des Brockens war beschädigt – es klaffte ein riesiges Loch in der Seitenwand. Das allerdings hatte er nun defini-tiv so schon einmal gesehen. Spekulationen brachten ihn nicht wei-ter. Er musste sich Gewissheit verschaffen, doch das ging nur, wenn er nahe genug an das Schiff herankam, besser noch in den Raumer hineinkommen konnte.

Claws, der Silberne und die 20 Männer machten direkt vor der Außenhülle Halt. Gila raunte Zamorra zu. »Da ist keine Öffnung, keine Tür. Was werden sie nun tun?«

Zamorra hob die Schultern. »Warten wir es ab.«Nur Sekunden später hätte Gila beinahe laut aufgeschrien, doch

sie beherrschte sich im letzten Moment. Der Silberne trieb die Män-ner durch die Wandung hindurch! Für Gilas Weltverständnis war das ein Wunder. Sie war verblüfft, dass Zamorra keinerlei Überraschung zeigte. Kannte er dies alles schon? Gila fragte ihn nicht, denn sie hat-te Angst vor seiner Antwort.

Die kleine Karawane war verschwunden – nur Claws hatte drau-ßen bleiben müssen. Er wartete auf seine Bezahlung. Wahrscheinlich wäre er auch freiwillig niemals dort hinein gegangen. Er war ein Sklavenhändler, vielleicht auch ein skrupelloser Mörder, doch er war natürlich ein Kind dieser Welt – auch ihn lähmte der nieder-drückende Einfluss, den selbst Zamorra trotz seines Schutzes spürte. Claws besaß kriminelle Energie, doch das war auch schon alles, was er aufzuweisen hatte. Jetzt stand er da wie eine Marionette, deren Puppenspieler gegangen war.

Zamorra fasste einen Entschluss. Er war sicher, dass der Silberne

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noch einmal das Schiff verlassen würde, denn Claws würde nicht gehen, ohne seinen Schandlohn erhalten zu haben. Der Professor musste es schaffen, mit dem Wesen aus dem Schiff in Kontakt zu treten.

Etwas an dem Silbernen sagte Zamorra, dass der dazu bereit sein würde. Es war die Art, wie er sich fortbewegte. Er hatte das linke Bein ein wenig nachgezogen. Ein zusätzliches Déjà-vu, das Zamorra allerdings in große Verwirrung brachte.

Als Gila und er sich dem Schiff näherten, konnte Zamorra nun De-tails erkennen. Ein sehr großer Teil der Außenhülle war mit einer dunklen Schicht überzogen, die dort ganz sicher nicht hingehörte. Zamorra hatte dafür keine Erklärung, doch mit Grauen sah er nun, was am unteren Teil dieser Schmierschicht hing.

Drei menschliche Körper klebten daran, mit den Gesichtern zur Schiffshülle gewandt. Drei Männer – keiner von ihnen schien noch zu leben. Wie auch? Wahrscheinlich waren sie dort elendig erstickt. Doch Zamorra wurde da eines Besseren belehrt. Auf grausige Art und Weise. Am Boden unter den drei Elenden lag eine Leiche, die offenbar das gleiche Schicksal wie die drei erlitten hatte. Zamorra war entsetzt – die komplette Vorderseite des Toten war … offen. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Die Haut war abgeschält … selbst für den Meister des Übersinnlichen war das ein Anblick, den er nur mühsam ertragen konnte. Kein einziger Blutstropfen war in dem Leichnam.

Zamorra blickte voller Abscheu nach oben. So also waren sicher auch diese drei ums Leben gebracht worden. Und ganz sicher schon viele andere Opfer davor. Das passte allerdings überhaupt nicht zu dem, was der Professor hinter dem Schiff und seinen Insassen ver-mutete. Er blickte zu Gila, deren Gesicht aschfahl geworden war. Sie hatte unter der Folter schreckliche Dinge erleben und sicher auch bei anderen mit ansehen müssen, doch das hier war zu viel für die jun-ge Frau.

Rasch setzten die beiden ihren Weg fort, immer nach jeder mögli-chen Deckung suchend, kamen sie der Stelle nahe, an der Claws wartete. Wachen waren glücklicherweise nirgendwo zu sehen. Die beiden konnten nicht ahnen, dass ein Teil der Silbernen sich noch

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immer auf der Menschenjagd befanden. So blieben Zamorra und Gila unbemerkt.

Zamorra duckte sich, als unvermittelt die Öffnung zum Schiffsin-neren erneut entstand. Seine Vermutung war richtig gewesen, denn der Silberne brachte Claws den Blutlohn. Zamorra erkannte Bautei-le, Stücke von Verstrebungen, Metallstangen und ähnliche Werk-stücke, deren Anblick Claws Gesicht erstrahlen ließ.

Schrott … die Silbernen bezahlten ihn mit Schrott aus ihrem Schiff. Doch das schien exakt das zu sein, was der Menschenhändler woll-te. Zamorra konnte das Gewicht all dieser Dinge nicht abschätzen, doch es war offensichtlich viel zu hoch, als dass Claws es selbst in seinen Unterschlupf bringen konnte. Der Silberne hatte das bedacht – der Lohn ruhte auf einer Schwebeplatte, wie sie Zamorra ganz ähn-lich schon im Spider und bei den EWIGEN gesehen hatte.

Das konnte nur bedeuten, dass der Silberne Claws begleiten muss-te, denn die Plattform würde er ihm sicher nicht überlassen wollen. Genau so geschah es nur Augenblicke später. Zamorra sah, wie der Silberne die Öffnung zum Schiff wieder verschloss. Er merkte sich den Vorgang genau. Doch dann geriet er in einen Zwiespalt. Er war sicher, dass er Dalius Laertes dort finden würde. Und es war ihm klar, dass der Uskuge sich ganz sicher in keiner positiven Lage be-fand. Dennoch glaubte er, dass der Vampir sich seiner Haut sehr gut zu wehren wusste.

Zamorra entschloss sich zu der zweiten Variante, die sich ihm bot. Er musste Kontakt mit dem Silbernen aufnehmen, der nun neben Claws einher lief und sein linkes Bein nachzog. Er lenkte die Platt-form in Richtung der merkwürdigen Lokomotive nebst deren Wag-ons. Also folgte Zamorra dem seltsamen Paar. Gila musste er nicht erst fragen, denn die schöne Musikantin hatte noch eine alte Rech-nung mit Claws offen, die sie zu begleichen beabsichtigte.

Zamorra und Gila beobachteten aus sicherer Entfernung, was vor dem Eisenbahnungetüm geschah. Claws hatte seine Schläger fortge-schickt. Wo er seine Beute versteckte, das ging die beiden offensicht-lich nichts an. Die beiden breitschultrigen Männer gingen in Rich-

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tung der nächsten Ansiedlung, wo sie ihre freie Zeit wohl genießen wollten. Zamorra taten die Leute dort jetzt schon leid.

Claws verstaute die Beute im unteren Teil der Lok, hinter einer Abdeckung, die ein gutes Versteck bot.

Dann wandte der Silberne sich zum Gehen. Die zwei hatten sich nun offenbar nichts mehr zu sagen. Das Geschäft war abgeschlos-sen.

Zamorra wartete, bis der Silberne an ihnen vorbei war, dann woll-te er sich an seine Verfolgung machen und ihn irgendwo zwischen hier und dem Schiff stoppen. Gila hielt ihn zurück.

»Hier trennen sich unsere Wege, Zamorra.« Sie wies in Richtung des Zuges, der wie ein riesiger Anachronismus in der Landschaft wirkte. »Mein Weg führt mich dort hin. Du weißt, was ich zu tun habe.«

»Rache bringt keine Befreiung von den düsteren Gedanken, die dich beherrschen.« Zamorra war klar, wie seine Worte auf Gila wir-ken würden – nämlich in keinster Weise. Aber er wollte es zumin-dest versuchen. »Überleg es dir noch einmal. Komm mit mir. Ich kann deine Hilfe brauchen, denn ich habe vor, dem Spuk hier ein Ende zu bereiten.«

Gila legte eine Hand auf Zamorras Wange. »Du brauchst mich nicht. Ich bin sicher, du weißt über den Block viel mehr, als wir alle auf dieser Welt. Wenn du uns von ihm befreien kannst, dann tu das. Aber ich muss eine andere Richtung einschlagen. Vielleicht komme ich ja nach, wenn ich Claws getötet habe.«

Die beiden verabschiedeten sich mit einer langen Umarmung. Dann trennten sie sich. Ein Kribbeln in Zamorras Magengrube ver-riet ihm zweierlei: Diese Frau hätte auf Dauer seine eisernen Vorsät-ze in Sachen Treue wie Sand zerbröseln lassen. Das war die erste Er-kenntnis, die ihm kam. Die zweite lautete: Er würde Gila nie mehr wieder sehen … denn sie lief in ihren Tod. Der Professor war sicher, dass sie das genau wusste.

Und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können, denn sie wollte seine Hilfe nicht.

Langsam nahm er Verfolgung des Silbernen auf.

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Claws drehte das glänzende Teil hin und her. Was es wohl für einen Zweck gehabt haben mochte? Er war vernarrt in die Technik, die aus dem Block kam. Je mehr er davon besaß, je mächtiger fühlte er sich, denn er verfügte über Dinge, die man nur mit Zauberei in Ver-bindung setzen konnte. Vielleicht würde ja etwas von dieser Magie, von diesem Unbekannten, auf ihn übergehen. Er glaubte daran. Was andere sagten, das interessierte ihn nicht.

Er hatte seinen Weg im Leben mit Raub und Mord, mit Menschen-jagd und Sklavenhandel gesucht. Oft war es ihm dabei schlecht er-gangen, doch letztendlich konnte er sich nicht beklagen. Er handelte mit den Silbernen – und wenn er dafür auch sein eigenes Volk ver-riet, so ging das in seinen Augen in Ordnung.

Claws legte das Teil beiseite, fischte sich ein weiteres Beutestück hervor. Eine Stange, die sich leicht biegen ließ. Unter ihrer silbernen Haut konnte Claws an den offenen Enden unzählige Stränge erken-nen. Er schlug damit in seine offene Handfläche. Wunderbar! Das war der perfekte Totschläger, glitzernd und schön, jedoch sicher tödlich in seiner Wirkung. Er würde ihn unter sein Kopfkissen le-gen, denn schließlich traute er niemandem auf dieser Welt – am we-nigsten seinen eigenen Leuten.

»Hast du Spaß an deinem blutigen Lohn?«Claws zuckte zusammen und sprang hoch. In der offenen Tür

stand eine Frau. Eine wunderschöne Frau sogar, doch wie sie auch aussah – hier hatte sie nichts zu suchen. Das machte er ihr mit har-scher Stimme klar. »Verschwinde, Weib. Ich habe nach keiner Hure gerufen, also geh, sonst prügele ich dich von hier fort.«

»Du hältst mich für eine Hure? Aber ich bin nicht gekommen, um dir zu Diensten zu sein – eher würde ich es mit einem Gro'on treiben als mit dir. Ich bin aus einem anderen Grund hier.«

Claws drohte ihr mit dem Schlagstock, den er noch immer in der Hand hielt. »Nenne ihn und dann verschwinde von hier.«

Gila ließ sich von Drohungen nicht beeindrucken. Sie blieb ruhig und entspannt in der Tür stehen; zumindest war das der äußere Ein-druck. In ihr tobte ein Sturm aus purem Hass. Doch noch beherrsch-te sie sich. Claws sollte wissen, warum er dem Tod gegenüberstand.

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»Erinnerst du dich an ein Haus, in das du eingedrungen bist? Ein Haus, in dem du Feuer gelegt hast?«

Claws grinste die Frau an. War sie verrückt? »Ich bin in mehr Häuser eingestiegen, als du je besucht hast. Und das eine oder ande-re Feuer mag es dabei auch gegeben haben. Wie soll ich mich da an ein bestimmtes erinnern? Also – werde deutlicher oder geh.«

Gila spürte wie die Wut ihr die Tränen in die Augen treiben woll-te, doch sie kämpfte dagegen an. »Gut, vielleicht entsinnst du dich ja zweier alter Leute, die geschrien haben, als die Flammen in ihr Zim-mer drangen. Und vielleicht hörst du ja noch manchmal im Traum, wie sie verzweifelt gegen die Tür geschlagen haben, die du ver-sperrt hattest. Ein wenig davon wird sicher noch in deinem schwar-zen Hirn vorhanden sein, oder?«

Claws trat hinter dem Tisch hervor, baute sich zu seiner vollen Größe und zu seinem mächtigen Leibumfang auf. »Ja, vielleicht er-innere ich mich ein wenig daran. Und nun? War es das, was du wis-sen wolltest? Dann bist du ja jetzt fertig und kannst diesen Ort ver-lassen, an den dich niemand gerufen hat. Wenn nicht, dann werde ich dir gerne dabei behilflich sein, Hure.« Das letzte Wort spuckte er ihr entgegen. Es war genau ein Wort zuviel.

Gila machte einen Schritt auf ihn zu. »Dann sollst du nun wissen, dass die beiden meine Eltern waren. Das lässt dich sicher besser ver-stehen, warum hier und jetzt dein Leben enden wird.«

Sie sah, wie der Mörder ihrer Eltern etwas sagen wollte, doch dazu ließ sie es nicht mehr kommen. Sie hatte genug gehört. Claws hatte nicht einmal ansatzweise gesehen, woher der Dolch kam, der nun in der rechten Hand der Frau lag. Ehe er reagieren konnte, machte sie einen Satz nach vorne auf ihn zu. Die Klinge senkte sich glatt in sei-nen Bauch hinein. Mit offenem Mund stand er da und starrte die Frau an, die mit einem Sprung aus seiner Reichweite zu fliehen ver-suchte. Versuchte … denn das Vorhaben schlug fehl. So schwer der übergewichtige Kerl auch verwundet sein mochte, so überraschend schnell konnte er sich nach wie vor bewegen. Anscheinend hatte die Dolchklinge keine wichtigen Organe getroffen. Die Wunde blutete zwar heftig, aber sie lähmte Claws nicht.

Und dann schlug er mit dem Totschläger zu, den er als Lohn für

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20 Männer erhalten hatte.Er wollte ihr den Schädel einschlagen, doch die schmerzende

Bauchwunde beeinträchtige seine übliche Zielgenauigkeit ein we-nig. Gila sah den Knüppel auf sich zukommen, doch ein Auswei-chen war unmöglich. Der Schlag traf ihre linke Gesichtshälfte – er riss ihr Ohr und Auge weg, die komplette Wange und den Kiefer-knochen. Gila ging ohne einen Laut zu Boden. Das war ihr Ende und die unvollendete Rache … sie hatte versagt.

Ein kräftiger Tritt traf ihre Brust, der sie auf den Rücken rollen ließ. Claws stand breitbeinig über ihr. »Das hast du dir so nicht vor-gestellt, nicht wahr? Verrecken sollst du, dreckige Hure.« Er ergötz-te sich an ihrem Leid, an dem, was sein Totschläger aus ihrem Ge-sicht gemacht hatte. Mit der linken Hand presste er die Bauchwunde zusammen. Das würde er überleben, keine Frage.

Er sah nicht, wie Gila die letzte Aktion in ihrem Leben ansetzte. Ihr Arm schoss in die Höhe, der Arm, dessen Hand noch immer den Dolch fest umklammert hielt. Claws zuckte zurück, doch da war es zu spät für ihn.

Er taumelte rückwärts und fiel hin.In seinem linken Auge steckte Gilas Dolch …Stunden später kamen seine Leibwächter zum Zug zurück. Sie

fanden zwei grässlich zugerichtete Leichen.Hastig rafften sie alles zusammen, was sie als wertvoll erachteten.Dann flohen sie von diesem Ort. Für alle Zeiten!

Auf halbem Weg zwischen dem Zug und dem Raumschiff ging Za-morra volles Risiko.

Keine fünf Schritte hinter dem Silbernen verließ er seine Deckung seitlich der Straße und sprach ihn an. Merlins Stern war nach wie vor inaktiv – was nicht bedeuten musste, dass schwarze Magie hier nicht im Spiel war. Vorhin, direkt beim Schiff, hatte der Professor gefühlt, wie die Silberscheibe rege werden wollte, doch dort hatte der Parapsychologe dies unterdrückt. Schließlich wollte er dort nicht entdeckt werden.

Zamorra rief den Silbernen an.

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»Hobbler?« Nur dieses eine Wort, den einen Namen. Er glaubt ja selbst nicht daran, hier den zu treffen, den er in dem Silbernen zu er-kennen glaubte. Einen Versuch war es wert.

Der Angesprochene blieb wie erstarrt stehen. Nur langsam drehte er sich um. »Zamorra? Professor Zamorra?«

Völlig ungläubig gingen die beiden so unterschiedlichen Wesen langsam aufeinander zu. Die Begrüßung fiel herzlich aus. Beiden stand die gleiche Frage in den Augen – wie kommst du hierher?

Zamorra hatte sofort erkannt, um welchen Raumschifftyp es sich bei dem Brocken handelte. Er war eine der sogenannten Silberwelten. Es war nicht so sehr lange her – vielleicht zweieinhalb Jahre oder ein wenig mehr – da hatte Robert Tendyke ihn zu sich gebeten. Bei ei-nem Testflug hatte die Spider-Besatzung Fotos von All geschossen, die von unglaublicher Qualität waren. Auf einem dieser Bilder war etwas zu sehen, was da wohl nicht hingehörte – ein silbernes Objekt von enormen Abmessungen.

Mit dem Meegh-Raumer waren Zamorra, Doktor Artimus van Zant, sowie Nicole Duval und die Kombination Kobylanski und Va-neiden der Spur dieses Objektes gefolgt. Sie hatten etwas gefunden, mit dem so wohl niemand gerechnet hatte. Ein Raumschiff, das an-triebslos durch das All glitt, dessen rechte Außenseite ein gewaltiges Loch zeigte, das durch rohe Gewalt entstanden sein musste. Das Team landete den Spider in der leeren Halle, die dahinter lag. Offen-sichtlich waren sie in einer Lagerhalle, deren Ausmaße die jeder Ka-thedrale bei weitem übertrafen.

Als sie in das Schiff eindrangen, da trafen sie auf ein Volk, das ih-nen eine unglaubliche Geschichte erzählte. Sie nannten sich die Carr'ier – und das Silberschiff war ihre Welt. Eine andere hatten sie nie kennengelernt. Über viele Generationen hinweg hatten sie die Existenz von Planeten, von einem Himmel, einer wärmenden Sonne ganz einfach vergessen. Ihre Welt war die Welt ohne Himmel.(siehe PZ-Heft 838: »Welt ohne Himmel«)

Zamorra hatte den jungen Gangläufer Hobbler getroffen, dessen linkes Bein verkrüppelt war – dennoch war er der beste Gangläufer seiner Welt, hatte alle Ebenen und Gänge erforscht. Als er den alten Wodlog traf, hatte sich Hobblers Leben verändert, denn der uralte

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Mann zeigte ihm die Welt hinter der Welt. Er führte ihn in die Kom-mandozentrale des Raumschiffs und zeigte ihm die Vergangenheit seines Volkes, speziell die der Sippe, die diese Silberwelt bevölkerte.

Die Carr'ier waren die Transporteure des Weltraums – die Space-Trucker, wie Artimus van Zant respektlos anmerkte. Unrecht hatte er damit jedoch nicht, denn die mächtigen Silberinseln waren stän-dig unterwegs zwischen den Sternen. Sie holten und brachten Frach-ten in riesigen Mengen von einer Welt zur anderen, garantierten den reibungslosen Handel auch zwischen den verschiedensten Völkern der Galaxien.

Mit Sicherheit hatten sie auch für die ominösen Herrscher der wei-ßen Städte gearbeitet, hatten die Stelen zu den Welten gebracht, aus denen dann die Urbanen werden sollten, diese scheinbar seelenlo-sen Wesen, die dereinst die weißen Städte besiedeln sollten. Dies – so wusste Zamorra inzwischen – gehörte alles zu dem Plan, den die Herrscher initiieren wollten; der Plan sollte Schutz für die Galaxis bringen, doch Zamorra sah das mittlerweile ganz anders.

Die Silberwelt Hobblers war laut den Auszügen des Logbuches des ersten Kapitäns in große Schwierigkeiten geraten. Piraten hatten sie angegriffen und schwer beschädigt. Später war es zu Meuterei und schließlich zu den Gangkriegen gekommen, schließlich zum Krieg der Ebenen untereinander. Irgendwann war dann das Wissen um die Bestimmung der Carr'ier verloren gegangen.

Hobbler und seine jungen Freunde wollten versuchen, das Volk der Carr'ier wieder zu einem Leben auf einer Welt mit Himmel zu verhelfen. Es konnte ein langer Prozess werden, bis die gesamte Sip-pe an einem Strang ziehen würde, das war allen klar.

Zudem hatte sich Artimus van Zant, der sich mit Alien-Technik auskannte und diese intuitiv zu begreifen in der Lage war, den An-trieb der Silberwelt angesehen. Er war sicher, dass dies doch heftig beschädigte Schiff eine kleine Ewigkeit brauchen würde, bis es in Regionen gelangte, in denen bewohnbare Welten zu erwarten wa-ren. Die Carr'ier wollten sich Zeit lassen, viel Zeit. Zamorra und das Team verließen die Silberwelt als neue Freunde …

… und nun stand der kleine Hobbler hier vor ihm, auf einer Welt, deren galaktische Position weit von der entfernt war, an der man die

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Silberwelt verlassen hatte. Wie konnte das nur möglich sein?Hobbler schien wirklich überglücklich, dass er Zamorra hier ge-

troffen hatte, auch wenn das ein unglaublicher Zufall war.Zamorra wiegelte ab. »Nicht ganz, denn ein Freund, der mich be-

gleitet, empfing einen Ruf von dieser Welt. Kannst du dir darauf einen Reim machen?« Hobbler schüttelte den Kopf. Zamorra fuhr fort. »Ich glaube, mein Freund ist in der Silberwelt gefangen. Kann das sein? Hast du davon etwas mitbekommen?«

Der junge Carr'ier überlegte. »Ja, ich glaube, der Parasit hat einen ganz besonderen Gefangenen gemacht. Er hat ihn sicher in einen der toten Räume gebracht.«

Zamorra stutzte. »Was meinst du mit tote Räume?«»Der Grundriss der Silberwelt weist vier Räume aus, die scheinbar

vollkommen ohne Sinn und Zweck sind. Sie liegen mitten im Schiff, umgeben von den Gängen. Sie besitzen keinen Eingang – daher tote Räume. Ich vermute, dort sollten einmal zusätzliche Aggregate ein-gebaut werden, doch das ist wohl nie geschehen. Verschwendeter Raum also.« Etwas von dem alten Geist der Carr'ier steckte nach wie vor in Hobbler, der ungenutzten Lagerraum einfach nicht akzeptie-ren konnte. »Wenn dein Freund von ihm dort gefangen gehalten wird, kann er nicht entkommen.«

Zamorra sah das anders, denn ein türenloser Raum hätte einen Dalius Laertes normalerweise keine einzige Sekunde aufhalten kön-nen. Dazu musste es schon gehörige Gründe geben.

Zamorra blickte zu Hobbler, der ihm verändert erschien. Der Le-benshunger des jungen Carr'iers schien auf ein Minimum gesunken zu sein. Also waren wohl auch die Bewohner der Silberwelt beein-flusst.

»Ihm? Von wem sprichst du, Hobbler? Und jetzt erzähl schon – wie um Himmels willen seid ihr auf diese Welt gekommen. Diese Entfernung hättet ihr in der kurzen Zeit niemals zurücklegen kön-nen.«

Hobbler senkte den Kopf, als wäre er ihm plötzlich viel zu schwer geworden. Er sprach leise, aber Zamorra verstand jedes Wort des Carr'iers.

»Du und deine Freunde hattet die Silberwelt verlassen. Wir waren

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wirklich voller Hoffnungen – Wodlog, mein alter Lehrer und ich … wir hatten wieder ein Ziel für unser Volk. Doch nur wenige Tage da-nach begann es. Erst nur ganz schwach, doch ständig intensiver werdend. Eine Stimme, ein Druck in unseren Köpfen. Wir spürten, wie unsere Kräfte zu schwinden begannen. Der innere Antrieb, er schwächte sich von Tag zu Tag. Alle spürten das. Niemand konnte sich einen Grund dafür denken, aber es gab keine Möglichkeit dem zu entkommen. Dann kam der Tag, an dem er die Kontrolle über uns übernahm, weil wir zur Gegenwehr zu schwach waren.«

Zamorra unterbrach den Jungen. »Wer ist er? Erzähl mir alles dar-über.«

Hobbler nickte, ohne den Kopf zu heben. »Er hat keinen Namen, zumindest hat er ihn uns nie genannt. Manchmal hatte ich so ein Gefühl, als wisse er selbst nicht, wer er ist. Wir nennen ihn den Schatten, den Parasiten. Doch er wurde rasch mächtig, übernahm somit auch das Kommando über unsere Welt. Und dann beschleu-nigte die Silberwelt plötzlich mit Werten, die sie niemals hätte errei-chen dürfen. Das Schiff wurde bis an seine Grenzen belastet. Irgend-wann nach Wochen stoppte der Flug aber wieder. Das war wie Zau-berei.«

Magie? Zamorra überlegte, welches Wesen dazu die Macht gehabt hätte? Eine passende Antwort wollte ihm jetzt nicht einfallen.

Er ließ Hobbler seinen Bericht ohne weitere Störung durch ihn fortsetzen.

»Die Silberwelt stand über diesem Planeten und begann sich abzu-senken. Wir haben hilflos an der Steuerung gesessen, Zamorra, alles lief von ganz alleine ab.« Das klang für den Parapsychologen nach einer automatischen Landevorrichtung, die bei diesem gigantischen Schiff sicher sehr nützlich sein konnte, doch er schwieg weiterhin. »Die Bewohner hier haben uns nicht unbedingt willkommen gehei-ßen, aber sie haben sich ferngehalten, auch wenn wir bei der Lan-dung sehr viele von ihnen getötet haben müssen. Doch dann ging der böse Einfluss des Parasiten auch auf sie über. Es ist eine furcht-bare Zeit für alle – ich sehne mich nach dem Sternenmeer, nach mei-ner kleinen Welt, in der alles geregelt war.«

Zamorra konnte das sehr gut verstehen. »Hobbler, wie sieht dieser

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Schatten aus? Wo hält er sich für gewöhnlich auf?«Der junge Gangläufer blickte Zamorra überrascht an. »Wenn du

die Silberwelt gesehen hast, dann ganz sicher auch ihn. Er ist nicht zu übersehen. Sein Äußeres gleicht einer Geschwulst, einer Schicht aus Bosheit und Übel – er bedeckt nun schon fast den dritten Teil der Silberwelt und wächst mit jedem Tag. Du musst ihn gesehen ha-ben.«

Zamorra fiel es wie Schuppen von den Augen. Diese eklige Masse, an der die Toten wie gefangene Insekten hafteten – das war der Schatten. Was für ein Wesen hatte sich so an die Silberwelt gehängt, sie terrorisiert und nicht einmal vor einer ganzen Welt Halt ge-macht?

Zamorra wusste nur eines genau – Dalius Laertes schien sich in ei-ner misslicheren Lage zu befinden, als er es angenommen hatte. Es wurde Zeit dem Freund beizustehen. Nur das Wie sah der Professor noch nicht klar vor sich.

Er war es!Dalius Laertes konnte kaum klar denken, denn diese Erkenntnis

war so verrückt und bedrohlich zugleich. Wie konnte das sein? Er selbst hatte aktiv mitgeholfen, als Professor Zamorra und sein Team dem Vampirdämon Sarkana die ultimative Falle gestellt hatten. Laertes erinnerte sich genau an den Tag, an dem Sarkana gefangen wurde – in dem sogenannten Schattenraum, erbaut von Doktor Arti-mus van Zant, der zwischen dem Meegh-Raumer und diesem Raum eine Verbindung hergestellt hatte, die dem Herrn über alle Vampire zum Schicksal wurde.

Er – Dalius Laertes – war dabei gewesen, als der Vampirdämon vernichtet wurde! Es war also unmöglich, dass Sarkana die Macht war, die den Uskugen nun hier gefangen hielt. Unmöglich, aber eine gleichzeitig logische Folgerung, der sich Laertes nicht entziehen konnte.

Sein Peiniger, der aus Dalius' Unterbewusstsein die Erinnerungen erzwungen hatte, schien sich zurückgezogen zu haben. Sicher nicht für immer. Er würde sich bald wieder Zeit für den Uskugen neh-

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men, der nach wie vor wie gelähmt am Boden dieses hermetischen Raumes lag. Laertes startete einen Versuch sich zu erheben, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Sarkana hatte den Raum mit seiner Magie geradezu überladen. Und die war es, die dem Uskugen nahezu jegliche Energie raubte. Zumindest körperlich.

Dalius konnte die Verzweiflung nicht unterdrücken, die sich in ihm aufbaute. Er hatte nur noch eine einzige Chance, dessen war er sich bewusst. Er musste einen Sprung wagen – blind, an irgendeinen Punkt, der außerhalb dieses verfluchten Gefängnisses lag. Doch er zögerte aus gutem Grund. Der Sprung auf diese Welt, gemeinsam mit Zamorra ausgeführt, hatte ihn hierher gebracht. Er war manipu-liert worden. Das würde erneut geschehen, denn er war sicher, dass Sarkana nur darauf wartete, seinen Feind zu zerstören.

Der Vampirdämon war mächtig – dennoch hatte Laertes ein seltsa-mes Gefühl, das er nicht genau begründen konnte. Sarkana hatte es früher nie unterlassen, sich bei all seinen kruden Aktionen körper-lich zu zeigen. Ganz gleich in welcher Gestalt, stets war er voll und ganz präsent gewesen. Hier jedoch beschränkte sich sein Auftritt auf die geistige Ebene. Das mochte ein unerhebliches Detail sein, doch der Uskuge hatte den Verdacht, dass der Dämon eingeschränkt agieren musste.

Dalius schloss die Augen. Es machte keinen Sinn es hinauszuzö-gern. Er musste eine Entscheidung treffen. Im Grunde hatte er das bereits getan. Ihm war klar, dass er einen zweiten von Sarkana ma-nipulierten Sprung mit großer Sicherheit nicht überleben würde. Der Dämon wusste das auch. Er konnte sich also sicher sein, dass sein Gefangener hilflos war.

Hilflos? Nicht ganz, doch Laertes fürchtete, dass er seine letzte Chance, seinen allerletzten Trumpf ausspielen musste. Doch die Konsequenzen, die daraus entstehen konnten, ließen ihn schaudern. Riskierte er nicht eine viel größere Bedrohung zu wecken, als es selbst ein Sarkana war?

Laertes versuchte sich zu entspannen, ganz tief in sich selbst zu versinken. Dann flüsterte er die Worte, vor denen er sich fürchtete.

»Mein Sohn, kannst du mich hören? Ich bin es, Vater …«Eine Weile geschah nichts. Es war, als verhallten seine Worte in

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den Weiten seines eigenen Bewusstseins. Doch dann, als er schon nicht mehr damit rechnete, vernahm er ein Flüstern – verschlafen, kaum wahrnehmbar … und doch existierte es, war keine Einbil-dung.

»Vater? Du rufst nach mir? Du weckst mich auf – du? Was ist ge-schehen, dass du es wagst meinen Schlaf zu stören?« Ein leises La-chen erklang, dessen Klang unterdrückte Aggressivität verriet. »Komm schon, Vater – heraus mit der Sprache.«

»Hör mir gut zu, Sajol.« Laertes benötigte seine gesamte Kraft, um die Kontrolle zu behalten. Wenn er die auch nur für den Bruchteil einer Sekunde verlor, dann würde er der Magie seines Sohnes unter-liegen. Das durfte auf keinen Fall geschehen. »Hör zu. Es geht um unser beider Existenz. Es geht um alles …«

Und Sajol, Sohn des Dalius Laertes, hörte zu …

Merlins Stern reagierte verhalten.Zamorra war verblüfft, denn die Silberscheibe tat das nur, wenn

sie konkret einer Form der schwarzen Magie begegnete, die aus Schwefelklüften stammte; zumindest musste es da eine Verwandt-schaft geben, denn das Amulett unterschied da ziemlich genau. Zu-mindest im Normalfall. Zamorra hatte es längst aufgegeben, sich auf Merlins Stern zu verlassen. Nach wie vor war der Talisman, von Merlin aus der Kraft einer entarteten Sonne erschaffen, seine stärks-te Waffe im Kampf gegen die Höllenbrut. Doch auch dort hatte das Amulett schon versagt.

Dass es sich hier und jetzt rührte, war verwunderlich. Zamorra hielt es unter Kontrolle, denn das Letzte, was er nun brauchen konn-te, war ein ungewünschter Ausbruch der Silberscheibe.

Hobbler und der Parapsychologe hatten einen großen Bogen um die Vorderfront der Silberwelt gemacht.

Zamorra wollte die Aufmerksamkeit des Parasiten nicht unnötig früh erregen. Das würde sicher geschehen, wenn er in das Schiff ein-gedrungen war. Hobbler kannte die Position der toten Räume, zu de-nen er Zamorra bringen wollte. In einem davon vermutete Zamorra den Uskugen, der nach wie vor verschwunden war. Wer oder was

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konnte Dalius Laertes einsperren?Eine dumpfe Ahnung keimte in ihm auf, doch die hielt er für so

unmöglich, dass er sie sofort wieder verwarf. Zamorra wandte sich an den kleinen Carr'ier, der sich recht ungeschickt neben ihm be-wegte.

»Macht dir dein Bein zu schaffen? Du läufst so unsicher, schwankst hin und her.«

Hobbler blickte zu seinem Freund von der Erde.»Mein Bein? Nein, damit bin ich immer klar gekommen. Du erin-

nerst dich sicher, dass ich einmal der beste Gangläufer der Silber-welt gewesen bin, trotz meiner Behinderung. Die Carr'ier kommen alle nicht damit klar, auf einer echten, einer wirklichen Welt zu le-ben. Zumindest noch nicht, aber es ist schon besser geworden. Wir … wahrscheinlich sind wir nur für das Leben zwischen den Sternen geschaffen. Ein fester Boden unter uns, ein Himmel über unseren Köpfen, der so weit entfernt ist … die Sonne, das Klima.« Er zögerte einen Moment, weil er die richtigen Worte wohl nicht finden konn-te. »Wir fühlen uns unsicher hier, verstehst du?«

Zamorra nickte. Zumindest begriff er ansatzweise das Problem. Die Carr'ier waren über viele Generationen weg der Ansicht gewe-sen, ihr Schiff sei die einzig mögliche Welt. Und nun hatte man sie hart und unvorbereitet auf einen Planet versetzt, der seine ganz ei-genen Gesetze hatte. Es würde sicherlich noch lange dauern, bis die Transporteure des Weltalls sich ganz und gar angepasst hatten.

Eine Frage kam Zamorra in den Sinn, die er sich kaum zu stellen wagte.

»Wie viele von euch gibt es noch?«Hobbler senkte ein wenig den Kopf. Seine Stimme klang traurig,

als er schließlich antwortete.»Von den unzähligen meiner Brüder und Schwestern leben jetzt

noch 80 an Bord der Silberwelt. Viele hat der Parasit ermordet, ein Teil fiel den Raubtieren dieser Welt zum Opfer, die sich immer wie-der nahe an das Schiff gewagt haben. Der Parasit hat es nicht verhin-dert.« Zamorra hörte erschüttert dem Bericht Hobblers zu. Unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Die Silberwelt war früher sicher von vielen tausend Carr'ier bewohnt gewesen.

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Hobbler war mit seiner Aufzählung noch nicht fertig.»Ein großer Teil jedoch nahm sich selbst das Leben. Sie wurden

nicht damit fertig, unter dem geistigen Einfluss des Schattens zu existieren. Diese Welt hat mein Volk nahezu ausgelöscht, Zamorra.«

Der schüttelte den Kopf. »Nein, nicht die Welt – der Parasit war es. Wir müssen ihn ganz einfach vernichten. Ich sage so etwas nicht leichtfertig dahin, das kannst du mir glauben, aber in diesem Fall geht kein Weg daran vorbei. Eine letzte Frage noch. Was wurde aus Wodlog?

Lebt er noch?« Zamorra erinnerte sich genau an den alten Carr'ier, der zum Lehrervater Hobblers geworden war. Wodlog war beson-nen, ja, weise. Zamorra hatte große Hoffnungen gehegt, dass die Carr'ier unter der Obhut des Alten eine gute Zukunft vor sich haben würden. Diese Hoffnung hatte sich als falsch erwiesen, wie er nun wusste.

Hobbler blickte ihn traurig an. »Wodlog hat am härtesten ver-sucht, sich gegen den Schatten zu wehren. Es gelang ihm nie ganz. Doch er wurde dem Parasit lästig. Er hat ihn getötet, das Blut aus ihm gesaugt. Ich habe ihn gefunden und begraben. Das machen die Bewohner einer Welt doch so, oder? Wodlog hatte immer den Wunsch, einmal so ein Bewohner zu sein. Als es dann tatsächlich wahr wurde, musste er sterben.«

Zamorra legte dem jungen Gangläufer die Hand auf dessen Schul-ter.

»Dann lass uns jetzt dafür sorgen, dass er nicht umsonst gestorben ist. Komm, bring mich zum Eingang.« Vorsichtig umrundeten die beiden das Schiff. Zamorras Blick ging nach oben, wo nun vier Kör-per an dem dunklen Etwas klebten, das tatsächlich mittlerweile einen großen Teil der vorderen Schiffshülle einnahm. Je näher Za-morra dieser Masse kam, je deutlicher wurde der Druck von Merlins Stern, den er nur noch mit Mühe unterdrücken konnte. Das Amulett wollte aktiv werden, es wollte eingreifen, doch das riskierte Zamor-ra jetzt nicht. Erst musste er wissen, mit wem oder was er es hier zu tun hatte.

Hobbler trat nah an das Schiff heran und berührte eine bestimmte Stelle. »Schnell, Zamorra, folge mir.« Was nun kam, war dem Para-

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psychologen nicht mehr neu, denn bereits bei seinem ersten Besuch der Silberwelt hatte er die erstaunliche Technologie der Ahnen Hob-blers bewundern können.

In der Außenhülle der Silberwelt, sowie in ihrem Inneren, gab es bestimmte Bereiche, an denen sich der Aggregatszustand veränderte – eine undurchdringlich erscheinende Wand wurde plötzlich durch-lässig. So hatte Hobbler einst die unbekannten Teile der Silberwelt entdeckt, die im Inneren des Schiffes lagen. Damals hatte er es für ein Wunder gehalten, für einen Zauber, der ihn sicher ums Leben bringen würde. Heute war das alles für ihn Normalität, auch wenn er die Technik nach wie vor nicht begriff.

Zamorra und der Carr'ier gingen durch die Wandung hindurch, die sich – wenn es notwendig war – auch zu einer torartigen Öffnung umwandeln ließ. Das alles mochte zum leichteren Be- und Entladen gedient haben, als die Silberinseln noch durch das All geflogen wa-ren, um Ware zu den Welten zu bringen.

Im Inneren der Silberwelt erwartete Zamorra eine schwache Be-leuchtung. Mit mehr hatte er auch nicht gerechnet. Zamorra unter-drückte einen Hustenreiz, denn die Luft hier war abgestanden und schwer zu atmen. Offenbar funktionierten die Lebenserhaltungsan-lagen nicht mehr so, wie bei seiner ersten Visite. Absicht? Oder doch nur ein technischer Defekt? Zamorra wunderte sich, wie die verblie-benen Carr'ier hier leben konnten. Hobbler zumindest schien davon nicht beeindruckt zu sein. Im Gegenteil – seine ganze Körperhaltung straffte sich sichtbar. Ihm ging es hier viel besser als draußen. Sicher eine Sache der Konditionierung, an die er gewöhnt war. Auch nach einer gewissen Zeitspanne, die die Carr'ier nun auf dieser Welt ver-bracht hatten, waren sie noch immer die Kinder des Generations-schiffs, ihrer Welt ohne Himmel.

Hobbler blickte sich um. Es war niemand zu sehen. Wahrschein-lich war ein Großteil seiner Artgenossen noch immer auf der Jagd nach den Opfern, die der Parasit gefordert hatte.

Zamorra flüsterte, auch wenn das mit Sicherheit unnötig war. Der Parasit hatte sicher bereits gemerkt, dass ein Fremder an Bord war. Zamorra rechnete in jeder Sekunde mit einem Angriff, wie der auch immer aussehen mochte. Doch es geschah nichts.

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»Bring mich zur Zentrale.« Hobbler nickte und übernahm die Füh-rung. Es ging durch schnurgerade Gänge und in eine Handvoll Ab-zweigungen – Zamorra war nicht sicher, ob er wieder alleine zum Ausgang hätte finden können, doch Hobbler bewegte sich traum-wandlerisch sicher.

Dann jedoch blieb er wie angewurzelt stehen und hob abwehrend beide Arme nach vorne. Zamorra sah sofort, was den Carr'ier so er-schreckt hatte. An der Wand rechts von ihnen klebten zwei menschli-che Körper. Zwei weitere Opfer des Parasiten? Doch in diesem Fall schien alles anders zu sein. Zamorra näherte sich den beiden vor-sichtig. Sie lebten! Und sie waren bei Bewusstsein. Der Professor un-tersuchte die beiden so gut es ging. Sie waren scheinbar unverletzt, doch sie konnten sich nicht bewegen. Es waren ein Mann und eine Frau, deren weiße Haare ungewöhnlich erschienen.

»Helft uns – wer ihr auch seid.« Die Stimme der Frau war kaum zu verstehen. Sie schien am Ende ihrer Kräfte zu sein – und dem Mann neben ihr erging es nicht besser. Zamorra versuchte alles, um die beiden von der Wandung zu befreien, doch er blieb ohne jeden Er-folg.

Es hatte keinen Sinn. Der Parapsychologe brachte seinen Mund nahe an die Köpfe der beiden Unglücklichen heran. »Hört mir zu. Wir versuchen alles, um euch zu retten, doch ihr müsst noch Geduld haben. Aber wir kommen zurück, ich verspreche es euch.« Ein Ver-sprechen, das er hoffte auch halten zu können. Die beiden nickten erschöpft und nahe einer Bewusstlosigkeit.

Zamorra und Hobbler nahmen ihren Weg wieder auf. Der Profes-sor konnte den Sinn und Zweck dessen nicht begreifen, was er so-eben gesehen hatte. Der Parasit tötete außerhalb der Silberwelt, denn er brauchte Kontakt zu seinen Opfern. Warum also die Pein dieser beiden Menschen? Vielleicht lag ein Sinn darin, der ihm noch verborgen blieb.

Endlich hatten sie die Stelle erreicht, an der Hobbler nun den sel-ben Trick anwandte, wie vor dem Schiff. Die Wand veränderte sich, ließ die beiden ungehindert in den Raum treten, der hinter ihr ver-borgen war.

Zamorra erkannte die Zentrale der Silberwelt sofort wieder, auch

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wenn er sich hier nicht lange aufgehalten hatte. Hobbler und er steu-erten geradlinig auf die Formsessel zu, die vor der breiten Schalt-platte stand, dem wahren Zentrum dieses Schiffes. Von hier aus war schon immer das Wohl und Wehe der Silberinsel entschieden wor-den. Wie viele Starts und Landungen waren hier in weit entfernter Vergangenheit durchgeführt worden?

Zamorra wandte sich an Hobbler. »Wie viel hat Wodlog dir beige-bracht? Ich meine – wie gut beherrschst du die Steuerung?«

Der junge Gangläufer blickte den Mann von der Erde an. Da war Stolz in seinen Augen zu erkennen. »Wodlog hat sein gesamtes Wis-sen mit mir geteilt und noch viel mehr, denn es gibt Archive, die man abrufen kann. Wir haben gemeinsam viel gelernt … auch wenn wir nicht viel Zeit dazu hatten. Auch später – nach Wodlogs Tod – bin ich oft hier gewesen. Der Parasit hat mich nicht daran gehindert. Vielleicht wollte er, dass sich zumindest ein Carr'ier mit der alten Technik auskannte. Ich kann das nur vermuten. Doch was kann uns das jetzt noch helfen?«

Der Parapsychologe wiegte den Kopf hin und her. Er war sich da noch nicht so ganz sicher.

»Kannst du mir auf dem Bildschirm den Grundriss der Silberwelt zeigen?«

Hobbler nickte, denn das war seine leichteste Übung. Mit flinken Fingern rief er das Programm auf. Sofort flammte der Screen auf und zeigte dem Professor einen detaillierten Überblick. Hobbler tat noch mehr. Keine fünf Sekunden später leuchteten vier rote Quadra-te auf, die um die Maschinenräume herum gelegen waren.

»Das sind die toten Räume, von denen ich dir erzählt habe.«Zamorra nickte. Irgendwo dort musste er Laertes suchen. Er war

sicher, dass der Uskuge an Bord war.»Hobbler, kann man von hier aus die Vitalzeichen der Lebewesen

anzeigen, die sich in der Silberwelt befinden?« Zamorra war nicht si-cher, ob die Carr'ier-Technik dies hergab, doch Hobbler nickte nur. »Kein Problem.« Überall auf dem Grundriss leuchteten Positions-lichter auf. Zamorra schätzte, dass es insgesamt um die 40 waren, die sich ziemlich gleichmäßig überall im Schiff verteilten. Hobbler erklärte das.

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»Die Hälfte von uns sind für den Parasiten auf der Jagd, weil ihm der Nachschub ausgeht.« Zamorra hörte die Bitternis in der Stimme seines jungen Freundes ganz deutlich heraus. »Es gab in der Nähe ein Gefangenenlager, doch die Menschen dort sind bei einem Aus-bruchsversuch alle umgekommen. Gut für sie, denn so ist ihnen der Tod durch den Schatten erspart geblieben.«

Zamorra schwieg dazu. Zudem hatte sich seine Konzentration ver-lagert, weil in einem der toten Räume ein Vitalzeichen angezeigt wurde. Das konnte nur Laertes sein. Und er lebte, denn hätte er sich nicht mehr bewegt, hätte die kleine Lampe hier nicht aufgeleuchtet. Das war nämlich nichts weiter als ein Bewegungsmelder. Die Carr'ier, die schliefen, wurden demzufolge hier auch nicht erfasst. Laertes zeigte Bewegung, doch er veränderte seine relative Position nicht.

»Wie gelangen wir in diesen Raum?«Hobbler zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Im Grunde

überhaupt nicht, denn es gibt keinen Eingang, auch keinen, der flüs-sig werden kann.« Zamorra wusste, was Hobbler damit sagen wollte.

»Dann müssen wir eben mit Gewalt dort eindringen. Wo finden wir entsprechendes Gerät?«

Einige Augenblicke lang schien der Carr'ier ihn nicht zu verstehen, doch dann weiteten sich Hobblers Augen. Jetzt wusste er, was Za-morra von ihm wollte.

»Du meinst die Brecher. Das sind Geräte, die man vor eine Wand setzt und einschaltet. Sie fressen sich dann regelrecht durch die Wandung hindurch. Komm mit, ich zeige sie dir.« Zamorra und der Carr'ier standen auf und wollten die Zentrale verlassen, doch dann stoppten sie abrupt.

Etwas geschah … der Bildschirm begann zu flackern. Die Grund-risszeichnung begann zu verschwimmen, löste sich wellenförmig auf. Ganz kurz war da nur eine helle Fläche zu sehen, doch dann wurde der gesamte Screen von einem wabernden Etwas ausgefüllt, das einem bösartigen Geschwür ähnlich sah. Der Anblick löste in Zamorra Abscheu aus.

Schlimmer noch war die Stimme, die aus den Lautsprechern drang, die hier irgendwo versteckt angebracht waren. Sie klang bei-

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ßend hart und unbarmherzig, schmerzte in Zamorras Ohren und ließ bei ihm den Wunsch nach Gehörschutz aufkommen. Hobbler presste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände gegen sei-ne Ohren. Der Carr'ier ertrug das hier noch weniger als sein Men-schenfreund.

»Professor Zamorra – ich bin mehr als glücklich dich hier begrü-ßen zu dürfen. Lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Und du warst dir bestimmt auch sicher, dass es diesen Tag niemals geben würde.« Zamorra begriff nicht, doch er begann seiner Ahnung von vorhin immer mehr nachzugehen.

Dennoch musste er jetzt Stärke zeigen.»Wer bist du? Ich kenne dich nicht – und ich werde dafür sorgen,

dass dein Treiben auf dieser Welt ein Ende gesetzt wird.«Aus den Lautsprechern drang hämisches Lachen.»Du erkennst mich wirklich nicht. Aber da stehst du nicht alleine.

Auch Laertes hat lange gebraucht, bis er die Wahrheit akzeptieren konnte. Ich bin es, Zamorra, es gibt mich noch. Alles was du ver-sucht hast – es war sinnlos. Ich lebe und werde bald meine alte Macht erreichen. Du wirst mich daran nicht hindern. Niemand kann das. Sieh her, Zamorra. Erkennst du mich nun?«

Vor Zamorras Brust flammte Merlins Stern unkontrolliert auf, doch das Amulett mußte sich gedulden, denn das hier war nur ein Abbild dessen, den es nur zu gerne attackiert hätte. Auf dem Schirm ent-stand das Bild eines abgrundtief hässlichen Wesens – es war die Dä-monengestalt des Herrn der Vampire, des Königs der Nachtkinder … des Vampirdämons Sarkana!

Aartje Vaneiden trommelte mit den Fingern unruhig auf dem Bord, das sie als Stehpult benutzte – mit den Fingern beider Hände.

Was die Menschen in dem Meegh-Raumer an Technik vorgefun-den hatten, das überstieg alles, was man sich auch nur hätte erträu-men können. Mittlerweile hatte man sich daran gewöhnt, dass es noch lange dauern würde, bis die letzten Geheimnisse gelüftet wür-den, doch man arrangierte sich, anpassungsfähig, wie der Mensch nun einmal war.

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Die kleinen Annehmlichkeiten, die man absolut gewöhnt war, musste man dann allerdings irgendwie improvisieren. Meeghs wa-ren spinnenartige Kreaturen gewesen, die einen enormen Bewe-gungsdrang in sich hatten. Tisch, Stühle – Ruhepunkt also, die ein Mensch nun einmal benötigte – die gab es hier nicht. Die Techniker von Tendyke Industries hatten sich darum gekümmert. Platz war in der Zentrale ausreichend vorhanden, um nachträgliche Einbauten vorzunehmen, immer vorausgesetzt, sie störten den Ablauf an Bord nicht.

Valentin Kobylanski hatte es sich auf einem gemütlichen Sessel be-quem gemacht, der als Stuhl, als auch als Liege einsetzbar war. Er hatte seine Augen geschlossen, denn ein wenig vor sich hin dösen hatte noch niemandem geschadet. Alles war ruhig, Probleme gab es in der Umlaufbahn dieser Welt keine. Wozu also hektisch sein? Das fiel ihm im Traum nicht ein. Allerdings fühlte er sich durch Aartjes Trommelübungen gewaltig gestört.

»Sag, kannst du nicht mal Ruhe geben? Komm lieber zu mir. In diesem Liegesessel ist auch für dich noch Platz.«

Aartje ignorierte den plumpen Versuch Valentins komplett. Er langweilte sie mit seinen andauernden Anspielungen nur noch.

Und wenn er tausendmal von allen Frauen regelrecht angebetet wurde, wie er immer behauptete, bei ihr kam er einfach nicht an. Ir-gendwann sollte selbst er das begreifen, hoffte sie zumindest.

Gereizter, als sie es wollte, antwortete sie ihm.»Wie kannst du da so ruhig herumlümmeln? Irgendetwas dort un-

ten stimmt nicht.« Sie deutete auf den Bildschirm, der den Planet zeigte, den sie umkreisten. »Zamorra und Laertes hätten längst wie-der hier sein müssen. Und wenn es länger dauert, dann hätten sie einen Weg gefunden, uns das wissen zu lassen.«

Kobylanski schüttelte den Kopf. »Vielleicht machen die beiden sich dort unten ein paar schöne Tage? Vielleicht mit hübschen Mä-dels, aber dafür hast du ja keinen Sinn, nicht wahr? Jedes Vergnü-gen ist dir suspekt. Aartje, Aartje …«

Die Niederländerin schlug mit einer Faust auf das Pult. »Ver-dammt, Valentin, wann begreifst du eigentlich, wenn eine Lage ernst ist? Wir sollten landen und nachsehen, was geschehen ist.«

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»Landen?« Kobylanski ließ seine Liege nach oben schnellen, so dass sie wieder zu einem Sessel wurde. »Wie stellst du dir das denn vor? Der Spider ist doch kein Moped, das man mal soeben hier oder dort hin schieben kann. Mit zwei Personen ist eine ordentliche Lan-dung so gut wie unmöglich.«

»Unmöglich, unmöglich …« Aartje äffte Kobylanski nach. »Un-möglich ist nichts, mein lieber Kollege.«

»Kollege? Jetzt bin ich nicht mal mehr ein Freund?« Kobylanski machte ein entsetztes Gesicht, das Aartje natürlich durchschaute. Sie winkte nur ab.

»Man kann beim Landen einige der Prozesse automatisieren, den Rest kriegen wir dann schon irgendwie hin. Also? Was ist nun? Bist du dabei?«

Kobylanski wollte ablenken, denn zu einem solchen Risikounter-nehmen fehlte ihm jede Lust.

»Diese Kasten hier hat mit Sicherheit eine Landeautomatik, doch die hat selbst Artimus noch nicht gefunden.« Er sah Aartjes wüten-den Blick und hob abwehrend die Hände. »Einigen wir uns darauf, dass wir den Orbit stoppen und uns über der Stelle einen Überblick verschaffen, an der du Zamorras Ortung aufnehmen kannst. Wir können tiefer gehen, den Schirm einschalten, damit die Einheimi-schen keinen Herzkasper wegen des UFOs bekommen, aber direkt landen … nein, finde ich nicht gut.«

Aartje überlegte, doch was blieb ihr für eine Wahl? Irgendwo hatte Valentin ja Recht. Sie würden ein unkalkulierbares Risiko eingehen, wenn sie eine Landung riskierten. Vielleicht sahen sie ja klarer, wenn sie nach Kobylanskis Art vorgingen. Vielleicht … doch wenn dem nicht so war, dann würde Aartje alles riskieren, um dem Pro-fessor und dem Vampir Laertes zu helfen. Sie wollte nicht irgend-wann vor ihrer Freundin Nicole Duval stehen, um ihr sagen zu müs-sen, dass sie nicht alles versucht hatte, um den Professor zu retten.

Aber vielleicht war da ja keine Gefahr? Vielleicht übertrieb Aartje ihre Vorsicht nur. Alles war möglich.

Sie würden es ja bald wissen.Kobylanski erhob sich und trat neben Aartje Vaneiden an sein

Kommandopult, das in dem Hauptschirm eingelassen war. Eines

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der Wunder dieses Schiffes – die Eingabeflächen, die zur Steuerung des Spiders notwendig waren – hielten sich immer auf der Höhe des Ortes auf, an dem der entsprechende Mannschaftsteil war. Wenn Kobylanski sich nun fünf Schritte nach rechts bewegt hätte, wäre der Touchscreen ihm auf Schritt und Tritt gefolgt.

Aartje Vaneiden gab mit flinken Fingern die Koordinaten ein, an denen sie die letzten Ortungen von Zamorras Meegh-Wanze erhal-ten hatte. Es gefiel ihr bei diesen Daten nicht, wie scheinbar hektisch sich der Professor auf der Planetenoberfläche hin und her bewegt hatte. Etwas stimmte dort nicht – der Gedanke wollte nicht aus ih-rem Kopf.

Sie ahnte ja nicht, wie richtig sie damit lag.

Zamorra erstarrte bei diesem Anblick.Sarkana! Unmöglich und doch nicht zu leugnen. Die Erinnerungen

an Sarkanas Ende wurden schlagartig in ihm wach:Sie hatten ihm eine Falle gestellt …Die Halle, in der sich der »Schattenraum« befand, die Konstruktion, mit

deren Hilfe es Doktor Artimus van Zant gelungen war, Sarkana, den Vampirdämon und Herrscher über das Nachtvolk, zu fangen. Mehr noch – der Dämon sollte dort sein Ende finden. Endlich sollte dieses Kapitel einen Abschluss finden.

Sarkana war nicht in der Lage, sich zu befreien, auch sein riesiges schwarzmagisches Potential half ihm nicht mehr. Gewaltige Mengen an Energie waren notwendig, um den »Schattenraum« stabil zu halten. Arti-mus van Zant hatte die perfekte Quelle dazu gefunden – den Spider, dessen Schwarze Dhyarra-Kristalle ein schier unerschöpfliches Energiereservoir darstellten. Die Dhyarra-Kraft wurde umgewandelt, über ein Kabel mit dem Gefängnis des Vampirdämons verbunden.

Und die Kristalle pumpten Energie in den »Schattenraum«, ohne Pause, ohne Gnade. Sie pumpten so lange, bis der Kollaps eintrat. Der »Schatten-raum« barst wie ein überprall gefüllter Ballon!

Und Sarkana war Geschichte …

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Das Kabel …Es war die einzige existierende Verbindung, die es zwischen Schiff und

dem Schattenraum je gegeben hatte. Nach diesem Tag war es sicher nie wieder genutzt worden. Doch niemand war auch auf die Idee gekommen, es mitsamt den Wandleraggregaten wieder auszubauen.

Als Zamorra sich damals von Hobbler und dem alten Wodlog verabschie-det hatte, war er an Bord des Spiders auf eine böse Überraschung gestoßen. Das Kabel musste damals ein Fragment, nur einen Fetzen von Sarkana, in sich aufgenommen haben. Und nun war es zu unheiligem Leben erwacht, griff Zamorra und seine Leute an. Nicole und Zamorra – Dhyarra und Merlins Stern – gemeinsam, schafften es dann irgendwie, das Sarkana-Fragment unter Kontrolle zu bekommen. Artimus van Zant jagte das Ka-bel mit einem Traktorstrahl aus der Schleuse und die Waffen des Spiders nahmen es zusätzlich noch unter Beschuss. Niemand glaubte, dass das dä-monische Fragment noch existieren konnte. Niemand …

Niemand … und doch sah Zamorra Sarkana nun vor sich auf dem Bildschirm. Zamorra suchte nach einer Erklärung, wie das Fragment zur Silberwelt gekommen war, doch das fiel ihm nicht schwer. Der Zufall musste den Fetzen des Dämons zu dem Schiff der Carr'ier ge-trieben haben, das sich ja ganz nahe befunden hatte.

Zufall oder Schicksal? Zamorra wusste nicht, was er glauben soll-te, doch die Realität bewies, dass es geschehen war.

Das Abbild des Dämons lachte voll Hysterie und Siegessicherheit.»Und nun wirst du sterben, du sogenannter Meister des Übersinn-

lichen, so wie der Renegat Dalius Laertes sterben wird. Es ist nur noch eine Frage von Minuten, dann haucht ihr beide euer Leben aus und ich werde mich an eurem Blut laben. Komm nur, Zamorra, komme nur zu mir und bring dein lächerliches Amulett ruhig mit, denn das hat mich nie besiegen können. Dazu musstest du zu Tricks greifen, die deiner im Grunde ja nicht würdig waren. Komm, ich warte auf dich.« Das Lachen steigerte sich in seiner Lautstärke bis zur Schmerzgrenze. Hobbler schlug mit der Faust auf einen Knopf, der den Lärm im Grunde hätte beenden müssen, doch Sarkana hatte wohl vorgesorgt – das Lachen blieb den beiden erhalten.

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»Raus hier, Hobbler.« Der Junge verstand Zamorras geschriene Worte nicht, denn er hielt sich nach wie vor die Ohren zu. Mit Ges-ten machte ihm der Professor klar, dass sie die Zentrale räumen mussten. Hobbler begriff. Sekunden später schloss sich wie durch Geisterhand die Wandung hinter ihnen. Auf dem Gang war der Lärm eher zu ertragen, doch auch hier gab es deutlich hörbar ver-steckte Lautsprecher, die sicher den internen Bordnachrichten ge-dient hatten.

Zamorra hatte eine Hoffnung, auf die er setzte. Sarkanas Fragment war zu einer Masse geworden, die flächig auf der Außenhülle lag. Doch er besaß keinen Körper. Das mochte ihn verwundbar machen, denn wie sollte er Zamorra so angreifen? Zamorra ahnte, wie dünn die Beine waren, auf der seine Hoffnung ruhte, doch er musste posi-tiv denken.

Als die beiden durch den Gang in Richtung Ausgang stürmten, stoppten sie erneut bei den beiden Menschen, die nach wie vor an der Wand festhingen. Doch bei beiden konnte Zamorra keine Reak-tion mehr erkennen. Sie lebten noch, aber es war nur noch eine Fra-ge der Zeit, bis sich dies ändern würde. Zamorra war wütend und enttäuscht, aber er hatte nach wie vor keine Mittel um ihnen zu hel-fen. Merlins Stern war da nutzlos, doch wenn sie erst den Ausgang erreicht hatten, würde sich das ändern, denn das Amulett vibrierte förmlich vor Ungeduld – es wollte seine Macht gegen Sarkana in die Schlacht werfen. Zamorra würde den Talisman nicht daran hindern.

Sarkana – irgendwann musste diese endlose Geschichte zu Ende gebracht werden.

Hobbler drängte Zamorra, weiter zu gehen. Widerwillig erkannte der Parapsychologe, wie Recht der Carr'ier hatte. Er warf einen letzten Blick auf die beiden Unglücklichen, dann folgte er dem Gangläufer.

Mit einem Mal wurde die Stimme auch hier im Gang dröhnend laut.

»Oh, Zamorra, du willst schon gehen? Aber warum denn? Ich habe eine Überraschung für dich, die du dir nicht entgehen lassen solltest. Dreh dich nur um, dann wirst du sie sehen.«

Zamorra stoppte. Langsam wandte er seinen Blick nach hinten. Was er sah, erschütterte ihn vollends. Die beiden Menschen, die dort

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an der Wandung gefangen waren, begannen zu wimmern – für einen Schrei fehlte ihnen sicher bereits die Kraft, doch sie spürten sehr wohl, was nun geschah.

Die Wand direkt vor ihnen schien plötzlich durchlässig zu wer-den. Etwas drängte sich ins Schiffinnere. Es war ein Teil der dunklen Masse des Parasiten, der den Namen Sarkana trug. Schnell und im-mer schneller schob sie sich über die beiden Körper, bis die schließ-lich vollkommen davon eingehüllt waren. Nur einen Wimpern-schlag später lösten die Körper sich von der Schiffshülle und wand-ten sich Zamorra und Hobbler zu.

Zamorra konnte erkennen, dass der Parasit sich wirklich vollstän-dig um die Körper geschlungen hatte. Nase und Mund waren ver-schlossen … wenn die Unglücklichen jetzt noch lebten, so würden sie jämmerlich ersticken. Was für ein schrecklicher Tod für zwei Menschen, die sich hier in die Höhle des Löwen vorgewagt hatten. Sie mussten entweder sehr mutig oder sehr dumm gewesen sein. Ihre Geschichte würde Zamorra wohl nie erfahren.

Nun waren sie zu dem geworden, was Zamorra am meisten be-fürchtet hatte – zu Sarkanas Körper. Und diese Teile des Dämons setzten sich in Bewegung. Hobbler riss an Zamorras Arm. »Komm, wir müssen fliehen. Nicht mehr weit, dann haben die den Ausgang erreicht.« Zamorra nickte, wandte sich zur Flucht. Hobbler hatte Recht. Hier in den schmalen Gängen würden sie den beiden leben-den Toten kaum ausweichen können.

Wie auf Kommando begannen die beiden Wesen schwarze Blitze auf die Fliehenden zu schleudern. Merlins Stern flammte auf und baute sein Schutzschild auf, das Hobbler und den Professor schütz-te, weil Zamorra den Carr'ier instinktiv bei der Hand gefasst hatte; bei Körperkontakt schützte die Abwehrwaffe des Amuletts so zwei Personen. Das grünliche Wabern des Schirmes erhellte den Gang.

Verwundert registrierte Zamorra, dass die schwarzen Attacken des Dämons recht schwach waren. Es war eben nur ein kleiner Teil von ihm, der die beiden Menschen umhüllte. Zamorra wirbelte her-um. Was er nun tat, empfand er als widerlich, doch er musste Hob-bler und sich schützen. Er ließ der Macht von Merlins Stern volle Freiheit. Und das Amulett feuert einen silbernen Blitz nach dem an-

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deren ab. Selten hatte Zamorra die Silberscheibe so intensiv in ihren Aktionen erlebt. Die beiden Sarkana-Ableger hatten nicht den Hauch einer Chance gegen die wütende Amulettmagie. Zamorra versuchte sich einzureden, dass er den Tod der beiden Menschen nicht verursacht hatte, doch das wollte ihm nicht so richtig gelingen.

Er wandte sich noch einmal um, als er leises Stöhnen vernahm.Der Schleim war restlos von den Körpern des Paares verschwun-

den. Merlins Stern musste ihn regelrecht weggebrannt haben. Doch die beiden lebten noch! Zamorra spurtete los. Die Lebensgeister bei-der erwachten, als Zamorra ihnen auf die Füße half. Sie atmeten schwer, doch sie schienen unverletzt zu sein. Für Zamorra war das ein Wunder – eines, das Merlins Stern bewirkt hatte, nicht er. Zu viert machten sie sich nun auf den Weg zum Ausgang und erreich-ten ihn relativ schnell, obwohl die beiden Planetenbewohner sich nur schleppend fortbewegen konnten.

Hobbler betätigte den Mechanismus und der Weg nach draußen war frei. Die Menschen und der Carr'ier verließen die Silberwelt ohne Probleme, doch als Zamorra den entscheidenden Schritt nach draußen tun wollte, rannte er gegen die massive Außenhülle des Schiffes.

Mehr verblüfft als erschüttert prallte Zamorra zurück.»Du willst mich also wirklich verlassen? Glaube nur nicht, dass ich

das so einfach zulasse.«Die Stimme hatte einen wütenden und verärgerten Unterton. Die

Niederlage mit seinen zwei Schleimfiguren schien ihn hart getroffen zu haben. Es war auch früher schon immer leicht gewesen, den Dä-mon zu reizen. Dass er dann unnötige Fehler beging, hatte Sarkana nie verinnerlicht, doch seine Macht war auch so noch groß genug gewesen.

»Du wirst erneut unterliegen, Sarkana. Du bist zu schwach, zu ar-rogant und zu dumm, um mich zu besiegen.« Zamorra goss Öl ins Feuer von Sarkanas Eitelkeit. Ein gefährliches Spiel, was er jetzt spielte, doch er musste den Einsatz erhöhen, wenn er am Ende sie-gen wollte.

»Stirb endlich, Zamorra!« Keine sonderlich intelligente Antwort, doch der Vampirdämon unterstrich sie mit Taten.

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Durch die Wandung trat erneut Schleim in das Schiff ein. Zamorra wusste zunächst nicht, was Sarkana damit bezwecken wollte, doch dann wurde ihm das rasch klar. Anscheinend war der Dämon in der Lage, unendlich viel von diesem schmierigen Dreck zu produzieren. Er wollte Zamorra ganz einfach fortschwemmen und ihn in sich selbst ersäufen, wie man eine Ratte in einen Fluss warf und hoffte, sie könne nicht schwimmen.

Zamorra konnte schwimmen – auch auf magischer Ebene.Merlins Stern brannte die ersten zwei Meter des dickflüssigen

Schleims einfach so weg. Das Amulett lief zur absoluten Höchstform auf, doch Wunder konnte es auch nicht bewirken, wie Zamorra wusste. Er musste nur seinen Blick nach vorne richten, dann wurde ihm klar, dass er diese Position nur für eine gewissen Zeit halten konnte. Zu viel von Sarkanas Sekret floss in Zamorras Richtung. Früher oder später würde er davon überspült werden.

Langsam zog der Meister des Übersinnlichen sich zurück. Er musste einen Ausweg finden, irgendeine Möglichkeit, sich aus die-sem Gang zu entfernen, ohne dass der Schleim ihm dabei folgen konnte. Minuten vergingen, in denen Merlins Stern wirklich alles gab. Doch der Schleim kam immer näher und näher. Zamorra sah eine letzte verzweifelte Chance. Er musste Merlins Sterns Energie ge-gen die Außenwandung der Silberwelt richten, damit der dämoni-sche Erguss dort abfließen konnte. Doch dazu war es zu spät.

Merlins Stern ließ sich nicht mehr korrekt lenken. Die Blitze feuer-ten immer und immer wieder auf die anstürmende Flut, ließen sich nicht umlenken. Zamorra wurde bewusst, dass er in diesem Spiel zu hoch gepokert hatte. Schon berührte die schleimige Flüssigkeit seine Schuhe, und wo sie dort auftrat, entstanden Blasen, die das Material aufzulösen begannen.

Zamorra schloss mit seinem Leben ab.Er sprang in die Höhe und klammerte sich an eine der Deckenver-

strebungen. Für einen gewissen Zeitraum würde ihn das retten. Un-ter ihm stieg die Flut des Dämons, dessen Stimme kreischend laut in Zamorras Ohren wummerte. Es war abzusehen, wie lange Zamorras Kraft reichen würde. Irgendwann würden seine Finger loslassen, keine Frage.

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Der Professor schloss die Augen. Dann sollte sein Ende also so aussehen? Hier, auf einer Welt, von der er nicht mehr als einen win-zigen Zipfel kennengelernt hatte, von der er nicht einmal den Na-men kannte? Einer Welt, deren Bewohner aus dem Beginn einer Neuzeit zurück in ein finsteres Mittelalter gestoßen worden waren? Nein, so hatte Zamorra sich seinen Tod ganz sicher nicht vorgestellt. Seine Finger begannen sich zu verkrampfen, wurden taub und kraft-los. Schließlich musste er zunächst die linke Hand öffnen, hing jetzt nur noch wie ein Menschenaffe an seinem Ast, der ihn vom sicheren Tod entfernte. Dann war auch die rechte Hand vollkommen ohne je-des Gefühl. Und Zamorra stürzte ab.

Irgendetwas packte ihn, zog ihn nach … nach vorne? Er konnte es nicht sagen, denn ihm wurde schwarz vor Augen.

Ein heftiges Ziehen in seinem Körper gab ihm jedoch eine Ah-nung, wem er seine Rettung zu verdanken hatte.

»Zamorra, komm zu dir. Was ist denn passiert?«Einen Augenblick lang hoffte der Parapsychologe, diese Stimme,

ein wenig hektisch und holperig, würde sich zu Nicoles angeneh-men Organ umwandeln, und er befände sich zu Hause im Château Montagne, in einem weichen Bett …

Dass dem nicht so war, bewiesen ihm die recht heftigen Ohrfeigen, die man ihm versetzte. Nein, so brutal würde Nicole ihn niemals wecken. Zamorras Körper wurde von einer Schmerzwelle durchlau-fen. Das konnte ja nur bedeuten, dass es Dalius Laertes war, der ihn in der wirklich allerletzten Sekunde aus der Silberwelt gerettet hatte. Als der Professor es endlich schaffte, die Augen zu öffnen, da erfass-te er die Situation augenblicklich, auch wenn der Schmerz noch im-mer einen Teil seines Verstandes für sich vereinnahmte. Er befand sich im Freien – nicht weit von dem Brocken entfernt. Direkt über ihn hatte sich Hobbler gebeugt, hinter dem die beiden Menschen standen, die mit ihm aus der Silberwelt geflohen waren. Sie sahen mitgenommen aus, ihre Kleidung bestand nur noch aus Fetzen, doch sie hatten ihr ganz persönliches Grauen überlebt.

Keine zehn Schritte von Zamorra entfernt, wand sich ein Mann in

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scheinbar unerträglichen Schmerzen am Boden. Es war Dalius Laer-tes! Der Sprung, mit dem er Zamorra und sich aus der Silberwelt ge-rettet hatte, war ihm schlecht bekommen.

Zamorra schaffte es, auf die Füße zu kommen. Noch torkelnd überwand er die kurze Distanz zum Uskugen, der anscheinend um sein Leben kämpfte. Doch als Zamorra ihn vorsichtig an der Schul-ter berührte, entspannte sich der verkrampfte Körper plötzlich.

»Bei allen Teufeln, Laertes, was ist mit dir los?« Der Uskuge drehte sich mit einem Ruck auf den Rücken und riss die Augen auf.

Zamorra zuckte zurück, denn was er sah, das war nicht der stoi-sche Blick des Vampirs, sondern ein Funkeln, das unbändige Ener-gie, Jugendlichkeit und den Hauch des Bösen in sich trug.

»Sajol?« Zamorra war entsetzt. Laertes' Sohn hatte die Oberhand beim Kampf der zwei Bewußtseine gewonnen. So musste es sein. Das war schon einmal geschehen, als Laertes seine von einer weißen Stadt gegeißelte Heimatwelt besucht hatte. Dort hatte sich Sajol vom Schutz seines Vaters befreien können. Seine übermächtige Magie hatte die dortige Wurzel mit Leichtigkeit vernichtet. Uskugen war wieder frei gewesen – und die überlebenden Bewohner konnten nach und nach damit beginnen, ihre Heimat wieder in Besitzt zu nehmen. Damals hatte Dalius es geschafft, seinen Sohn erneut in eine Art Stase zu versenken, die dem Vater die Kontrolle über den Sohn zurück brachte.

Aber es war äußerst fraglich, ob das noch einmal funktionieren konnte.

Sajol brachte ein eiskaltes Lächeln auf seine Lippen. »Ja, ich bin es. Freust du dich mich zu sehen, Zamorra?« Der gab keine Antwort, denn er wusste aus Laertes' Berichten, was geschehen konnte, wenn sein Sohn zum vollen Ausbruch kam. Vielleicht würde das in letzter Konsequenz für diese Welt ein viel größerer Schrecken werden, als er vom Vampirdämon ausging. Vielleicht sogar für weitaus mehr als nur die Welt.

Sajol/Laertes richtete sich auf.»Keine Panik, Professor, du musst dir nicht gleich in die Hose ma-

chen.« Sowohl die Stimmfärbung als auch die Wortwahl war ganz eindeutig nicht Laertes. »Vater und ich haben eine Vereinbarung ge-

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schlossen – sozusagen einen Vertrag – der besagt, dass wir die Flucht aus diesem Ding da hinten nur gemeinsam überleben konn-ten. Also habe ich zugestimmt. Nett von mir, nicht wahr? Aber ir-gendwie gefällt mir das so, wie es jetzt ist recht gut.« Er legte den Kopf ein wenig schräg. »Was denkst du, Vater? Sollten wir es nicht besser so belassen?« Sajol sprach mit sich selbst, mit dem Laertes-Anteil in ihm.

Dann lachte er brüllend auf. »Nein, das sieht er ganz und gar nicht so …« Er schloss die Augen, und als er sie nach Sekunden wieder öffnete, waren es die des Dalius Laertes. Zamorra entspannte sich sichtlich.

»Verflucht Dalius, was ist hier los?« In kurzen und stockenden Worten berichtete ihm der Uskuge, wie Sarkana seinen Sprung auf diese Welt manipuliert und Laertes gefangen genommen hatte.

Und er machte Zamorra klar, warum er Sajols Hilfe in Anspruch genommen hatte – die Hilfe eines Wesens, dessen Macht über alles nur Denkbare hinaus zu reichen schien.

»Einen zweiten Sprung, raus aus meinem Gefängnis, hätte ich nicht überlebt, das war mir klar. Aber gemeinsam mit Sajols Magie konnte das gehen. Es war ein gewaltiges Risiko. Es wäre gut, wenn ich mich nun für Stunden zurückziehen könnte, um den alten Zu-stand zwischen ihm und mir erneut zu sichern.« Er blickte sich um, sah die Silberwelt, sah den dunklen Überzug, der bereits wieder ein Stück gewachsen schien. »Dazu werde ich aber wohl kaum eine Chance bekommen, richtig?«

Zamorra nickte. Seine kurze Beschreibung dessen, was seit dem Sprung vom Spider hierher geschehen war, fiel ebenfalls knapp aus, doch Laertes' Gesichtsausdruck verfinsterte sich mit jedem Wort des Parapsychologen.

»Das also ist die Silberwelt von der du mir damals erzählt hast. Ich erinnere mich – und auch an das Sarkana-Fragment, das ihr vernich-tet geglaubt hattet. Ein Fehlglaube, wie es scheint.«

Zamorra nickte. »Wie ist es möglich, dass sich Sarkana aus einem so winzigen Teil seiner selbst regenerieren kann?«

Laertes zuckte die Schultern. »Er war … ist einer der ältesten und mächtigsten Dämonen, die von der Hölle je ausgespuckt worden

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sind. Was wissen wir schon, was die alles können oder nicht. Zu-dem hat er sich nicht völlig wieder hergestellt – er kann seinen Dä-monenkörper nicht mehr annehmen. Zumindest noch nicht. Wir müssen ihn endgültig zerstören. Gemeinsam haben wir ihn damals in den Schattenraum gebracht – lass es uns noch einmal versuchen.«

Die Magie des Uskugen, gepaart mit Merlins Sterns Macht, hatte den Dämon damals in arge Schwierigkeiten gebracht. Es hatte nicht ausgereicht, um ihn damit allein zu vernichten, doch Sarkana konn-te sich dieser Mischung nicht richtig erwehren.

Zamorras Blick ging zur Silberwelt. Etwas kam dort in Bewegung. Mittlerweile hingen fünf tote und schrecklich entstellte Körper auf der Schicht, doch die sanken nun langsam zu Boden … und standen wieder auf! Sarkana schickte die Toten in die Schlacht gegen Laertes und Zamorra.

Es war ein grauenhafter Anblick, der sich den beiden bot. Hobbler und die beiden Menschen schienen wie gelähmt, doch in Laertes kam plötzlich heftige Bewegung. Er stürmte vor, gefolgt vom Pro-fessor, der sich immer wieder sagte, dass er hier gegen Tote kämpf-te, die von Sarkanas Magie beseelt waren. Dennoch war es ihm zu-wider, gegen diese elenden Opfer vorzugehen. Doch es blieb ihm keine andere Wahl.

Laertes griff sofort an – schwarze Blitze zuckten aus seinen Fin-gern, die den ersten der Zombies sofort zu Boden schickten, doch er stand wieder auf. Überall dort, wo er gegen den Schleim gedrückt worden war, fehlte die Haut – das Gesicht war vollständig ver-schwunden, war zu einer einzigen Wunde geworden. Laertes schlug erneut zu, und nun blieb der Untote liegen. Zamorra ließ Merlins Stern erneut freien Lauf. Das Amulett schickte seine Silberblitze ge-gen die Angreifer. Nur wenige Sekunden später war alles vorüber.

»Los, wir greifen Sarkana direkt an.« Laertes war nicht zu brem-sen, wie es schien. Zu lange hatte er unter dem Vampirdämon lei-den müssen, hatte seinen Befehlen gehorcht und die niedersten und schmutzigsten Arbeiten für ihn erledigt. Sarkana hatte sich seine Finger nur dann selbst schmutzig gemacht, wenn es überhaupt nicht mehr anders gegangen war.

Nun musste das hier endgültig enden. Laertes wollte keine halben

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Sachen mehr machen.Zusammen ließen Zamorra und der Uskuge ihre Waffen sprechen.

Schwarze und silberne Blitze schlugen dicht an dicht gegen die Sil-berwelt, trafen den schleimigen Überzug wie und wo sie wollten. Die Masse kam in Bewegung. Es bildeten sich hässliche Blasen, die wie Geschwüre zerplatzten, einige Stellen schienen von innen her-aus zu brennen, doch noch immer widerstand Sarkana. Mehr noch: Er schlug zurück.

Winzige Geschosse aus der wuchernden Masse jagten mit enormer Geschwindigkeit auf die beiden Kämpfer zu. Beide schafften es nur knapp, ihre magischen Schutzschilde aufzubauen, da prasselten Ku-geln aus schierer Magie schon auf sie ein. Ein Dauerfeuer begann, das Zamorra und den Uskugen zum Rückzug zwang, denn irgendwann mochte ein Geschoss vielleicht doch den Schutz durchbrechen.

Laertes musste laut brüllen, damit Zamorra ihn durch den Lärm verstehen konnte. »So erreichen wir überhaupt nichts. Es muss eine andere Möglichkeit geben.«

Zamorra nickte. Sicher, aber welche? Wie sollten sie gegen diese Gefahr angehen. Plötzlich und ohne Vorwarnung ließ Laertes seinen Schutzschirm in sich zusammenfallen und sicherte sich mit einem Sprung in Merlins Sterns Magiefeld. Zamorra blickte den Vampir überrascht an. Ein Blick in dessen Augen verriet ihm alles. Beide konnte der Parapsychologe dort erkennen – den Vater wie den Sohn! Sajol war also noch zu einem Teil aktiv.

Es war allerdings Laertes' Stimme die zu ihm sprach.»Gib uns Feuerschutz, Zamorra. Wir setzen alles auf eine Karte.«

Der Professor hatte keine Chance um darauf zu antworten, denn Laertes/Sajol stürmte noch im gleichen Augenblick aus dem Schutz-feld des Amuletts heraus.

Jede Sekunde mussten die Geschosse Sarkanas in Laertes' Körper einschlagen, ihn verbrennen, ihn zerstören. Zamorra griff an, um dem Uskugen zumindest den Hauch einer Chance zu geben, was auch immer der vorhatte. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Zamorra verfolgen, was nun geschah.

Die Geschosse kamen gezielt auf Laertes zu, der scheinbar unge-schützt war. Doch kurz bevor sie einschlagen konnten, wurden sie

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abgelenkt, mehr noch – umgekehrt. Sie rasten in unverminderter Geschwindigkeit auf die Silberwelt zu und schlugen in die Sarkana-Masse ein. Ein mentaler Aufschrei klang in Zamorras Kopf auf. Der Vampir bekam seine eigene Magie zu spüren, was ihm offenbar überhaupt nicht schmeckte.

Laertes/Sajol streckte die Arme in Richtung des Blocks aus, legte die Hände zusammen, öffnete sie wie in Zeitlupe wieder. Eine Blase, vollkommen durchsichtig und klar, schwebte nach vorne. Sie war kaum größer als ein Fußball, doch mit jedem Meter dehnte sie sich aus. Als sie die Silberwelt erreicht hatte, zerplatzte sie nicht, sondern legte sich über die Fläche, die von Sarkana beherrscht wurde. Der Dämon schrie entsetzt auf, drückte seine derzeitige Daseinsform nach außen, doch dann fiel er scheinbar kraftlos zurück, klebte nach wie vor an der Schiffshülle.

Die Schreie wurden leiser, verstummten schließlich völlig.Laertes/Sajol knickte in den Beinen ein, als wäre diese Anstren-

gung zu viel für den Körper des Uskugen gewesen. Doch rasch er-holte er sich auch wieder. Zamorra eilte zur Hilfe, doch Laertes winkte nur ab. Der Professor blickte zur Silberwelt. Nichts rührte sich dort.

Er blickte in die Augen des Uskugen, in denen nun wieder eindeu-tig Laertes zu erkennen war. Der Vampir sog die Luft heftig ein, dann war er wieder in der Lage zu sprechen.

»Zum ersten Mal habe ich gemeinsam mit meinem Sohn ge-kämpft.« Laertes senkte den Kopf. Zamorra hatte den Eindruck, als hätte diese Aktion den Uskugen bis über seine Grenzen hinaus ge-tragen. »Sajol hat sich noch einmal nach vorne gedrängt … und ich habe ihn gewähren lassen.«

Zamorra blickte erneut zum Brocken hin. »Ist Sarkana …«Laertes ließ ihn nicht ausreden. »Er ist nicht tot, nur gelähmt und

auch das nur für einen gewissen Zeitraum. Sajol hätte ihn vernich-ten können, doch dann hätte ich ihm zu viel Freiraum gewähren müssen. Die Folgen wären nicht absehbar gewesen. Nein, Sarkana existiert noch. Das hier ist nur eine temporäre Lösung unserer Pro-bleme.«

Zamorra überlegte, dann fiel sein Blick auf Hobbler, der mit den

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beiden Geretteten zusammen stand. Drei Wesen, die aus verschiede-nen Welten stammten – und doch trösteten sie einander, halfen sich gegenseitig die Gefahr zu überstehen. Ein Bild mit Seltenheitswert, doch es machte Zamorra ein klein wenig Mut.

Hobbler …Zamorras Gestalt straffte sich. Vielleicht war das ja die Lösung ih-

rer Probleme.Hobbler … der kleine Gangläufer, der so viel gelernt hatte.

Aartje Vaneiden beobachtete die Anzeigen vor sich mit großer Kon-zentration.

Der Spider sank langsam in die Atmosphäre der Welt, die er in den vergangenen Tagen so oft umkreist hatte.

Kobylanski war endlich einmal still, wie Aartje zufrieden regis-trierte. Auch er war in seine Kontrollen vertieft. Jede nur mögliche Gefahr musste sofort erkannt werden. Sie durften nicht das gerings-te Risiko eingehen. Aartje war jederzeit bereit sofort auf Fluchtge-schwindigkeit zu gehen. Das würde den Meegh-Raumer wieder aus der Atmosphäre katapultieren. Doch noch rührte sich da unten überhaupt nichts.

»Kannst du etwas erkennen?« Kobylanski wandte den Kopf in Richtung der Niederländerin.

Die verneinte mit einer Geste ihrer Hand. Sie war mindestens so nervös wie ihr Kollege, doch ständiges Nachfragen machte doch auch keinen Sinn. Knapp über der Wolkenschicht brachte Aartje das Schiff zum Stillstand. Sie waren getarnt, sahen jetzt selbst wie eine Wolke aus, doch sie wollte die Oberfläche zunächst mit den Kame-ras des Spiders absuchen. Die waren von unglaublicher Präzision, wie das Bild bewies, das nun auf dem Hauptbildschirm erkennbar wurde, der die gesamte Breite der Zentrale umspannte. Dort unten konnte Aartje die Lebenszeichen von Zamorra anpeilen.

Was die beiden zu sehen bekamen, war nicht sonderlich spektaku-lär. Die gesamte Umgebung hatte große Parallelen zu denen, die man etwa überall in Europa finden konnte. Ansiedlungen, Wälder, Wiesenlandschaft … Mittelgebirge. Nichts, was man als ungewöhn-

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lich bezeichnen konnte. Das alles passend zu der Epoche, in der sich diese Welt gerade befand.

»Halt mal … zurück bitte.« Aartje ließ den Kamerawinkel zurück fahren, wie Valentin gefordert hatte. Und nun sah sie, was ihr wohl eben nicht aufgefallen war. Ein großes Objekt von erstaunlicher Form. Aartje betätigte den Zoom … und legte den Kopf schräg, als wolle sie eine Erinnerung aus ihrem Gedächtnis hervorlocken.

»Das kann aber doch jetzt nicht stimmen.« Sie blickte zu Kobylan-ski. »Oder was sagst du? Kommt dir das da unten nicht auch verflixt bekannt vor? Stell es dir nur einmal in einer anderen Umgebung vor … hast du's?«

Kobylanski nickte unendlich langsam und vollkommen ungläubig. »Unmöglich – kann nicht sein … ist aber so!« Das war reichlich wir-res Zeug, doch Aartje verstand den Polen durchaus.

Das dort unten war die Silberwelt! Nur dass im Grunde nicht sein konnte, was sie entdeckt hatten. Nur einen Herzschlag später blieb den beiden keine Zeit mehr für Spekulationen. Denn plötzlich brach unter ihnen die energetische Hölle los.

»Weg von hier!« Kobylanski schrie laut auf.Aartje Vaneiden hatte jedoch bereits reagiert. Noch eben hatte die-

se Welt praktisch keinerlei Energieanzeigen von sich gegeben, doch nun rasten die Messskalen vor Aartje in schwindelerregende Höhen. Mit der rechten Hand schlug sie auf den Taster, der das Schiff wie von einem Katapult abgefeuert zurück ins All beförderte.

Die beiden hatten sich von dem Schock noch nicht erholt, als die Funkstation sich meldete.

Sie wurden gerufen … hier, von einer Welt aus, die im tiefsten Sta-tus des Mittelalters lag.

Aartje und Valentin blickten einander nichtverstehend an.Dann aktivierte Kobylanski die Verbindung …

»Hobbler, wir müssen die Silberwelt räumen – deine Leute evakuie-ren.«

Hobbler hatte die Worte des Professors gehört, aber ihm war de-ren Sinn verborgen geblieben. Fürchtete Zamorra, dass der Parasit

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schon bald wieder zu neuem Leben erwachen und die Carr'ier atta-ckieren würde? Hobbler hatte Vertrauen in die Dinge, die Zamorra tat. Also folgte er dem, was sein Erdenfreund sagte.

Zamorra, Laertes und der Gangläufer betraten erneut die Silber-welt. Zamorra rechnete damit, erneut auf die Schleimmassen zu tref-fen, die allerdings nun wohl inaktiv sein würden, doch die Gänge waren leer und sauber. Sarkana hatte die Massen wohl zu sich zu-rück gerufen, ehe er von Sajol betäubt worden war.

Es dauerte gut eine Stunde, bis tatsächlich alle Carr'ier den Bro-cken verlassen hatten. Nun standen sie draußen, dort, wo sich in der Zwischenzeit eine Menschenmenge versammelt hatte. Es war natür-lich nicht unbemerkt geblieben, was hier geschehen war. Zamorra sah, wie die Menschen miteinander diskutierten und heftig gestiku-lierten. Sarkanas mentale Beeinflussung begann sich aufzulösen. Nach Jahren spürten die Leute dort wieder freie Gedanken in ihren Köpfen. Dieses Erlebnis musste einfach wunderbar sein.

Erfreut bemerkte Zamorra, dass niemand auf die Idee kam, die Carr'ier zu attackieren. Anscheinend hatten die Menschen begriffen, dass die Silbernen, wie sie genannt wurden, selbst unter Einfluss ge-standen hatten.

Zamorra legte eine Hand auf Hobblers Schulter. Sie hatten keine Zeit zu verlieren, denn niemand konnte sagen, wann Sarkana die Lähmung abschütteln würde. Bis dahin musste die ganze Aktion be-reits gelaufen sein. Die Aktion, der Hobbler nach wie vor ahnungs-los gegenüberstand.

Laertes, Zamorra und der junge Carr'ier kehrten in die Steuerzen-trale des Raumers zurück. Laertes blickte sich um und schüttelte den Kopf. Diese Technik war ihm fremd. Zamorra nicht minder, doch da gab es noch jemanden im Raum, bei dem die Sache ganz an-ders lag.

Zamorra setzte sich in den Formsessel neben Hobbler.»Hobbler, starte die Silberwelt.«Ein einziger Satz nur, doch der ließ den Carr'ier erstarren.»Starten? Zamorra, das kann ich nicht.«Der blieb unbeeindruckt. »Wodlog hat dich alles gelehrt, was er

wusste, das hast du mir selbst gesagt.«

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Hobbler nickte heftig. »Ja, das ist die Wahrheit – und alles Weitere über das Steuern der Silberwelt habe ich mir aus den Archiven gezo-gen und es gelernt. Aber doch nur in der Theorie. So ein Start ist ein ungeheuer komplizierter Vorgang, für den man zudem mindestens zwei Piloten benötigt.«

Zamorra wies auf Hobbler und dann auf sich. »Eins und zwei – ich helfe dir. Du musst mir nur Anweisungen geben. Hobbler, das ist die einzige Chance, die ich für die Letzten deines Volkes und für die Bewohner dieser Welt sehe. Wenn Sarkana wieder erwacht, dann ist alles verloren. Er muss von diesem Planet verschwinden und mit ihm die Silberwelt. Also los – starten!«

Laertes hatte es sich in einem der außen stehenden Sessel bequem gemacht. Konzentriert versuchte er seinen Sohn wieder voll und ganz zu kontrollieren, doch er war jederzeit bereit, einen Sprung ein-zuleiten.

Er ahnte was der Professor vorhatte, doch er schwieg dazu.Hobbler zögerte noch, doch dann straffte er seine schmalen Schul-

tern.»Gut, ich bin bereit. Also fangen wir an.«

Ketlin und Jylge hatten sich von der Silberwelt entfernt, so wie man es ihnen gesagt hatte. Der Mann, der ihnen sicher das Leben gerettet hatte, war deutlich gewesen.

»Ihr alle – Menschen und Carr'ier – müsst von hier verschwinden. Geht bis zum Waldrand, mindestens so weit. Und fallt nicht in Pa-nik, wenn sich der Brocken oder Klotz, wie ihr ihn nennt, in die Luft heben wird. Das ist die einzige Chance auf ein freies Leben für euch. Verhaltet euch also passiv und wartet ab. Wir kommen zurück, al-lerdings ohne den Brocken.«

Zunächst ein wenig unwillig, doch dann mit immer höherer Ge-schwindigkeit taten sie alle, wie Zamorra ihnen geheißen hatte. Und nun standen sie gemeinsam dort – die Menschen und die Silbernen. Doch es geschah nichts.

Ketlin nahm Jylges Hand.»Was, wenn der Mann unrecht hatte? Wird dann wieder alles wie

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zuvor? Ich würde das nicht ertragen.«Jylge nahm sie in seine Arme. Längst hegte er starke Gefühle für

die Frau seines toten Bruders und auch Ketlin fühlte sich zu Jylge hingezogen. Aber hatten sie denn eine Zukunft?

Ein Brüllen erfüllte die Luft. Ein Stöhnen und Jaulen, begleitet von wild aufflammenden Lichtern, die direkt am Brocken leuchteten. Dann jedoch erstarben die Töne und Lichter wieder schlagartig, nur um Sekunden darauf wieder zu neuem Leben zu erwachen.

Verängstigt rückten Carr'ier und Menschen näher zusammen. Und dann geschah es – der Brocken, dieses gigantische Gebilde, das zur Geißel dieser Welt geworden war, hob vom Boden ab. Zunächst nur unendlich langsam und quälend träge.

Doch dann nahm es Fahrt auf und stieg in die Höhe.Die Menschen ließen sich zu Boden fallen, weil sie glaubten, nun

sei ihr Ende gekommen; andere streckten ihre Arme nach oben, als wollten sie dem Klotz noch einen zusätzlichen Schub mit auf seinen Weg geben.

Wie er gekommen war, so verließ er diese Welt auch wieder.Ketlin und Jylge blickten dem Brocken nach, bis er die Wolken

durchstoßen hatte.Lange noch standen sie so da, hielten einander fest umschlungen

und flehten still ihre alten Götter an, dass es keine Rückkehr für den verfluchten Klotz geben würde.

Hobbler schwitzte Blut und Wasser.Dem kleinen Carr'ier lief der Schweiß tatsächlich in Bächen an sei-

nem Körper herab. Seine Hautfarbe, die im Prinzip eher blass zu nennen war, hatte sich in ein bedenklich tiefes Rot gewandelt. Aber er hielt durch. Hektisch flitzten seine Finger über die Eingabefelder. In der Theorie hatte er das hier schon etliche Male durchgespielt – hatte durchaus auch schon einige praktische Versuche hinter sich … die bei ausgeschalteten Maschinen jedoch nichts weiter als eine Spie-lerei gewesen waren.

Als der Antrieb sein brüllend lautes Lied zu singen begonnen hat-te, war Hobbler das Herz bis weit unter die Gürtellinie gerutscht. Je-

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der noch so kleine Fehler konnte in einer Katastrophe enden.Das war auch der Grund, warum er den ersten Versuch panisch

abgebrochen hatte. Doch Zamorra hatte ihn beruhigt. Der andere Fremde, den Hobbler nicht kannte, schien vollkommen in sich ver-sunken zu sein. Vielleicht schlief er sogar. Wie konnte er nur! Das hier mochte ihrer aller Tod sein – verursacht von ihm, der doch nur ein kleiner Gangläufer gewesen war. Ein Träumer, der sich hier je-doch seinen größten Traum selbst verwirklichen konnte: Pilot der Silberwelt zu sein.

Und dann hob das Schiff vom Boden ab.Hobbler gab hektische Anweisungen an Zamorra, der davon profi-

tierte, dass er nicht zum ersten Mal vor der Steuerung eines Raum-schiffes saß. Natürlich konnte man das hier nicht mit dem Meegh-Schiff vergleichen, sicher auch nicht mit der Technik der EWIGEN, doch immer gab es irgendwo ein Schema, eine logische Anordnung, die – wenn man sie einmal verinnerlicht hatte – sehr hilfreich war.

Schnell gewann die Silberwelt an Höhe. Zamorra sprach Hobbler an, der absolut konzentriert wirkte.

»Wie kann man den Funk aktivieren. So etwas gibt es hier doch mit Sicherheit. Ich muss einen Ruf absetzen.«

Hobbler dachte einen Augenblick lang nach. Auch darüber hatte er gelesen, konnte sich aber nichts darunter vorstellen. Für ihn gab es nur die Silberwelt. Warum also sollte man in das leere All hinein-rufen? Er zeigte Zamorra die entsprechenden Schaltflächen. Zamor-ra kam rasch damit klar. Er öffnete einen Kanal. Irgendwo hier musste es Mikrofone geben, die wahrscheinlich unsichtbar einge-baut waren. Er versuchte also sein Glück.

»Zamorra ruft Spider – Kobylanski und Vaneiden – bitte meldet euch.« Es dauerte eine ganze Weile, doch dann klang Aartje Vanei-dens Stimme zu ihm. Klar und deutlich.

»Zamorra? Von wo aus funkst du? Gibt es auf dieser trostlosen Welt denn überhaupt Funkstationen? Und wie werden die dort be-trieben?«

Zamorra lachte auf. »Trostlos? Du würdest dich wundern, aber dazu später mehr. Ich sitze in der Zentrale der Silberwelt. Ihr erin-nert euch?«

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Sekundenlang herrschte Funkstille. Dann meldete sich Aartje wie-der. »Also doch. Wir konnten es nicht glauben, als wir das Generati-onsschiff gesehen haben.«

Gesehen? Aus dem Orbit heraus waren zwar gute Details mit den Kameras des Spiders zu entdecken, aber um die Silberwelt zu erken-nen, mussten sie schon weiter nach unten gegangen sein, das stand fest. Zamorra schluckte die nächste Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. Der Spider hatte im Orbit bleiben sollen. Aber darüber konnte er mit Aartje Vaneiden und Kobylanski ja auch noch später sprechen. Jetzt gab es andere Dinge zu klären.

»Hört mir jetzt gut zu.« In Windeseile erklärte Zamorra den bei-den die Situation. »Also macht euch aus dem Staub. Steht uns bitte nicht im Weg, wenn wir auftauchen.«

Kobylanski hatte das Sprechen übernommen. »Zamorra, sollen wir versuchen, das Sarkana-Fragment zu beschießen. Vielleicht können wir es dieses Mal erledigen.«

Zamorras Antwort war deutlich. »Was beim ersten Mal nicht funktioniert hat, wieder erneut nicht klappen. Also verhaltet euch still. Ich habe etwas anderes vor. Zamorra – Ende.«

»Und das wäre?« Laertes' Stimme klang vollkommen ruhig, als wäre dies hier nur eine Spazierfahrt.

Zamorra ging nicht auf die Frage ein, er wandte sich erneut an Hobbler. »Du hast mir erzählt, Sarkana hätte die Silberwelt enorm beschleunigt. Hast du eine Idee, wie er das gemacht hat? Ich meine – hat er das mit Magie erreicht? Oder steckt in diesem Schiff mehr, als wir alle denken?«

Hobbler hatte sich darüber natürlich seine Gedanken gemacht. Die Silberwelt flog im Normalmodus eher langsam, hätte also nie die Strecke bis zu dieser Welt in so kurzer Zeit absolvieren können. Doch genau das war geschehen. Er hatte sich eine Theorie zurecht gelegt, die er jedoch für unwahrscheinlich hielt.

»Schau her, Zamorra.« Er deutete auf ein Symbol, das dem Para-psychologen überhaupt nichts sagte. »Mein Volk hat Waren trans-portiert. Von einer Welt zur anderen. Oft waren es wahrscheinlich hoch empfindliche Lasten, also ging man kein Risiko ein … glaube ich zumindest. Man flog mit Normalgeschwindigkeit.«

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Zamorra begann langsam zu ahnen, worauf Hobbler hinaus woll-te. Was er da andeutete, war ein Raumflug mit angezogener Hand-bremse, um keinen Schaden zu riskieren. Hobbler sprach weiter.

»Dieses Symbol hier bedeutet so viel wie schlafende Kraft. Ich stelle mir vor, dass die Silberwelten, wenn sie keinen Transport durch-führten, erheblich schneller geflogen sind, denn so konnten sie rasch zur nächsten Welt gelangen, um dort wieder einen Auftrag zu erhal-ten. Vielleicht irre ich mich aber auch. Wodlog hat dieses Symbol nie begriffen, und auch die Archive sagen nichts darüber.«

Zamorra nickte. Der Carr'ier hatte seinen alten Lehrer längst über-trumpft. Genau das hatte Zamorra gesucht und erhofft – eine zu-sätzliche Beschleunigung für die Silberwelt. »Hobbler, Laertes, hört mir zu. Es gibt nur eine Möglichkeit, um Sarkana für alle Zeiten los zu werden.« Zamorra deutete auf den Bildschirm, der das All um den Planet herum zeigte. Und die Sonne, die dieser Welt Leben ge-schenkt hatte.

Laertes zog langsam seine Augenbrauen in die Höhe. Er hatte ver-standen. Hobbler jedoch blickte Zamorra mit großen Augen an. Der legte eine Hand auf die Schulter des Jungen.

»Wir müssen die Silberwelt opfern, Hobbler, deine Heimat. Die Kraft der Sonne wird der Parasit nicht überleben können, das ist si-cher, aber …«

Hobbler begriff nun, was sein Menschenfreund plante. Einige Mo-mente lang senkte er den Kopf, doch dann stand sein Entschluss fest.

»Ja, du hast Recht. So wird es gehen.« Er holte einmal tief Luft. »Schade, vielleicht hätte ich mich sogar irgendwann auf dieser Welt wohlfühlen können. Aber ich bin bereit mich zu opfern. Aber du, Zamorra – kann dein Schiff denn dich nicht zumindest retten?«

Zamorra verstand, was Hobbler meinte. Er lachte. »Du kennst ja noch nicht die feinen Fähigkeiten, über die mein Freund hier ver-fügt. Keiner von uns wird sterben – und du wirst bald wieder bei den Überlebenden deines Volkes sein. Also los, wir sollten nicht zö-gern, sonst wird der Dämon doch noch zu früh wach und macht uns hier seine ganz private Hölle auf. Hobbler, programmiere einen Kurs, der direkt in die Sonne hineinführt.«

Hobbler wusste nach wie vor nicht, wie sie das überstehen sollten,

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aber er tat wie ihm geheißen wurde. Der Sonnenball wuchs in den Hauptbildschirm hinein.

Laertes hatte die Hände des jungen Hobblers umfasst.Zamorra sah, wie der die Augen weit aufriss und den Mund öffne-

te. Der Carr'ier tat ihm leid, denn wie sollte er verstehen, was nun mit ihm geschah? Zamorra hoffte nur, dass der Sprung reibungslos verlief. Wenn nicht, dann würde es auch für ihn langsam brenzlig werden. Die Lebenserhaltungsanlage der Silberwelt funktionierte zwar ohne Probleme, doch die Hitze stieg von Sekunde zu Sekunde. Zamorra hatte sich von Hobbler die Anzeige der Außentemperatur zeigen lassen. Da waren Werte abzulesen, die dem Franzosen so nicht viel sagten, doch die Messskala näherte sich einem rot gekenn-zeichneten Bereich. Das konnte nur bedeuten, dass die Außenhülle bereits enorm erhitzt war. Dennoch würde es mit dieser Geschwin-digkeit zu lange dauern, bis die Silberwelt die Sonne erreicht hatte.

Sarkana war nach wie vor gelähmt, doch ganz weit in Zamorras Hinterkopf konnte er ein leises Ziehen verspüren. Der Dämon wür-de bald wieder aktiv werden. Der Parapsychologe vernahm hinter sich einen feinen Luftzug. Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite.

»Ich habe mich selten so gefreut dich zu sehen, Dalius.« Der Usku-ge antwortete nicht. Ihm war die Hitze, die nun in das Innere des Schiffes durchschlug, nicht anzusehen – Vampire schwitzten nicht, zumindest sagte man so.

»Der Junge hat wie am Spieß geschrien, als ich ihn direkt bei sei-nen Leuten abgesetzt habe.« Das klang ein klein wenig vorwurfsvoll und beleidigt. Zamorra lachte auf.

»Was für ein Wunder? Er wird sicher nie begreifen, wie du das ge-macht hast. Ehrlich gesagt verstehe ich es auch nicht – weder bei dir, noch bei den Druiden vom Silbermond. Aber ich muss ja auch nicht alles verstehen. Bist du bereit, Laertes?«

Der Uskuge nickte und stellte sich direkt hinter den Sessel, in dem Zamorra saß. Seine schmalen Hände ruhten auf den Schultern des Professors, denn nur so konnte es einen Huckepacksprung geben. Körperkontakt war dabei unerlässlich.

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Zamorras rechte Hand schwebte über dem Symbol, das die schla-fende Kraft darstellte.

»Keine Ahnung, welche Kräfte wir jetzt wecken werden? Keine Ahnung, ob es überhaupt funktioniert. Also wagen wir es.«

Zamorra senkte seine Hand. Sofort wechselte die Farbgebung des Symbols von einem satten Rot zu einem nicht minder intensiven Grün. Und ein ungeheures Gebrüll durchlief das Raumschiff. Za-morras Blick fiel auf die Werte der Beschleunigung, die mit einem Schlag in die Höhe rasten. Es war, als hätte ein Titan dem Schiff einen mächtigen Tritt versetzt. Die Silberwelt schoss auf die Sonne zu, die plötzlich nicht mehr in den Bildschirm passte.

Die Hitze wurde unerträglich.Zamorra schrie auf. »Jetzt, Laertes, jetzt!«Und das gelbe Feuer der Sonne fraß die Silberwelt mit Haut und

Haaren … und mit allem, was in und auf ihr existiert hatte.

Zamorra hätte den kleinen Carr'ier nur zu gerne mit zur Erde ge-nommen, doch der hatte sich anders entschieden. Hobbler wollte bei seinem Volk bleiben. Sie waren nur noch so wenige, und es würde ihnen nicht leicht fallen, sich endgültig auf dieser Welt einzuleben.

Hobbler war sicher, dass sie ihn brauchten. Zamorra akzeptierte das natürlich, er verstand den Jungen nur zu gut.

Ketlin und Jylge waren froh, dass sie sich bei ihrem Retter bedan-ken konnten. Zamorra hatte an die beiden ein Anliegen.

»Viele hier werden den Silbernen, wie ihr sie genannt habt, vorhal-ten, mit ihnen wäre das Unglück über die Welt gekommen, doch sie waren ja selbst nur Opfer. Sie werden Freunde brauchen, die ihnen helfen, sich hier zu integrieren. Wollt ihr diese Freunde sein?« Za-morra hatte bemerkt, mit welcher Achtung man Ketlin hier begegne-te. Sie schien eine sehr angesehene Person auf dieser Welt zu sein. Das konnte den Carr'iern durchaus von Nutzen sein.

Ketlin und Jylge versprachen das nur zu gerne.Für Zamorra und Laertes gab es hier nichts mehr zu tun. Sie ver-

ließen eine freie Welt.An Bord des Spiders musste zunächst einmal die Neugier von

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Aartje und Valentin befriedigt werden. Sie konnten nicht fassen, was der Professor und der Uskuge auf dieser Welt erlebt hatten. Zamor-ra wies Aartje an, den Heimflug zu starten.

Später setzte sich Zamorra neben Laertes, der wieder einmal wirk-te, als würde er schlafen. Der Parapsychologe wusste, dass dem nicht so war.

»Hast du Sajol wieder unter Kontrolle?«Laertes nickte. »Soweit das überhaupt möglich ist – ja. Er hat mir

sicher das Leben gerettet … und somit auch das seine, denn ohne unsere Zusammenarbeit hätten wir Sarkanas Magie sicher nicht überlebt.«

Zamorra zögerte einen Moment. »Ich kenne dich ja inzwischen recht gut – also sag mir, was dich noch bedrückt. Ich spüre, da ist noch eine andere Sache.«

Laertes blickte dem Professor in die Augen.»Sarkana hat Erinnerungen in mir geweckt, die ich nicht ohne

Grund tief in mir vergraben hatte. Damit muss ich erst einmal klar kommen. Aber mach dir keine Gedanken, denn ich werde das schaf-fen.«

Er unterbrach sich kurz. »Wenn wir schon dabei sind. Ich denke auch, dich verfolgt etwas, das unausgesprochen ist. Im Grunde kön-nen wir doch zufrieden sein, denn wir haben einen alten Feind end-gültig besiegt, ehe der noch mächtiger werden konnte. Wir haben eine unterdrückte Welt von ihrer Lethargie befreit – die Menschen dort werden sicher bald den Weg in ihre neue Zeit finden. Und wir haben zwei Völker zusammen gebracht, die vielleicht einmal zu ei-nem einzigen, einem großen Volk werden können. Also – was be-drückt dich, Zamorra?«

Der Professor für Parapsychologie wusste, dass auch er nun ehr-lich sein musste. Gegenüber Laertes hatte er keine Probleme damit.

»Ich habe dort eine junge Frau getroffen, eine wunderschöne Frau mit einer unglaublichen Singstimme. Ihr Leben bestand nur aus dem Rachegedanken. Man hatte ihr alles genommen, ihre Eltern ermor-det und sie entsetzlich gefoltert.« Einen Moment lang hielt Zamorra inne. »Und sie hat blutige Rache an ihren Peinigern genommen. Das war alles, was ihr Leben bestimmt hat.«

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»Kannst du das nicht auch irgendwo verstehen?« Laertes fragte nach.

»Sicher – irgendwo … und auch wieder nicht. Ach, es spielt jetzt keine Rolle mehr, denn ich bin sicher, dass sie nicht mehr lebt.«

Der Uskuge runzelte die Stirn. »Hat sie dir viel bedeutet, Zamorra?«

Der Professor blickte den Vampir lange an, dann zuckte er mit den Schultern und ging in Richtung des Bildschirms, auf dem das herrli-che Glänzen des Alls zu sehen war.

Hatte Gila ihm etwas bedeutet? Er wusste es nicht. Vielleicht in ei-nem anderen Leben? Auf einer Welt wie der, die sie nun hinter sich ließen – möglich.

Er wusste nur, dass er es kaum erwarten konnte, Nicole in seine Arme zu schließen.

Es wurde Zeit, die Erde zu sehen, ihren Boden unter den Füßen zu spüren.

Höchste Zeit …