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Kriminologie I SS 2018 Page 2
Alter und Kriminalität
Schwerpunkt offiziell registrierter Kriminalität
– Jugendalter
– Männer: Heranwachsende
– Frauen: Jugendliche
Alterskriminalität (> 60 Jahre)
– Schwerpunkt liegt auf einfachem Diebstahl (ähnlich der
Kinderkriminalität)
Kriminologie I SS 2018 Page 4
Kriminalität junger Menschen
Formale Definitionen
– Kinder < 14 Jahre (strafunmündig, § 19 StGB)
– Jugendliche 14-17 Jahre
(relativ strafmündig, § 1 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz)
– Heranwachsende 18-20 Jahre
(bei noch nicht abgeschlossener Entwicklung oder bei typischer
Jugendverfehlung Geltung des Jugendstrafrechts, ansonsten
Erwachsenenstrafrecht, § 105 Jugendgerichtsgesetz)
– Aktuelle Fälle zur Altersfeststellung (z.B. Hussein K., Ali B.)
– Eintragungsfähigkeit Bundeszentralregister
(ab relativer Strafmündigkeit: Erziehungsregister, 14 Jahre)
– Eintragungsfähigkeit Polizeiliche Informationssysteme (Baden-
Württemberg beispw. PAD = Personenauskunftsdatei): nicht
gesetzlich festgelegt, 8 Jahre
Polizeilich registrierte deutsche jugendliche und heranwachsende
Tatverdächtige (linke Y-Achse) und Verurteilte (rechte Y-Achse) pro
100.000 1984 – 2014/2015
Kriminologie I SS 2018 Page 7
Kriminologie I SS 2018 Page 9
Bedingungen des Anstiegs der Jugendkriminalität
Neue Gelegenheiten und neue Risiken
Zerfall von Systemen informeller Kontrolle
Individualisierungstendenzen und Modernisierungs-
verlierer
Größere Anzeigebereitschaft
Zunahme prekärer (Risiko-) Gruppen
Der sozio-kulturelle Kontext der (Groß-)Stadt
– Reduzierte Zugangschancen und Schattenwirtschaften
– Ghettoisierung und Segregation
Verlust von Akzeptanz und Legitimation
Was erklärt die Abnahme der Jugendkriminalität?
Umweltbedingungen
– z.B. Verringerung der Bleibelastung
Erziehung und Erziehungsstile
– Familienplanung
Wertewandel
Sicherheitstechnologie (und Einstiegskriminalität, z.B.
Kraftfahrzeuge)
Kriminologie I SS 2018 Page 10
Kriminologie I SS 2018 Page 12
Die Alter-Kriminalitäts Kurve (KBZ, Deutsche, männlich)
0
2000
4000
6000
8000
10000
12000
8-9 10-11 12-13 14-15 16-17 18-20 21-22 23-24 25-29 30-39 40-49 50-59 60
und
älter
Kriminologie I SS 2018 Page 13
Ökonomie, Alter, Kriminalität und die Medien
stern.de - 12.1.2008 - 14:51
Seniorentäter
Altersvorsorge mit der Waffe
Experten befürchten, dass es immer mehr Senioren geben könnte, die etwa Supermärkte
ausrauben
Sie haben graue Haare, sind im Rentenalter und sollten eigentlich ruhig und weise
sein. Doch stattdessen gehen sie schwerbewaffnet auf Diebestour die schmale Rente
aufbessern. Experten warnen: In Zukunft muss mit mehr Raubüberfällen durch
reife Verbrecher gerechnet werden
Kriminologie I SS 2018 Page 14
Kriminalität, Alter und Älterwerden
Elemente
– Biologisches Altern
– Reifung
– Normative Grundlagen (Strafnormen)
Verschiedene Effekte
– Biologisches Alter (Reifungseffekte)
– Kohorteneffekte (Einfluss auf alle Angehörigen einer Geburts-kohorte)
– Periodeneffekte (Weltkrieg)
Drei Möglichkeiten
– Kriminalität konzentriert sich auf das Jugendalter (Adolescence limited offenders)
– Chronische Straftäter (fortdauernde Begehung von Straftaten bis in das späte Alter)
– Späteinsteiger (Latecomers to crime)
Kriminologie I SS 2018 Page 15
Freiburger Studie zur selbstberichteten Altersdelinquenz
(Franziska Kunz, 2014, 50 Jahre und älter)
Gesamtprävalenzraten nach Referenzzeitraum
66,8
47,3
26
0
10
20
30
40
50
60
70
80
Lebensspanne (n=1966) seit dem 50. Geburtstag(n=1971)
letzte 12 Monate (n=1969)
in P
roze
nt
Kriminologie I SS 2018 Page 17
Wie kann die Alter-Kriminalitäts-Kurve erklärt werden?
Theorie der Schwäche
– biologische Gründe
– (Ersatzhandlungen)
größere Toleranz alten Menschen gegenüber (weniger
Anzeigen)
höheres Maß an internen Kontrollen (und als Konsequenz
hieraus eine größere Konformitätsbereitschaft)
Theorie der Gelegenheiten
– Alterungsprozesse als "Ausgliederung" (Desozialisation) und
als Reduzierung der Teilnahme an (allen) sozialen Aktivitäten
Unterschiede in Sterberaten zwischen Straftätern und
Anderen
Kriminologie I SS 2018 Page 18
Alter und Veränderungen
Mehr Zugang zu legitimen Ressourcen
Altersgruppenbezogene Normen stützen Konformität: zunehmende Erwartung von Reife und verantwortlichem Handeln
Wandel in Assoziationsverhalten und Lebenstil:
– Weniger Orientierung an “gleiches Alter, gleiches Geschlecht” Personen
– Mehr Orientierung am anderen Geschlecht sowie älteren Personen
Zunehmende rechtliche und soziale Kosten im Falle der Begehung von Straftaten
Illegale Gelegenheiten für solche Straftaten erweitern sich, die weniger riskant und lukrativer sind (Betrug)
Die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten führt zu einer Abnahme von Egozentrismus, hedonistischem Verhalten und Interesse an Abenteuer/Risiko sowie zu mehr Selbstkontrolle
Kriminologie I SS 2018 Page 19
Kriminalität und Lebenserwartung
Kriminalitätsursachen stellen sich gleichzeitig als Ursachen
geringerer Lebenserwartung dar
– Geringe Selbstkontrolle führt zu mehr
– Suizid
– Unfällen
– Gewalt
– Krankheiten und Risiken, die verbunden sind mit Alkohol- und
Drogengebrauch
Kriminalität führt zu mehr Anomie und Stress, was wiederum führt zu
– Mehr Suiziden
– Mehr drogenbedingten Todesfällen
Geringe Lebenserwartung hängt zusammen mit besonderen Risiken
des Lebens mit Kriminalität
– Gewalt und vergeltende Gewalt
Kriminologie I SS 2018 Page 20
Sterberaten im Vergleich
Glueck, S., Glueck, E.: Delinquents and Nondelinquents in Perspective. Cambridge 1968.
– Laub, J.H., Vaillant, G.E.: Delinquency and Mortality: A 50 year follow-up study of 1000 delinquent and nondelinquent boys. American Journal of Psychiatry 157(2000), S. 96-102.
Kohorte chronischer jugendlicher Straftäter (und Kontrollgruppe):
Sterberaten
Kriminell Auffällige Kontrollgruppe
40 Jahre 8% 4%
65 Jahre 42% 27%
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Tatverdächtige insgesamt sowie weibliche Tatverdächtige
0
500.000
1.000.000
1.500.000
2.000.000
2.500.000
3.000.000
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
0
100.000
200.000
300.000
400.000
500.000
600.000
700.000
Insgesamt (linke Y-Achse) Weiblich (rechte Y-Achse)
Kriminologie I SS 2018 Page 23
Anteile weiblicher Tatverdächtiger 1987-2015
0
5
10
15
20
25
30
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
2011
2013
2015
Kriminologie I SS 2018 Page 24
Erklärung der
(geringeren Häufigkeit von) Frauenkriminalität
Biologische und moralische Erklärungen– Physiologie, Hormone (Testosteron)
Psychologische Erklärungen
– Empathie, Aggressivität
These der "Ritterlichkeit“
Theorie unterschiedlicher Sozialisation
Unterschiedliche Sozialkontrolle
Unterschiedliche Gelegenheiten (bedingt durch unter-
schiedliche Integration in das öffentliche bzw. Berufsleben)
Unterwelt als Spiegelbild der Oberwelt (Diskriminierung
und Machtgefälle)
Emanzipationsprozesse
Kriminologie I SS 2018 Page 25
Gender Unterschiede (1)
Höhere soziale Verträglichkeit– Nettle, D., Liddle, B.:Agreeableness is Related to Social-cognitive, but Not Social-perceptual, Theory of Mind. European Journal of Personality 22(2008), S. 323–
335
Mehr Empathie, prosoziales Verhalten und geringere Aggressivität
– Garaigordobil, M.: A Comparative Analysis of Empathy in Childhood and Adolescence: Gender Differences and Associated Socio-emotional Variables. International Journal of Psychology and Psychological Therapy 9(2009), S. 217-235; McPhedran, S.: A review of the evidence for associations between empathy, violence, and animal cruelty. Aggression and Violent Behavior 14 (2009) S. 1–4
Mehr Risikoaversion– Borghans, L., Golsteyn, B.H.H., Heckman, J.J., Meijers, H.: Gender Differences in Risk Aversion and Ambiguity Aversion. UCD Geary Institute, Discussion Paper
Series, 2009; Bajtelsmit, V.L., Bernasek, A.: Why Do Women Invest Differently Than Men? Financial Counseling and Planning 7(1996), S. 1-10.
Das Hormon Testostoron ist assoziiert mit hohem Selbst-vertrauen und dieses wiederum mit einer erhöhten Angriffs-bereitschaft und dem Streben nach Dominanz
– Johnson, D. et al.: Overconfidence in wargames: experimental evidence on expectations, aggression, gender and testosterone. Proceedings of the Biological Sciences. 273(2006), S. 2513-2520
– Der Zusammenhang wird heute jedoch ausweislich von Meta-Analysen als eher schwach angesehen
– Book, A.S. et al.: The relationship between testosterone and aggression: a meta-analysis. Aggression and Violent Behavior 6 (2001), S. 579–599
– Testosteronproduktion (und damit zusammenhängende aggressive Hand-lungen) sind abhängig von kulturell geprägten Erwartungen (hinsichtlich der Wahrnehmung beispielsweise von Provokation, Angriff oder Statusbe-drohung und angemessenen Reaktionen auf eine Provokation)
– Archer, J.: Testosterone and human aggression: An evaluation of the challenge hypothesis. Neuroscience and Biobehavioral Reviews 30(2006), S. 319−345
Kriminologie I SS 2018 Page 26
Gender Unterschiede (2)
Unterschiede in kognitiver Entwicklung und kognitiven Fähigkeiten
– Bennett, S., Farrington, D.P., Huesmann, L.R.: Explaining gender differences in crime and violence: The importance of social cognitive skills. Aggression and Violent Behavior 10(2005), S. 263-288
Bessere Lernleistungen– Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur: Geschlechterunterschiede bei Bildungsresultaten: derzeitige Situation und aktuelle Maßnahmen in Europa.
Brüssel 2009
Geringeres Risiko der Ausbildung früher Verhaltensstörungen als Folge einer schnelleren physischen und kognitiven Entwicklung
– Taylor, D.C.: Development rate is the major differentiator between the sexes. Behavioral and Brain Sciences 8(1985), S. 459-460
– Hiermit verbundene bessere kognitive und Lernfähigkeiten könnten sich dann schützend im Verhältnis zu negativen Umwelteinflüssen in späteren Lebensjahren auswirken
– Moffitt, T.E., Caspi, A., Rutter, M., Silva, P.A.: Sex differences in antisocial behaviour. Cambridge 2001
Komplexe Interaktionen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Merkmalen
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Gefährliche Klassen: Schicht und Kriminalität
Ausgangspunkt: offiziell registrierte Kriminalität konzentriert
sich auf untere soziale Schichten
– Schichtmodell und Klassenmodelle der Gesellschaft
19. Jahrhundert: Debatte über „Gefährliche Klassen“
– Lumpenproletariat
– Frage der Kontrolle (Einbindung) gesellschaftlicher Gruppen
– Einbindung durch Arbeit und Arbeitsmarkt
– Klassenstrafrecht und Klassenjustiz
– Einbindung durch Wohlfahrtsstaat
Kriminologie I SS 2018 Page 31
Die These: Armut wird bestraft
Die Armen (und das heißt: die gefährlichen Klassen) werden nicht
mehr durch soziale Sicherungssysteme ruhig gehalten (oder
gekauft), sondern durch die Drohung mit Strafe und dem Gefängnis
zur Raison gebracht
Teil der Kritik des Neoliberalismus und der Ökonomisierung aller
Lebensbereiche
Der Staat
– Gibt die Wohlfahrtspolitik auf
– Zieht sich auf sein Kerngeschäft zurück
– Überlässt alles Andere dem Freien Markt
Das Kerngeschäft besteht in der Durchsetzung des Gewaltmonopols
und in der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung durch die
Zwangsmittel des Polizei- und Strafrechts
Der Staat wird zum „Strafrechtsstaat“
Kriminologie I SS 2018 Page 32
Gewaltkriminalität und Gefangene USA (jeweils pro 100.000)
0
100
200
300
400
500
600
700
800
900
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
Gewaltkriminalität Gefangene
Kriminologie I SS 2018 Page 33
Weitere Kennzeichen (2010)
Von
– 106 weißen amerikanischen Männern (> 17 Jahre) befindet
sich 1 im Gefängnis
– 15 afro-amerikanischen Männern (> 17 Jahre) befindet sich
1 im Gefängnis
– 9 afro-amerikanischen Männern (20 – 34 Jahre) befindet
sich 1 im Gefängnis
Etwa 7,5 Millionen Amerikaner befinden sich entweder im
Gefängnis oder unter Bewährungsaufsicht
– Von 31 erwachsenen Amerikanern befindet sich 1 in
irgendeiner Form strafrechtlich veranlasster Überwachung
– Exklusion und vielfältige fortdauernde Einschränkungen in
der Lebensführung
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Kriminalitäts- und Gefangenenraten in Deutschland 1961 - 2015
0
20
40
60
80
100
120
1961
1963
1965
1967
1969
1971
1973
1975
1977
1979
1981
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
2011
2013
2015
0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
7000
8000
9000
Gefangene pro 100.000 Kriminalitätsbelastung
Kriminologie I SS 2018 Page 35
Gefangene und polizeilich registrierte Kriminalität Deutschland
USA
0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
7000
8000
9000
0
100
200
300
400
500
600
19
61
19
63
19
65
19
67
19
69
19
71
19
73
19
75
19
77
19
79
19
81
19
83
19
85
19
87
19
89
19
91
19
93
19
95
19
97
19
99
20
01
20
03
20
05
20
07
20
09
Gefangene Deutschland Gefangene USA Kriminalität Deutschland Kriminalität USA
Kriminologie I SS 2018 Page 36
Vergleichende Befunde zu Zusammenhängen zwischen
Wohlfahrtspolitik und Strafen
Gefangenenraten sind weitgehend unabhängig von der
Kriminalitätsbelastung
Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen Wohl-
fahrts-/Sozialhilfeausgaben eines Landes und der
Gefangenenrate (dies gilt auch für die USA)
– Je höher die Ausgaben, desto geringer die Gefangenenrate
Für den Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsorientierung
und kriminalpolitischen Orientierungen spielen das Ausmaß
von Kriminalitätsangst, Vertrauen und wahrgenommene
Legitimität des politischen Systems eine Rolle
– Wenig Angst, großes Vertrauen, Legitimität, starke
Wohlfahrtsorientierung = niedrige Gefangenenzahlen
Kriminologie I SS 2018 Page 37
Verbrechen als Beruf
Sutherland, E.H.: The professional thief. The University
of Chicago 1937.
Unterwelt, Schattenwelten und Schattenwirtschaften
Normen und Werte regulieren die Schattenwirtschaften
und damit verbundene Berufsrollen (Dieb und Hehler,
Zuhälter etc.)
Lerntheorien, Gelegenheitstheorien, ökonomische
Theorien