37
Kriminologie I SS 2018 Page 1 Die Alter-Kriminalitäts Kurve im Zeitverlauf (Verurteilte)

Die Alter-Kriminalitäts Kurve im Zeitverlauf (Verurteilte) · Mehr Empathie, prosoziales Verhalten und geringere Aggressivität – Garaigordobil, M.: A Comparative Analysis of Empathy

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Kriminologie I SS 2018 Page 1

Die Alter-Kriminalitäts Kurve im Zeitverlauf (Verurteilte)

Kriminologie I SS 2018 Page 2

Alter und Kriminalität

Schwerpunkt offiziell registrierter Kriminalität

– Jugendalter

– Männer: Heranwachsende

– Frauen: Jugendliche

Alterskriminalität (> 60 Jahre)

– Schwerpunkt liegt auf einfachem Diebstahl (ähnlich der

Kinderkriminalität)

Jugend und Kriminalität

Kriminologie I SS 2018 Page 4

Kriminalität junger Menschen

Formale Definitionen

– Kinder < 14 Jahre (strafunmündig, § 19 StGB)

– Jugendliche 14-17 Jahre

(relativ strafmündig, § 1 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz)

– Heranwachsende 18-20 Jahre

(bei noch nicht abgeschlossener Entwicklung oder bei typischer

Jugendverfehlung Geltung des Jugendstrafrechts, ansonsten

Erwachsenenstrafrecht, § 105 Jugendgerichtsgesetz)

– Aktuelle Fälle zur Altersfeststellung (z.B. Hussein K., Ali B.)

– Eintragungsfähigkeit Bundeszentralregister

(ab relativer Strafmündigkeit: Erziehungsregister, 14 Jahre)

– Eintragungsfähigkeit Polizeiliche Informationssysteme (Baden-

Württemberg beispw. PAD = Personenauskunftsdatei): nicht

gesetzlich festgelegt, 8 Jahre

TBZ bei jungen Menschen (deutsch) 1987 - 2016

Kriminologie I SS 2018 Page 5

TBZ Raub Jugendliche und Heranwachsende (deutsch)

Kriminologie I SS 2018 Page 6

Polizeilich registrierte deutsche jugendliche und heranwachsende

Tatverdächtige (linke Y-Achse) und Verurteilte (rechte Y-Achse) pro

100.000 1984 – 2014/2015

Kriminologie I SS 2018 Page 7

Strafgefangene 1987-2016 (Stichtag 31. 3.)

Kriminologie I SS 2018 Page 8

Kriminologie I SS 2018 Page 9

Bedingungen des Anstiegs der Jugendkriminalität

Neue Gelegenheiten und neue Risiken

Zerfall von Systemen informeller Kontrolle

Individualisierungstendenzen und Modernisierungs-

verlierer

Größere Anzeigebereitschaft

Zunahme prekärer (Risiko-) Gruppen

Der sozio-kulturelle Kontext der (Groß-)Stadt

– Reduzierte Zugangschancen und Schattenwirtschaften

– Ghettoisierung und Segregation

Verlust von Akzeptanz und Legitimation

Was erklärt die Abnahme der Jugendkriminalität?

Umweltbedingungen

– z.B. Verringerung der Bleibelastung

Erziehung und Erziehungsstile

– Familienplanung

Wertewandel

Sicherheitstechnologie (und Einstiegskriminalität, z.B.

Kraftfahrzeuge)

Kriminologie I SS 2018 Page 10

Alterskriminalität

Kriminologie I SS 2018 Page 12

Die Alter-Kriminalitäts Kurve (KBZ, Deutsche, männlich)

0

2000

4000

6000

8000

10000

12000

8-9 10-11 12-13 14-15 16-17 18-20 21-22 23-24 25-29 30-39 40-49 50-59 60

und

älter

Kriminologie I SS 2018 Page 13

Ökonomie, Alter, Kriminalität und die Medien

stern.de - 12.1.2008 - 14:51

Seniorentäter

Altersvorsorge mit der Waffe

Experten befürchten, dass es immer mehr Senioren geben könnte, die etwa Supermärkte

ausrauben

Sie haben graue Haare, sind im Rentenalter und sollten eigentlich ruhig und weise

sein. Doch stattdessen gehen sie schwerbewaffnet auf Diebestour die schmale Rente

aufbessern. Experten warnen: In Zukunft muss mit mehr Raubüberfällen durch

reife Verbrecher gerechnet werden

Kriminologie I SS 2018 Page 14

Kriminalität, Alter und Älterwerden

Elemente

– Biologisches Altern

– Reifung

– Normative Grundlagen (Strafnormen)

Verschiedene Effekte

– Biologisches Alter (Reifungseffekte)

– Kohorteneffekte (Einfluss auf alle Angehörigen einer Geburts-kohorte)

– Periodeneffekte (Weltkrieg)

Drei Möglichkeiten

– Kriminalität konzentriert sich auf das Jugendalter (Adolescence limited offenders)

– Chronische Straftäter (fortdauernde Begehung von Straftaten bis in das späte Alter)

– Späteinsteiger (Latecomers to crime)

Kriminologie I SS 2018 Page 15

Freiburger Studie zur selbstberichteten Altersdelinquenz

(Franziska Kunz, 2014, 50 Jahre und älter)

Gesamtprävalenzraten nach Referenzzeitraum

66,8

47,3

26

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Lebensspanne (n=1966) seit dem 50. Geburtstag(n=1971)

letzte 12 Monate (n=1969)

in P

roze

nt

TBZ Alte Menschen und Jugendliche

Kriminologie I SS 2018 Page 16

Kriminologie I SS 2018 Page 17

Wie kann die Alter-Kriminalitäts-Kurve erklärt werden?

Theorie der Schwäche

– biologische Gründe

– (Ersatzhandlungen)

größere Toleranz alten Menschen gegenüber (weniger

Anzeigen)

höheres Maß an internen Kontrollen (und als Konsequenz

hieraus eine größere Konformitätsbereitschaft)

Theorie der Gelegenheiten

– Alterungsprozesse als "Ausgliederung" (Desozialisation) und

als Reduzierung der Teilnahme an (allen) sozialen Aktivitäten

Unterschiede in Sterberaten zwischen Straftätern und

Anderen

Kriminologie I SS 2018 Page 18

Alter und Veränderungen

Mehr Zugang zu legitimen Ressourcen

Altersgruppenbezogene Normen stützen Konformität: zunehmende Erwartung von Reife und verantwortlichem Handeln

Wandel in Assoziationsverhalten und Lebenstil:

– Weniger Orientierung an “gleiches Alter, gleiches Geschlecht” Personen

– Mehr Orientierung am anderen Geschlecht sowie älteren Personen

Zunehmende rechtliche und soziale Kosten im Falle der Begehung von Straftaten

Illegale Gelegenheiten für solche Straftaten erweitern sich, die weniger riskant und lukrativer sind (Betrug)

Die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten führt zu einer Abnahme von Egozentrismus, hedonistischem Verhalten und Interesse an Abenteuer/Risiko sowie zu mehr Selbstkontrolle

Kriminologie I SS 2018 Page 19

Kriminalität und Lebenserwartung

Kriminalitätsursachen stellen sich gleichzeitig als Ursachen

geringerer Lebenserwartung dar

– Geringe Selbstkontrolle führt zu mehr

– Suizid

– Unfällen

– Gewalt

– Krankheiten und Risiken, die verbunden sind mit Alkohol- und

Drogengebrauch

Kriminalität führt zu mehr Anomie und Stress, was wiederum führt zu

– Mehr Suiziden

– Mehr drogenbedingten Todesfällen

Geringe Lebenserwartung hängt zusammen mit besonderen Risiken

des Lebens mit Kriminalität

– Gewalt und vergeltende Gewalt

Kriminologie I SS 2018 Page 20

Sterberaten im Vergleich

Glueck, S., Glueck, E.: Delinquents and Nondelinquents in Perspective. Cambridge 1968.

– Laub, J.H., Vaillant, G.E.: Delinquency and Mortality: A 50 year follow-up study of 1000 delinquent and nondelinquent boys. American Journal of Psychiatry 157(2000), S. 96-102.

Kohorte chronischer jugendlicher Straftäter (und Kontrollgruppe):

Sterberaten

Kriminell Auffällige Kontrollgruppe

40 Jahre 8% 4%

65 Jahre 42% 27%

Frauenkriminalität

Kriminologie I SS 2018 Page 22

Tatverdächtige insgesamt sowie weibliche Tatverdächtige

0

500.000

1.000.000

1.500.000

2.000.000

2.500.000

3.000.000

1987

1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

0

100.000

200.000

300.000

400.000

500.000

600.000

700.000

Insgesamt (linke Y-Achse) Weiblich (rechte Y-Achse)

Kriminologie I SS 2018 Page 23

Anteile weiblicher Tatverdächtiger 1987-2015

0

5

10

15

20

25

30

1987

1989

1991

1993

1995

1997

1999

2001

2003

2005

2007

2009

2011

2013

2015

Kriminologie I SS 2018 Page 24

Erklärung der

(geringeren Häufigkeit von) Frauenkriminalität

Biologische und moralische Erklärungen– Physiologie, Hormone (Testosteron)

Psychologische Erklärungen

– Empathie, Aggressivität

These der "Ritterlichkeit“

Theorie unterschiedlicher Sozialisation

Unterschiedliche Sozialkontrolle

Unterschiedliche Gelegenheiten (bedingt durch unter-

schiedliche Integration in das öffentliche bzw. Berufsleben)

Unterwelt als Spiegelbild der Oberwelt (Diskriminierung

und Machtgefälle)

Emanzipationsprozesse

Kriminologie I SS 2018 Page 25

Gender Unterschiede (1)

Höhere soziale Verträglichkeit– Nettle, D., Liddle, B.:Agreeableness is Related to Social-cognitive, but Not Social-perceptual, Theory of Mind. European Journal of Personality 22(2008), S. 323–

335

Mehr Empathie, prosoziales Verhalten und geringere Aggressivität

– Garaigordobil, M.: A Comparative Analysis of Empathy in Childhood and Adolescence: Gender Differences and Associated Socio-emotional Variables. International Journal of Psychology and Psychological Therapy 9(2009), S. 217-235; McPhedran, S.: A review of the evidence for associations between empathy, violence, and animal cruelty. Aggression and Violent Behavior 14 (2009) S. 1–4

Mehr Risikoaversion– Borghans, L., Golsteyn, B.H.H., Heckman, J.J., Meijers, H.: Gender Differences in Risk Aversion and Ambiguity Aversion. UCD Geary Institute, Discussion Paper

Series, 2009; Bajtelsmit, V.L., Bernasek, A.: Why Do Women Invest Differently Than Men? Financial Counseling and Planning 7(1996), S. 1-10.

Das Hormon Testostoron ist assoziiert mit hohem Selbst-vertrauen und dieses wiederum mit einer erhöhten Angriffs-bereitschaft und dem Streben nach Dominanz

– Johnson, D. et al.: Overconfidence in wargames: experimental evidence on expectations, aggression, gender and testosterone. Proceedings of the Biological Sciences. 273(2006), S. 2513-2520

– Der Zusammenhang wird heute jedoch ausweislich von Meta-Analysen als eher schwach angesehen

– Book, A.S. et al.: The relationship between testosterone and aggression: a meta-analysis. Aggression and Violent Behavior 6 (2001), S. 579–599

– Testosteronproduktion (und damit zusammenhängende aggressive Hand-lungen) sind abhängig von kulturell geprägten Erwartungen (hinsichtlich der Wahrnehmung beispielsweise von Provokation, Angriff oder Statusbe-drohung und angemessenen Reaktionen auf eine Provokation)

– Archer, J.: Testosterone and human aggression: An evaluation of the challenge hypothesis. Neuroscience and Biobehavioral Reviews 30(2006), S. 319−345

Kriminologie I SS 2018 Page 26

Gender Unterschiede (2)

Unterschiede in kognitiver Entwicklung und kognitiven Fähigkeiten

– Bennett, S., Farrington, D.P., Huesmann, L.R.: Explaining gender differences in crime and violence: The importance of social cognitive skills. Aggression and Violent Behavior 10(2005), S. 263-288

Bessere Lernleistungen– Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur: Geschlechterunterschiede bei Bildungsresultaten: derzeitige Situation und aktuelle Maßnahmen in Europa.

Brüssel 2009

Geringeres Risiko der Ausbildung früher Verhaltensstörungen als Folge einer schnelleren physischen und kognitiven Entwicklung

– Taylor, D.C.: Development rate is the major differentiator between the sexes. Behavioral and Brain Sciences 8(1985), S. 459-460

– Hiermit verbundene bessere kognitive und Lernfähigkeiten könnten sich dann schützend im Verhältnis zu negativen Umwelteinflüssen in späteren Lebensjahren auswirken

– Moffitt, T.E., Caspi, A., Rutter, M., Silva, P.A.: Sex differences in antisocial behaviour. Cambridge 2001

Komplexe Interaktionen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Merkmalen

Gefährliche Klassen,

Berufsverbrecher (crime as work),

Organisierte Kriminalität

Kriminologie I SS 2018 Page 28

Gefährliche Klassen: Schicht und Kriminalität

Ausgangspunkt: offiziell registrierte Kriminalität konzentriert

sich auf untere soziale Schichten

– Schichtmodell und Klassenmodelle der Gesellschaft

19. Jahrhundert: Debatte über „Gefährliche Klassen“

– Lumpenproletariat

– Frage der Kontrolle (Einbindung) gesellschaftlicher Gruppen

– Einbindung durch Arbeit und Arbeitsmarkt

– Klassenstrafrecht und Klassenjustiz

– Einbindung durch Wohlfahrtsstaat

Kriminologie I SS 2018 Page 29

Kriminologie I SS 2018 Page 30

Loïs Wacquant: Punir les Pauvres

Kriminologie I SS 2018 Page 31

Die These: Armut wird bestraft

Die Armen (und das heißt: die gefährlichen Klassen) werden nicht

mehr durch soziale Sicherungssysteme ruhig gehalten (oder

gekauft), sondern durch die Drohung mit Strafe und dem Gefängnis

zur Raison gebracht

Teil der Kritik des Neoliberalismus und der Ökonomisierung aller

Lebensbereiche

Der Staat

– Gibt die Wohlfahrtspolitik auf

– Zieht sich auf sein Kerngeschäft zurück

– Überlässt alles Andere dem Freien Markt

Das Kerngeschäft besteht in der Durchsetzung des Gewaltmonopols

und in der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung durch die

Zwangsmittel des Polizei- und Strafrechts

Der Staat wird zum „Strafrechtsstaat“

Kriminologie I SS 2018 Page 32

Gewaltkriminalität und Gefangene USA (jeweils pro 100.000)

0

100

200

300

400

500

600

700

800

900

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

Gewaltkriminalität Gefangene

Kriminologie I SS 2018 Page 33

Weitere Kennzeichen (2010)

Von

– 106 weißen amerikanischen Männern (> 17 Jahre) befindet

sich 1 im Gefängnis

– 15 afro-amerikanischen Männern (> 17 Jahre) befindet sich

1 im Gefängnis

– 9 afro-amerikanischen Männern (20 – 34 Jahre) befindet

sich 1 im Gefängnis

Etwa 7,5 Millionen Amerikaner befinden sich entweder im

Gefängnis oder unter Bewährungsaufsicht

– Von 31 erwachsenen Amerikanern befindet sich 1 in

irgendeiner Form strafrechtlich veranlasster Überwachung

– Exklusion und vielfältige fortdauernde Einschränkungen in

der Lebensführung

Kriminologie I SS 2018 Page 34

Kriminalitäts- und Gefangenenraten in Deutschland 1961 - 2015

0

20

40

60

80

100

120

1961

1963

1965

1967

1969

1971

1973

1975

1977

1979

1981

1983

1985

1987

1989

1991

1993

1995

1997

1999

2001

2003

2005

2007

2009

2011

2013

2015

0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

7000

8000

9000

Gefangene pro 100.000 Kriminalitätsbelastung

Kriminologie I SS 2018 Page 35

Gefangene und polizeilich registrierte Kriminalität Deutschland

USA

0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

7000

8000

9000

0

100

200

300

400

500

600

19

61

19

63

19

65

19

67

19

69

19

71

19

73

19

75

19

77

19

79

19

81

19

83

19

85

19

87

19

89

19

91

19

93

19

95

19

97

19

99

20

01

20

03

20

05

20

07

20

09

Gefangene Deutschland Gefangene USA Kriminalität Deutschland Kriminalität USA

Kriminologie I SS 2018 Page 36

Vergleichende Befunde zu Zusammenhängen zwischen

Wohlfahrtspolitik und Strafen

Gefangenenraten sind weitgehend unabhängig von der

Kriminalitätsbelastung

Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen Wohl-

fahrts-/Sozialhilfeausgaben eines Landes und der

Gefangenenrate (dies gilt auch für die USA)

– Je höher die Ausgaben, desto geringer die Gefangenenrate

Für den Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsorientierung

und kriminalpolitischen Orientierungen spielen das Ausmaß

von Kriminalitätsangst, Vertrauen und wahrgenommene

Legitimität des politischen Systems eine Rolle

– Wenig Angst, großes Vertrauen, Legitimität, starke

Wohlfahrtsorientierung = niedrige Gefangenenzahlen

Kriminologie I SS 2018 Page 37

Verbrechen als Beruf

Sutherland, E.H.: The professional thief. The University

of Chicago 1937.

Unterwelt, Schattenwelten und Schattenwirtschaften

Normen und Werte regulieren die Schattenwirtschaften

und damit verbundene Berufsrollen (Dieb und Hehler,

Zuhälter etc.)

Lerntheorien, Gelegenheitstheorien, ökonomische

Theorien