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Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL: Rechtsdogmatik, Detailfragen und Perspektiven nach der Münster/Osnabrück-Rechtsprechung

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Page 1: Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL: Rechtsdogmatik, Detailfragen und Perspektiven nach der Münster/Osnabrück-Rechtsprechung

Biomasse erfasst und eine Zertifizierung einfordert. Hier sollte möglichst bald eine Anpassung der BioSt-NachV vor-genommen werden, um die Durchsetzungskraft der Norm zeitnah zu ermöglichen. Auch die genaue Definition der gefährdeten Gebiete, aus denen keine Biomasse entnom-men werden darf i. S. von § 4 Abs. 1 BioSt-NachV 2009, ist dringend notwendig. Nur mittelbar wirkt sich die Pflicht für Anlagen im Außenbereich aus, ihre Wärmeabnahme von mindestens 60 % sicherzustellen, um die Vergütung zu erhalten. Vermutlich werden damit Anlagen in dünnbesie-delten Bereichen seltener als bisher errichtet werden. Damit kann der Anbau von Energiepflanzen in diesen Gebieten etwas verringert werden. Potentiellen Flächenkonkurren-zen wird so entgegengewirkt.

Der Vorschlag zur Reform der Gemeinsamen Agrarpo-litik der Europäischen Union für die Periode 2014–2020 enthält in der ersten Säule die entscheidendsten möglichen Änderungen für die Bereitstellung von Biomasse zur ener-getischen Verwertung. Konkrete Regelungen für den An-bau von Energiepflanzen enthält sie jedoch nicht. Denn die geplanten Bestimmungen betreffen jede Art von Biomasse bzw. landwirtschaftlichen Betrieben. Der Kopplung von 30 % des Direktzahlungsbudgets an klima- und umwelt-schutzförderliche Bewirtschaftungsmethoden kommt da-bei herausragende Bedeutung für die Steuerung der künf-tigen umweltgerechten Biomassebereitstellung zu. Hierbei ist speziell die Anbaudiversifizierung zu nennen, die es er-fordert, mindestens drei Kulturarten auf der Betriebsfläche anzubauen (wobei eine Kulturart maximal 70 % der Fläche einnehmen darf und die dritte Kulturart mindestens 5 % betragen muss). Nachteilig könnte sich die Deckelung der Direktzahlungen auswirken, da sehr wirtschaftlich arbei-tende Unternehmen auf ertragreichen Standorten aus öko-

nomischen Gründen ganz aus der GAP aussteigen und als Alternative auf eine reine intensivierte Energiepflanzener-zeugung setzen könnten. Dies würde sich unter Umstän-den für einen Viehzuchtbetrieb lohnen, der Mais für die Rinderzucht anbaut. Dieser könnte eine Biogasanlage al-lein mit Mais und Gülle unter Einhaltung der Auflagen aus dem EEG wirtschaftlich betreiben. Eine Berücksichti-gung der GAP brächte vermutlich mehr Kosten als Nutzen. Hier stellt sich die Frage, ob die GAP damit nicht vor allem auf ertragreichen, bodenkundlich und naturschutzfachlich wertvollen Standorten deutlich an Steuerungswirkung ein-büßt. Die Veränderungen in der zweiten Säule des ELER sind im aktuellen Vorschlag marginal. Hier stehen Direktin-vestitionen in erneuerbare Energien im Vordergrund. Mit-telbar fallen bei der Durchführung von ELER-gestützten Maßnahmen (z. B. Agrarumweltmaßnahmen) Landschafts-pflegematerial und Energieholz an. Dies könnte dazu füh-ren, dass die Unternehmen, die diese Maßnahmen durch-führen, nach Verwertungsmöglichkeiten für die Rohstoffe suchen und dabei auch im Bioenergiebereich tätig werden. Da die Vergütung der Maßnahmen aber gegenüber der der-zeitigen Rechtslage nicht angestiegen ist und derzeit auch das wirtschaftliche Interesse an einer solchen Nutzung ge-ring ist, wird sich die Höhe der Vergütung wohl auch in Zukunft nur wenig ändern, obwohl dies aus Umweltsicht durchaus wünschenswert ist.

Insgesamt bleibt damit fraglich, ob die Steuerungswirk-samkeit des geänderten EEG und der GAP-Reformvor-schläge im Bereich der Bioenergie langfristig bestehende Konflikte zwischen Energiepflanzenanbau und Natur-schutz lösen und neue verhindern können. Je stärker der Biomasseanbau zunimmt, desto offensichtlicher wird auch der weitere Regulierungsbedarf zu Tage treten.

Die FFH-Richtlinie 1 feiert dieses Jahr ihren 20. Geburtstag. Mö-gen inzwischen die an die FFH-Verträglichkeitsprüfung gestellten Anforderungen weitgehend geklärt sein, so gibt es jedenfalls mit Blick auf die Abweichungsmöglichkeit nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL und dort insbesondere die Alternativenprüfung noch einige of-fene Enden. Dies hat gerade die jüngere Rechtsprechung sowohl des Bundesverwaltungsgerichts als auch des Oberverwaltungsgerichts Münster zum Verkehrsflughafen Münster/Osnabrück vor Augen geführt. Dem spürt der Beitrag nach. Ausgehend hiervon wird eine Systematisierung der Alternativenprüfung vorgenommen und wer-den praxisrelevante Fallgruppen aufgezeigt.

1. Einleitung

Nachdem sich der Europäische Gerichtshof ebenso wie das Bundesverwaltungsgericht mehrfach zur FFH-Verträglich-

Klaus Füßer und Dr. Marcus Lau, Rechtsanwälte Füßer & Kollegen, Leipzig, Deutschland

keitsprüfung geäußert hatten, 2 wähnten Teile der Literatur den europäischen Habitatschutz bereits in sicherem Fahr-wasser. 3 Jedenfalls aufgrund der Möglichkeit der – vor-sorglichen – Abweichung nach § 34 Abs. 3–5 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 FFH-RL könne die Praxis mit den habitat-rechtlichen Anforderungen sehr gut leben. 4 Spätestens seit

DOI: 10.1007/s10357-012-2263-7

Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL: Rechtsdogmatik, Detailfragen und Perspektiven nach der Münster/Osnabrück-Rechtsprechung Klaus Füßer und Marcus Lau

© Springer-Verlag 2012

Füßer/Lau, Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL

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1) Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. 5. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflan-zen, ABl. EU L 206, S. 7; zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006/105/EG des Rates vom 20. 11. 2006, ABl. EU L 363, S. 368.

2) Zu den gleichwohl noch offenen Fragen Lau, Die Rechtsprechung des BVerwG zum europäischen Naturschutzrecht im Jahr zwei und drei nach seiner Entscheidung zur Westumfahrung Halle, NVwZ 2011, 461/462 f.

3) Stüer, Europäischer Gebiets- und Artenschutz in ruhigen Gefil-den, DVBl. 2009, 1 ff.; Storost, FFH-Verträglichkeitsprüfung und Abweichungsentscheidung, DVBl. 2009, 673 ff.; nach wie vor kri-tisch hingegen Vallendar, Die Wand im Groden – Land in Sicht für Infrastrukturvorhaben?, UPR 2010, 1 ff.

4) Stüer (Fn. 3), S. 12.

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der höchstrichterlichen 5 und jüngsten obergerichtlichen 6 Rechtsprechung zum Verkehrsflughafen Münster/Osna-brück dürfte jedoch klar sein, dass die FFH-Abweichungs-prüfung keineswegs das Ende des beschwerlichen Marsches eines Vorhabens durch das unwegsame Gelände des euro-päischen Habitatschutzes markiert. Vielmehr fehlt es auch hier an trittfestem Gelände. Vor allem die Alternativen-prüfung nach § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL bereitet in Planung und Vorha-benszulassung Probleme.

§ 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL verpflichten auf die am wenigsten beeinträchti-gende Alternative. Klärungsbedürftig ist damit zunächst der Begriff der Alternative (2). Darüber hinaus muss nach § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG jedoch nur auf „zumutbare“ Alternativen ausgewichen werden (3). Schließlich steht man zwecks Gewährleistung größerer Praktikabilität und Rechtssicherheit vor der Herausforderung einer Kategori-enbildung (4).

2. Begriff der Alternative

Der Begriff der Alternative wird zum Teil extrem weit verstanden, so dass nicht nur die von § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG ausdrücklich erwähnten Standortalternativen, sondern auch hochpolitische Konzeptalternativen zu be-trachten wären, etwa dem Bau einer Straße auch die Stei-gerung der Attraktivität des Schienenverkehrs entgegen-gehalten werden könnte. 7 Dies kann indes schon deshalb nicht richtig sein, weil letztlich immer Handlungsalter-nativen denkbar sind, so dass sich de facto nie eine Ab-weichung nach § 34 Abs. 3–5 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 FFH-RL begründen ließe. Damit aber würde diese Ab-weichungsmöglichkeit ad absurdum geführt. 8 Auch die Systematik spricht gegen ein solch weites Verständnis des Alternativenbegriffs. Wie nämlich die beiden Nummern in § 34 Abs. 3 BNatSchG verdeutlichen, bezieht sich der Begriff der Alternative vielmehr auf die mit dem Pro-jekt verfolgten und hierdurch bereits konkretisierten zwingenden Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses. 9 Folglich sind auch bloße Teilziele maßgeb-lich, jedenfalls soweit sie an den zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses partizipieren. 10 Als Alternative im Sinne des § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL kommen mithin alle Vorhabens- bzw. Planungsvarianten in Betracht, mit denen sich die konkret verfolgten (Teil-)Ziele noch – wenn auch unter gewissen Abstrichen am Zielerfüllungsgrad – verwirklichen lassen. 11 Anzahl und Beschaffenheit der zu prüfenden Alternativen in zeitlicher, räumlicher und funktionell-sachlicher Hinsicht hängen damit entschei-dend davon ab, wie eng oder wie weit die mit dem Projekt oder Plan verfolgten – im Lichte des Habitatrechts jeden-falls grundsätzlich: ihrerseits satisfaktionsfähigen – Ziele gezogen werden. 12

3. Begriff der Zumutbarkeit

Die weitere Voraussetzung der Zumutbarkeit der Alterna-tive findet sich so nur in § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, nicht aber auch in Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL. Eine Diskrepanz zwischen beiden Bestimmungen folgt hier-aus gleichwohl nicht; vielmehr ist das einschränkende Tat-bestandsmerkmal der Zumutbarkeit in § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ge-schuldet, 13 an dem sich gemäß Art. 5 Abs. 4 EUV auch die Handlungen der Unionsorgane auszurichten haben. Dies sieht auch der Europäische Gerichtshof so, hat er doch be-reits mehrfach festgehalten, dass die Alternativenprüfung die Abwägung der einander widerstreitenden Interessen voraussetze, 14 was gerade den Kern der Zumutbarkeitsprü-fung ausmacht.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-richts sind lediglich diejenigen Alternativen zumutbar, de-ren Verwirklichungsaufwand – auch aus naturschutzexter-nen Gründen – nicht außer Verhältnis zu dem mit ihnen erreichbaren Gewinn für den europäischen Habitatschutz steht. 15 Zu prüfen ist, ob die mit dem Projekt oder Plan verfolgten zwingenden Gründe des überwiegenden öffent-lichen Interesses die Verwirklichung gerade dieser Alterna-tive verlangen oder ob sie auch auf andere Weise bzw. an einem anderen Ort mit noch verhältnismäßigem Aufwand erreicht werden können. 16

3.1 Strukturfragen, Umfang der Zumutbarkeitsüberlegungen

Noch nicht geklärt ist indes, was insofern als Belang in die Verhältnismäßigkeitsüberlegung eingestellt werden kann. An sich legt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nahe, die Zumutbarkeitsprüfung auf alle mit den in Betracht kom-menden Alternativen einhergehenden Nachteile sowohl für den Vorhabenträger bzw. Plangeber als auch für Dritte und andere Gemeinwohlbelange zu erstrecken. 17 Art. 6 Abs. 4 FFH-RL erlaubt jedoch eine erhebliche Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebiets nur, wenn sie durch zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geboten ist. 18 Während die FFH-Richtlinie im Bereich des Arten-schutzes eine Ausnahme nach Art. 16 Abs. 1 lit. b auch aus Individualinteressen ermöglicht, 19 ist dies bei der Abwei-chungsmöglichkeit nach Art. 6 Abs. 4 gerade nicht der Fall. Daraus folgt, dass allein private Betroffenheiten – selbst, wenn sie verfassungsrechtlich unterlegt sind – auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erhebliche Beein-trächtigungen eines Natura 2000-Gebiets nicht zu recht-fertigen vermögen; die FFH-Richtlinie enthält insoweit ein

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5) BVerwG, Urt. v. 9. 7. 2009 – 4 C 12.07, NuR 2009, 789 ff.6) OVG Münster, Urt. v. 31. 5. 2011 – 20 D 80/05.AK, NuR 2011,

736 ff.7) So z. B. Winter, Alternativenprüfung und Natura 2000, NuR

2010, 601/604.8) Lau, Der Naturschutz in der Bauleitplanung, Berlin 2011,

Rdnr. 63, mit Verweis auf die Rspr. zum Vermeidungsgebot nach der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung; ebenso be-reits Erbguth, Naturschutz und Europarecht: Wie weit reicht die Pflicht zur Alternativprüfung gem. Art. 6 Abs. 4 der Habitat-richtlinie?, DVBl. 1999, 588/590.

9) Vgl. BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 33; Friedrichsen, Umweltbelastende Vorhaben und Alternativen in der Planfeststellung, Frankfurt a. M. 2005, S. 237–239.

10) Vgl. BVerwG, Beschl. v. 3. 6. 2010 – 4 B 54.09, NuR 2010, 573/Rdnr. 9 m. w. N.

11) So bereits BVerwG, Urt. v. 17. 1. 2007 – 9 A 20.05, NuR 2007, 336/Rdnr. 143.

12) Louis, Perspektiven des Natur- und Artenschutzrechts, NuL 2007, 228/231.

13) BVerwG, Urt. v. 27. 1. 2000 – 4 C 2.99, BVerw GE 110, 302/310 = NuR 2000, 448.

14) EuGH, Urt. v. 20. 9. 2007 – C-304/05, Slg. 2007, I-7495/Rdnr. 83, Kommission/Italien; EuGH, Urt. v. 24. 11. 2011 – C-404/09, zitiert nach www.curia.europa.eu, Rdnr. 109, Kom-mission/Spanien.

15) BVerwG, Urt. v. 17. 5. 2002 – 4 A 28.01, BVerw GE 116, 254/267 = NuR 2002, 739; BVerwG (Fn. 13), S. 311.

16) BVerwG, Beschl. v. 3. 6. 2010 – 4 B 54.09, NuR 2010, 573/Rdnr. 9; BVerwG, Urt. v. 12. 3. 2008 – 9 A 3.06, NuR 2008, 633/Rdnr. 170.

17) Weiß/Wurster, Die Standortalternativenprüfung in der Bauleit-planung, VBlBW 2011, 252/258.

18) GAin Kokott, Schlussanträge v. 25. 6. 2009 – C-241/08, Slg. 2010, I-1697/Rdnr. 98 mit Hervorhebung des „öffentlichen“.

19) Frenz/Lau, in: Frenz/Müggenborg, BKom BNatSchG, Ber-lin 2011, Vorb. §§ 44, 45 Rdnr. 27; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, Losebl. (Stand: Jul. 2009), § 43 BNatSchG, Rdnr. 22; Wirths, Naturschutz durch europäisches Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 2001, S. 220.

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bereits auf europäischer Ebene endabgewogenes Schutzsys-tem. 20 Diese Wertung darf durch die Alternativenprüfung nicht konterkariert werden. Zudem ist der bereits erwähnte systematische Zusammenhang zwischen der Alternativen-prüfung und dem Erfordernis des Vorliegens zwingender Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses zu be-achten. Kann von der Verpflichtung auf die Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen betroffener Natura 2000-Gebiete überhaupt nur aus zwingenden Gründen des überwiegen-den öffentlichen Interesses abgewichen werden, so kann zunächst auch für die Abweichung von der weiteren Ver-pflichtung auf die am wenigsten beeinträchtigende Alter-native nichts anderes gelten.

Ist indes keine Alternative ohne erhebliche Beeinträch-tigung eines Natura 2000-Gebiets gegeben und wird zu-gleich die Hürde der zwingenden Gründe des überwiegen-den öffentlichen Interesses überwunden, ist hingegen nicht ersichtlich, weshalb dann nicht auch Raum für eine um-fassende Interessenabwägung sein sollte. Denn nun geht es „nur“ noch um quantitative Unterschiede zwischen den einzelnen Alternativen. Der Richtliniengeber hat mit Art. 6 Abs. 4 FFH-RL lediglich typisierend die Verhältnismäßig-keitsprüfung vorweggenommen, innerhalb der von ihm ge-bildeten Typen aber Raum für Einzelfallgerechtigkeit ge-lassen. Eine Typenbildung sieht die FFH-Richtlinie jedoch nur insoweit vor, als es zum einen um die Frage geht, ob ein bestimmtes Gebiet überhaupt habitatrechtlichen Schutz ge-nießt und zum anderen, ob das betreffende Gebiet prioritäre Lebensraumtypen oder Arten beherbergt und mit Blick auf diese eine erhebliche Beeinträchtigung nicht ausgeschlossen werden kann. 21 Damit lässt sich durchaus eine etwas um-fangreichere Inanspruchnahme geschützter Flächen durch die Vorzugsvariante etwa mit Enteignungserwägungen, also an sich zunächst nur privaten Belangen rechtfertigen. Das ist auch insofern nachvollziehbar, als in diesen Fällen so oder so in die Integrität eines Natura 2000-Gebiets ein-gegriffen wird, im Hinblick auf die habitatrechtliche Quali-tät also zwischen beiden Alternativen kein Unterschied be-steht und sich der jeweils unterschiedlichen Quantität des Eingriffs jedenfalls über die Kohärenzsicherung nach § 34 Abs. 5 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL noch angemessen Rechnung tragen lässt.

Fraglich ist aber, was gilt, wenn die Vorzugsvariante mit erheblichen Beeinträchtigungen prioritärer Lebensraumty-pen oder Arten einhergeht, während eine Alternative er-sichtlich ist, die zwar ebenfalls ein Natura 2000-Gebiet erheblich beeinträchtigt, nicht jedoch prioritäre Lebens-räume oder Arten. Unproblematisch ist dies, wenn gegen die an sich weniger beeinträchtigende Alternative Belange ins Feld geführt werden können, die den speziellen Abwei-chungsvoraussetzungen des § 34 Abs. 4 Satz 1 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 FFH-RL genügen. Jenseits dessen besteht aber die Möglichkeit, neben diesen speziellen Ab-weichungsvoraussetzungen eine erhebliche Beeinträch-tigung prioritärer Lebensraumtypen oder Arten auch aus sonstigen zwingenden Gründen des überwiegenden öffent-lichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirt-schaftlicher Art zulassen (vgl. § 34 Abs. 4 Satz 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 FFH-RL). 22 Zusätzliche Vorausset-zung ist insoweit lediglich eine verfahrensrechtliche, näm-lich die vorherige Beteiligung der Europäischen Kommis-sion. 23 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass sich der in der FFH-Richtlinie angelegte qualitative Unterschied zwi-schen Gebieten mit prioritären Lebensraumtypen oder Ar-ten und solchen ohne prioritäre Lebensraumtypen oder Ar-ten jedenfalls in Bezug auf die Abweichungsmöglichkeit in diesem verfahrensrechtlichen Aspekt erschöpft. Es kann damit – freilich unter entsprechender materieller Gewich-tung der jeweiligen Belange – auch in der Konstellation der Kollision einer Gebietsbeeinträchtigung mit prioritä-ren Lebensraumtypen oder Arten mit einer Gebietsbeein-trächtigung ohne prioritäre Lebensraumtypen oder Arten

eine umfassende Verhältnismäßigkeitsüberlegung ange-stellt werden. Lediglich in verfahrensrechtlicher Hinsicht ist darauf zu achten, dass in diesen Fällen die Kommission auch und gerade im Hinblick auf die Zumutbarkeitserwä-gungen eingebunden wird. Das ist insofern nichts Neues, als sich die Kommission ohnehin regelmäßig im Rahmen ihrer Beteiligung auch mit der Alternativenprüfung aus-führlich auseinandersetzt. 24

Kommt aber eine Alternative in Betracht, die nicht mit einer erheblichen Beeinträchtigung eines Natura 2000-Ge-biets verbunden ist, können – wie oben dargelegt – nur zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen In-teresses im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung nach § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG das Ausscheiden dieser Alterna-tive begründen. Daher ist noch zu klären, was solche zwin-genden Gründe (3.2) des überwiegenden öffentlichen Inte-resses (3.3) sein können.

3.2 Zwingende Gründe

Der Begriff der zwingenden Gründe wird in der FFH-Richtlinie nicht definiert. Die Formulierung erinnert je-doch an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-hofs zur Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV. 25 Der Europäische Gerichtshof hatte sei-nerzeit festgehalten, dass Beschränkungen des freien Wa-renverkehrs, der immerhin eine der Grundlagen der EU darstellt, nur hingenommen werden müssen, soweit dies notwendig ist,

„um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbeson-dere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kon-trolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauter-keit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“. 26

Anders als der Wortlaut vielleicht nahe legen mag, war mit den „zwingenden Erfordernissen“ keineswegs das Vorliegen von Sachzwängen gemeint. Vielmehr sollte da-mit zum Ausdruck gebracht werden, dass die zur Recht-fertigung des mitgliedstaatlichen Handelns angeführten Gründe durch Primärrecht und damit durch die höchst-

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20) Lau, in: Frenz/Müggenborg (Fn. 19), § 67 Rdnr. 10 mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 28. 6. 2007 – C-235/04, Slg. 2007, I-5415/Rdnr. 73, Kommission/Spanien = NuR 2007, 479; EuGH, Urt. v. 7. 9. 2004 – C-127/02, Slg. 2004, I-7405/Rdnr. 60, Muschel-fischer = NuR 2004, 788.

21) Diese Frage spielt sowohl bei der Gebietsauswahl (vgl. Art. 4 Abs. 2, Anhang III (Phase 2) Nr. 1 FFH-RL) als auch bei der Abweichungsentscheidung (vgl. Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 FFH-RL) eine Rolle; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 17. 5. 2002 – 4 A 28.01, BVerw GE 116, 254/263 f. = NuR 2002, 739; BVerwG, Urt. v. 12. 3. 2008 – 9 A 3.06, NuR 2008, 633/Rdnr. 170, das dann jedoch zu weit geht beim Ermittlungsbedarf im Alternati-venvergleich, siehe hierzu Steeck/Lau, Die Rechtsprechung des BVerwG zum europäischen Naturschutzrecht im Jahr eins nach seiner Entscheidung zur Westumfahrung Halle, NVwZ 2009, 616/618 f.; GAin Kokott, Schlussanträge v. 3. 2. 2005 – C-441/03, Slg. 2005, 3045/Rdnr. 15 f.

22) Soweit dies entgegen dem expliziten Wortlaut der Bestimmungen teilweise in Abrede gestellt wird, so bspw. Günes/Fisahn, Die An-forderungen des BVerwG an die FFH-Verträglichkeitsprüfung, EurUP 2007, 220/227 f., kann dem nicht gefolgt werden, siehe dazu nur Epiney, in: dies./Gammenthaler, Das Rechtsregime der Natura 2000-Schutzgebiete, Baden-Baden 2009, S. 5/132 f.

23) Hösch, Zur Behandlung der zwingenden Gründe des überwie-genden öffentlichen Interesses, UPR 2010, 7/8.

24) Reidt, Verfahren zur Beteiligung der Europäischen Kommission nach § 34 Abs. 4 und Abs. 5 BNatSchG bei Projekten und Plänen, UPR 2011, 330/331.

25) So auch OVG Berlin/Brandenburg, Beschl. v. 5. 7. 2007 – OVG 2 S 25.07, ZUR 2008, 34/38.

26) EuGH, Urt. v. 20. 2. 1979 – 120/78, Slg. 1979, 649/Rdnr. 8, Cas-sis de Dijon.

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rangigen Normen des Unionsrechts rechtlich anerkannt sind. 27 Ausgehend hiervon ist denn auch in der – deut-schen – Rechtsprechung anerkannt, dass zwingende Gründe im Sinne des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL nicht das Vorliegen von Sachzwängen erfordern, denen niemand ausweichen kann, sondern mit dieser Formulierung ledig-lich ein durch Vernunft und Verantwortungsbewusstsein geleitetes staatliches Handeln gemeint ist. 28 Es soll hiermit erreicht werden, dass das betreffende Vorhaben gerade der Verwirklichung des jeweils verfolgten, auch auf europä-ischer Ebene anerkannten öffentlichen Interesses dient. 29 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Zugleich folgt daraus aber, dass der jeweils geltend gemachte Bedarf wirklich bestehen muss (3.2.1) und mit dem betreffenden Vorhaben oder Plan auch befriedigt werden kann (3.2.2). Dies gip-felt regelmäßig in Wahrscheinlichkeitsüberlegungen, was Fragen nach dem zu erreichenden Wahrscheinlichkeits-maß aufwirft (3.2.3).

3.2.1 Bestehender Bedarf

Zunächst muss abgesichert sein, dass das konkret geltend gemachte öffentliche Interesse wirklich besteht. 30 Ein rein angebotsorientiertes Vorhaben nach dem Prinzip Hoffnung entspricht insoweit jedenfalls dann nicht einem durch Ver-nunft und Verantwortungsbewusstsein geleiteten staatlichen Handeln, wenn – wie im hier behandelten Kontext – zu-gleich gewichtige Gegenbelange betroffen sind. 31 Die bloße Absicherung eines (vermeintlich) bestehenden Bedarfs al-lein durch Erfahrungswissen reicht insoweit regelmäßig nicht aus. 32 Vielmehr können nur solche Gründe zwingend sein, hinsichtlich derer mit einem gewissen Mindestmaß an Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich ein entsprechender Be-darf besteht. Das Oberverwaltungsgericht Münster 33 spricht insoweit treffend von „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das strenge Habitatrecht auch am Paradigma der nur sehr groben Überprüfbarkeit von Prognosen rüttelt. So hat denn auch das Oberverwaltungsgericht Münster in der vor-genannten Entscheidung das vom Vorhabenträger verwen-dete Prognosemodell neben seiner grundsätzlichen Eignung auch daraufhin überprüft, ob es sich hierbei – verglichen mit anderen geeigneten Modellen – um ein unter Eintritts-wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten hinreichend sicheres Modell handelt. Es kam dabei im konkreten Fall zu dem Er-gebnis, dass an der Eignung des Prognosemodells hinsicht-lich der Darstellung einer (beachtlichen) Wahrscheinlich-keit des angeblichen Ausbaubedarfs des Verkehrsflughafens Münster/Osnabrück Zweifel bestünden, weil als Prognose-grundlage nicht auf ein tatsächlich ermitteltes bzw. zu er-mittelndes Reiseverhalten zurückgegriffen wurde, sondern stattdessen auf nur mittelbare, mit Hilfe anderer statisti-scher Ableitungen gewonnene Daten. 34

3.2.2 Bedarfsbefriedigung durch das Vorhaben bzw. den Plan

Das Vorhaben oder der Plan muss des Weiteren zur Be-friedigung des mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit beste-henden Bedarfs geeignet und erforderlich sein. 35 So kann beispielsweise die Errichtung einer Windenergieanlage an der Grenze zu einem Europäischen Vogelschutzgebiet nicht mit der allgemeinen Zielstellung der Förderung er-neuerbarer Energien nach § 1 Abs. 2 EEG begründet wer-den, da diese allgemeine Zielstellung noch nichts über den konkreten Standort solcher an sich wünschenswerten An-lagen, also deren Erforderlichkeit in räumlicher Hinsicht aussagt. 36 Neben dieser grundlegenden Konkretisierung in sachlich-funktionaler, zeitlicher und räumlicher Hinsicht muss auch insoweit die Beachtlichkeitsschwelle überschrit-ten werden: Das Vorhaben muss mindestens mit beachtli-cher Wahrscheinlichkeit zur Befriedigung des konkreten Bedarfs führen und es dürfen sich – insoweit ist der Ab-weichungsprüfung bereits auf der Stufe der zwingenden

Gründe ein Alternativenelement inhärent – keine ersicht-lich milderen Mittel hierzu aufdrängen.

3.2.3 Wahrscheinlichkeitsmaßstab

Welches Wahrscheinlichkeitsmaß jeweils die Beachtlich-keitsschwelle markiert, lässt sich sodann nicht abstrakt-quantitativ bestimmen. Man wird indes regelmäßig davon ausgehen können, dass die Anforderungen an die Beacht-lichkeit der Wahrscheinlichkeit umso höher ausfallen, je geringer das betreffende hinreichend konkrete öffentliche Interesse in der supranationalen Hierarchieebene (EU, Mit-gliedstaat, Bundesland, Landkreis/Region, Gemeinde) an-gesiedelt ist und je weniger es – innerhalb der jeweiligen Ebene – eine entsprechende demokratische Legitimation erfahren hat. Denn es geht letztlich um den Stellenrang staatlichen Handelns und dieses staatliche Handeln muss an den anerkannten Wertentscheidungen auf der Ebene der EU ausgerichtet sein, um ein zwingender Grund zu sein. Je höher also die Erreichung eines bestimmten Ziels hier-archisch angebunden und je stärker dieses Ziel ebenenin-tern demokratisch legitimiert ist, desto weniger stellt sich die Frage, ob der der Zielstellung zu Grunde liegende Be-darf auch tatsächlich (empirisch) besteht. Ähnliches gilt re-gelmäßig auch hinsichtlich der Zielerreichung, also der Be-darfsbefriedigung: Je höher die hierarchische Anbindung und je stärker die demokratische Legitimation ist, desto wahrscheinlicher ist die Zielerreichung – vorausgesetzt na-türlich, der die höhere hierarchische Anbindung bzw. de-mokratische Legitimation genießende Hoheitsakt beinhal-tet eine entsprechende Durchführungsverpflichtung oder schafft entsprechende ökonomische Anreize und das inso-weit ins Auge gefasste Mittel ist auch objektiv zur Zieler-reichung geeignet.

Der hierarchischen Anbindung bedarf es insoweit schon deshalb, weil sich eine Vielzahl (normativer) Vorgaben an die jeweils zuständigen Behörden richten, so dass ein Krite-rium vonnöten ist, nach dem zwischen den einzelnen Vor-gaben ausgewählt wird. 37 Dieses Kriterium ist im Bereich des Rechts in erster Linie die (Norm-)Hierarchie, wo-nach sich die höherrangige Vorgabe grundsätzlich durch-setzt. 38 Zu beachten ist dabei, dass gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV die von der EU geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkünfte die Organe der Union und die Mitglied-staaten binden. Völkerrechtliche Übereinkommen, die von der EU unterzeichnet und vom Rat gemäß Art. 218 Abs. 2 AEUV genehmigt wurden, werden mithin zum integra-len Bestandteil der Unionsrechtsordnung. 39 Unionsrecht-lich umgesetztes Völkerrecht steht folglich mit dem primä-ren Unionsrecht auf einer Ebene. Sonstiges Völkerrecht ist hingegen aus europäischer Sicht grundsätzlich unverbind-lich. Nach unten hin endet die Normhierarchie auf lokaler Ebene; denn gemäß Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV achtet die

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27) Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 30 EGV Rdnr. 37 f.

28) So bereits BVerwG (Fn. 13), S. 314 f. 29) BVerwG (Fn. 13), S. 314 f.30) So nunmehr auch OVG Münster (Fn. 6), S. 737. 31) Vgl. Köck, in: Spannowsky/Hofmeister, Umweltrechtliche Ein-

flüsse in der städtebaulichen Planung, Berlin 2009, S. 35/51 f.32) So aber noch OVG Koblenz, Urt. v. 8. 7. 2009 – 8 C 80399/08,

NuR 2009, 882/890. 33) OVG Münster (Fn. 6).34) OVG Münster (Fn. 6), insoweit dort nicht mit abgedruckt, siehe

aber juris, Rdnr. 60.35) Lau (Fn. 8), Rdnr. 63; ähnlich auch Hösch (Fn. 23), S. 11. 36) So zutreffend auch OVG Münster, Urt. v. 13. 12. 2007 – 8 A

2810/04, NuR 2008, 872/881. 37) Vgl. Schneeweiß, Planung, Bd. 1, Heidelberg 1991, S. 84.38) Siehe nur am Bsp. der Raumordnung VGH Kassel, Urt. v. 21. 8.

2009 – 11 C 318/08.T, juris, Rdnr. 806.39) Siehe nur aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 8. 3. 2011 – C-240/09,

NuR 2011, 346/Rdnr. 30 ff., Zoskupenie.

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Union die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grund-legenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen „einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwal-tung“ zum Ausdruck kommt. Da Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV die „lokale Selbstverwaltung“ nur schützt, soweit dies die nationale Identität des Mitgliedstaates umfasst, wie sie sich aus dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht ergibt, 40 stellt in Deutschland mit Blick auf Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG die Kommune die letzte unionsrechtlich anerkannte Ebene dar. 41 Interessen, die sich beispielsweise auf einen Stadtteil beschränken und noch nicht einmal die Schwelle eines für die gesamte Kommune gewichtigen Interesses erreichen, sind mithin schon keine zwingenden Gründe.

Was den weiteren, innerhalb der jeweiligen Ebene be-deutsamen Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation angeht, so resultiert dessen Relevanz aus dem Umstand, dass die demokratische Qualität einer politischen Entschei-dung der entscheidende Gradmesser für die Gemeinwohl-orientierung des jeweils gefundenen Ergebnisses ist. 42

3.3 Überwiegende öffentliche Interessen

Neben der Eigenschaft „zwingend“ muss es sich um Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses handeln. Öffentliche Interessen können dabei grundsätzlich alle am Gemeinwohl orientierten Interessen gleich welcher Art sein; ausgenommen sind lediglich rein private Interessen. 43 Unschädlich ist, wenn der Vorhabenträger oder Plangeber primär private (Gewinnoptimierungs-)Interessen verfolgt, diese aber zugleich mit öffentlichen Interessen wie z. B. der Schaffung von Arbeitsplätzen einhergehen.

Das weitere Tatbestandsmerkmal des Überwiegens läuft auf eine – nur nachvollziehende – Abwägung der einan-der widerstreitenden Interessen hinaus. 44 Im Rahmen der Alternativenprüfung sind insoweit die beiden zu betrach-tenden Alternativen gegenüberzustellen. Steht eine Al-ternative ohne erhebliche Gebietsbeeinträchtigungen in Rede, so kommen dabei mittelbar auch die Belange des Habitatrechts zur Geltung. Der Europäische Gerichtshof betont insoweit in ständiger Rechtsprechung den Aus-nahmecharter von Art. 6 Abs. 4 FFH-RL. 45 Daraus wird gefolgert, dass den habitatrechtlichen Belangen in der Ab-wägung ein erhöhtes Gewicht zukomme 46 bzw. ein deut-liches Übergewicht der für das betreffende Vorhaben spre-chenden öffentlichen Interessen vonnöten sei. 47 Jedenfalls muss die Gewichtung der habitatrechtlichen Belange in der Abwägung den Ausnahmecharakter des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL im Sinne einer Konzeption der größtmöglichen Schonung der Integrität des Netzes Natura 2000 erkennen lassen. 48 Allein der Verweis auf die gegebene Planrecht-fertigung und dem betreffenden Vorhaben oder Plan ein erhebliches Gewicht bereits „für sich“ beizumessen, ge-nügt dem nicht; vielmehr muss nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das erhebliche, das Integ-ritätsinteresse des berührten Natura 2000-Gebiets über-wiegende Gewicht im Einzelfall dezidiert herausgearbei-tet und begründet werden. 49 Allgemeine, lediglich durch Erfahrungswissen abgesicherte Erwägungen können al-lenfalls als das eigentliche öffentliche Interesse bestärkend in die Abwägung einbezogen werden. 50 Im Einzelnen ist hierbei Folgendes zu beachten:

3.3.1 Normhierarchie und demokratische Legitimation

Gesichtspunkte der Normhierarchie und der demokrati-schen Legitimation spielen im Rahmen des Überwiegens ebenfalls eine entscheidende Rolle, da sie die letztlich für eine rationale (Abwägungs-)Entscheidung erforderlichen Zielkriterien strukturieren und festlegen. Maßgebend ist insoweit, wie konkret die jeweiligen normativen Vorgaben insbesondere in räumlicher Hinsicht sind. Das öffentliche Interesse muss nicht nur ein primärrechtlich anerkanntes

sein, sondern auch eine Umsetzung bzw. Konkretisierung erfahren haben. Dies kann durch die Organe der EU ge-schehen, aber auch durch die Mitgliedstaaten. Handeln die Organe der EU und bedienen sie sich dabei der Mittel des Sekundärrechts, so stehen sich zwei gleichrangige – kolli-dierende – Vorgaben gegenüber. Diese Normkollision ist dann bei Fehlen spezieller Kollisionsregeln nach der lex-posterior-Regel aufzulösen. Lediglich politische Vorgaben sind hingegen weniger durchschlagend. Handeln die Mit-gliedstaaten, so können entsprechende innerstaatliche Vor-gaben nur dann zielführend dem Habitatschutz entgegen-gehalten werden, wenn sie – die Würde des Unionsrechts respektierend – in nicht diskriminierender Weise ergangen sind. Insofern ist dann wiederum entscheidend, auf welcher innerstaatlichen Ebene die Umsetzung bzw. Konkretisie-rung des jeweiligen öffentlichen Interesses erfolgt ist. Eine absolute Schwelle, etwa in dem Sinne, dass lokale Belange generell nicht ausreichend seien, lässt sich dem Begriff des Überwiegens indes nicht entnehmen. Anderes würde dem Respekt der Unionsrechtsordnung vor der lokalen Selbst-verwaltung (vgl. Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV) und dem Um-stand nicht gerecht, dass in zahlreichen Mitgliedstaaten die Daseinsvorsorge bzw. die Erbringung öffentlicher Dienst-leistungen zum großen Teil auf lokaler Ebene erfolgt, in-soweit erst auf dieser Ebene konkrete Zielstellungen er-arbeitet und umgesetzt werden. 51 Dies erkennt auch der Europäische Gerichtshof an. 52

Von großem Gewicht sind daher insbesondere die in die – für die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Abstu-fung verbindliche, gewissermaßen raumordnerischen Cha-

Füßer/Lau, Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL

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452 NuR (2012) 34: 448–458

40) Streinz, in: ders., EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rdnr. 14.

41) Hierzu auch Stern, Kommunale Selbstverwaltung in europäi-scher Perspektive, NdsVBl. 2010, 1 ff.; Ruffert, in: Mann/Püttner, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 3. Aufl. 2007, S. 1078 ff.

42) Laskowski, Demokratisierung des Umweltrechts, ZUR 2010, 171.

43) Hösch (Fn. 23), S. 8 f.; Jarass, Die Zulässigkeit von Projekten nach FFH-Recht, NuR 2007, 371/376; a. A. Kahl/Gärditz, Das Grundrecht der Eigentumsfreiheit vor den Herausforderungen des europäischen Naturschutzrechts, ZUR 2006, 1/6, die auch rein private Interessen hierunter fassen wollen.

44) EuGH, Urt. v. 20. 9. 2007 – C-304/05, Slg. 2007, I-7495/Rdnr. 83, Kommission/Italien; EuGH, Urt. v. 24. 11. 2011 – C-404/09, Rdnr. 109, Kommission/Spanien (zitiert nach www.curia.europa.eu); BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 13; Jarass (Fn. 43), S. 377.

45) EuGH, Urt. v. 20. 9. 2007 – C-304/05, Slg. 2007, I-7495/Rdnr. 82, Kommission/Italien; EuGH, Urt. v. 26. 10. 2006 – C-239/04, Slg. 2006, I-10183/Rdnr. 35 f., Kommission/Portu-gal = NuR 2007, 30.

46) Jarass (Fn. 43), S. 377.47) Frenz, in: ders./Müggenborg (Fn. 19), § 34 Rdnr. 90.48) BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 15.49) BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 15.50) Vgl. BVerwG (Fn. 21), Rdnr. 160.51) Hierzu Krajewski, Grundstrukturen des Rechts öffentlicher

Dienstleistungen, Heidelberg u. a. 2011, S. 317.52) Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 28. 6. 2007 – C-235/04, Slg. 2007,

I-5415/Rdnr. 73, Kommission/Spanien = NuR 2007, 479, wo-nach „städtebauliche Maßnahmen“ zwar nicht den Ausschlag bei der Auswahl von Natura 2000-Gebieten geben dürfen, sich aber im Rahmen des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL durchführen ließen, „d.h., es dürfte keine anderen Lösungen geben und müssten Aus-gleichsmaßnahmen getroffen werden“. Davon, dass städtebauli-che Maßnahmen nur dann ausnahmetauglich seien, wenn sie überörtliche Interessen verfolgen, ist hingegen nicht die Rede. Siehe auch jüngst EuGH, Urt. v. 24. 11. 2011 – C-404/09, zitiert nach www.curia.europa.eu, Rdnr. 109 sowie explizit Rdnr. 154, Kommission/Spanien“ wo es heißt: „Ein solcher Grund [Bedeu-tung für die ortsansässige Wirtschaft] kann nämlich von einem Mitgliedstaat in dem nach Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie vor-gesehenen Verfahren geltend gemacht werden.“.

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rakter aufweisende 53 – Liste der Transeuropäischen Netze nach Art. 170 ff. AEUV aufgenommenen Vorhaben sowie die Vorhaben, die Gegenstand der in Gesetzesform gegos-senen Bundesverkehrswegeplanung sind. 54 Besondere Be-deutung kommt auch der raumbezogenen Planung mit konkreten Standortentscheidungen zu, soweit sie verbind-lich ist. 55

3.2.2 Eintrittswahrscheinlichkeiten

Fernerhin kann es für eine rationale (Abwägungs-)Ent-scheidung nicht gleichgültig sein, ob ein bestimmter Be-lang tatsächlich in dem angenommenen Umfang gegeben ist oder insoweit eine mehr oder weniger große Unsicher-heit besteht. 56 Daher muss der Aspekt der Eintrittswahr-scheinlichkeit auch im Rahmen des Überwiegens berück-sichtigt werden. Während es insoweit beim Erfordernis der zwingenden Gründe aber um eine Beachtlichkeitsschwelle ging, also die Frage, ob der betreffende Belang überhaupt zur Abweichung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL befähigt, geht es nun nur noch um Schattierungen diesseits der Beacht-lichkeitsschwelle, also die Frage, mit welchem Gewicht der betreffende Belang in die Abwägung einzustellen ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat hier die Faustformel aufge-stellt, dass je weiter die Unsicherheiten reichen, desto ge-ringer wiegt das öffentliche Interesse an dem Vorhaben und desto konkreter und verbindlicher müssen die das Vorha-ben stützenden Zielvorgaben sein, wenn ihm trotz des un-sicheren Bedarfs ein hohes Gewicht beigemessen werden soll. 57 Richtigerweise müsste die Formel indes umgekehrt lauten: Je konkreter und verbindlicher die das Vorhaben oder den Plan stützenden Zielvorgaben ausfallen, desto ge-ringer sind die zu berücksichtigenden Unsicherheiten.

Bestehende Unsicherheiten sind verbal-argumentativ in der Abwägung zu verarbeiten. Dabei kann sich hinsicht-lich der Gewichtung an quantitativen Methoden orientiert werden. 58 Ein vollständiges Ausweichen auf ein quantita-tives bzw. numerisches Verfahren ist jedoch kritisch, da es bislang noch an entsprechend anerkannten „Verrechnungs-einheiten“ fehlt. 59

Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht insoweit unerwähnt gelassen, dass das Unsicherheitskalkül freilich auch in die andere Richtung, nämlich mit Blick auf die ha-bitatrechtlichen Belange gelten muss. Dies ist gerade ange-sichts des strengen Prüfungsmaßstabs in der FFH-Verträg-lichkeitsprüfung von Bedeutung, wonach ein Projekt nur genehmigt werden darf, wenn die zuständige Behörde Ge-wissheit darüber erlangt hat, dass es sich nicht nachteilig auf Natura 2000-Gebiete als solche auswirkt und eine solche Gewissheit lediglich dann vorliege, wenn aus wissenschaft-licher Sicht kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass es keine solchen Auswirkungen gibt. 60 Je weniger wahr-scheinlich also die auf der Ebene der FFH-Verträglichkeits-prüfung angenommene erhebliche Beeinträchtigung ist, desto geringer schlagen die habitatrechtlichen Belange in der Abwägung zu Buche, wobei die Eintrittswahrschein-lichkeit der – vorsorglich – angenommenen erheblichen Beeinträchtigung freilich mit dem zu erwartenden Ausmaß der Beeinträchtigung ins Verhältnis zu setzen ist.

3.3.3 Kenntnislücken und Worst-Case-Annahmen

Bestehen insoweit Kenntnislücken, was gerade mit Blick auf die habitatrechtlichen Belange angesichts der gravie-renden Wissenslücken insbesondere im Bereich der Öko-systemforschung nicht selten der Fall sein wird, und lassen sich diese auch nicht durch – wissenschaftlich vertretbare – Schätzungen und Analogieschlüsse überbrücken, so muss und darf auf Worst-Case-Annahmen zurückgegriffen wer-den. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Abweichungsmöglichkeit nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL nur eröffnet sei, nachdem die Auswirkungen des betreffenden Vorhabens gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL er-forscht wurden, 61 steht dem nicht entgegen. Art. 6 Abs. 3

FFH-RL verpflichtet nämlich auch nach der Rechtspre-chung des Europäischen Gerichtshofs nur auf den „besten Stand der Wissenschaften“. 62 Damit können indes ledig-lich die aktuellsten verfügbaren einschlägigen wissenschaft-lichen Erkenntnisse gemeint sein. 63 Außerdem könnten andernfalls Erkenntnislücken zu einem Entwicklungsstill-stand führen, was ersichtlich von der FFH-Richtlinie nicht beabsichtigt ist, wie gerade die Abweichungsregelung des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL unterstreicht. Auch habitatrechtlich ist Unmögliches nicht geschuldet.

Fraglich ist indes, ob auch aus Vereinfachungsgründen auf Worst-Case-Annahmen zurückgegriffen werden kann. Insoweit ließe sich durchaus vertreten, aus der oben ge-nannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs folge, dass eine Abweichung – außer bei unüberbrückba-ren Erkenntnislücken – eben nur in Kenntnis der konkre-ten Beeinträchtigungen inklusive der jeweiligen Eintritts-wahrscheinlichkeiten erfolgen dürfe. Ausdrücklich heißt dort nämlich, dass die Kenntnis der Beeinträchtigung der Erhaltungsziele für das fragliche Gebiet eine unerlässliche Voraussetzung für die Anwendung von Art. 6 Abs. 4 FFH-RL sei. 64

Der Gerichtshof begründet dieses Erfordernis indes da-mit, dass andernfalls die Anwendungsvoraussetzungen der Abweichungsregelung nicht geprüft werden könnten, da die Prüfung zwingender Gründe des überwiegenden öffentli-chen Interesses und der Frage, ob weniger beeinträchtigende Alternativen bestehen, eine Abwägung mit den Beeinträch-tigungen erfordere, die für das Gebiet durch den vorgese-henen Plan oder das vorgesehene Projekt entstünden. Au-ßerdem müssten die Beeinträchtigungen des Gebiets genau identifiziert werden, um die Art etwaiger Ausgleichsmaß-nahmen bestimmen zu können. 65 Dem wird aber auch dann Rechnung getragen, wenn die Worst-Case-Annahme nicht pauschal eine erhebliche Beeinträchtigung zu Grunde legt, sondern – auf der sicheren Seite liegend – qualitativ wie quantitativ auf spezifische, möglicherweise bestehende und beeinträchtigte Faktoren und Zusammenhänge zugeschnit-ten ist. 66 Solche Worst-Case-Annahmen haben zudem ein-gedenk der im Rahmen der Kohärenzsicherung nach § 34

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53) Hierzu Gatawis, Grundfragen eines europäischen Raumord-nungsrechts, Münster 2000, S. 115 ff.

54) Zu den Grenzen solcher gesetzlicher Bedarfsfestlegung und Vor-habenplanung bereits Füßer/Lau/Nastasi, Die Brücke über die Meerenge von Messina, EurUP 2010, 156/164 f.

55) Vgl. BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 22.56) Schneeweiß (Fn. 37), S. 99.57) BVerwG, Beschl. v. 14. 4. 2011 – 4 B 77.09, juris, Rdnr. 45;

BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 17.58) So auch für die UVP BVerwG, Urt. v. 8. 6. 1995 – 4 C 4.94,

NVwZ 1996, 381/388 = NuR 1995, 537; zu diesen Methoden, insbesondere die Bernoulli-Nutzentheorie Schneeweiß (Fn. 37), S. 185 ff.

59) Siehe zum Ganzen am Bsp. der Bauleitplanung auch Lau, Die Kontrolle des Schutzes von Natur und Landschaft in der Bauleit-planung, Baden-Baden 2011, S. 350 ff.

60) EuGH, Urt. v. 7. 9. 2004 – C-127/02, Slg. 2004, I-7405/Rdnr. 67, Muschelfischer; siehe auch BVerwG, Urt. v. 17. 1. 2007 – 9 A 20.05, NuR 2007, 336/Rdnr. 41 ff.

61) EuGH, Urt. v. 20. 9. 2007 – C-304/05, Slg. 2007, I-7495/Rdnr. 83, Kommission/Italien; EuGH, Urt. v. 24. 11. 2011 – C-404/09, zitiert nach www.curia.europa.eu, Rdnr. 109 und 157, Kommission/Spanien.

62) EuGH (Fn. 60), Rdnr. 59; EuGH, Urt. v. 13. 12. 2007 – C-418/04, Slg. 2007, I-10947/Rdnr. 243, Kommission/Irland = NuR 2008, 101.

63) Vgl. EuGH (Fn. 52), Rdnr. 35; siehe auch GAin Kokott, Schluss-anträge v. 29. 1. 2004 – C-127/02 –, Slg. 2004, I-7405/Rdnr. 100; BVerwG (Fn. 11), Rdnr. 66.

64) EuGH (Fn. 61).65) EuGH (Fn. 61).66) Vgl. BVerwG, Beschl. v. 17. 7. 2008 – 9 B 15.08, NuR 2008, 659/

Rdnr. 24.

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Abs. 5 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL zu ergreifenden Ausgleichsmaßnahmen den positiven Neben-effekt, dass das europäische Schutzgebietsnetz Natura 2000 auf diese Weise auf Kosten des jeweiligen Vorhabenträgers in den Genuss von ansonsten wohl kaum ergriffenen, jeden-falls aber aus dem für gewöhnlich nicht gerade üppigen Na-turschutzetat 67 zu bestreitenden Entwicklungsmaßnahmen kommt. Dies kann jedenfalls aus Sicht des Habitatschutzes nicht unerwünscht sein. Im Übrigen entfaltet der – unions-rechtlich anerkannte – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch im Hinblick auf die an die Ermittlung und Bestandserfas-sung gestellten Anforderungen Geltung. 68 Folglich ist unter der oben genannten Maßgabe des spezifischen Zuschnitts von Worst-Case-Annahmen hiergegen selbst dann nichts einzuwenden, wenn auf sie schlicht aus Vereinfachungs-gründen zurückgegriffen wird.

3.2.4 Einbeziehung der Kohärenzsicherung

Hoch umstritten ist schließlich, inwieweit in die Abwä-gung im Rahmen des Überwiegens auch die zur Kohä-renzsicherung vorgesehenen Maßnahmen einbezogen wer-den können. Wurde zunächst – offenbar ausgehend von den Gewohnheiten mit Blick auf die naturschutzrechtliche Ein-griffsregelung 69 – wohl überwiegend angenommen, dass die Kohärenzmaßnahmen berücksichtigt werden können, 70 so zeigt sich die Rechtsprechung in jüngerer Zeit eher skep-tisch. Hintergrund ist, dass nach dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL über die Kohärenzsiche-rung erst befunden werden soll, wenn das Vorliegen zwin-gender Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses sowie das Fehlen von weniger beeinträchtigenden Alter-nativen bejaht wurde. Wie bereits ausgeführt, verfolgt die FFH-Richtlinie – ebenso wie die Vogelschutzrichtlinie – in erster Linie den Schutz der Integrität der ausgewählten Gebiete. Eine „Flexibilisierung“ des Schutzsystems greift erst platz, wenn eine vergleichsweise hoch aufgehängte Rechtfertigungsschwelle überwunden ist. So konstatierte denn auch das Bundesverwaltungsgericht, dass maßgebend für das Überwiegen nur das Interesse an der Integrität des be-troffenen Natura 2000-Gebiets ist und nicht das Interesse an der Kohärenz des Schutzgebietsnetzes insgesamt. 71

Das ist durchaus zutreffend; das Habitatrecht schützt die einzelnen Natura 2000-Gebiete (inklusive ihrer Bedeu-tung für das europäische Schutzgebietsnetz Natura 2000) und eben nicht – wie die Eingriffsregelung – die ökolo-gisch-landschaftliche Gesamtbilanz. Ein zu schnelles Aus-weichen auf die Kohärenzsicherung könnte überdies die getroffene Gebietsauswahl konterkarieren. Mag der Aus-wahlprozess auch empirisch mehr chaotisch als koordiniert und geordnet verlaufen sein, so ist doch jedenfalls mit Blick auf die FFH-Gebiete in der FFH-Richtlinie spezifisch ge-regelt, in welcher Weise die Gebietsauswahl zu erfolgen hat und insoweit ein gestuftes komplexes Verfahren unter Beteiligung nicht nur der Mitgliedstaaten, sondern maß-gebend auch der EU-Kommission vorgesehen (vgl. Art. 4 Abs. 2 FFH-RL). Während die Kommission im Rahmen der Gebietsauswahl aber ein echtes Mitspracherecht hat, ist sie gemäß Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 2 FFH-RL hinsicht-lich der zu ergreifenden Kohärenzmaßnahmen, die durch-aus auch zu einer Verschiebung der Schutzgebiete führen können, lediglich zu informieren.

Abwägungsrelevant können daher nur solche Kohärenz-maßnahmen sein, die direkt an dem konkret beeinträchtig-ten Gebietsbestandteilen ansetzen und somit das Gewicht des Integritätsinteresses des in Rede stehenden Natura 2000-Gebiets mindern. 72 Der Umstand, dass die Kohärenz-maßnahmen – anders als Vermeidungs- und Minderungs-maßnahmen 73 – lediglich mit hoher Wahrscheinlichkeit die ihnen zugedachte Wirkung auch tatsächlich entfalten müs-sen, 74 steht dem indes nicht entgegen. 75 Die Eintrittswahr-scheinlichkeit hinsichtlich der Wirksamkeit anrechenbarer Kohärenzmaßnahmen sowie der Zeitraum innerhalb des-

sen hiermit zu rechnen ist, müssen freilich in der Abwä-gung gebührend berücksichtigt werden. 76 Soll die Schwelle hin zur Rechtmäßigkeit erheblicher Beeinträchtigungen eines Natura 2000-Gebiets gedrückt werden, so kann dies nach der Konzeption der FFH-Richtlinie also nur durch entsprechende Maßnahmen in dem betroffenen Gebiet ge-schehen, mag man dies auch für politisch verfehlt erach-ten. 77 Statthaft und sogar geboten ist demgegenüber, wenn – negativ – der Aspekt der fehlenden Ausgleichbarkeit als Alleinstellungsmerkmal der jeweils betroffenen Erschei-nung in der Abwägung gebührend berücksichtigt wird.

4. Fallgruppen

Damit stellt sich die Frage, in welchen Fallkonstellatio-nen eine ohne erhebliche Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebiets einhergehende Alternative gleichwohl aus-geschieden werden kann.

4.1 Kostengründe

Fast immer sind die weniger beeinträchtigenden Alternati-ven mit Zusatzkosten verbunden. Fraglich ist daher, inwie-weit sich der Aspekt der Kosteneinsparung zur auch habitat-rechtlichen Absicherung der preiswerteren Vorzugsvariante heranziehen lässt. Ein öffentliches Interesse entfaltet dieser Aspekt zum einen mit Blick auf den das gesamte öffentliche Haushaltsrecht durchziehenden Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit 78 und zum anderen auch deshalb, weil Mehrkosten mitunter das gesamte Projekt scheitern lassen können, was wiederum auf die mit dem Vorhaben verfolgten zwingenden Gründe des überwiegenden öffent-lichen Interesses durchschlägt. Ab welcher Größenordnung die Zusatzkosten einen zwingenden Grund des überwie-genden öffentlichen Interesses darstellen, lässt sich wegen der Vielgestaltigkeit der denkbaren Fälle indes nicht abs-trakt bestimmen. Eine Systembildung ist in der Rechtspre-chung bislang nicht erkennbar. 79 Bedenkt man jedoch, dass

Füßer/Lau, Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL

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454 NuR (2012) 34: 448–458

67) Hierzu Güthler, Die Finanzierung von Natura 2000, EurUP 2008, 165 ff.

68) Vgl. OVG Münster, Urt. v. 17. 4. 2009 – 7 D 110/07.NE, NuR 2009, 572/575.

69) Bei der Eingriffsregelung können und müssen die ergriffenen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen bei der Abwägung nach § 15 Abs. 5 BNatSchG Berücksichtigung finden, vgl. hierzu Lau, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung (Teil 2), NuR 2011, 762/768 f.

70) Siehe etwa OVG Lüneburg, Beschl. v. 12. 12. 2005 – 7 MS 91/05, NuR 2006, 185/189.

71) BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 28.72) BVerwG (Fn. 10), Rdnr. 21; BVerwG (Fn. 5), Rdnr. 28; in diese

Richtung auch GAin Kokott, Schlussanträge v. 28. 6. 2011 – C-404/09, NuR 2011, 666/Rdnr. 118, die als abwägungsrele-vant nur Maßnahmen im betroffenen Schutzgebiet erwähnt.

73) Hierzu BVerwG (Fn. 11), Rdnr. 53. 74) BVerwG (Fn. 21), Rdnr. 201.75) In diese Richtung aber OVG Münster (Fn. 6), S. 740.76) Vgl. Hösch (Fn. 23), S. 10 f.77) Als ein Aspekt siehe nur zur Problematik dieses vergleichsweise

starren Schutzsystems in Konfrontation mit den klimawandel-bedingt zu erwartenden Veränderungen von Fauna und Flora in Europa Hendler/Rödder/Veith, Flexibilisierung des Schutzge-bietsnetzes Natura 2000 vor dem Hintergrund des Klimawan-dels, NuR 2010, 685 ff.

78) So explizit auch BVerwG, Urt. v. 3. 3. 2011 – 9 A 8.10, NVwZ 2011, 1256/Rdnr. 98 f.

79) Hierzu am Bsp. des besonderen Artenschutzrechts, in dem sich das Problem gleichfalls stellt und auf das die Rechtsprechung auch beim Habitatschutz gelegentlich rekurriert, Fehrensen, Zur Anwendung zwingenden Gemeinschaftsrechts in der aktuel-len Rechtsprechung des BVerwG zum Artenschutz nach der „Kleinen Novelle“ des Bundesnaturschutzgesetzes, NuR 2009, 13/18.

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in Zusatzkosten von 10 % der Gesamtinvestitionskosten bei der Zumutbarkeitsprüfung im Rahmen der naturschutz-rechtlichen Eingriffsregelung generell eine Grenze gesehen wird 80 und ebenso – wenn auch nicht unumstritten – bei der artenschutzrechtlichen Alternativenprüfung nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG, 81 so stellen Zusatzkosten ab die-ser Größenordnung in jedem Fall auch eine habitatrechtlich gewichtige Zumutbarkeitserwägung dar.

4.2 Gesundheitsschutz

Unzumutbar im oben beschriebenen Sinne kann eine Al-ternative vor allem auch dann sein, wenn sie mit Beein-trächtigungen des Menschen durch Verlärmung, Schad-stoffbelastung, elektro-magnetische Felder etc. einhergeht. Soweit dadurch die Schwelle zur Gesundheitsgefahr über-schritten wird, folgt die Unzumutbarkeit schon daraus, dass die Gesundheit des Menschen gemäß § 34 Abs. 4 Satz 1 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 FFH-RL sogar zu ei-ner Abweichung selbst bei Betroffenheit prioritärer Lebens-raumtypen oder Arten ohne Beteiligung der EU-Kommis-sion berechtigt. 82 Diesseits der Gesundheitsgefahr kommt es auf eine wertende Betrachtung an. Insoweit ist das Äqui-valenzprinzip zu beachten. Es kann daher nicht angehen, sich innerstaatlich hinsichtlich der Frage der Zumutbar-keit an bestimmten Richtwerten zu orientieren, habitat-rechtlich dann aber auch ohne Richtwertüberschreitung eine unzumutbare Beeinträchtigung anzunehmen. Exis-tieren also rechtlich verbindliche Zumutbarkeitsschwellen, wie das bei Geräuschimmissionen etwa mit der 16. Bundes-Immissionsschutzverordnung und der TA Lärm der Fall ist, so sind diese auch hier maßgebend. 83 Gleiches gilt in Bezug auf fachlich anerkannte Konventionen wie etwa die so ge-nannte Freizeitlärmrichtlinie 84.

Unter dem Gesichtspunkt der Gesundheit des Menschen spielen darüber hinaus auch Sicherheitsaspekte eine Rolle. Damit kann sich z. B. eine Alternative als unzumutbar er-weisen, weil sie weniger gut zur Entschärfung eines Un-fallschwerpunktes geeignet ist wie die habitatrechtlich kri-tischere Vorzugsvariante. Gleiches gilt für Alternativen, die Lawinen-, Hochwasser- oder sonstigen Gefahren ausgesetzt sind. Regelmäßig nicht ausreichend ist jedoch, dass sich die habitatrechtlich kritischere Vorzugsvariante nur als für die Gesundheit des Menschen förderlicher erweist. 85

4.3 Gewässerschutz

Bedeutsam ist auch der Gewässerschutz. Soweit eine Al-ternative gewissen Risiken mit Blick auf die Trinkwasser-gewinnung und -versorgung verbunden ist, leuchtet dies schon wegen der Relevanz für die menschliche Gesund-heit ein. Insoweit reichen durchaus schon geringe Risiken einer Verunreinigung aus, um die betreffende Alternative auszuscheiden. 86

Der Gewässerschutz ist aber auch ungeachtet des Stellen-rangs, den das Schutzgut Wasser für die menschliche Ge-sundheit einnimmt, von Bedeutung. Dies unterstreicht be-reits die Wasserrahmenrichtlinie 87. Diese enthält zugleich mehrere Kollisionsregelungen. So sieht Art. 4 Abs. 1 lit. c WRRL in Bezug auf die in Anhang IV gelisteten Schutzge-biete vor, dass die Mitgliedstaaten spätestens 15 Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie alle Normen und Ziele erfül-len, sofern „die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die einzelnen Schutzgebiete ausgewiesen wurden, keine anderweitigen Bestimmungen enthalten“. Unter die in Anhang IV WRRL gelisteten Schutzgebiete fallen auch die Natura 2000-Gebiete (siehe Ziff. 1 lit. v). In zeitlicher Hinsicht sind damit die Vorgaben der Wasserrah-menrichtlinie subsidiär. 88

In materiell-inhaltlicher Hinsicht sieht Art. 4 Abs. 2 WRRL hingegen vor, dass das „weiterreichende“ Ziel gilt, wenn ein Wasserkörper von mehr als einem der in Ab-

satz 1 genannten Ziele betroffen ist. Art. 4 Abs. 1 WRRL hat die Erreichung eines guten ökologischen Zustands bzw. – bei künstlichen und erheblich veränderten Was-serkörpern – eines guten ökologischen Potenzials und die Erreichung eines guten chemischen Zustands zum Ziel. Zur fachlichen Konkretisierung dessen, was insbesondere unter einem guten ökologischen Zustand zu verstehen ist, finden sich in Anhang V WRRL entsprechende Quali-tätskomponenten. Diese beziehen sich neben den biolo-gischen (insbesondere Zusammensetzung und Abundanz der Gewässerflora und -fauna) auch auf hydromorpholo-gische (insbesondere Wasserhaushalt und Durchgängig-keit) und chemische bzw. physikalisch-chemische Ge-wässereigenschaften (Sichttiefe, Temperaturverhältnisse, Sauerstoffhaushalt, Salzgehalt, Versauerungsgehalt, Nähr-stoffverhältnisse etc.). Ersichtlich beabsichtigt die Wasser-rahmenrichtlinie einen ganzheitlichen, eben gewässer- bzw. gewässerkörperbezogenen Schutz. Demgegenüber verfolgen die FFH- und Vogelschutzrichtlinie lediglich spezifische, auf bestimmte Arten und Lebensraumtypen bezogene Erhaltungsziele. Die Frage, welches das weiter-reichende Ziel im Sinne des Art. 4 Abs. 2 WRRL ist, kann daher nur gewässerbezogen beantwortet werden und nicht allgemein ökologisch. 89 Die Wasserrahmen-richtlinie bringt damit zum Ausdruck, dass im Zweifel die spezifisch gewässerbezogenen Schutzziele vorrangig sind. Das wird auch daran deutlich, dass von den Bewirtschaf-tungszielen des Art. 4 Abs. 1 WRRL gemäß Art. 4 Abs. 7 lit. c WRRL nur abgewichen werden kann, wenn dies aus Gründen von übergeordnetem öffentlichem Interesse oder deshalb geboten ist, weil der mit der beeinträchtigen-den Maßnahme verbundene Nutzen für die menschliche Gesundheit, die Erhaltung der Sicherheit der Menschen oder die nachhaltige Entwicklung den mit der Verwirkli-chung der Bewirtschaftungsziele verbundenen Nutzen für die Umwelt und die Gesellschaft übertrifft. Anders als die zwingenden Gründe des überwiegenden öffentlichen In-teresses im Sinne von Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL eröffnet Art. 4 Abs. 7 lit. c. WRRL damit gerade keinen prinzipiell ergebnisoffenen Abwägungsvorgang. 90 Solche übergeordneten Interessen müssen vielmehr min-destens von regionaler Tragweite sein. 91

Zieht also die habitatrechtlich vorzugswürdige Alterna-tive einen von seinem Ausmaß her ähnlich gewichtigen Verstoß gegen die Bewirtschaftungsziele des § 27 WHG, Art. 4 Abs. 1 WRRL nach sich, so ist in aller Regel die ge-wässerschonendere Alternative vorzugswürdig.

NuR (2012) 34: 448–458 455Füßer/Lau, Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL

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80) OVG Lüneburg, Urt. v. 16. 12. 2009 – 4 LC 730/07, NuR 2010, 133/138 m. w. N.

81) So z. B. Lau (Fn. 20), § 45 Rdnr. 22; a. A. Fellenberg, in: Kerkmann, Naturschutzrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2010, § 7 Rdnr. 153.

82) Lau (Fn. 8), Rdnr. 74.83) BVerwG, Urt. v. 17. 5. 2002 – 4 A 28.01, NVwZ 2002, 1243/1247

= NuR 2002, 739.84) Anhang B der Musterverwaltungsvorschrift zur Ermittlung,

Beurteilung und Verminderung von Geräuschimmissionen des Länderausschusses für Immissionsschutz (LAI).

85) Vgl. Schumacher/Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, BNatSchG, 2. Aufl. 2010, § 34 Rdnr. 99.

86) Vgl. BVerwG (Fn. 78), Rdnr. 82.87) Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des

Rates v. 23. 10. 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl. EU L 327, S. 1.

88) Czychowski/Reinhardt, WHG, 10. Aufl. 2010, § 29 Rdnr. 16.89) So aber Möckel, Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie bei

FFH- und Vogelschutzgebieten, NuR 2007, 602/606.90) Schmid, in: Berendes/Frenz/Müggenborg, BKom WHG, Berlin

2011, § 31 Rdnr. 33.91) VG Düsseldorf, Urt. v. 3. 8. 2011 – 10 K 473/09, NuR 2011,

821/822.

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4.4 Klimaschutz

Des Weiteren werden aller Voraussicht nach künftig Kon-flikte mit dem Klimaschutz zunehmend in die Diskussion geraten. So ist es beispielsweise denkbar, dass die ohne er-hebliche Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebiets aus-kommende Alternative etwa für ein Fernstraßenprojekt zur Inanspruchnahme eines wegen seiner Windhöffigkeit für die Windenergienutzung besonders geeigneten Standortes führt. Insofern stellt sich zwar das Problem der fehlenden Quantifizierbarkeit des Nutzens für das Klima. Gleichwohl kann nicht gering geachtet werden, wenn die auf diese Weise verlorengehenden, von ihrem Potenzial her nahezu alternativlosen Standorte im Falle der Windenergienutzung einen erheblichen Anteil des Strombedarfs in der Region gedeckt hätten. Das gilt umso mehr, wenn Entsprechen-des auch raumordnerisch – rechtmäßig – festgelegt ist, zu-mal in der Bauleitplanung, wo den Zielen der Raumord-nung gemäß § 1 Abs. 4 BauGB auch positiv eine strikte Verbindlichkeit zukommt anders als beispielsweise in der Fachplanung. 92

Ein Vorrang kommt dem Klimaschutz trotz seiner der-zeit größeren politischen Aufmerksamkeit 93 andererseits je-doch nicht zu. Zwar hat die EU dem Klimaschutz gerade in jüngerer Zeit sekundärrechtlich verstärkt Rechnung getra-gen, 94 doch sieht Art. 194 Abs. 1 AEUV insoweit vor, dass die Energiepolitik der EU die Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt berücksichtigen muss. 95 Da-mit stehen – abstrakt – beide Umweltschutzaspekte (Kli-maschutz und Naturschutz) gleichrangig nebeneinander, so dass sie im Einzelfall im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden müssen.

4.5 Artenschutz

Ein scheinbar in der FFH- und Vogelschutzrichtlinie selbst angelegter Konflikt besteht zudem mit Blick auf das be-sondere Artenschutzrecht. Der auf spezielle Schutzgebiete beschränkte Habitatschutz ist jedoch gegenüber dem ubi-quitär geltenden Artenschutz als das speziellere Regelungs-regime grundsätzlich vorrangig. Damit kann der habitat-rechtlich vorzugswürdigen Alternative regelmäßig nicht entgegengehalten werden, dass sie mit (schwerwiegen-den) Verwirklichungen artenschutzrechtlicher Verbotstat-bestände einhergeht. 96 Anderes kann sich freilich ergeben, wenn die habitatrechtliche Betroffenheit sehr gering ausfällt (die Erheblichkeitsschwelle wird in Bezug auf nichtpriori-täre Lebensraumtypen oder Arten geradeso überschritten), die artenschutzrechtliche Betroffenheit demgegenüber aber immens ist (z. B.: eine Vielzahl an Individuen zahlreicher europäischer Vogelarten und Arten nach Anhang IV FFH-RL finden den Tod). 97

4.6 Denkmal-, Kultur- und Landschaftsschutz

Mitunter führt die habitatrechtliche Vorzugsvariante zur stärkeren Beeinträchtigung des Landschaftsbildes. Dass es sich bei Natur und Landschaft um ein öffentliches Interesse handelt, kann bereits § 1 BNatSchG entnommen werden. Zweifel bestehen indes hinsichtlich der Voraussetzung der zwingenden Gründe des überwiegenden öffentlichen In-teresses. Nach den obigen Ausführungen wird man den Landschaftsschutz wohl überhaupt nur dann ernsthaft ge-gen den Habitatschutz in Stellung bringen können, wenn es diesbezüglich ein innerstaatliches ausdrückliches und spe-zifisches Bekenntnis zur gesteigerten Schutzbedürftigkeit gerade dieser Landschaft gibt, etwa ein Landschaftsschutz-gebiet (mit entsprechenden Zielbestimmungen) betroffen ist. Darüber hinaus muss sich die betreffende Landschaft materiell durch bestimmte Alleinstellungsmerkmale abhe-ben, die gewichtig genug sind, das hohe Schutzgut des eu-ropäischen Habitatrechts zu überwiegen. 98

Werden durch die habitatrechtlich vorzugswürdige Al-ternative Denkmale oder sonstige Kulturgüter beeinträch-tigt, kann dies ebenfalls für die Frage der Zumutbarkeit re-levant sein. 99 Insofern heißt es in Art. 167 Abs. 2 AEUV, dass die EU durch ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit zwi-schen den Mitgliedstaaten fördert und unterstützt und erforderlichenfalls deren Tätigkeit u. a. im Bereich der Erhaltung und des Schutzes des kulturellen Erbes von eu-ropäischer Bedeutung ergänzt. Der Begriff des kulturel-len Erbes umfasst dabei sämtliche Zeugnisse menschlichen Handelns ideeller, geistiger oder materieller Art, die als sol-che für die Geschichte des Menschen bedeutsam sind und die sich als Gegenstände, als Raumdispositionen oder als Orte beschreiben oder lokalisieren lassen. 100 Das betref-fende kulturelle Erbe muss des Weiteren von europäischer Bedeutung sein. Hierfür kommt es weniger darauf an, ob das zu erhaltende und zu schützende Kulturgut eine nati-onale oder gar nur regionale Ausprägung der historischen Entwicklung und Kultur repräsentiert, sondern vorrangig auf die Bedeutung seines Verlustes für die Vielfalt der Kul-turen innerhalb der EU. 101

Gemäß Art. 167 Abs. 2 AEUV unterstützt die EU die Mitgliedstaaten beim Schutz des kulturellen Erbes von eu-ropäischer Bedeutung. Dies setzt grundsätzlich eine ent-sprechende Initiative seitens des Mitgliedstaates voraus, auf der der europäische Schutz aufsetzen kann. 102 Damit bedarf es zur Bejahung eines zwingenden Grundes des überwie-genden öffentlichen Interesses in diesem Zusammenhang nicht nur der Existenz und Betroffenheit eines solcherma-ßen unter europäischen Gesichtspunkten schützens- und erhaltenswerten Kulturguts, sondern regelmäßig auch ei-nes entsprechenden nationalen Schutzbekenntnisses, aus dem sich das Ob und die Richtung der Schutzbedürftigkeit entnehmen lässt und die diesbezügliche Beeinträchtigung konkret geprüft werden kann. Nur unter diesen Vorausset-zungen wird sich daher eine Alternative ohne erhebliche Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebiets aus Gründen des Denkmal- und Kulturschutzes ausscheiden lassen.

4.7 Existenzgefährdungen

Kommt es im Zuge der weniger beeinträchtigenden Al-ternative zu Existenzgefährdungen insbesondere landwirt-schaftlicher Betriebe, so sind demgegenüber zunächst nur – wenn auch grundrechtlich verbürgte – private Belange betroffen. Nicht nur private Interessen sind indes berührt,

Füßer/Lau, Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL

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456 NuR (2012) 34: 448–458

92) Hierzu Appel, Die Bindungswirkung des Raumordnungsrechts für nachfolgende Planungs- und Genehmigungsverfahren – zu-gleich Anmerkung zur Datteln-Entscheidung des OVG Müns-ter, UPR 2011, 161 ff.

93) Bemerkenswert ist insofern auch der Sinneswandel vieler Um-weltverbände, die noch bis vor wenigen Jahren Studien zur Un-tragbarkeit von Windenergieanlagen vorgelegt haben und de-nen jetzt der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht schnell genug voran gehen kann.

94) Siehe Richtlinie 2001/77/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27. 9. 2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. EU L 283, S. 33; aufgehoben und neu gefasst durch die Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23. 4. 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen, ABl. EU L 140, S. 16.

95) EuGH, Urt. v. 21. 7. 2011 – C-2/10, NuR 2011, 788/Rdnr. 55 f., Vorlage TAR Perugia.

96) VGH Kassel, Beschl. v. 2. 1. 2009 – 11 B 368/08.T, NuR 2009, 255/281.

97) Lau (Fn. 20), § 45 Rdnr. 21.98) Vgl. OVG Lüneburg (Fn. 70), S. 189.99) Siehe wiederum OVG Lüneburg (Fn. 70).100) Hönes, Das kulturelle Erbe, NuR 2009, 19. 101) Sparr, in: Schwarze (Fn. 27), Art. 151 EGV Rdnr. 28. 102) Sparr (Fn. 101), Art. 151 EGV Rdnr. 20.

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wenn aus den Existenzgefährdungen ein gleichsam ge-meinwirtschaftlicher Schaden resultiert. So war beispiels-weise auch bis zur so genannten Kleinen Novelle des Bun-desnaturschutzgesetzes im Jahr 2007 eine Ausnahme von den Zugriffsverboten des besonderen Artenschutzrechts gemäß § 43 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG a. F. nur im öffentlichen Interesse und insoweit insbesondere zur Ab-wendung von erheblichen „gemeinwirtschaftlichen“ Schä-den möglich. Diesbezüglich war anerkannt, dass erst dann von einem gemeinwirtschaftlichen Schaden und damit von einem öffentlichen Interesse gesprochen werden könne, wenn ein ganzer Wirtschaftszweig in der Region erheblich beeinträchtigt ist, nicht jedoch, wenn nur einzelnen Betrie-ben ein Schaden droht. 103

Kommt es also zu solchen mindestens regionalwirtschaft-lichen Effekten, so kann dies in die Zumutbarkeitserwä-gungen im Rahmen der Alternativenprüfung nach § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL in aller Regel auch dann einfließen, wenn es um das Ausscheiden einer Alternative ohne erhebliche Beeinträch-tigungen eines Natura 2000-Gebiets geht.

4.8 Arbeitsplatzverluste

Dass der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Interesse stehen, dürfte unstreitig sein. Das folgt nationalrechtlich schon daraus, dass Art. 109 Abs. 2 GG das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zum Staats-ziel erhebt 104 und man hierunter neben der Stabilität des Preisniveaus auch und vor allem die Gewährleistung ei-ner möglichst hohen Beschäftigungsrate versteht. 105 Pri-märrechtlich ist dieses Ziel ebenfalls anerkannt, wie ins-besondere die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 ff. AEUV und die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV belegen, die zumindest auch der Wahrung sozialer Sicher-heit insbesondere durch eigene Arbeit zu dienen bestimmt sind. 106 Im Einzelfall fraglich ist jedoch das Überwiegen dieses öffentlichen Interesses. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat beispielsweise den Erhalt von 475 Arbeitsplätzen für sechs bis neun Jahre bei einem durchaus gravierenden Eingriff in das Integritätsinteresse des betrof-fenen Natura 2000-Gebiets noch für überwiegend erach-tet. 107 Das ist jedoch – soweit ersichtlich – der einzige quan-titative Anhalt, den die Rechtsprechung bislang bietet.

4.9 Städtebauliche Entwicklung

Ein weiterer in der Praxis durchaus häufig anzutreffender Gesichtspunkt ist die Beeinträchtigung der städtebaulichen Entwicklung. Diese zu steuern ist Kernelement der durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich abgesicherten kommunalen Selbstverwaltung. 108 Die kommunale Selbst-verwaltung erfährt aber – wie bereits dargelegt (siehe oben 3.1.3) – über Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV auch eine primär-rechtliche Anerkennung. Mithin kann eine an sich vor-zugswürdige Alternative auch unzumutbar sein, weil sie gegen kommunale Planungsvorstellungen verstößt.

Von Relevanz ist ein solcher Verstoß indes nur, soweit in einen bereits bestehenden Bauleitplan oder eine zumindest hinreichend verfestigte Planung eingegriffen wird. Hinrei-chend verfestigt ist eine Planung bereits mit dem Aufstel-lungsbeschluss; denn zur Sicherung eines Bebauungsplans nach §§ 14, 15 BauGB genügt auch lediglich der Aufstel-lungsbeschluss, womit der Gesetzgeber zum Ausdruck ge-bracht hat, dass er ab diesem Moment von einer ausreichen-den Konkretisierung und Verfestigung der betreffenden Planung ausgeht. 109

4.10 Siedlungsbereiche

Eng damit im Zusammenhang steht auch die Beseitigung vorhandener Bebauung im Zuge der Alternative ohne er-

hebliche Gebietsbeeinträchtigung. Sofern es sich dabei um einen beplanten Bereich handelt, gilt das zuvor Ge-sagte. Darüber hinaus können hiergegen zunächst nur pri-vate Belange, insbesondere die Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 GG, ins Feld geführt werden. Diese lassen sich indes – wie oben dargelegt – in der hier betrachteten Konstellation nicht unmittelbar in der Zumutbarkeitsprü-fung fruchtbar machen, sondern wiederum zunächst nur über den Umweg, dass bei einem Zugriff auf die Grund-stücke freilich entsprechend zu entschädigen ist, was mög-licherweise zu einer nicht zumutbaren Kostensteigerung führt.

Zum eigenen tragfähigen Belang kann der mit der nicht beeinträchtigenden Alternative einhergehende Zugriff auf Siedlungsbereiche indes dann werden, wenn es sich hierbei um einen Ortsteil im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB handelt. Ein solcher Siedlungsbereich vermag gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB sein näheres Umfeld zu prägen, er gewährleistet gleichsam eine Evolution aus sich heraus. Es handelt sich hierbei um eine eigene – planerisch rah-mengebende – Struktur. Damit ist jedenfalls das ungehin-derte Entstehen- bzw. das „Liegenlassen“ eines Ortsteils im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB eben durch Un-terlassen einer entsprechenden Bauleitplanung zugleich Ausdruck der auch unionsrechtlich respektierten lokalen Selbst verwaltung.

Wann ein solcher Ortsteil vorliegt, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Erforderlich ist eine auf-einanderfolgende Bebauung, die trotz gegebenenfalls vor-handener Baulücken nach der Verkehrsanschauung den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit vermittelt. 110 Maßstabbildend sind dabei nur diejenigen baulichen Anlagen, die nach Art und Gewicht geeignet sind, ein Gebiet als Ortsteil mit bestimmtem städtebau-lichem Charakter zu prägen, was grundsätzlich nur bei Bauwerken der Fall ist, die dem ständigen Aufenthalt von Menschen dienen. 111 Das maßgebliche Gewicht bestimmt sich des Weiteren zum einen anhand der Zahl der vorhan-denen Bauten und zum anderen daran, inwieweit der be-treffende Bebauungskomplex Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur ist. 112 Eine feste Mindestzahl an Ge-bäuden für die Annahme eines Ortsteils besteht nicht. 113 Die Rechtsprechung geht aber davon aus, dass bei nur vier Wohngebäuden die für die Annahme eines Ortsteils er-forderliche Anzahl an Bauten noch nicht gegeben ist, 114 fünf oder sechs Gebäude können hingegen schon ausrei-chen. 115 Ob des Weiteren eine organische Siedlungsstruk-tur gegeben ist, muss im Vergleich mit anderen Ansied-lungen im Gemeindegebiet und im Gegenvergleich mit

NuR (2012) 34: 448–458 457Füßer/Lau, Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL

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103) Siehe nur BVerwG, Urt. v. 18. 6. 1997 – 6 C 3.97, NuR 1998, 541/543.

104) Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, JZ 1994, 213/217.

105) Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 109 Rdnr. 5.106) Vgl. Heinig, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen

Union, Baden-Baden 2011, § 32 Rdnr. 9.107) OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 5. 7. 2007 – OVG 2 S

25.07, ZUR 2008, 34/38.108) Statt vieler Finkelnburg/Ortloff/Kment, Öffentliches Baurecht,

Bd. I, 6. Aufl. 2011, § 5 Rdnr. 4.109) Lau (Fn. 8), Rdnr. 53; offen lassend BVerwG, Urt. v. 27. 8. 1997 –

11 A 18.96, NVwZ-RR 1998, 291/292.110) So schon BVerwG, Urt. v. 6. 11. 1968 – IV C 2.66, BVerw GE

31, 20/21 f.111) BVerwG, Beschl. v. 2. 3. 2000 – 4 B 15.00, BauR 2000, 1310.112) VGH Mannheim, Urt. v. 18. 1. 2011 – 8 S 600/09, NVwZ-RR

2011, 393/395.113) BVerwG, Urt. v. 30. 4. 1969 – IV C 38.67, BRS 1970, Bd. 22

Nr. 76, S. 123.114) BVerwG, Beschl. v. 19. 4. 1994 – 4 B 77.94, NVwZ-RR 1994,

555.115) BVerwG (Fn. 111); VGH Mannheim (Fn. 112) m. w. N.

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der städtebaulich unerwünschten Splittersiedlung ermit-telt werden. 116

4.11 Landwirtschaft

In den Blick zu nehmen ist fernerhin auch die Landwirt-schaft. In der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung hat der deutsche Gesetzgeber die Landwirtschaft im Zuge der jüngsten BNatSchG-Novelle dahingehend gestärkt, dass gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 BNatSchG bei der Inan-spruchnahme von land- oder forstwirtschaftlich genutz-ten Flächen für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen auf agrarstrukturelle Belange Rücksicht zu nehmen ist, insbe-sondere für die landwirtschaftliche Nutzung besonders ge-eignete Böden nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden dürfen. 117 Eine vergleichbare Stärkung landwirtschaftlicher Belange findet sich in § 34 BNatSchG zwar nicht; gleichwohl dürfen diese Belange in ihrem Ge-wicht nicht unterschätzt werden. Denn zum einen steht die Landwirtschaft als die Grundlage der Ernährung der Bevölkerung unzweifelhaft im öffentlichen Interesse und zum anderen vermag sie sich schon deshalb gegenüber wi-derstreitenden Interessen durchzusetzen, weil sie gerade in einem so dicht besiedelten Land wie der Bundesrepu-blik Deutschland einem zum Teil erheblichen Flächen-druck ausgeliefert ist. 118 Die Landwirtschaft genießt da-rüber hinaus auch eine primärrechtliche Beachtung. So legt Art. 39 Abs. 1 AEUV bestimmte Ziele der gemein-samen Agrarpolitik fest, nämlich die Steigerung der Pro-duktivität, die Gewährleistung einer angemessenen Le-benshaltung der Landwirte, die Stabilisierung der Märkte, die Versorgungssicherheit und angemessene Verbraucher-preise. Dabei darf zwar der Umweltschutz nicht ausgeblen-det werden, 119 doch steht die gemeinsame Agrarpolitik an-dererseits auch nicht unter einem Naturschutzvorbehalt. Mithin kann sich der Zugriff auf landwirtschaftlich be-deutsame Flächen im Einzelfall durchaus auch allein aus agrarstrukturellen Gründen als unzumutbar erweisen, zu-mal wenn insoweit eine entsprechende raumordnerische Absicherung existiert.

4.12 Enteignungen

Im Übrigen wird vielfach gegen die an sich vorzugswürdige Alternative auch vorgebracht, sie sei in größerem Maße mit Enteignungen verbunden. Ebenso wie Existenzgefährdun-gen zunächst nur private Belange berühren, handelt es sich jedoch auch bei der Enteignung eines Grundstückseigentü-mers zunächst nur um die Verletzung eines privaten Inte-resses bzw. Rechts.

Soweit die Beschaffung der für das Vorhaben benötig-ten Flächen nur im Wege der Enteignung gelingt, liegt in-des der schwerste nur denkbare Eingriff in das Eigentums-grundrecht vor. Insofern sind auch öffentliche Interessen berührt. Dies resultiert daraus, dass das Eigentum nicht nur Grundrecht ist, sondern als Institut auch eine Funktion im Gemeinwohlinteresse erfüllt. So ist das Eigentum für zahl-reiche öffentliche Belange mehr oder weniger Grundvor-aussetzung. 120 Die wichtigste Funktion des Eigentums als Rechtsinstitut besteht dabei darin, Knappheitsprobleme zu bewältigen (in der Ökonomie als Allokation bezeich-net). Es hat sich nämlich inzwischen der Markt als das klar überlegene institutionelle Instrument zur Bewältigung sol-cher Probleme erwiesen; für eine Marktwirtschaft ist aber das Eigentum die tragende Säule. 121 Nicht zuletzt deswegen genießt das Eigentum auch unionsrechtlich einen hohen Stellenrang. 122 Zur Erreichung seiner vollen Funktionsfä-higkeit ist das Eigentum jedoch auf das Vertrauen in seinen Bestand und zwar nicht nur als Institut im Allgemeinen,

sondern auch als Recht in den Händen des Einzelnen an-gewiesen. Die Enteignung aber stellt einen – finalen – Ei-gentumsentzug durch den Staat dar. 123 Dieser unmittelbare und als solcher vom Staat beabsichtigte Zugriff auf das Ei-gentum ist ein Affront gegen das Institut des Eigentums selbst. Er erschüttert das Vertrauen in den Bestand des Ei-gentums und damit tendenziell seine Funktionsfähigkeit als Institut. Die Enteignung beinhaltet damit stets einen auch allgemeinen Unwert; die Vermeidung von Enteig-nungen liegt mithin immer auch im öffentlichen Interesse. So darf denn – umgekehrt – gemäß Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG auch überhaupt nur „zum Wohle der Allgemeinheit“ enteignet werden.

Inwieweit dieses öffentliche Interesse in der Alterna-tivenprüfung nach § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL nutzbar gemacht werden kann, hängt indes entscheidend auch von der Frage der Veräußerungsbereitschaft der betroffenen Grundeigentü-mer ab. Muss nicht enteignet werden, sondern lässt sich der benötigte Grund und Boden freihändig erwerben, so liegt kein Unwert im vorgenannten Sinne vor; denn es wird nicht in das Eigentumsgrundrecht eingegriffen, das Eigentum als im zentralen öffentlichen Interesse stehen-des, zu seiner vollen Funktionsfähigkeit auf Vertrauen in seinen Bestand im Einzelfall angewiesenes Institut wird nicht erschüttert. Die mit dem freihändigen Erwerb ein-hergehenden Nachteile erschöpfen sich dann in rein mo-netären Belangen.

Doch selbst, wenn es zur Enteignung kommt, wird es häufig am Überwiegen fehlen. Schwierigkeiten treten in-soweit schon deshalb auf, weil sich der mit Enteignungen verbundene öffentliche Unwert nicht quantifizieren lässt. Der mit Enteignungen einhergehende öffentliche Unwert wird daher in aller Regel lediglich begleitend zum Aus-schluss einer an sich vorzugswürdigen Alternative heran-gezogen werden können.

5. Schlussbetrachtung

Alles in allem kann festgehalten werden, dass die Alter-nativenprüfung nach § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 Satz 1 FFH-RL ein „schwieriges Geschäft“ ist. Trotz des 20-jährigen Bestehens der FFH-Richtlinie harren noch zahlreiche Fragen ihrer höchstrichterlichen Beantwortung. Wegen der Vielzahl einer Abwägung be-dürfenden Elemente der Alternativenprüfung wird sich die von der Praxis gewünschte Rechtssicherheit jedoch oh-nehin erst in einigen Jahren nach Etablierung einer ent-sprechenden Kasuistik einigermaßen erreichen lassen. Es konnte aber gezeigt werden, dass sich die grundlegenden Leitlinien bereits absehen lassen und zumindest eine grobe Fallgruppenbildung möglich ist, was die Orientierungsfin-dung im Einzelfall sehr erleichtert.

Füßer/Lau, Die Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL

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458 NuR (2012) 34: 448–458

116) VGH Mannheim (Fn. 112).117) Hierzu Lau (Fn. 69), S. 767.118) Vgl. dazu Füßer/Lau, Der Kampf ums Land – Bergbau, Energie-

gewinnung, Infrastruktur, Siedlungstätigkeit, Naturschutz; Hat die Landwirtschaft das Nachsehen?, AUR 2010, 161 ff.

119) Hierzu Frenz, Ökologie und gemeinsame Agrarpolitik, NuR 2011, 771 ff.

120) Hierzu Engel, in: v. Danwitz/Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, Berlin u. a. 2002, S. 9/59 ff.

121) Zum Ganzen Engel (Fn. 120), S. 33 ff.122) Hierzu v. Danwitz, in: ders./Depenheuer/Engel (Fn. 120),

S. 215/261 ff.123) Vgl. EuGH, Urt. v. 13. 12. 1979 – 44/79, Slg. 1979, 3727/

Rdnr. 19, Hauer; EuGH, Urt. v. 6. 12. 1984 – 59/83, Slg. 1984, 4057/Rdnr. 22, Biovilac.