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Die Atlantreuen

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ATLAN 94 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 593

Die Atlantreuen von Hubert Haensel

In den mehr als 200 Jahren ihres Fluges durch das All haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Ver-gleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorange-gangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, Ende des Jahres 3304 Bordzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X – einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat. Nach erbitterten Kämpfen hat der Gegner sich ein neues Versteck gesucht, nicht ohne Atlan und die SOL in eine Zeitfalle zu versetzen, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Diese Gefangenschaft führt naturgemäß zu Unruhen an Bord der SOL. Die Lage wird im-mer bedrohlicher, zumal auch SENECA, das Bordgehirn, keinen Ausweg weiß. Doch eine Gruppe stellt sich dem Chaos entgegen – es sind DIE ATLANTREUEN ...

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ATLAN 94 – Die Abenteuer der SOL

Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide auf dem Planeten VIVARIUM. Hage Nockemann, Blödel, Sanny und Federspiel – Atlans Begleiter. Breckcrown Hayes – Der High Sideryt muß erneut gegen das Chaos an Bord der SOL angehen. Trunk B. Deuergal und Jylene Tapsin – Zwei junge Solaner aus der Gruppe der Atlantreuen.

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1.

Unverwandt starrte er die Digitalanzeige

an. Seine Hände verkrampften sich um die Tischplatte.

Die Datumsspalte zeigte den 15. Dezember 3804 – seit Tagen schon. Und nichts in die-sem trostlosen Universum schien in der Lage zu sein, die fluoreszierenden Kristalle zu einer anderen Anzeige zu bewegen.

Trunk B. Deuergal fühlte ein Prickeln in seinen Schläfen, das sich immer dann einstell-te, wenn er nervös oder gar überreizt war.

Der 15. Dezember ... Gestern hatte man dieses Datum geschrie-

ben – und vorgestern. Mit einiger Wahr-scheinlichkeit würde auch morgen kein ande-res gelten.

Die Zeit stand still! Es war einfach gesagt, doch so unbegreif-

lich wie kaum etwas anderes. Das Leben ging trotzdem in den gewohnten

Bahnen weiter. An Bord der SOL hatte sich kaum etwas geändert. Menschen arbeiteten oder schliefen, sie lachten und weinten, und das Lärmen der Kinder erfüllte nach wie vor viele Korridore. Nur klang das Lachen nicht mehr so offen und spontan wie vor wenigen Tagen. Ein Hauch von Resignation begann sich auszubreiten. Beklommenheit zeichnete sich in den Gesichtern der Solaner ab.

Eine weiße Schreibfolie lag auf dem Tisch, in der linken oberen Ecke mit vier kurzen Strichen versehen. Es kostete Trunk einige Überwindung, den Magnetstift aufzunehmen und einen fünften Strich quer über die bishe-rigen zu ziehen. Dann ließ er das Schreibgerät fallen. Sein Blick wanderte zwischen der Da-tumsanzeige und dem Blatt hin und her.

»Mist!« Der junge Buhrlo seufzte, stützte die Ellbo-

gen auf und vergrub sein Gesicht in den Handflächen.

So saß er noch immer in Gedanken versun-ken, als das Schott zu seiner Kabine aufglitt. Er bemerkte die junge Solanerin nicht, deren schulterlanges blondes Haar wie eine Mähne war und deren eng anliegende Kombination es der männlichen Phantasie leicht machte.

Jylene Tapsin, so hieß die 21-jährige Sola-nerin wohnte nur ein Deck über Deuergal.

Beide kannten sich seit Jahren, besaßen die-selben Freunde und Interessen und waren vielleicht auch ein wenig durch gemeinsame Erfahrungen miteinander verbunden.

»Probleme, Trunk?« fragte sie, als sie ihren Freund regungslos in seinem Sessel sitzen sah.

Zögernd hob er den Kopf, wandte sich halb um. Die Andeutung eines Lächelns zeichnete sich um seine Mundwinkel ab.

»Du bist es, Jylene. Wie spät ist es?« »Hm«, machte sie. Er stutzte und nickte bitter. Dann griff er

nach der Folie und streckte sie ihr anklagend entgegen.

»Hier!« sagte er. »Fünf Schlafperioden. Demnach haben wir heute den 20. Dezem-ber.«

Jylene setzte sich auf sein Bett und schlug die Beine übereinander. Leicht lehnte sie sich zurück und musterte ihn eindringlich.

»Du beschäftigst dich mit Problemen, die nicht die deinen sind. Laß Hayes und die Stabsspezialisten sich darüber die Köpfe zer-brechen.«

»Ich wäre froh, wenn ich es könnte. Noch nie hatte ich das Gefühl, daß die SOL so tief in einem Schlamassel steckt wie diesmal. Aus eigener Kraft kommen wir da nicht wieder heraus.«

»Du unterschätzt Atlan. In der kurzen Zeit, die er an Bord ist, hat er Großes geleistet.«

»War ...«, meinst du. »Er ist verschwunden, und die SOL sitzt fest.«

»Irgendwann werden wir einen Ausweg finden.«

»Irgendwann?« Trunks Lachen klang zy-nisch. »Die Zeit bleibt stehen, Jylene. Für uns gibt es kein Irgendwann mehr – für uns gibt es nur noch ein Jetzt. Gestern, heute und mor-gen, wo liegt die Grenze, die eine Unterschei-dung möglich macht?«

»Blödsinn!« Das Mädchen reagierte ge-reizt. »In deinem Alter sollte man sich nicht mit solcherart Philosophie auseinanderset-zen.«

»Ich bin neunzehn, na und? Hast du das nicht schon immer gewußt?«

»So meinte ich es nicht, Trunk. Ich ...« »Wie dann?« Trunk ließ sich mitsamt seinem Sessel her-

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umschwingen. Jylene erschrak, als sie seine Augen sah. Er wirkte um Jahre gealtert.

»Die Zeit geht weiter. Jeder deiner Striche ist der beste Beweis dafür.«

Er schüttelte den Kopf. »Eine Notlösung, sonst nichts. Weißt du

überhaupt, was Zeit ist, Jylene?« »Ein Atemzug sind etliche Sekunden. Wir

leben, also vergeht Zeit, und wir altern, ob die Uhren stillstehen oder nicht.«

»Oberflächlich betrachtet, magst du recht haben.« Der Buhrlo war drauf und dran, sich in Rage zu reden. »Aber Zeit ist nicht bloß ein Atemzug oder ein Herzschlag ... Zeit ist vor allem und in erster Linie die Geschichte, die wir schreiben. Und im Moment sind wir zum Nichtstun verurteilt.«

»Das waren wir des öfteren.« »Diesmal ist es anders. Was immer gesche-

hen ist, für uns ist die Zeit eingefroren wie die Anzeigen der Uhren ...«

Mit einer weit ausholenden Bewegung feg-te Trunk das Chronometer von der Tischplat-te.

*

Unschlüssig hielt sie das Glas eine Weile

lang in der Hand, bevor sie es ruckartig auf die Konsole zurückstellte. Sofort begann der feine Sand wieder zu rieseln.

Ursula Grown achtete kaum darauf. Seit Tagen kannte sie nur ihre Arbeit. Schlaf fand sie selten, und wenn, dann schreckte sie, von Alpträumen geplagt, schon bald wieder hoch.

Es waren verdammt harte Tage, die hinter ihr lagen. Obwohl jeder sein Bestes gegeben hatte, erwies sich die Instandsetzung des be-schädigten Hypervakuum-Verzerrers wesent-lich problematischer als anfangs angenom-men.

Wochen würden noch vergehen, denn die Kampfmaschinen des Schlafenden Heeres hatten ganze Arbeit geleistet.

Wochen ...? Die Stabsspezialistin stieß ein heiseres Lachen aus. Solange man gezwungen war, die verstreichende Zeit mit Sanduhren zu messen – Methoden, die archaisch anmuteten –, würde es weder auf der SOL noch an Bord der CHART DECCON wieder wie früher werden.

Als Ursula Grown sich umwandte, stand da noch immer der Roboter, der ihr die Tagesbe-richte überbracht hatte.

»Worauf wartest du?« herrschte sie die Ma-schine an.

»Meine Programmierung besagt ...« »Quatsch! Ich brauche dich vorerst nicht.

Geh und helfe den anderen.« »Meine Programmierung besagt nur, daß

ich alle vierundzwanzig Stunden die gesam-melten Daten der einzelnen Reparaturtrupps zu überbringen habe.«

»Besitzt du eine Möglichkeit, festzustellen, wann vierundzwanzig Stunden vergangen sind?«

Zögern. Die Maschine, eine überaus einfa-che Konstruktion, antwortete nicht.

»Ich werde dich anfordern, wenn es wieder soweit ist«, sagte Ursula Grown. »Bis dahin schließt du dich einem der Techniker an.«

Der Roboter entfernte sich. Kopfschüttelnd blickte die Frau ihm hinterher. Jeder Tag brachte andere Überraschungen mit sich. Fast schien es, als sei auch manche der selbständig denkenden Maschinen von der allgemeinen Aufregung angesteckt worden.

»Blödsinn«, murmelte sie schließlich leise vor sich hin.

Ursula Grown verließ den Maschinenleit-stand. Was sollte sie dem High Sideryt be-richten? Daß die Arbeiten nur zögernd voran-kamen? Oder daß die Aussichten, die beiden spurlos verschwundenen Kreuzer PALO BOW und HORNISSE unter dem Kommando von Atlan und Bjo Breiskoll in absehbarer Zeit aufzuspüren, noch immer nicht nennens-wert besser geworden waren?

Was klang weniger deprimierend? Das jähe Aufheulen der Sirenen schreckte

die Stabsspezialistin aus ihren Gedanken auf. Nach allem, was vorgefallen war, war die Stille der letzten Tage wie die Ruhe vor dem Sturm gewesen.

Ursula Grown begann zu rechnen. Das Schott zur Kommandozentrale glitt vor ihr auf.

Einem neuerlichen Angriff hatte die CHART DECCON nicht sehr viel entgegen-zusetzen.

»HÜ-Projektoren?« Ursula Grown ließ sich in den Sitz des Kommandanten sinken. Der

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Alarm verstummte.

»Zwei Sektoren sind nur bedingt einsatzfä-hig«, wurde ihr gemeldet. »Vor allem der Energiewandler ist gefährdet.«

Die Spezialistin ließ die Ortungsergebnisse auf ihren Bildschirm umlegen. Aber da war nichts außer der SOL, die wenige Lichtsekun-den entfernt stand.

Routinemäßig überprüfte sie die Daten. Nichts veränderte sich.

»Weshalb Alarm?« Herausfordernd blickte sie den Orter an.

»Energieeinbruch.« »Wo? Liegt eine Aufzeichnung vor?« »Selbstverständlich.« »Dann her damit! Mann, worauf wartest du

eigentlich?« Augenblicke später zuckte Ursula Grown

merklich zusammen. Auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Unmutsfalte, die weder künst-liches Biogewebe noch dick aufgetragenes Make-up verdecken konnten.

»Bin ich von Trotteln umgeben?« fuhr sie auf. »Das sind einwandfrei Emissionen, die von der CHART DECCON ausgehen.«

»Tut mir leid«, sagte der Mann hinter den Ortungen zerknirscht.

»Was? Daß du mit offenen Augen geschla-fen hast? – Sofort eine Rettungsmannschaft zu den Projektoren der Energietrichter! Unge-fähr in dem Bereich muß der Energieausbruch erfolgt sein.« Die Frau schaltete eine Inter-komverbindung, doch der Anschluß kam nicht zustande.

Sie ließ den Mann einfach stehen, der ihr seinen Fehler zu erklären versuchte, und ver-ließ die Zentrale. Manchmal hatte sie den Eindruck, daß es schwerer wurde, mit den Leuten auszukommen. Fehler schlichen sich ein, die unter normalen Umständen nie hätten passieren dürfen.

Während sie ein Laufband benutzte, das sie entlang den Unterkünften nach mittschiffs brachte, dachte sie darüber nach. Irgendwie mußte das alles mit dem Phänomen der Zeit zusammenhängen.

Es roch nach Ozon, als Ursula Grown die Hypervakuum-Orter passierte. Selbst die At-mosphäre schien elektrisch aufgeladen zu sein.

Vor ihr brandete Lärm auf. Dazwischen

unverständliche Schreie und Befehle. Sie has-tete weiter, sprang in einen Lastenantigrav-schacht, der sie auf das oberste Deck brachte. Hier lag eine kleine Halle, an deren jenseiti-gem Ende mehrere Schotte die Zugänge zu den Projektoren versperrten.

Spontan entschied Ursula Grown sich für den mittleren Zugang. Das Wärmeschloß rea-gierte jedoch nicht, und sie war gezwungen, den Öffnungsvorgang manuell einzuleiten.

Schale, stickige Luft schlug ihr entgegen. Und eine Hitze, die ihr schier den Atem nahm.

Zwanzig Meter entfernt glühten die Wände des engen Korridors. Den diensttuenden Technikern schien jeder Ausweg versperrt. Wie lange würden sie sich ohne schwere Schutzanzüge halten können? Die irrlichtern-de Glut, die selbst vor massivem Terko-nitstahl nicht haltmachte, fraß sich unaufhalt-sam weiter.

Kurz hintereinander erschütterten zwei Explosionen diesen Sektor der CHART DECCON. Von einer heftigen Druckwelle erfaßt, wurde die Stabsspezialistin gegen eine Wand geschleudert. Vorübergehend glaubte sie, sämtliche Knochen gebrochen zu haben, dann stemmte sie sich mühsam hoch.

Die automatischen Löschvorrichtungen versagten. Ein starker Luftstrom entstand, der die Flammen anfachte.

Ohne zu überlegen, machte Ursula Grown kehrt. Sie riß einen der Schränke am Eingang der Halle auf und zog einen Raumanzug von den Haken. Im Nu war sie hineingeschlüpft, schloß die Magnetsäume und den Helm und warf sich ein halbes Dutzend weiterer Anzüge über den Arm.

Als sie den Gang wieder erreichte, war das Feuer fast bis zum Schott vorgedrungen. Sie stürmte mitten hinein in die Flammen, nicht daran denkend, welchem Risiko sie sich aus-setzte. Sie wußte nur, daß sie den Technikern helfen mußte.

Ein Meer von Feuer ringsum ... und eine schier unerträgliche Hitze, gegen die selbst die Klimaanlage des Raumanzugs machtlos war.

Ein Mann lag am Boden. Es war nicht zu erkennen, ob er nur das Bewußtsein verloren hatte oder schon tot war. Ursula Grown bück-

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te sich, versuchte, ihn aufzurichten, aber der schlaffe Körper entglitt ihr wieder.

Funkenstiebend brachen Teile der Seiten-wand in sich zusammen. Die Frau fand gerade noch Zeit, abwehrend die Arme hochzureißen. Der Schmerz, als eine scharfe Bruchkante ihre linke Schulter traf und dabei den Raumanzug aufriß, ließ sie gellend aufschreien. Brenn-endheiße Atemluft drang in ihre Lungen ein.

Ursula Grown spürte ihren Arm nicht mehr. Blutige Schleier vor den Augen kündeten die kommende Ohnmacht an.

Plötzlich wurden Stimmen in ihrem Helm-empfänger laut. Man rief nach ihr, doch sie brachte nicht viel mehr als ein heiseres Krächzen hervor.

Die Beine versagten ihr den Dienst; unend-lich langsam brach sie vornüber in die Knie. Schaum klatschte auf sie herab. Und da waren hilfreiche Tentakel, die sie umschlangen und mit sich zerrten.

Das letzte, was Ursula Grown noch bewußt wahrnahm, war das ausdruckslose Gesicht eines Medorobots.

*

Eine eisige Leere strahlte von den Bild-

schirmen aus, die nicht einen Stern zeigten. Selbst da, wo wenigstens der Schimmer ferner Galaxien sein sollte, gähnte nur ein uner-gründliches Nichts. Die Sterne waren in je-nem Augenblick verblaßt, als die Uhren an Bord der SOL ausfielen.

Die Zeit stand still. In welchem Umkreis, vermochte niemand

zu sagen – selbst aufwendige Meßreihen konnten darüber keinen Aufschluß geben. Trotzdem wurden die Auswirkungen dieses Zustands immer deutlicher. Selbst als beson-nen geltende Wissenschaftler verloren ihre Ruhe und gerieten sich hinsichtlich der Beur-teilung der Lage in die Haare.

Nur über eines war man sich allgemein im klaren:

Dies war die bislang perfekteste Falle, die Hidden-X der SOL gestellt hatte. Und es sah nicht so aus, als würde man sich aus eigener Kraft befreien können.

»Unsere Lage ist ernst, aber noch lange nicht hoffnungslos.« Mit seinem Ausspruch

brachte Breckcrown Hayes es fertig, wenigs-tens ein flüchtiges Lächeln auf die Gesichter der in der Zentrale Anwesenden zu zaubern. »Was sind schon fünf Tage, gemessen an der Dauer unserer Odyssee?«

»Diese fünf Tage können zugleich fünf Jah-re oder gar Jahrzehnte sein«, warf Gallatan Herts ein. »Wir haben keine Möglichkeit, die wirklich verstreichende Zeit zu messen.«

Lyta Kunduran winkte ab. »Außer der Tatsache, daß sämtliche Uhren

nicht mehr gehen, hat sich für uns nicht sehr viel geändert.«

»Hört sie euch an!« spottete Gavro Yaal. »Niemand kann ernsthaft so dumm sein, das zu glauben.« Geflissentlich übersah er den bitterbösen Blick, den die Ex-Magnidin ihm zuwarf.

»Ich fühle mich kaum anders als vor dem 15. Dezember«, meinte sie.

»Du sprichst, als wäre Zeit etwas, was man wahrnehmen kann. Dabei ist sie wahrschein-lich der abstrakteste Begriff, den wir kennen.«

»Eben«, nickte Lyta Kunduran. »Wie kann man uns etwas Abstraktes nehmen? Ist die Zeit wirklich stehengeblieben?«

»Frage SENECA!« »Das halte ich für überflüssig. Jede Sand-

uhr beweist, daß an Bord nach wie vor die Stunden vergehen.«

»Es ist eben alles relativ.« »Wie meinst du das?« »So wie ich es sage. Augenscheinlich hat

sich nicht sehr viel geändert. Aber während wir glauben, daß ein Jahr vergeht, mag außer-halb unseres Schiffes nur eine Sekunde ver-streichen. Die Uhren sind in dieser Hinsicht unbestechlich.«

»Wir haben von Anfang an mit weiteren, womöglich schlimmeren Auswirkungen ge-rechnet«, warf Breckcrown Hayes ein. »Das Zeittal ...«

»Verschone mich damit«, stöhnte Solania von Terra. »Wenn ich den Begriff schon höre, dreht sich mir der Magen um.«

»Aber er ist zutreffend. Versuche dir vorzu-stellen, du seiest in einem Gebirge notgelan-det und bist gezwungen, steile Geröllfelder emporzuklettern, weil es keinen anderen Ausweg gibt. Wenn die Steine unter deinen Füßen abrutschen, wirst du immer wieder am

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tiefsten Punkt angelangen.«

»Das ist mehr als nur an den Haaren her-beigezogen.«

»... finde ich keineswegs«, sagte Lyta Kun-duran. »Mehrfach haben wir versucht, mit der SOL zu fliehen. Und jedesmal fanden wir uns in dem Augenblick an den alten Koordinaten wieder, als wir den Linearraum verließen. Nach Brecks Vergleich sind wir der einsame Bergsteiger, der ins Tal abrutscht, wobei die Zeit sicherlich eine große Rolle spielt.«

»Wir sitzen in jeder Hinsicht fest«, nickte der High Sideryt. »Der Effekt des Rückstur-zes tritt nicht auf, wenn man sich mit geringer Geschwindigkeit bewegt. Deshalb ist es auch möglich, zwischen der SOL und der CHART DECCON mit Beibooten zu verkehren.

Sobald wir uns aber höherwertiger Techni-ken bedienen, wie sie die Linearkonverter im Vergleich zu den Impulstriebwerken darstel-len, findet keine Ortsveränderung mehr statt.«

»Wenn wir mit Unterlicht fliegen, würden selbst unsere Enkelkinder die nächste Galaxis nicht erreichen.«

»Die Wirkung des Zeittakts besteht also in erster Linie darin, daß jede fortgeschrittene Technik lahmgelegt wird. Wir sehen es deut-lich an den Chronometern. Was funktioniert, sind Sanduhren und andere völlig untechni-sche Methoden.«

»Eine heimtückische Falle. Wenn wir we-nigstens ihren Ursprung erkennen könnten.«

»Nach dem Urheber mußt du nicht lange suchen, Solania. Ich habe SENECA befragt, und er behauptet, nur Hidden-X könne hinter alldem stecken.«

»Dann wird Atlan uns helfen.« »Hört auf damit, euch gegenseitig Sand in

die Augen zu streuen.« Gavro Yaal stemmte die Fäuste in die Hüften und sah sich heraus-fordernd um. »Diesmal hat selbst der Arkoni-de versagt. Warum meldet er sich nicht? Vor über zwei Wochen ist der Kontakt zu den bei-den Kreuzern abgebrochen. Keiner von denen lebt noch, das ist meine Meinung. Wir geben uns völlig unsinnigen Hoffnungen hin.«

»Und ...«, bemerkte Lyta Kunduran aggres-siv. »Was, schlägst du vor, sollen wir unter-nehmen?«

Gavro Yaal gab keine Antwort. Statt dessen wandte er sich um und starrte die leeren Bild-

schirme an. Das folgende Schweigen war bedrückend.

Noch versuchte man, Mutmaßungen über At-lans Tod weit von sich zu schieben, doch ge-rade die immer wieder verdrängten Befürch-tungen wirkten lähmend auf den Pulsschlag der SOL und ihrer Besatzung.

Nach einer Weile verließ Gavro Yaal die Zentrale.

»SENECA«, wandte Breckcrown Hayes sich an die Biopositronik. »Wie beurteilst du die Erfolgsaussichten von Atlans Unterneh-men?«

»Die zur Verfügung stehenden Daten sind ungenügend.«

»Du weißt mindestens ebensoviel über Hidden-X und seine Machenschaften wie wir.«

»Die Auswertung der vorhandenen Daten läßt ein Wiedererstarken von Hidden-X be-fürchten.«

»SENECA! Ich will von dir eine konkrete Antwort auf eine ebenso klare Frage. Haben die Besatzungen der PALO BOW und der HORNISSE eine Chance?«

»Ich weiß es nicht.« »Läßt sich der Verbleib von Hidden-X und

dem Flekto-Yn berechnen?« »Nicht unter den derzeitigen Gegebenhei-

ten.« Breckcrown Hayes wollte noch weitere

Fragen stellen, aber der aufgeregte Ruf Curie van Herlings hinderte ihn daran.

»Energieausbrüche auf der CHART DEC-CON! Es muß dort mehrere Explosionen ge-geben haben.«

2.

Das Land unter der HORNISSE war von

Farben übersät. Nur langsam ließ Uster Brick den Kreuzer tiefer absinken.

In der Ferne erhoben sich die schneebe-deckten Gipfel zweier langgestreckter Berg-ketten, dahinter schloß ein ausgedehntes Bin-nenmeer an.

Das VIVARIUM hatte sich schon beim ers-ten Anflug als fast paradiesische Welt gezeigt.

Auf den Bildschirmen waren verstreut lie-gende Siedlungen und kleinere Städte zu er-kennen. Dazwischen weitgezogene Parkanla-

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gen und immer wieder naturbelassene Fleck-chen Erde – üppig grüne Wälder und blaue Seen, deren Oberfläche das Licht der Sonne Utopia spiegelte.

Doch nirgendwo eine Spur von den Erbau-ern dieser Städte. Kein Rauch, der aus Indust-rieanlagen in den blauen Himmel stieg; keine Funksignale, die unsichtbar die Atmosphäre erfüllten.

»Genauso war es, als wir zum erstenmal hier landeten«, stellte Bjo Breiskoll fest.

Atlan, der neben ihm stand, vollführte eine umfassende Handbewegung.

»Eine Welt, auf der sich gut leben ließe, sobald man an die geringe Schwerkraft ge-wöhnt ist.«

Als Breiskoll ihn überrascht von der Seite her musterte, winkte er ab.

»Keine Angst. Ich habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. Aber dieser Planet birgt ein Geheimnis; zumindest bestehen Verbin-dungen zwischen dem VIVARIUM und Technokrat.«

»Hidden-X war hier«, grinste Breiskoll. Es sollte ein Witz sein, aber Atlan nickte ernst.

Noch tausend Meter Höhe. »Lande möglichst mit Gefühl, Uster!« be-

fahl der Arkonide. »Wir wollen eventuelle Beobachter nicht erschrecken.«

Versuche, der Dimension zu entkommen, in der man sich befand, waren fehlgeschlagen. Zudem gab es nichts, wohin man hätte fliegen können, außer dem System der Sonne Utopia. Und nur das VIVARIUM bot Lebensmög-lichkeiten, nachdem die Planeten zwei bis sechs sich als tote Himmelskörper erwiesen hatten und nachdem die siebte Welt, Techno-krat, für Solaner unzugänglich geworden war. Das dortige Robotgehirn, das sich als der »wahre Zeithüter« bezeichnete, reagierte auf keinen Versuch einer Kontaktaufnahme. Selbst die Bemühungen von Cpt’Carch und Insider blieben erfolglos; sie wurden von der Maschine nicht mehr anerkannt. Immerhin war es gelungen, Atlans Rettungskugel in Bjos Dimension zu bringen.

Sanft setzte die HORNISSE auf. »Da wären wir«, bemerkte Uster Brick ü-

berflüssigerweise. »Was soll nun geschehen?« »Wir haben es geschafft in das Hypervaku-

um vorzustoßen, also werden wir auch einen

Rückweg finden«, betonte Vorlan Brick. »Wozu diese Landung?«

»Mag sein, daß gerade die ehemaligen Be-wohner des VIVARIUMS uns weiterhelfen können«, entgegnete sein Bruder.

»Die Siedlungen sind verlassen. Hidden-X hat die Ureinwohner längst für seine Zwecke rekrutiert. Du gibst dich also falschen Hoff-nungen hin, Uster.«

»Dann warten wir eben darauf, daß die SOL Hilfe schickt.«

»Was geschieht, falls die CHART DEC-CON inzwischen vernichtet wurde? Glaubst du wirklich, daß Hidden-X in der Beziehung untätig blieb? Dann können wir warten, bis wir schwarz werden.«

»Einige Tage«, sagte Atlan, »dürften genü-gen, um herauszufinden, woran wir sind. Wenn meine Hoffnungen sich zerschlagen, bleibt Zeit genug, um es auf andere Weise zu versuchen.«

*

Eine knappe halbe Stunde später öffnete

sich die Bodenschleuse des Kreuzers. Atlan, Hage Nockemann und Blödel sowie Sanny und Federspiel verließen das Schiff. Neben Funkgeräten, Waffen und zwei Translatoren trug man nur wenige Ausrüstungsgegenstände mit sich.

Ein eigenartiger Geruch lag über dem Land – es war der Duft von Blütenstaub.

Zum Teil erreichten die Blumen Höhen bis zu zwei Metern und versperrten mit glocken-förmigen Kelchen die Sicht. Es fiel schwer, sich zwischen ihnen zu bewegen.

Schon bald hatte jeder für sich die Schwer-kraft aufs normale Maß erhöht. Nur Blödel nicht.

»Du solltest dich vorsehen«, warnte Hage Nockemann seinen Laborroboter. »Ein hasti-ger Schritt, und du treibst weit davon.«

»Ich kann gut allein auf mich aufpassen«, erwiderte Blödel und zwirbelte seinen künst-lichen Schnauzbart.

Knapp fünf Kilometer entfernt, hatten sie von Bord aus eine kleine Siedlung erkennen können. Sie lag östlich des Landeplatzes, am Ufer eines weitgestreckten Sees. Wenn man berücksichtigte, daß die Sonne sich bereits

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dem Horizont zuneigte, blieb für seine erste Erforschung nur wenig Zeit. Andererseits hatte Atlan damit auch nicht bis zum nächsten Morgen warten wollen.

Alles blieb ruhig. Niemand kam, um nach den ungebetenen Eindringlingen zu sehen. Dabei hatten diese mittlerweile mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt.

»Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Hage Nockemann. »Neugierde ist eine Charakterei-genschaft jeden intelligenten Lebens. Die HORNISSE ist bestimmt nicht zu übersehen.«

Ein lauter Aufschrei ließ ihn herumwirbeln. Unmittelbar neben ihm schlugen die armdi-cken Stämme zweier Blumen auf.

Für einige Augenblicke sah der Wissen-schaftler seinen Roboter hoch über sich, hilf-los mit den in voller Länge ausgefahrenen Armen rudernd. Im nächsten Moment stürzte Blödel ab – schwer wie ein Stein.

»Meine Güte.« Hage Nockemann wurde bleich. Ohne die erstaunten Gesichter der an-deren zu beachten, rannte er dorthin, wo der Roboter mit einem Mehrfachen seines norma-len Gewichts aufgeschlagen sein mußte.

Als Atlan ihn wieder einholte, kniete er vor dem reglosen Blödel.

»Ist er ...?« »Ich befürchte das Schlimmste«, nickte

Nockemann. »Na ja«, meinte Sanny respektlos. »Einen

kleinen Defekt hatte er schon immer.« »Das ist nicht wahr!« Ruckartig kam Blö-

del hoch. Sein einziges Auge richtete sich auf die Molaatin.

Nockemann atmete sichtlich erleichtert auf. »Was soll der Unsinn?« herrschte er den

Roboter an. »Habe ich dir nicht befohlen, auf normale Schwerkraft umzuschalten?«

»Ich wollte sehen, welche Strecke wir noch vor uns haben«, versuchte Blödel sich zu rechtfertigen.

»... und bist dabei übers Ziel hinausge-schossen.«

»Es ist deine Schuld, Hage.« »Was kann ich dafür?« »Hättest du mich nicht bemerkt, hätte ich

nicht so schnell umschalten müssen. Es waren fünf g, mit denen ich stürzte.«

Seit sie das Schiff verlassen hatten, war die Anspannung immer deutlicher geworden. Nun

löste sie sich in befreiendem Gelächter. Selbst Nockemann stimmte darin ein.

Blödel hat sein Ziel erreicht, kommentierte Atlans Extrahirn. Er scheint über gute psy-chologische Kenntnisse zu verfügen.

Kurz darauf wurden die Blumen spärlicher. Die Siedlung lag vor den Solanern. Es waren gedrungen wirkende Bauten, die sich harmo-nisch der Landschaft anpaßten. Nichts rührte sich zwischen den Häusern oder auf den We-gen zum Ufer hin.

»Kannst du etwas wahrnehmen, Feder-spiel?« fragte Atlan.

Der Telepath schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, meinte er. »Da ist nie-

mand – trotzdem hängt diesem Ort noch die Ausstrahlung seiner ehemaligen Bewohner an.«

»Wer waren sie? Versuche, mehr herauszu-finden.«

Am Horizont zog bereits die Abenddämme-rung herauf, und die letzten Sonnenstrahlen ließen den Himmel in allen nur erdenklichen Rottönen erglühen, als Atlan eines der Ge-bäude betrat.

Es war geräumiger, als man von außen vermuten konnte. Neben mehreren kleinen Zimmern war ein einziger großer Raum do-minierend, der sich halbkreisförmig an der Außenwand erstreckte. Fenster gab es keine, doch flammte Licht aus verborgenen Quellen auf.

Eine Art Treppe führte in die Höhe, eher ein schmaler Steg mit seitlich angebrachten Sprossen. Atlan stieg ins Obergeschoß hinauf, das sich nur wenig von den unteren Räumen unterschied. Auch hier Einrichtungsgegens-tände, deren Sinn und Zweck verborgen blieb. Möbel im herkömmlichen Sinn fehlten gänz-lich. Dafür gab es weiche, aus Pflanzenfasern aufgeschüttete Schlafstellen, und eine Ein-buchtung in der Wand erwies sich als Wasser-leitung. Kaum hatte der Arkonide die Hand hineingelegt, brachen aus bislang verborgenen Düsen fein dosierte Fontänen hervor. Im Bo-den öffnete sich ein Ablauf.

»Jeglicher Komfort ist vorhanden«, be-merkte Hage Nockemann grinsend. »In der Tat scheinen die Unbekannten Höhlenbewoh-ner zu sein. Die fehlenden Fensteröffnungen, die Bauweise und das ganze Drumherum las-

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sen darauf schließen. Auch müssen sie kleiner sein als wir – höchstens einsdreißig, würde ich sagen. Und sie sind bessere Kletterer, be-wegen sich womöglich zeitweise auf allen vieren fort. Auf Dauer gesehen, wäre die ei-genwillige Treppe für Nur-Zweibeiner eine Qual.«

Atlan nickte zustimmend. Hage Nocke-manns Vermutungen deckten sich ziemlich genau mit den seinen.

Draußen wurden sie schon von Sanny, Fe-derspiel und Blödel erwartet, die ein anderes Gebäude durchsucht, aber ebenfalls nichts Nennenswertes gefunden hatten.

»Alles erweckt den Anschein, als wären die Bewohner gestern noch hier gewesen«, stellte die Molaatin fest.

»Was machen wir jetzt? Umkehren?« No-ckemann warf einen prüfenden Blick zum Firmament empor. Im Osten kroch die Schwärze der Nacht den Horizont herauf, im Westen zeichnete sich die Kugel des Kreuzers als Silhouette vor den verwehenden Schleiern des Abendrots ab.

»Bjo kann uns später mit einem Gleiter ab-holen lassen«, sagte Atlan.

In einem Bauwerk im Mittelpunkt der Sied-lung fanden sie fremd anmutende Maschinen. Teile davon waren aus Nickel gefertigt.

»Also doch Hidden-X«, behauptete Feder-spiel.

Sanny winkte ab. »Das ist eine von mehreren Möglichkei-

ten«, stellte sie richtig. »Das Vorhandensein von Nickel legt den Schluß zwar nahe, be-weist aber rein gar nichts. Immerhin wurden auch andere Metalle und Legierungen ver-wendet.«

Ein leises Rumoren wurde hörbar. Es kam aus dem Innern einiger Aggregate.

»Hat jemand von euch die Maschinen akti-viert?« wollte Atlan wissen.

»Nein«, machte Federspiel. »Ich habe nur gesehen, wie Blödel mit seinen Tentakeln einiges abgetastet hat.«

»Ist das wahr?« fuhr Hage Nockemann den Roboter an.

»Jemand muß die Maschinen untersuchen«, bemerkte Blödel eingeschnappt. »Wenn du es schon nicht tust.«

»Weil dies möglicherweise unnötige Risi-

ken birgt.« »Bis jetzt sind keine unangenehmen Folgen

erkennbar.« Blödel zog seine Tentakelarme nahezu gänzlich wieder ein, öffnete dafür aber einige Klappen in seinem röhrenförmigen Körper und ließ Meßinstrumente hervor-schnellen.

»Diese Maschinen werden von großen E-nergiemengen gespeist, die von außerhalb übertragen werden. Der Ausgangspunkt ist jedoch zu weit entfernt, um sich anmessen zu lassen.«

»Das kann Bjo erledigen.« Atlan versuchte, über seinen Minikom eine Funkverbindung zur HORNISSE herzustellen. Aber niemand meldete sich.

»Wahrscheinlich gibt es im Innern des Ge-bäudes Störfaktoren«, vermutete Nockemann.

Doch als sie wieder im Freien anlangten, wartete die nächste Überraschung auf sie.

Die HORNISSE war verschwunden.

* Im Alarmstart verließen zwei Space-Jets

die SOL. Breckcrown Hayes hatte schnell reagiert und Hilfsmannschaften losgeschickt, kaum daß die energetischen Entladungen auf der CHART DECCON abebbten.

Die Entfernung zwischen beiden Schiffen war gering genug, um den Piloten Beschleu-nigungs- und anschließende Bremsmanöver zu ersparen. Mit wenig mehr als fünfzig Ki-lometer pro Sekunde fliegend, erreichten sie die CHART DECCON nach wenigen Minu-ten.

Zwischen den Projektoren für das Verzer-rerfeld und dem Energiewandler war die Platt-form aufgerissen, als hätte eine gewaltige Detonation von innen her stattgefunden. Ver-strebungen und Deckplatten bildeten ein wir-res Konglomerat, das den Schein etlicher Brände widerspiegelte.

Zwischen den beiden Space-Jets, der SOL und der CHART DECCON wurde eine Funk-brücke aufgebaut. An Stelle von Ursula Grown bekam der High Sideryt nur deren Stellvertreter an den Interkom. Smash Oligs, ein ehemaliger Ahlnate, schien selbst nicht zu wissen, was vorgefallen war. Er wirkte ver-stört, aber zumindest konnte Hayes in Erfah-

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rung bringen, daß die Kommandantin zu den Projektoren unterwegs war, als die Explosio-nen erfolgten.

Heftige Brände blockierten derzeit die Zu-gänge. Zum Glück waren davon nur Metalle mit niedrigem Atomgewicht betroffen.

Während eine der Space-Jets aus geringer Höhe ein halbes Dutzend Löschroboter aus-schleuste, traf die andere Anstalten, in unmit-telbarer Nähe der Brandherde zu landen.

»Die Roboter ausschleusen und durchstar-ten!« befahl Hayes über Funk.

Die SJ-18 setzte dennoch auf. Keine fünf Meter von den Ausläufern der atomaren Glu-ten entfernt.

An Bord der SOL schlug der High Sideryt mit der Faust auf seine Instrumentenkonsole.

»Ist die übergeschnappt?« schimpfte er. »Merca, hast du nicht verstanden?«

»Doch«, kam es tonlos. Auf dem Bild-schirm erschien das Gesicht einer jungen Frau. Trotzig schob sie ihr Kinn vor.

»Starte sofort!« rief Hayes. »Du sollst nach Verletzten Ausschau halten, aber nicht durch Leichtsinn deine Besatzung gefährden.«

»Ich werde jetzt aussteigen«, verkündete Merca Ribb.

»Das ist zuviel für sie«, bemerkte Lyta Kunduran. »Sieh dir ihre Augen an. Die Frau dreht durch.«

»Sie wäre nicht Kommandantin der Jet, wä-re sie psychisch labil.«

Der High Sideryt wandte sich wieder dem Hyperkom zu.

»Du sollst starten, Merca! Jede Weigerung betrachte ich als offene Meuterei.«

Schlagartig verdunkelte sich sein Schirm. Von der Space-Jet aus war die Verbindung kurzerhand unterbrochen worden.

Habe ich es nicht gesagt? bedeutete Lytas tadelnder Blick.

»Die 18 hebt ab!« rief Curie van Herling. »Die Löschroboter werden ebenfalls ausge-schleust.«

Angespannt verfolgten sie das weitere Ge-schehen. Innerhalb weniger Minuten gelang es den Robotern, die atomaren Gluten einzu-dämmen. Die ersten von ihnen stießen bereits ins Innere der CHART DECCON vor.

Selbständig hatten sich eine Reihe Herme-tikschotte geschlossen. Als die Roboter unter

Aufbietung sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen eindrangen, stießen sie auf die ersten bewußt-losen Techniker. Abgesehen von Verbren-nungen und offensichtlich erlittenen Schocks, befanden die Männer und Frauen sich in über-raschend guter Verfassung. Minuten später wäre ihnen allerdings kaum noch zu helfen gewesen.

Endlich kamen auch die eigenen Rettungs-mannschaften der CHART DECCON. Medo-roboter nahmen sich der Verletzten an. Die Zentralebesatzung der SOL erfuhr auf diese Weise, daß auch Ursula Grown gerettet wor-den war. Sie würde jedoch einige Tage in der Krankenstation verbringen müssen, denn ihr linker Oberarm war mehrfach gebrochen.

»Zum Glück nichts Ernstes«, bemerkte Gallatan Herts. »So ein Bruch ist schnell ver-heilt. Wir können die Space-Jets zurückbeor-dern.«

Zunächst hatte es den Anschein, als würde das Einschleusen der beiden Beiboote mit der üblichen Präzision vonstatten gehen. Doch völlig unvermittelt sprangen die Glutbälle mehrerer Explosionen von den Bildschirmen herab. Die automatischen Filter vermochten die erste Lichtflut kaum zu dämpfen.

Im Nu ergriff eine fieberhafte Hektik von allen in der Zentrale Anwesenden Besitz. Auswertungen und Ortungsdaten flimmerten über die Bildschirme, veränderten sich in ra-scher Folge und zeigten innerhalb von Sekun-den an, was in unmittelbarer Nähe der SOL geschah.

»Ausgeschlossen ...« Der High Sideryt schüttelte verständnislos den Kopf. Die Daten besagten, daß die SJ-18 das andere Schiff angegriffen und schon mit dem ersten Feuer-schlag schwer beschädigt hatte.

Eine erneute Salve galt dem Mutterschiff. Doch SENECA hatte bereits Teilsektoren der Schutzschirme aktiviert, von denen die auf-treffenden Energien absorbiert wurden.

»Ist die übergeschnappt?« murmelte Breckcrown Hayes. Gleichzeitig zog er das Mikrophon zu sich heran. »SOL an die SJ-18. Merca, hörst du mich? Was ist los bei dir?«

Nichts. Keine Antwort. Statt dessen glitt die Space-Jet dicht über die SOL hinweg und entfernte sich mit wachsender Beschleuni-gung.

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»Soll ich sie aufhalten?« wollte Gallatan

Herts wissen. Hayes schüttelte den Kopf. »Kein Waffeneinsatz, solange unklar ist,

was vorgeht.« »Nicht jeder ist ausgeglichen genug, um

unsere Situation auf Dauer verkraften zu kön-nen.«

»Merca Ribb ist eine hervorragende Pilotin. Sie dreht nicht einfach durch.«

»Aber du hast eben selbst ...« Breckcrown Hayes winkte ab. »Vergiß es, Gallatan. Mittlerweile glaube

ich, daß jemand anders seine Finger im Spiel haben könnte.«

»Hidden-X?« »Wir haben lange nichts von unserem un-

bekannten Gegner gehört.« Auf der beschädigten Space-Jet war Feuer

ausgebrochen, das rasend schnell um sich griff. Die Besatzung war gezwungen, das Schiff zu verlassen.

»Keine Personenschäden«, meldete Curie van Herling, die in ständigem Funkkontakt zu dem Kommandanten der Jet stand. »Die SJ-19 ist allerdings nicht mehr zu retten. Ein Treffer im Triebwerksbereich hat die Konverter kri-tisch werden lassen.«

Offensichtlich von der Bordpositronik ge-steuert, ging das Beiboot auf Ausweichkurs. Es war kaum zweihundert Kilometer entfernt, als in der Schwärze des Alls jäh eine neue Sonne aufflammte. Der Glutball weitete sich rasch aus und erlosch dann von einem Au-genblick zum anderen.

Breckcrown Hayes zuckte mit keiner Wim-per. »Die Besatzung soll in die Zentrale kommen«, befahl er. »Ich will hören, ob sie draußen irgend etwas Außergewöhnliches feststellen konnte. Curie, wo steht die 18 mitt-lerweile?«

»Entfernung knapp fünf Lichtsekunden. Merca Ribb scheint in den Linearraum gehen zu wollen.«

»Schalte mir eine Hyperkomverbindung.« »Ich versuche es, aber niemand nimmt den

Anruf entgegen. Achtung! Die Jet tritt in den Linearraum ein.«

Unbewußt ballte Breckcrown Hayes die Hände zu Fäusten.

Weder die SOL noch die vergleichsweise

winzigen Jäger hatten es bislang geschafft, sich schneller als mit wenigen tausend Kilo-metern pro Sekunde zu entfernen. Wenn tat-sächlich eine neue Teufelei Hidden-X’ bevor-stand, würde die SJ-18 zweifellos im Linear-raum verschwinden.

Flüchtig dachte der High Sideryt an Chart Deccons Doppelgänger und an die des Buhr-los Tristan Bessborg. Oder plante der Gegner etwas Ähnliches wie mit Hreila Morszek?

Der Ortungsimpuls der Jet verschwand. Unwillkürlich hielt Hayes den Atem an. In

Gedanken zählte er die Sekunden. Aber er kam nicht weit. Übergangslos stand das Bei-boot wieder knapp hundert Kilometer vor der SOL.

»Die Defensivschirme sind aktiviert«, ließ SENECA wissen.

Der High Sideryt nickte. »Holt die 18 mit Traktorstrahl ein!« befahl

er. »Und vor Erreichen der kritischen Distanz ein Enterkommando an Bord. Ich möchte vermeiden, daß die Jet sich im Hangar in eine gigantische Bombe verwandelt.« Er wurde unterbrochen, weil die fünfköpfige Besatzung des zerstörten Beiboots die Zentrale betrat. »Jetzt nicht«, wehrte er ab. »Aber warte mit deinen Leuten, Michal.«

Mit gewagten Flugmanövern versuchte Merca Ribb, dem Zugstrahl zu entgehen.

Endlich erschien ihr Gesicht auf einem Monitor. Schweiß stand der Kommandantin auf der Stirn, die Haare hingen ihr in wirren Strähnen in die Augen. Als sie zu sprechen begann, klang es hart und abgehackt.

»Laß mich, Hayes ... Ich muß ... weg von hier ... Es wird ... unser Verderben sein.«

»Fühlst du dich nicht wohl?« Merca Ribb lachte schrill. »Nie so gut wie jetzt ... alle seid ihr Verrä-

ter. Warum ... geschieht nichts?« »Wir können nicht fort. Du hast es selbst

erlebt. Sobald man vom Linearflug in den Normalflug überwechselt, erfolgt eine Rück-versetzung an den Ausgangsort. Es ist, als ob ein gewaltiges, unsichtbares Gummiband je-des Objekt zeitlos zurückholte.«

»Lüge, nichts als Lüge. Ich weiß, daß wir es schaffen können ... Worauf warten die Stabsspezialisten?«

Gallatan Herts, der Leiter der Hauptzentra-

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le, nickte dem High Sideryt zu. Im nächsten Moment schrie Merca Ribb kreischend auf.

»Ich hasse dich, Hayes. Glaube ja nicht, daß du mich auf diese Weise mundtot machen kannst. Beordere die Roboter zurück.«

»Die Psychologen werden sich deiner an-nehmen. Morgen sieht alles ganz anders aus.«

»Morgen – wann ist das? Du hältst mich für verrückt, ja? Ausgerechnet du ...« Merca Ribbs Stimme überschlug sich förmlich. »Warum unternimmt niemand etwas gegen diesen ... Wahnsinn.«

»Bitte beruhige dich.« »Nein!« Gellend schrie die Kommandantin

auf. Als der Monitor erlosch, herrschte für eine

Weile bedrückendes Schweigen. Regungslos saß Hayes da, den Kopf in den Handflächen vergraben. Er sah erst auf, als er fühlte, daß jemand neben ihn hintrat.

»Michal, was hältst du davon?« »Ich glaube, ich kann Merca sogar verste-

hen. Nicht, daß ich ihr Verhalten gutheiße, aber ihre Beweggründe entspringen zweifellos unserer derzeitigen Situation.«

»Was hast du gefühlt, als du bei der CHART DECCON warst?«

Michal Dubrov zuckte mit den Schultern. »Nichts Außergewöhnliches. Möglicher-

weise ein wenig mehr Einsamkeit als sonst ...«

»Die SJ-18 greift unsere Roboter an«, mel-dete Curie van Herling.

»Ausfälle?« »Zwei Dutzend. Lediglich fünf sind durch-

gekommen. Die Funkverbindung ist abgebro-chen, nachdem sich hinter ihnen die Schirm-felder der Jet aufgebaut haben.«

»Das heißt für uns: abwarten.« »Die SJ-18 kann unseren Traktorstrahlen

nicht mehr entkommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir Merca hier haben.«

Breckcrown Hayes seufzte. »... nur eine Frage der Zeit.«

3.

»O nein, nicht schon wieder!« In gespielter Verzweiflung klappte Jylene

Tapsin das elektronische Spielfeld zusammen und musterte ihre Mitspieler der Reihe nach.

»Manchmal fühle ich, Trunk kann Gedan-ken lesen.«

»Es tut mir leid«, meinte Deuergal. »Ich kann wirklich nichts dafür, daß ich gewinne.«

Die anderen lachten, und Jylene stimmte mit ein. Sie warf Trunk einen verliebten Blick zu.

»Damit dürfte der Tag für heute gelaufen sein«, sagte Germ, ein knapp einsfünfzig gro-ßer, spindeldürrer und grünhäutiger Extra.

Helen McKinney winkte ab. »Es ist noch früh am Nachmittag.« »Für dich vielleicht. Ich könnte tagelang

schlafen, so müde bin ich. Wenn ihr mich fragt, wir haben kurz vor Mitternacht.«

Trunk blickte sich in der geräumigen La-gerhalle um, die seit einiger Zeit als Treff-punkt vor allem der Jugendlichen innerhalb der SZ-1 benutzt wurde. »Wir sind ohnehin die letzten.«

»Den wievielten schreiben wir morgen?« wollte Helen McKinney wissen. Mit dem Handrücken wischte sie über ihre Buhrlonar-be, die sich von der Nasenwurzel aus quer über die Stirn hinzog.

»Morgen ist der 22. Dezember«, sagte Jy-lene Tapsin. »Vorausgesetzt, ich habe mich nicht verrechnet.«

»Der High Sideryt sollte endlich dazu ü-bergehen, die Zeit stündlich ausrufen zu las-sen.«

»Wozu?« machte Trunk. »Würde das etwas ändern?«

Germ ließ ein amüsiertes Kichern verneh-men. Er verzog seine Mundwinkel bis hinauf zu den spitzen Ohren.

»Köstlich«, spottete er. »Könnt ihr euch vorstellen, wie Hayes durch die SOL zieht, in der einen Hand einen Lautsprecher und in der anderen eine Sanduhr, und wie er ständig ruft: ›Hört ihr Leut und laßt euch sagen, unsre Uhr hat elf geschlagen!‹«

Verständnislos blickten Helen, Jylene und Trunk sich an. Schließlich tippte Helen be-zeichnend auf ihre Stirn.

»Was soll der Blödsinn?« »Du hast keine Ahnung von terranischer

Geschichte«, behauptete Germ. »Interessiert mich auch nicht. Woher be-

ziehst du überhaupt deine Kenntnisse?« Germ vollführte eine großspurige Geste.

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»Ich habe ein altes Videoband gefunden«,

sagte er. »Du mußt nur mit offenen Augen durch die SOL gehen, dann kannst du die in-teressantesten Dinge auftreiben.«

»Mich beschäftigt mehr die Frage, was die Zukunft für uns bereithält«, erwiderte Helen. »Die Feiertage stehen bevor und der Jahres-wechsel.«

»Du meinst, daß die Solaner auf Ereignisse von besonderer Tragweite warten?«

»Die Anzeichen dafür sind kaum zu über-sehen.«

»Vielleicht wird tatsächlich etwas gesche-hen«, sagte Trunk. »Von Atlan und den bei-den Kreuzern fehlt bislang jedes Lebenszei-chen.«

»Falls er noch lebt«, erwiderte Helen hef-tig.

»Du meinst ...?« »Es ist nur eine Vermutung, mehr nicht.

Aber ich bin beileibe nicht die einzige, die so denkt. Die Hoffnungslosigkeit unserer Lage wird immer deutlicher.«

»Wir werden darüber hinwegkommen.« »Wahrscheinlich. Aber glaubst du, daß es

alle schaffen? Muß ich dich daran erinnern, was heute nachmittag mit der SJ-18 gesche-hen ist? Die Kommandantin feuert auf ein Begleitschiff, versucht dann, sich abzusetzen und wehrt sich selbst gegen Roboter von der SOL.«

»Ein Einzelfall«, behauptete Germ. »Eine Art Raumkoller.«

»Eher eine überzogene panische Reaktion.« Helen blickte den Extra durchdringend an. »Und möglicherweise erst der Anfang.«

Was sie sagte, stimmte nachdenklich. »Was kann geschehen?« fragte Germ. »Wir müssen wohl mit einem Rückfall in

alte Zeiten rechnen. Zweifellos wird jeder wieder mehr an sich selbst denken.«

»Das läßt Hayes keinesfalls zu.« »Hat er die Macht, sich gegen alle zu stel-

len?« »Wieso alle?« machte Trunk B. Deuergal

überrascht. »Meinetwegen kannst du uns dabei aus-

klammern.« »Und unsere Freunde? Yul, Mirka, Tarim

...« »Ungefähr fünfzig also. Aber nur Jugendli-

che zwischen 15 und 23 Jahren. Für wie groß hältst du unseren Einfluß?«

»Ich schlage vor, wir hören auf damit«, warf Jylene Tapsin ein. »Wenn und Aber füh-ren ohnehin zu nichts Brauchbarem. Falls wir Glück haben, kehren die beiden Kreuzer rechtzeitig zurück.«

»Du hältst große Stücke auf Atlan?« »Nach dem, was er in der kurzen Zeit ge-

leistet hat, kann man ihn nicht hoch genug einschätzen. Auch wenn er zu jenen gehört, die das Leben auf einem Planeten dem unge-bundenen Dasein im freien Weltraum vorzie-hen.«

»So schlimm stelle ich mir das nicht mehr vor«, wehrte Trunk ab. »Wir sollten ebenfalls unseren Beitrag leisten und die alten Vorurtei-le über Bord werfen.«

»Also, auf die Zukunft!« Ein wenig sarkas-tisch klang es, als Helen McKinney ihr noch halbvolles Glas hob und in einem Zug leerte. »Wir sehen uns morgen wieder.« Unwillkür-lich stahl sich ein Grinsen auf ihre Züge, und sie bedachte Germ mit einem vieldeutigen Blick. »Hört, oh Freunde und laßt mich sagen, meine Zeit hat jetzt geschlagen.« Lachend erhob sie sich und ging.

*

Sie verließen die Halle ebenfalls. Im nächs-

ten Antigravschacht schwebten Jylene, Trunk und Germ drei Decks weit nach unten. Kaum jemand begegnete ihnen. In den Korridoren der SZ-1 brannte nur die trübe Notbeleuch-tung. So gut es eben ging, versuchte die Schiffsführung, den bisherigen Wechsel von Tag und Nacht beizubehalten.

Jylene Tapsin hatte ihre Unterkunft fast er-reicht, als Lärm aufbrandete.

»Da vorne ist einiges los«, stellte Germ völlig überflüssig fest.

Einige Solaner kamen ihnen entgegen. Deutliche Furcht stand in ihren Gesichtern geschrieben. Trunk ergriff einen der Vorüber-hastenden am Arm.

»Was ist geschehen?« fragte er. »Seht zu, daß ihr verschwindet!« Zugleich erschien am anderen Ende des

Korridors ein Mann. Wild mit einem Thermo-strahler fuchtelnd, hetzte er heran. Ziellos

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abgegebene Schüsse schlugen in Decks und Wände ein und ließen glutflüssiges Plastik nach allen Seiten verspritzen.

Das wenige, was Trunk B. Deuergal in sich aufnahm, war die ungepflegte Erscheinung des Mannes. Ein mehrere Tage alter Stoppel-bart umrahmte dessen Gesicht, und die tief in den Höhlen liegenden, schwarz geränderten Augen hatten etwas Stechendes.

Als Jylene den Buhrlo in die Deckung eines Schottes zog, war es bereits zu spät. Der Mann kam genau auf Trunk zu, und sein Strahler ließ es angebracht erscheinen, keine hastige Bewegung zu machen.

»Wo?« ächzte er. »Wohin sind die EINZI-GEN geflohen?«

Trunk begriff zumindest, wie es um den Mann bestellt sein mußte.

»Hayes hat sie vertrieben«, sagte er schnell. »Hier sind keine EINZIGEN mehr. Du kannst deine Waffe wegstecken.«

»Hayes ...« Gedehnt kam der Name über die Lippen des Mannes, als müsse er erst mühsam in seiner Erinnerung suchen. Aber im nächsten Moment riß er den Strahler wie-der hoch. Das flimmernde Abstrahlfeld richte-te sich auf Jylene und Germ.

»Lügner!« Als sein Zeigefinger den Auslöser berührte,

sprang Deuergal. Fauchend entlud sich der Energiestrahl und zerfloß keine zwei Meter neben Jylene an der Wand des Korridors.

»Trunk!« schrie sie entsetzt auf. Der Buhrlo hörte sie nicht. Er hatte Mühe,

dem unbarmherzigen Griff des Mannes zu widerstehen, dessen Finger wie eiserne Zwin-gen seinen Hals umklammerten.

»Sie müssen vernichtet werden«, zischte der Mann. »Alle. Sonst wird Hidden-X trium-phieren.«

Ein Fußtritt fällte den Buhrlo. Aneinander-geklammert rollten sie über den Boden. Es gelang Trunk nicht, dem Gegner die Waffe zu entwinden. Ein zweiter Schuß löste sich, fuhr über ihnen in die Decke, und herabtropfender, glutflüssiger Belag ließ den Mann gellend aufschreien. Auch Trunk verspürte einen brennenden Schmerz zwischen den Schulter-blättern, der ihm fast die Besinnung raubte. Mit letzter Beherrschung kämpfte er dagegen an, doch vor seinen Augen zogen blutige

Schleier auf. Er fühlte seine Arme taub wer-den, spürte ein Prickeln in seinem Brustkorb ...

Da waren die hastigen Schritte schwerer Stiefel, die sich näherten. Wie durch einen dicken Nebel hindurch nahm Trunk wahr, daß die Umklammerung sich löste, daß hilfreiche Hände ihn hochzerrten und wieder auf die Beine stellten. Er schwankte, rang krampfhaft nach Atem. Das Brennen in seinem Rücken wollte nicht nachlassen.

»Ihr habt euch ausgezeichnet verhalten«, sagte eine fremde Stimme. »SENECA hat uns über den Amokläufer unterrichtet. Zwei Ver-letzte gehen auf sein Konto, sonst ist alles glimpflich abgegangen. Aber das ist nicht der erste, der phantasiert. Gestern ...«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, fuhr ein an-derer dazwischen. Trunk erkannte die musku-löse Gestalt, das harte Gesicht mit dem vor-springenden Kinn und den großen, braunen Augen. Es war Wajsto Kolsch.

»Kümmert euch um seine Verletzung«, be-fahl er. »Bringt ihn in die nächste Medostati-on.«

Trunk war dankbar, daß Jylene und Germ bei ihm blieben.

*

Bei jedem Solaner wäre die handflächen-

große, tiefe Brandwunde mit Hilfe des Bio-plasmas innerhalb kürzester Zeit narbenlos verheilt. Deuergals Buhrlohaut benötigte je-doch weit länger für eine wirklich vollkom-mene Regeneration. Solange war jeder unge-schützte Aufenthalt im Weltraum für ihn tabu.

Jylene Tapsin war fast ständig in seiner Kabine, und sie ließ ihn wissen, wie sehr sie sich in seiner Gegenwart wohl fühlte.

»Wer weiß«, sagte sie, »dieser Verrückte hätte Germ und mich glatt für EINZIGE gehalten.«

»Eine böse Sache ...« »Helen behauptete natürlich steif und fest,

das wäre erst der Anfang. Sie spürt es, sagt sie, daß sich die Dinge verändern.«

Aus dem Liegen richtete Trunk sich halb auf.

»Erwähnte nicht einer aus Kolschs Beglei-tung, daß schon ein ähnlicher Fall vorge-

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kommen sei?«

»Bei annähernd hunderttausend Menschen auf der SOL kann niemand solche Zwischen-fälle ausschließen.«

»Aber nicht zwei Amokläufer innerhalb ei-nes einzigen Tages. – Jylene, womöglich sind wir da einer größeren Sache auf die Spur ge-kommen.«

Die junge Frau winkte ab. »Glaubst du nicht, daß Hayes, die Stabs-

spezialisten und vor allem SENECA sich e-benfalls ihre Gedanken darüber machen? Sie kämen bestimmt lange vor uns zu entspre-chenden Ergebnissen.«

»Trotzdem«, beharrte Trunk. »Schalte bitte die Bordnachrichten ein. Ich muß wissen, was im Schiff vor sich geht.«

Jylene Tapsin seufzte. »Atlan ist noch nicht zurückgekehrt. Das

hätte sich längst herumgesprochen.« Der Monitor zeigte einen Ausschnitt der

Außenhülle der SOL, etliche mit Wartungsar-beiten beschäftigte Roboter sowie eine Grup-pe junger Buhrlos, die ausgelassen zwischen den Maschinen umhertollten. Der Anblick der grenzenlosen Leere schien ihnen nichts anha-ben zu können.

Dazu die Stimme der Sprecherin: »... wird die Zeit genutzt, um sowohl fällige Wartungs-arbeiten auszuführen als auch das Schiff nach Materialermüdungen oder versteckten Schä-den abzusuchen. Hidden-X’ Schweigen dauert nun schon lange genug, um annehmen zu können, daß es sich nach seiner letzten Schlappe zurückgezogen hat. Wahrscheinlich sogar endgültig. Wir wissen nicht, ob die Be-satzungen unserer beiden Kreuzer im Hyper-vakuum inzwischen zum entscheidenden Schlag ausgeholt haben, aber wir werden es erfahren ...«

»Das hätte man auch anders sagen kön-nen«, brummte Trunk B. Deuergal. »Wir sit-zen fest; was aus der PALO BOW und der HORNISSE wurde, weiß niemand; und Hid-den-X sammelt vermutlich seine Reserven, um uns endgültig zu besiegen.«

»Würdest du als Verantwortlicher es den Leuten derart drastisch klarmachen?«

Trunk stutzte. »Nein, Jylene, das ist wahr. Der High Side-

ryt will Ruhe auf der SOL.«

Das Bild wechselte, zeigte nun die CHART DECCON in voller Größe. Nur noch wenige, halb zerschmolzene Rumpfsegmente mußten ausgewechselt werden.

»Der unverhoffte Energieaustritt und die dadurch verursachten Explosionen sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Glücklicherweise ist niemand dabei zu Scha-den gekommen, und die Verzögerung bei der Instandsetzung des Vakuum-Verzerrers wird lediglich knapp zwei Wochen betragen. Je-denfalls wurde inzwischen Vorsorge getrof-fen, daß ähnliche Zwischenfälle sich nicht wiederholen können.

Merca Ribb, die Kommandantin der Space-Jet, die im Zusammenhang mit den Löschar-beiten in die Medostation des Mutterschiffs aufgenommen werden mußte, befindet sich auf dem Weg der Besserung. Allem Anschein nach stand sie infolge Überarbeitung unmit-telbar vor einem physischen Zusammenbruch. Sie wird den Jahreswechsel in einem Rehabi-litationszentrum verbringen und anschließend ihren Dienst uneingeschränkt wieder antreten können.«

»Was jetzt noch folgt, dürfte bedeutungslos sein«, sagte Jylene und traf Anstalten, den Monitor abzuschalten.

»Warte!« rief Trunk. »... zu einem ungewöhnlichen Ereignis kam

es heute in der Mittagszeit, als verschiedene Benutzer des Wellenbads der SZ-2 über einen beißenden Geruch klagten. Umgehend ent-nommene Wasserproben ließen zwar sämtli-che Spekulationen hinsichtlich einer mögli-chen bakteriellen Verschmutzung als unbe-gründet erscheinen, lösten aber zugleich eine umfangreiche Suchaktion aus, bei der vor allem Mikrosonden eingesetzt werden muß-ten. Das Wasser enthielt einen hohen Anteil hochprozentigen Alkohols.

Als Urheber wurden schließlich zwei Che-miker ausfindig gemacht, die während ihrer Freizeit eine Anlage zur Gewinnung von Al-kohol aus Algen und dem bei der Säuberung von Hydrotanks anfallenden Pflanzenmaterial errichtet hatten. Wahrscheinlich aus Unacht-samkeit vertauschte Anschlüsse führten letzt-lich zu einer Anreicherung des Umwälzkreis-laufs mit dem Rauschmittel und damit zur Verschmutzung des Wassers. Befragungen

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der beiden Wissenschaftler mußten bislang erfolglos bleiben, da sie infolge überreichli-chen Alkoholgenusses noch immer unan-sprechbar sind.«

Lachend schaltete Jylene Tapsin ab. »Fast hättest du mich mit deiner Schwarz-

malerei angesteckt«, gestand sie. »Aber das geht bestimmt nicht auf das Konto von Hid-den-X.«

*

»Was soll das?« fragte Trunk B. Deuergal

überrascht, als er am nächsten Morgen auf-wachte, Jylene bereits lächelnd neben ihm stand und ihm ein sorgfältig verschnürtes Päckchen überreichte. Noch halb in seinen Träumen gefangen, nahm er es an sich und schüttelte es.

»Heute ist der 24. Dezember«, erklärte die junge Frau strahlend.

»Und?« »Weihnachten, Trunk. Früher war es so üb-

lich, daß man an diesem Fest seinen Lieben ein Geschenk machte.«

»Danke.« »Pack doch erst aus. Wer weiß, womöglich

gefällt dir der Inhalt nicht.« »Ich meine nicht das Päckchen sondern das,

was du eben gesagt hast.« Trunk löste das Kunststoffband, wickelte die bunt bedruckte Folie ab und faltete sie säuberlich zusammen. Es blieb ihm nicht verborgen, daß Jylene vor Anspannung innerlich zitterte. Aber gerade deshalb ließ er sich Zeit.

Zum Vorschein kam ein kleines, hölzernes Kästchen. Irritiert drehte und wendete er es zwischen seinen Fingern, fand jedoch keinen Öffnungsmechanismus. Außerdem war ihm, als hätte er ein ähnliches Kästchen irgend-wann schon einmal gesehen.

»Es ist genau dasselbe, das Chart Deccon besaß«, sagte Jylene. »Eine völlig identische Nachbildung – der große Renner zur Zeit bei der Produktion von Luxusgütern.«

Wofür alles man Rohstoffe verschwendet, dachte Trunk, schwieg aber, um Jylene nicht zu kränken. Unvermutet schnappte der Deckel auf.

Ein kleiner Würfel lag darin, einem regel-mäßig gewachsenen Kristall nicht unähnlich.

Als Trunk ihn vorsichtig aufnahm, huschten farbige Schlieren über seine Oberfläche; und als er ihn in Augenhöhe hielt, lachte Jylenes Antlitz ihm entgegen. Jede Seite des Würfels enthielt eine andere Fotografie.

»Gefällt dir der Speicherkristall?« erkun-digte Jylene sich.

Anstelle einer Antwort zog er sie an sich, doch sie verstand es geschickt, sich aus seiner Umarmung zu befreien.

»Ich habe mich mit den anderen verabre-det«, sagte sie. »Du weißt, wie sehr Helen es haßt, warten zu müssen.«

»Um wieviel Uhr?« Er wollte nicht gehen, ausgerechnet jetzt nicht. Aber Jylene war vor ihm am Schott.

»Beim zehnten Wenden der Sanduhr«, rief sie über die Schulter zurück.

*

»Habt ihr heute schon die Bordrundschau

gesehen?« wollte Helen McKinney wissen, kaum daß sie Platz genommen hatten. »Ich sage euch, wir müssen uns auf einiges gefaßt machen.«

Keiner hatte recht Lust, sich mit ihr auf ein Gespräch einzulassen. Selbst Trunk hielt sich zurück, nachdem Jylene ihm einen bitterbösen Blick zugeworfen hatte.

»Irgend etwas geht vor«, ließ Tarim Mor-gan vernehmen, während sie aßen. »Hat mich denn nicht vorhin jemand angehalten und ge-fragt, ob ich weiß, wie nahe die Erlösung ist. Wir sollten uns hüten, den falschen Weg zu beschreiten.«

»Und?« »Als ich ihm klarmachen wollte, daß mich

sein Geschwätz herzlich wenig interessierte, wäre der Kerl beinahe handgreiflich gewor-den.«

»Seht ihr!« triumphierte Helen. Einige Tische weiter ging klirrend ein Glas

zu Bruch. Eine Frau in der Kombination des wissenschaftlichen Personals begann hyste-risch zu schreien. Ehe überhaupt jemand beg-riff, was geschah, war sie aufgesprungen und hatte dabei ihren Stuhl aus der Verankerung gerissen.

»Nein!« kreischte sie. »Ich will nicht hier bleiben! Laßt mich, ich brauche Luft zum

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Atmen.«

Zwei Roboter eilten herbei. Dem ersten schmetterte sie ihren Teller vor die Sehlinsen, dem anderen entging sie durch eine blitz-schnelle Kehrtwendung. Ein kühner Sprung brachte sie auf den Nachbartisch, einen klei-nen Tumult damit auslösend. Der Roboter wurde durch andere Solaner behindert, die nun ebenfalls aufsprangen.

»Diese Enge – ich werde wahnsinnig.« »Nicht.« Helen McKinney hielt Trunk zu-

rück, als dieser sich ebenfalls erheben wollte. Lautstark forderte jemand Ruhe. Sein Ru-

fen ging in dem allgemeinen Lärm unter. »Klaustrophobie«, sagte Helen. »Jeder von

uns kann der Nächste sein, den es erwischt.« »Ich fühle mich keineswegs eingeengt«,

widersprach Jylene. »Du vielleicht nicht. Aber es gibt labilere

Typen, denen die Erscheinungen des interga-laktischen Leerraums ohnehin zu schaffen machen, und die jetzt, da sogar die Zeit keine Anhaltspunkte mehr bietet, vollends die Be-herrschung verlieren.«

Das charakteristische Geräusch eines Scho-ckers ertönte. Danach trat Ruhe ein.

»Wir bedauern den Zwischenfall«, sagte einer der Roboter, während die anderen die gelähmte Frau zum Ausgang trugen.

Die meisten Anwesenden begannen lebhaf-te Diskussionen. Es war unschwer herauszu-hören, daß die verschiedensten Meinungen aufeinanderprallten.

»Das ist die Strafe für unsere Verfehlungen. Hört mir zu, wenn ich mit euch rede.« Ein älterer Mann hatte sich erhoben und heischte um Aufmerksamkeit. »Tut endlich Buße, an-statt euch weiter mit Sünden zu beladen. Un-sere Väter haben geschworen, im All zu le-ben. Und was tun wir? Wir haben sie verra-ten, indem wir wieder auf Planeten landen und einem Fremden helfen. Er ist die Versu-chung, Freunde, der wir widerstehen müs-sen.«

»Quatsch«, rief jemand dazwischen. »Erkennst du nicht die Zeichen der Zeit?

Noch können wir uns dagegen wehren. Schwört dem falschen Weg ab.«

»Sollen wir uns gegen Atlan wenden?« Ei-ner von Trunks Freunden grinste den Spre-cher herausfordernd an.

»Ja, das sollt ihr. Ich verlange es von euch.«

Allgemeines Gelächter brandete auf. »Wir sind freie Solaner und wissen selbst,

was für uns gut ist. Wer bist du überhaupt?« »Jonathan Swift wird bald jeder kennen.

Merke dir meinen Namen gut. Vielleicht wirst du mich rufen, wenn der Untergang nahe ist.«

Germ war der erste, der zwei Finger in den Mund schob und gellend zu pfeifen begann. Andere folgten seinem Beispiel.

Jonathan Swift fand kein Gehör mehr. Hef-tig mit den Armen gestikulierend, verließ er schließlich die Messe.

4.

»Wo sind wir?« fragte Hage Nockemann

verwundert. »Nach wie vor auf dem VIVARIUM«, er-

widerte Blödel. »Es hat keine räumliche Ver-setzung stattgefunden.«

Federspiel schüttelte kaum merklich den Kopf, als Atlan ihn auffordernd ansah. Das bedeutete, daß er weder zu seiner Zwillings-schwester noch zu Bjo Breiskoll telepathi-schen Kontakt herstellen konnte.

»Unsere Umgebung hat sich einschneidend verändert«, resümierte Nockemann. »Das ist keine Sache weniger Minuten. Bäume wie jene, die jetzt am Landeplatz der HORNISSE stehen, benötigen Jahrzehnte, um diese Größe zu erreichen.«

»Also haben wir uns in der Zeit bewegt«, sagte Sanny. Entgeistert starrte der Galakto-Genetiker sie an und begann, an seinem Schnauzbart herumzuzwirbeln.

»Zukunft oder Vergangenheit?« »Ich weiß nicht.« »Versuche es zu berechnen. Schon die Stel-

lung der Sonne sollte dir nötige Aufschlüsse geben können.«

»Du übersiehst, daß sich die Bahndaten je-des Planeten wiederholen. Sage ich tausend Jahre, bist du damit wahrscheinlich ebenso wenig einverstanden, wie wenn es bloß hun-dert wären.«

Abrupt vergaß Nockemann, seinen Schnauzbart noch länger zu malträtieren.

»Falls wir uns schon damit abfinden müs-sen, in eine andere Zeit verschlagen worden

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zu sein«, sagte er, »was war der auslösende Faktor dafür?« Wie zufällig blieb sein Blick an Blödel haften.

»Ich habe keine Ahnung«, erklärte der Ro-boter.

»Wirklich nicht? Wer hat an den fremden Maschinen herumgespielt?«

»Nur aus rein wissenschaftlichem Interes-se.«

»Und aus ebendiesem rein wissenschaftli-chen Interesse hast du uns in eine andere Zeit versetzt. Ich möchte bloß wissen, wer so ver-rückt war, dich mit eigener Intelligenz auszu-statten.«

»Ähem«, räusperte sich Blödel. »Was willst du?« fuhr Nockemann ihn

ziemlich scharf an. »Wenn du etwas zu sagen hast, dann heraus mit der Sprache.«

»Ich erlaube mir die Bemerkung, daß du derjenige warst, der mich entworfen und kon-struiert hat.«

»Lenke nicht ab, du Blechkiste. Das gehört doch überhaupt nicht hierher.«

»Und ob«, widersprach Blödel. »Mit anderen Worten, du hältst mich für

verrückt ...« Hage Nockemann lief puterrot an.

»Das habe ich nicht behauptet.« »Aber du meinst es so.« »Ich habe nur eine Frage zufriedenstellend

beantwortet.« »Zufriedenstellend nennst du das. Wie

konnte ich nur jemals auf die Idee kommen, mich mit einem solchen Monstrum, wie du es bist, zu strafen?«

»Du hast mich nach deinem Ebenbild ge-formt«, behauptete Blödel.

Für einige Augenblicke sah es so aus, als wolle Nockemann mit bloßen Fäusten auf den Roboter losgehen, dann resignierte er.

»Es ist sinnlos, wenn ich mich mit dir strei-te. Dadurch wird unser Problem keinesfalls gelöst. Welche Schaltungen hast du betätigt? Sieh zu, daß du alles wieder rückgängig machst.«

»Nein«, warf Atlan ein, der den Disput der beiden grinsend verfolgt hatte. »Wenn wir schon in eine unbekannte Zeit verschlagen wurden, sollten wir versuchen, auf dieser Welt Hinweise von Bedeutung zu finden.«

»Du spielst auf die Zeithüter an«, meinte

Federspiel. Atlan nickte. »Der Reiz ist groß. Wer allerdings zurück-

kehren will, soll es versuchen.« »Selbstverständlich gehen wir mit dir«,

sagte Federspiel. »Sanny?« »Ich bin ebenfalls dabei.« »Hage?« »Nachdem Blödel uns das eingebrockt hat,

muß ich wohl oder übel zustimmen.« »Du hast Bedenken?« »Nur, wenn ich an diese seltsame Gilde der

Zeithüter denke. Wer weiß, was sie gegen uns in petto hat.«

Sie wandten sich in die Richtung, in der ei-gentlich die HORNISSE stehen sollte. Der Gesang exotischer Vögel lag in der Luft.

»Seltsam«, bemerkte Sanny. »Als wir lan-deten, war davon nichts zu hören.«

Wo sie üppigen Blumenwuchs vorgefunden hatten, streckten nun knorrige Bäume ihre blattlosen Äste in den Himmel.

Nach knapp einer Stunde war der Lande-platz des Kreuzers erreicht. Unmöglich, hier auch nur ein winziges Beiboot heil auf den Boden zu bekommen. Ein allmählich verlan-dender Tümpel erstreckte sich zwischen den Wurzeln. Das Erdreich war feucht und moras-tig, es roch nach Moder und frischen Trieben.

»Vergangenheit«, sagte Sanny spontan. »Wir müssen uns irgendwann vor unserer eigentlichen Ankunft auf dem VIVARIUM befinden.«

Unterholz gab es so gut wie keines, sie ka-men schnell voran. Hin und wieder flohen scheue Tiere vor ihnen, die sie aufgeschreckt hatten.

»Wir werden beobachtet«, sagte Sanny plötzlich.

Atlan, der die kleine Gruppe anführte, blieb stehen und wandte sich zu ihr um.

»Hast du etwas bemerkt?« Die Molaatin schüttelte den Kopf. »Meine Feststellung beruht auf verschiede-

nen Berechnungen, die alle dasselbe Resultat ergeben. Federspiel müßte das bestätigen können.«

»Leider nein«, erwiderte der Telepath. »Da ist nichts.«

Trotzdem ließen sie nun größere Vorsicht

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walten. Sie fanden Spuren im weichen Wald-boden, die parallel zu den ihren verliefen. Die Abdrücke waren etwa so groß wie die eines Menschen, konnten allerdings ebensogut von einem Tier stammen.

Eine Lichtung ... »Da liegt etwas«, rief Nockemann aus. »Gebt mir Deckung!« befahl Atlan. Ohne

eine Antwort abzuwarten, huschte er weiter. Das dunkle Etwas entpuppte sich als Fell

eines kleinen, bärenartigen Wesens. Ein we-nig fühlte der Arkonide Enttäuschung, im-merhin hatte er gehofft, Dinge von Bedeutung vorzufinden.

Ungeduldig? wisperte sein Extrasinn. Ge-winnt die Zeit allmählich selbst für einen Un-sterblichen ihre Schrecken zurück?

Es geht nicht allein um mich. Ich weiß. – Paß auf! Überraschend kam die

Warnung. Aber auch so fühlte Atlan, daß da etwas war.

Die heimlichen Beobachter, von denen Sanny gesprochen hatte?

Er merkte, daß Federspiel sich ziemlich un-auffällig umsah.

»Zeithüter«, raunte der Mutant. »Sie müs-sen irgendwo dort drüben stehen.« Ein flüch-tiges Kopfnicken in Richtung auf eine Gruppe von Bäumen. Aber da war nichts, zumindest nichts, was sich menschlichen Augen offen-bart hätte.

»Sie kommen langsam näher«, bemerkte Sanny. »Wenn mein Gefühl nicht trügt, soll-ten wir von hier verschwinden.«

»Wieso Gefühl?« fragte Nockemann ver-wundert.

»Diese Unsichtbaren sind nicht zu berech-nen, ohne daß ich mehr von ihnen weiß.«

Federspiel stieß einen halb erstickten Schrei aus. Nur mühsam beherrscht deutete er auf den Rand der Lichtung, wo an vielen Stellen der Boden aufbrach. Winzige grüne Triebe durchstießen die Oberfläche, Keimlinge von Pflanzen, die in Sekundenschnelle meterhoch aufwuchsen und zu blühen begannen. Wolken winziger Sporen trieben mit dem auffrischen-den Wind davon.

»Unmöglich«, stöhnte Hage Nockemann. »Einen derart schnellen Lebenskreislauf kann es in der Natur niemals geben.«

»Es sei denn ...«, fügte Sanny spontan hin-

zu. »Ja?« »Es sei denn, diese Pflanzen unterliegen ei-

nem anderen Zeitablauf als wir, oder wir le-ben um ein Vielfaches langsamer.«

Atlan und seine Begleiter mußten zurück-weichen, wollten sie nicht von dem üppigen Grün eingeschlossen werden.

»Das ist das Werk der Zeithüter«, stöhnte Federspiel. »Ich fühle ihre Gegenwart deutli-cher als jemals zuvor.«

»Versuche, eine Verständigung herbeizu-führen. Was einmal geklappt hat, müßte wie-der möglich sein.«

Federspiel schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, die Unsichtbaren würden uns

nicht einmal anhören. Ich stoße nur auf eine Mauer der Ablehnung. Sie betrachten uns als unerwünschte Eindringlinge.«

Wie zur Bestätigung des Gesagten erklang hoch über ihnen ein Bersten und Krachen. Kreischend stob ein Schwarm bunter Vögel aus dem Geäst der Bäume auf, die sich lang-sam neigten.

Dröhnend schlug der erste mächtige Stamm auf; er riß andere, noch fest verwurzelte Bäu-me mit sich. Der Boden erzitterte unter der Wucht des Aufpralls.

Federspiel und Sanny rannten auf den jen-seitigen Rand der Lichtung zu. Schimpfend eilte Hage Nockemann ihnen hinterher, dicht gefolgt von seinem Roboter.

Vorsicht! Die Warnung seines Extrasinns veranlaßte

Atlan, sich zur Seite zu werfen. Ein heftiger Stoß in den Rücken riß ihn von den Beinen. Er stürzte, konnte sich jedoch abrollen. Wo er eben noch gestanden hatte, bohrte sich eine abgebrochene Baumspitze tief in den Boden.

Ohne seinen Extrasinn wäre er jetzt wahr-scheinlich tot. So hatte lediglich ein Ast seine Schulter gestreift. Atlan fühlte eine mehrere Finger breite Fleischwunde, die heftig blutete. Dank seines Zellaktivators brauchte er eine Infektion jedoch nicht zu befürchten.

Trotzdem stieg jäher Zorn in ihm auf. Er war endgültig überzeugt davon, daß die Zeit-hüter angriffen.

Ohne daß er sich dessen richtig bewußt wurde, lag plötzlich der Thermostrahler in seiner Rechten. Atlan feuerte in die Richtung,

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in der er die Unsichtbaren vermutete. Glei-ßende Energiestrahlen leckten über umge-stürzte Bäume; in dem morschen Holz fanden die aufzüngelnden Flammen ausreichend Nahrung.

Der Glutfinger wanderte weiter. Atlan hielt den Auslöser der Waffe fest umklammert.

Mitten auf der Lichtung floß die Energie unvermittelt auseinander, teilte sich vor einem bis dahin unsichtbaren Hindernis und zeichne-te dessen Konturen nach.

Die Umrisse mochten in etwa menschlich sein, obwohl sie in ständiger fließender Be-wegung begriffen waren.

Ein Zeithüter! raunte es in Atlans Gedan-ken.

Die seltsame Erscheinung kam langsam nä-her. Entweder wurde sie von einem Individu-alschirm geschützt, oder aber sie fand sich ...

... auf einer anderen Zeitebene, und das, was wie eine verschwommene Gestalt wirkte, war lediglich eine Nebenerscheinung des ab-gelenkten Zeitflusses.

Atlan schoß noch immer, obwohl ihm all-mählich bewußt wurde, wie unsinnig sein Tun war.

Es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, aber als er den Finger endlich vom Auslöser der Waffe nahm, waren in Wirklichkeit nur Sekunden vergangen.

Du Narr, lachte sein Extrasinn. Willst du so eine Friedensmission erfüllen?

Das Prasseln des rasch um sich greifenden Waldbrands wurde lauter. Schon erreichten die Flammen die Wipfel und fraßen sich im dichten Geäst rasend schnell weiter. Schwe-rer, dunkler Qualm schob sich vor die Sonne.

Atlan hastete weiter, in dem unguten Ge-fühl, einen unverzeihlichen Fehler begangen zu haben. Jeden Augenblick erwartete er ei-nen neuerlichen Angriff.

»Du bist verletzt«, sagte Sanny, als sie sei-ne Wunde sah.

»Nicht der Rede wert«, winkte er ab. Skeptisch verzog die Paramathematikerin

die Mundwinkel. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein Aus-

läufer des Sees, linkerhand wurde das Gelän-de hügeliger und stieg merklich an. Der Baumwuchs endete. Am Horizont erhoben sich schroffe, zum Teil schneebedeckte Ge-

birgszüge. »Wir sollten uns in Richtung auf die Berge

halten«, meinte Hage Nockemann. »Atlan hat bestimmt nicht vor, sich zu ver-

bergen«, belehrte Blödel den Wissenschaftler. »Schließlich willst du irgendwann zur SOL zurück.«

Inzwischen konnten sie es sich erlauben, eine kurze Rast einzulegen. Hinter ihnen wü-tete das Feuer heftiger; eine Flammenwand von etlichen Kilometern Ausdehnung, vor der ganze Herden von Tieren in panischem Ent-setzen davonstoben.

»Die Ausstrahlung der Zeithüter ist ver-schwunden«, bemerkte Federspiel.

»Sie werden wiederkommen.« Sanny voll-führte eine umfassende Handbewegung. »Das Feuer hat ihnen sicher nichts anhaben können. Nur werden sie diesmal andere Mittel gegen uns einsetzen.«

*

Die Vermutung, in die Vergangenheit des

Planeten VIVARIUM verschlagen worden zu sein, wurde zur Gewißheit. Der durch Atlans Überreaktion ausgelöste Waldbrand hatte jene Baumbestände vernichtet, die es bei der Lan-dung der HORNISSE nicht mehr gab oder auch nicht mehr geben würde. Die Überreste bildeten sicherlich einen guten Nährboden für das Gedeihen der meterhohen Blumenfelder.

Nur – wie weit man sich in der Vergangen-heit befand, vermochte selbst Sanny nicht zu berechnen.

Es begann zu regnen. Aus ersten, zaghaft fallenden Tropfen wurde in Sekundenschnelle ein wahrer Sturzbach, der Atlan und seine Begleiter bis auf die Haut durchnäßte. Ein Gewitter zog auf. Das Unwetter, vor dem sie in einer Bodensenke Schutz suchten, hatte allerdings auch sein Gutes, hinderte es doch das Feuer daran, sich weiter auszubreiten.

»Ein Paradies«, schimpfte Hage Nocke-mann. Er mußte schreien, um den rollenden Donner zu übertönen. In unablässiger Folge zuckten Blitze über das Firmament. »Da ziehe ich das ruhige Leben auf der SOL allem ande-ren vor.«

Eine seltsame Unruhe ergriff von ihnen Be-sitz. Am liebsten wären sie sofort wieder auf-

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gebrochen, aber das hätte bedeutet, dem To-ben der Natur vollends ausgeliefert zu sein.

Kurz hintereinander schlugen drei Blitze in ihrer unmittelbaren Nähe ein. Der entstehende Lärm machte fast taub. Die Luft knisterte förmlich vor Elektrizität.

»Da sind sie wieder«, rief Federspiel aus. »Ich fühle ihre Anwesenheit.«

Aber nicht ein Schatten verriet die Zeithü-ter. Atlan spähte hinaus in das umgebende Halbdunkel. Die Blitze blendeten, machten es schier unmöglich, weiter als einige Dutzend Meter zu blicken.

Seine Rechte lag auf dem Griff des Strah-lers. Es bedurfte keines Hinweises seines Ext-rahirns, ihn die Gefahr spüren zu lassen, die da lauerte.

Jäh schienen die Wolken aufzureißen, sprang gleißende Helligkeit vom Himmel herab. Atlan glaubte, in eine endlose Tiefe zu stürzen. Sein Magen rebellierte, aber ebenso schnell war alles auch wieder vorbei.

Nur – als der Arkonide sich zu den anderen umwandte, mußte er feststellen, daß sie ver-schwunden waren. Viel von seiner Umgebung erkennen konnte er noch immer nicht, aber er war überzeugt davon, daß sie sich nicht ver-ändert hatte.

Das Gewitter tobte mit unverminderter Hef-tigkeit.

»Sanny!« rief Atlan. »Blödel!« Aber nie-mand antwortete ihm.

Da war wieder das seltsame Empfinden, von unsichtbaren Augen beobachtet zu wer-den.

»Wer immer ihr seid, zeigt euch, damit wir über alles reden können.«

Nichts. Nur das stärker werdende Bewußt-sein drohender Gefahr.

Du bist gezwungen, den ersten Schritt zu tun, wisperte der Logiksektor.

»Ich will nicht, daß wir uns als Feinde ge-genüberstehen. Gebt euch zu erkennen oder sagt mir, was ich tun soll.«

Seine Worte waren in den Wind gespro-chen.

Rechts von dir! In dem vom Regen aufgeweichten, moras-

tigen Erdreich war ein Fußabdruck entstan-den. Und während der Arkonide aus den Au-genwinkeln beobachtete, formte sich wie aus

dem Nichts ein zweiter. Keine drei Meter war der Unsichtbare entfernt.

Einem inneren Impuls folgend, riß Atlan seinen Thermostrahler hoch. Die flimmernde Abstrahlöffnung richtete sich auf jene Stelle, an der er den Zeithüter vermutete.

»So«, sagte er. »Vielleicht hilft das deinem Interesse an einer Unterhaltung nach.«

Irgend etwas Kantiges flog heran. Atlan duckte sich und löste seine Waffe aus. Der gebündelte Energiestrahl fraß eine glühende Furche in das Erdreich und wanderte rasch auf den Unsichtbaren zu.

*

»Sie kommen näher.« Federspiel wandte

sich zu dem Arkoniden um und erstarrte. Atlan war verschwunden. »Wo ist er hin?« fragte Hage Nockemann

verblüfft. Federspiel zuckte mit den Schultern. »Ich kann nur annehmen, daß Atlan Wich-

tiges entdeckt hat. Wahrscheinlich kommt er sehr schnell wieder zurück.«

Zweifelnd wiegte Sanny ihren kugelförmi-gen Kopf.

»Wohin er auch gegangen sein mag, wir hätten es bemerken müssen.«

»Dann haben die Zeithüter ihn überwäl-tigt«, stellte Nockemann fest. »Wo stecken die Burschen überhaupt?«

Federspiel schien in sich hineinzulauschen. Seine Haltung straffte sich unwillkürlich.

»Ich weiß nicht, wieviele es sind, aber wir können fast die Hände nach ihnen ausstre-cken.«

Er machte einige zögernde Schritte zur Sei-te, wie um einen besseren Überblick zu ge-winnen.

»Da«, sagte Hage Nockemann und entsi-cherte seinen Schocker. Er deutete auf Fuß-spuren, die soeben entstanden waren.

»Die Waffe weg«, zischte Federspiel. Der Galakto-Genetiker zögerte. »Wieso soll ich ...?« »Ihr Wissenschaftler seid alle gleich«,

stöhnte Federspiel. »Nur auf eurem jeweiligen Gebiet seid ihr wirklich Koryphäen.«

Ein säuerliches Lächeln auf den Lippen, senkte Nockemann den Schocker. Mittlerwei-

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le gab es zwei weitere Abdrücke.

Der Unsichtbare kam weiter auf sie zu. Plötzlich bückte Nockemann sich, hob ei-

nen faustgroßen Stein auf und schleuderte ihn dorthin, wo die Fußspuren endeten. Mitten im Flug verschwand der Stein, als hätte es ihn nie gegeben.

»Nein!« wollte Federspiel noch rufen, weil der Wissenschaftler sich bereits wieder bück-te, als scheinbar aus dem Nichts heraus eine gleißende Strahlbahn nach ihm griff. Unfähig, in irgendeiner Weise zu reagieren, starrte er dem Verderben entgegen.

Keine zwanzig Meter vor seinen Füßen versiegte der Glutstrahl. In hohem Bogen flog etwas heran, das auf den ersten Blick Ähn-lichkeit mit einer Handfeuerwaffe aufwies.

Blödel hob es auf, indem er einen seiner langen Arme ausfuhr und auf diese Weise der Molaatin zuvorkam. Er konnte nicht leugnen, von seinem Erbauer eine gehörige Portion Neugierde mitbekommen zu haben.

»Das ist Atlans Strahler«, erklärte der Ro-boter.

»Dann hat er geschossen?« »Möglich. Oder jemand versucht, uns her-

einzulegen.« »Die Waffe kam von da.« Entschlossen

machte Federspiel einige Schritte zurück. Doch er überquerte die nach wie vor sichtba-ren Fußspuren, ohne daß etwas geschah.

»Kannst du feststellen, ob der Arkonide in der Nähe ist?« rief Nockemann ihm hinterher.

Der Telepath schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir gehen von falschen Vor-

aussetzungen aus«, sagte Sanny. Da das Ge-witter bis auf einen schwachen Ausläufer in-zwischen weitergezogen war, brauchte sie nicht mehr zu schreien. »Sicher ist, daß wir uns auf dem VIVARIUM befinden, ohne je-doch zu wissen, wie weit wir in die Vergan-genheit versetzt wurden. Ebenso sicher er-scheint es, daß zu dieser Zeit die geheimnis-vollen Zeithüter noch existierten. Sie versu-chen, uns zu vertreiben, ohne dabei selbst unmittelbar in Erscheinung zu treten. Bereits die Sache mit den rasend schnell wachsenden Pflanzen hätte mir zu denken geben sollen, ganz abgesehen von den plötzlich morsch werdenden Bäumen. Wahrscheinlich wären wir erschlagen worden, hätte Atlan nicht

durch seinen Strahlschuß das Vorhaben verei-telt.

Und vermutlich ist nicht nur der Arkonide für uns unsichtbar geworden, sondern auch wir für ihn. Beabsichtigt war, daß wir gegen-seitig zu den Waffen greifen – ein Plan, der beinahe aufgegangen wäre.

Atlan versucht eben auf seine Weise, einen Kontakt herzustellen. Nachdem er seine Stär-ke bewiesen hat, wirft er seinen Strahler weg, um zu zeigen, daß er für Verhandlungen be-reit ist.«

»Eine lange Rede, aber möglicherweise trifft sie den Nagel auf den Kopf.«

Sanny und die anderen fuhren herum. Da stand der Arkonide und lächelte.

»Also doch«, nickte die Molaatin. »Nach-dem du abermals den Plan der Zeithüter durchkreuzt hast, ist alles wieder beim alten. Was wird nun?«

»Da ist jemand«, flüsterte Federspiel. »Wo?« »Es mag dumm klingen, aber die Gedan-

kenströme, die ich erfassen kann, kommen von irgendwo unter uns.«

Blödel machte die anderen auf frisch auf-geworfenes Erdreich in ihrer Nähe aufmerk-sam. Noch während sie hinsahen, entstand ein weiterer, wesentlich größerer Haufen.

Eine schwarze, spitze Schnauze schob sich daraus hervor und witterte. Ein runder, von hellbraunem Fell bedeckter Kopf folgte, und ein Paar dunkler Knopfaugen blickte listig in die Gegend.

Unwillkürlich wurde Atlan an das Fell er-innert, das sie im Wald gefunden hatten.

Das Wesen schob sich vollends ins Freie. Es zeigte keine Spuren von Furcht, sondern starrte die kleine Gruppe unentwegt an.

»Wer ist das?« fragte Hage Nockemann unwillig. »Einer der Zeithüter?«

5.

Eigentlich gab es keinen Grund zum Feiern.

Der 31. Dezember 3804 versprach Ungewiß-heit und Bangen auch für das kommende Jahr, und vielleicht würde es der letzte Jahreswech-sel sein, den die Solaner erlebten.

Viele an Bord der SOL und der CHART DECCON schienen dieser Meinung zu sein.

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Es waren der fehlende Kontakt zu Atlan und die Mutmaßungen über seinen Tod, die es manchem schwer machten, das Leben noch mit denselben Augen zu sehen wie vor weni-gen Wochen.

Trotz allem liefen seit Tagen Vorbereitun-gen für Bordfeste, die den Rahmen des Übli-chen sprengen sollten.

»Was wird uns das neue Jahr bringen?« fragte Trunk B. Deuergal.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Jylene Tapsin leise. »Es erscheint mir auch nicht so wichtig. Immerhin können wir kaum Einfluß auf das Geschehen nehmen.«

In den Korridoren und Antigravschächten begegneten ihnen hin und wieder maskierte Solaner und Extras. Viele, die wie sie nach Abwechslung suchten, trugen eine strahlende Miene zur Schau. Andere wieder wirkten ver-bissen, und ihr Blick war unstet.

Vier Stunden vor Mitternacht betraten Jyle-ne und Trunk den Saal, in dem bereits gut zweitausend Solaner Platz gefunden hatten. Ein großer Monitor wurde von der Zentrale aus gesteuert, und jedesmal, wenn dort die Sanduhr ausgelaufen war und umgedreht werden mußte, wurde gleichzeitig die Anzei-ge weitergestellt. Auf diese Weise war es möglich, wenigstens halbwegs wieder zu ei-nem geregelten Leben zurückzufinden, ob-wohl Unstimmigkeiten zwangsläufig auftreten mußten.

Eine Extrakapelle spielte. Die fünf nur we-nig menschenähnlichen Wesen verfügten über Instrumente, wie diese auf ihren Heimatwel-ten benutzt wurden. Es waren fremdartig klingende Töne, die sie ihnen entlockten, die aber dennoch in geradezu vollendeter Weise miteinander harmonierten.

Noch tanzte niemand. Dafür war die Bar am anderen Ende des Saales bis auf den letz-ten Stehplatz belegt.

In einer 3-D-Projektion hielt Breckcrown Hayes eine kurze Begrüßungsansprache. Er bedauerte es, nicht selbst anwesend sein zu können, wünschte den Gästen dafür aber um so mehr Zerstreuung und Aufheiterung. Be-wußt vermied er es, die bestehenden Proble-me anzusprechen.

Roboter eilten geschäftig hin und her. Mit fortschreitender Stunde und erhöhtem Ge-

tränkekonsum wurde manche Zunge lockerer. Auch in Trunks Freundeskreis kam es zu leb-haften Diskussionen, an denen vor allem He-len McKinney nicht ganz unschuldig war.

Jylene Tapsin verstand es, den Buhrlo so mit Beschlag zu belegen, daß er kaum Gele-genheit bekam, sich an den Streitgesprächen zu beteiligen. Anfangs tanzten beide in ruck-artigen Verrenkungen zur Musik, später zo-gen sie sich unauffällig zurück.

Es gab viele Attraktionen an diesem Abend. Eine davon waren die wie Seifenblasen schimmernden halbenergetischen Kugelgebil-de, in denen man nicht nur bequem sitzen, sondern auch schwerelos durch den Saal flie-gen konnte.

»Toll«, staunte Jylene, während sie vom höchsten Punkt aus auf die Tanzfläche hinab-blickte und sich eng an Trunks Schulter schmiegte. »Kann man uns von außen wirk-lich nicht beobachten?«

Er lachte. »Sieh doch hinüber zu den anderen Blasen.

Erkennst du jemanden in ihrem Innern?« Anstelle einer Antwort drückte Jylene ihm

einen Kuß auf die Lippen. »Helen glaubt noch immer daran, daß an

Bord das Chaos ausbricht«, sagte sie dann übergangslos. »Dabei hat sich in den letzten Tagen alles wieder beruhigt.«

Trunk blickte sie verwundert an. »Weshalb kommst du ausgerechnet jetzt

darauf?« »Weil es mich ganz einfach interessiert.

Helen hat schon wieder damit angefangen, anderen ihre Befürchtungen aufzuschwatzen.«

»Paß auf!« Eine der Kugeln kam bedrohlich nahe.

Trunk versuchte noch auszuweichen, schaffte es aber nicht ganz. Zum Glück war der Zu-sammenprall nur von einer schwachen Er-schütterung begleitet.

Schon öffnete sich der Einstieg, und bevor der Buhrlo seine Überraschung verwinden konnte, kletterte eine Frau herein.

»Ein junges Paar«, sagte sie. »Leider wird bald alles vorbei sein. Tut heute noch, was euch Freude macht, morgen ist es dazu mit Sicherheit zu spät.«

»Was soll das Geschwätz?« fuhr Jylene auf. »Wir haben nicht um diese Störung gebeten.«

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ATLAN 94 – Die Abenteuer der SOL

Die Frau zeigte sich unbeeindruckt. Trunk

schätzte ihr Alter auf etwa siebzig oder acht-zig Jahre.

»Wer hat darum gebeten, daß ein Fremder sich in die Belange der SOL einmischt?«

»Ein Fremder?« »Dieser Arkonide, der nun in irgendwel-

chen Dimensionen verschwunden ist.« »Wir haben es ausschließlich Atlan zu ver-

danken, wenn alle Mißstände an Bord besei-tigt sind.«

»Du bist noch jung, Buhrlo, das will ich dir zugute halten. Dir und deiner Freundin. Aber das neue Jahr wird unsere Vernichtung brin-gen, wenn wir uns nicht schnell besinnen. Atlan hat uns in einen Kampf gegen kosmi-sche Mächte geführt, den die SOL nie gewin-nen kann.

Wähle zwischen Tod und Leben. Die Ent-scheidung ist einfach; und sie entspricht der Bestimmung unseres Schiffes.«

»Ich werde mich anders entscheiden«, er-öffnete Trunk.

»Wie?« Die Frau schien nicht zu verstehen, was er meinte.

Der Buhrlo grinste spöttisch. »Ich zähle bis drei. Wenn du dann nicht

samt deiner komischen Ansichten ver-schwunden bist, werfe ich dich eigenhändig hinaus.«

»Warum so stur? Andere haben sich längst zu Jonathan bekannt. Nur wenn du seine Leh-re verstehst, wird dein Glück ...«

»Jonathan Swift?« fragte Jylene erstaunt. »Du kennst ihn? Als High Sideryt wird er

die Geschicke der SOL endlich in die richti-gen Bahnen lenken. Er ...«

»... ist ein alter Schwätzer«, unterbrach Trunk schroff. »Eins ...«

»Nur als Jonathans Jünger werdet ihr über-leben.« Die Frau begann heftig zu gestikulie-ren.

»Zwei ...« »Wehrt euch nicht gegen das Schicksal. Die

SOL ist zum Untergang verdammt!« »Drei!« Trunk erhob sich und ergriff die

Frau am Handgelenk. »Schon gut, schon gut«, versuchte sie zu

beschwichtigen. »Wo man nichts von Jona-than wissen will, bleibe ich nicht. Aber ihr werdet es bereuen. Ich sage euch ...« Die Ku-

gelhülle hatte sich bereits wieder geschlossen. Von außen kommende Schallwellen drangen nicht bis in ihr Inneres vor.

»Was macht sie jetzt?« wollte Jylene wis-sen. Sie hatte Mühe, den Flug der bunt schil-lernden Blase zu verfolgen, die schon nach wenigen Minuten mit einer anderen zusam-menstieß.

»Eigentlich sollten wir dem High Sideryt den Vorfall melden«, überlegte Trunk. »Ich habe das Gefühl, daß dieser Swift bereits mehr Anhänger um sich scharen konnte, als wir glauben. Immerhin machte er auf mich einen ziemlich entschlossenen Eindruck.«

Eine Spur zu lässig winkte Jylene ab. »Die Leute wollen belogen werden«, sagte

sie. »Das ist alles. Ich sehe da keine Gefahr.« Sie lenkten ihre Seifenblase in die Nähe der

beiden anderen. Es dauerte lange, bis diese sich wieder trennten, und Trunk konnte Jylene schließlich davon überzeugen, daß Jonathan Swift in dieser Zeit zwei neue Anhänger ge-funden hatte.

*

Der Monitor zeigte eine halbe Stunde vor

Mitternacht, als es auf der Tanzfläche zum ersten Zwischenfall kam. Schreiend brach eine junge Frau zusammen. Sie wirkte hyste-risch. Niemand konnte verstehen, was sie schrie, und erst, als ihr Partner ihr mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, ver-stummte sie. Verwundert, als könne sie selbst nicht begreifen, was vorgefallen war, sah sie sich um. Dann erhob sie sich ruckartig. Ein Hauch von Verzweiflung huschte über ihr Gesicht.

»Ich habe Angst«, flüsterte sie so leise, daß man sie kaum hören konnte. »Niemand weiß, was uns die Zukunft bringt.«

Jemand reichte den beiden ein Glas Wasser. Sie trank hastig und in kurzen Schlucken. Zwischendurch sah sie auf und wischte sich verstohlen Tränen aus den Augen.

»Es geht schon wieder.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und warf den Kopf in den Nacken. Mit beiden Händen fuhr sie sich über die Schläfen. »Ich hätte gerne noch ein Glas.«

In einem Augenblick, als niemand mehr auf sie achtete, zog sie aus einer Tasche ihrer

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Kombination ein dünnes Röhrchen hervor, schüttete dessen Inhalt in die hohle Hand und schluckte ihn hinunter. Schwankend kam sie auf die Beine.

»Ihr sollt es wissen ... ihr alle sollt endlich wissen, wie es um uns ...«

Stöhnend brach sie vornüber in die Knie, versuchte zitternd, sich aufzuraffen, schlug dann aber der Länge nach hin. Ein Lächeln huschte über ihre Züge, die sich langsam ent-spannten.

»Es ist alles so sinnlos«, ächzte sie. »Ich gehe euch voraus ...«

Das Röhrchen entglitt ihren kraftlos wer-denden Fingern und rollte Jylene Tapsin bis unmittelbar vor die Füße. Verdutzt hob die Frau es auf, überflog die Aufschrift. Es war ein hochwirksames Betäubungsmittel.

»Holt einen Medoroboter, schnell!« rief Jy-lene entsetzt. Sie wandte sich den Solanern zu, die sich der am Boden Liegenden annah-men. »Versucht, daß sie sich übergibt. Die Wirkstoffe dürfen auf keinen Fall ins Blut gelangen.«

Der Freund der Frau drängte sich rück-sichtslos zwischen die Helfer.

»Bleiben Sie zurück, Mann«, rief Jylene. »Sie schaden ihr nur.«

Aber er schien nicht zu hören. Trunk, Ta-rim Morgan und Germ mußten ihn gewaltsam zurückzerren. Nur langsam begann er sich zu beruhigen.

»Helft ihr!« stöhnte er. »Bitte. Monja darf nicht sterben.«

Jemand brachte Salz, das, in Fruchtsaft aufgelöst, ihr zu trinken gegeben wurde. Sie spuckte und warf den Kopf haltlos von einer Seite auf die andere.

Endlich erschienen zwei Medoroboter. Während einer von ihnen eine Hochdruckin-jektion vorbereitete, zeigte Jylene dem ande-ren das Medikamentenröhrchen.

»Wird sie durchkommen?« »Das ist mit einiger Wahrscheinlichkeit an-

zunehmen.« Nach diesem Vorfall wollte kaum noch

Stimmung aufkommen. Vielleicht war aber auch schuld daran, daß man sich nach offiziel-len Angaben Mitternacht näherte. Auf dem Monitor wechselte nun jede Minute die Zeit-angabe – ein Luxus, den man sich ansonsten

nicht erlaubte. »Nur noch wenige Augenblicke trennen uns

vom Beginn des neuen Jahres«, ertönte Breckcrown Hayes’ Stimme. »Ich wünsche der SOL und ihrer Besatzung, daß es erfolg-reich wird. Und vieles spricht dafür.«

Spärlicher Beifall wurde laut, aber auch vereinzelte Pfiffe waren zu hören.

Ein Flimmern entlang der Stirnseite des Saales kündigte das Entstehen einer hologra-fischen Projektion an. Die endlose Schwärze des Weltalls zeichnete sich ab. Und dann – plötzlich – wurde ein neuer Stern geboren. Die SOL war es, die im gleißenden Wider-schein unzähliger Scheinwerferkegel sichtbar wurde.

»Auf ein glückliches neues Jahr.« Nur wenige erwiderten den Wunsch des

High Sideryt. Die meisten ließen sich von dem stärker werdenden Rumoren irritieren, das die Schiffszelle durchlief. Auf der Bild-wiedergabe verwandelte die SOL sich in ein gigantisches, feuerspeiendes Ungeheuer. Die Desintegrator- und Impulsgeschütze begannen gleichzeitig zu feuern. Augenblicke später erbebte das Schiff unter dem Salventakt der Transformkanonen.

Das All ringsum schien zu brennen. Aufge-nommen von Optiken weitab vom Geschehen, war dies ein faszinierender Anblick, der zugleich die Kampfstärke des Fernraum-schiffs auf eindrucksvolle Weise demonstrier-te.

»Hoffentlich erreicht Hayes damit nicht das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt«, sag-te Helen McKinney leichthin. »Die Solaner könnten sich daran erinnern, daß Hidden-X mit Waffengewalt allein schwerlich beizu-kommen ist.«

»Hört endlich auf mit der Augenwische-rei!« rief jemand. »Wir sind am Ende – ist das so schwer zu erkennen?« Er wollte auf einen Tisch steigen, wurde aber von kräftigen Fäus-ten daran gehindert. »Nieder mit Hayes, nie-der mit allen Stabs ...« Handgreiflich hinderte man ihn daran, seine Meinung weiter mit schriller Stimme kundzutun.

Im Nu kam es zu einer wilden Prügelei, bei der wohl kaum einer der Beteiligten wirklich wußte, wer zu wem gehörte. Jeder schlug auf jeden ein und versuchte, seinen angestauten

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Gefühlen auf diese Weise Luft zu verschaf-fen.

Das erste Mobiliar ging zu Bruch. Stuhl-beine wurden als Keulen benutzt.

In einer unmißverständlichen Geste zog Ta-rim Morgan die Brauen hoch.

»Trunk, Germ, was haltet ihr davon?« »Hiergeblieben.« Jylene Tapsin drückte den

Buhrlo fest auf seinen Stuhl zurück. »Ihr seid verrückt genug, euch an dieser Prügelei zu beteiligen.«

»Natürlich«, grinste Morgan. Jeden Moment konnten Roboter dem Spuk

ein rasches Ende bereiten. Aber noch vorher fielen schlagartig Teile der Beleuchtung aus.

Selbst im Halbdunkel ließen die Kontrahen-ten nicht voneinander ab. Immer mehr ging zu Bruch.

»Soll Atlan bei seiner Rückkehr einen Scherbenhaufen vorfinden?« brüllte Jylene Tapsin.

»Was sagst du da?« Ein Kerl wie ein Schrank stand plötzlich vor ihr, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. Im nächsten Moment zuckten Jylenes Hände nach vorne; ihre Fingerspitzen berührten ihn nur flüchtig, trotzdem sackte er ächzend in sich zusammen.

»Alle Achtung«, bemerkte Trunk. »Hinter dir!« Der Buhrlo wirbelte herum, und der ihm

zugedachte Fausthieb ging ins Leere. Zugleich bekam er den Arm des Gegners zu fassen und setzte zum Hebel an.

»Unser Gruppentraining wirkt sich aus«, lachte Germ. »Schon lange hatte ich keinen solchen Spaß mehr.«

»Du wirst dich trotzdem beherrschen müs-sen.« Jylene Tapsin funkelte den Extra wü-tend an. »Wir sind nicht hergekommen, um uns zu schlagen. Also ...« Sie hob ihr Glas. »Trinken wir auf eine gute Zukunft.«

»Darauf, daß Atlan bald zurückkehrt«, nickte Helen. »Habe ich nicht vorausgesagt, was geschehen wird?«

Roboter betraten den Saal. Manche wurden mit Flaschen und anderem angegriffen. Kurz-um: es war das beginnende Chaos, das sich schon bald nach Mitternacht offenbarte.

Die Kapelle hatte längst ihre Instrumente in Sicherheit gebracht. Über dem Monitor flim-merte ein sich ständig wiederholender

Schriftzug, daß die Veranstaltung vorzeitig beendet sei. Die Gäste wurden gebeten, sich zivilisiert zu verhalten.

»Der High Sideryt weiß sich nicht mehr anders zu helfen«, behauptete Helen. »Hof-fentlich wird das nicht als Eingeständnis sei-ner Schwäche ausgelegt.«

Es wurde zunehmend ruhiger. Trunk und die anderen Jugendlichen warteten, bis ein Großteil der Solaner, Extras und Bordmutan-ten den Saal verlassen hatten. Da erst erhoben auch sie sich.

»Ein Fläschchen gefällig, für eine private Fortsetzung der Feier?« grinste Germ und schwang sich über die Bartheke.

»Laß den Unsinn«, schimpfte Jylene. »He«, rief der grünhäutige Extra. »Kommt

her, schnell. Hier liegt einer. Möglicherweise ... tot.« Ein wenig hilflos kauerte er neben der reglosen Gestalt.

»Bewußtlos«, stellte Trunk fest. »Aller-dings hat der Mann viel Blut verloren. Du mußt die Schnittwunden an seinen Handge-lenken fest zusammendrücken.«

»Der zweite, der sich allem zu entziehen versucht.« Helen McKinneys Blick wirkte verbittert. »Zwei allein in unserer unmittelba-ren Umgebung. Versteht ihr, was das bedeu-tet?«

»Beide werden es überleben.« »Darum geht es gar nicht.« Ein Medorobot versorgte den Bewußtlosen

mit Blutplasma. Eine zusätzliche Injektion sollte den Schock lösen, den er aller Wahr-scheinlichkeit nach erlitten hatte.

»Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, im jetzigen Stadium ist die SOL von Atlan abhängiger denn je. Zum bloßen Abwarten verurteilt, werden Depressionen immer häufi-ger auftreten.«

*

2. Januar 3805 An Bord der SOL flackern erste Unruhen

auf. Es kommt zu tätlichen Auseinanderset-zungen, die zum Glück relativ harmlos verlau-fen. Nur wenige Verletzte müssen in die Me-dostationen eingeliefert werden, können diese jedoch nach ambulanter Behandlung wieder

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verlassen.

Gegen Abend sieht es so aus, als würden die Gemüter sich beruhigen. Zu lange dauert nun schon der unfreiwillige Aufenthalt des Fernraumschiffs, das nicht nur im Raum son-dern auch in der Zeit eingefroren zu sein scheint.

Die Psychologen gelangen zu einem einhel-ligen Urteil: angestaute Emotionen suchen nach einem Ventil – eine Erscheinung, die in wenigen Tagen von selbst wieder enden wird.

Mehrere Stabsspezialisten, unter ihnen auch Breckcrown Hayes, melden allerdings Zweifel an. Der High Sideryt begibt sich unter die Solaner. Gleichgültigkeit schlägt ihm ent-gegen, manchmal sogar Ablehnung.

Und von Atlan noch immer kein Lebenszei-chen ...

*

Die Lagerhalle B-16 trug ihre Bezeichnung

eigentlich zu Unrecht. Immerhin maß der kleine Kühlraum kaum mehr als dreißig Quadratmeter. Medikamente wurden hier ge-lagert und chemische Wirkstoffe. Eine beson-dere Absicherung gab es nicht. Man vertraute dem doppelwandigen Terkonitschott.

Die letzten Tage waren in relativer Ruhe vergangen. Möglicherweise begannen die Solaner, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Man richtete sich darauf ein, den Rest des Lebens an diesem nichtssagenden Ort im Leerraum verbringen zu müssen. Einige ganz Verrückte sahen darin bereits die »Ideallö-sung ihres Daseins«.

Nur hin und wieder verirrte sich jemand in die Nähe von B-16. Daß am 10. Januar drei in unförmige Schutzanzüge gehüllte Personen zielstrebig ihren Weg verfolgten, fiel deshalb niemandem auf.

Vor dem doppelwandigen Schott blieben sie stehen. Einer von ihnen, deren Gesichter hinter den getönten Sichtscheiben verborgen waren, hielt eine kleine, in einen Glasblock eingeschmolzene Sanduhr in der Hand.

»Es dürfte gleich soweit sein«, sagte er. Der letzte Sand rann durch die schmale Öffnung. Inzwischen waren Tausende dieser primitiven Zeitmesser hergestellt worden, um den Sola-nern wenigstens das Gefühl eines korrekten

Zeitablaufs zu vermitteln. Doch nichts geschah. »Hoffentlich hat SENECA nicht eingegrif-

fen.« »Ausgeschlossen.« Plötzlich erlosch die Beleuchtung innerhalb

des Korridors, und auch die sofort zugeschal-tete Notbeleuchtung erstarb flackernd. Die drei wußten, daß die gesamte Energieversor-gung für diesen Sektor des Schiffes zusam-mengebrochen war.

Kleine Scheinwerfer flammten auf. Ihre scharf gebündelten Lichtstrahlen huschten zitternd über die Wände.

»Mach schnell. Wir haben höchstens zwei Minuten.«

Es gab keine unnötigen Handgriffe. Jeder wußte genau, was er zu tun hatte. Nach unge-fähr dreißig Sekunden hefteten zwei große graue Metallkästen unmittelbar über dem Schottrahmen. Nach weiteren zehn Sekunden entstand in der Finsternis ein grelles Glühen, das sich rasch ausweitete.

Metall schmolz unter den extremen Tempe-raturen, die sich auf engstem Raum konzent-rierten.

Dann – ein leises, kratzendes Geräusch ... Das Schott glitt wie von Geisterhand bewegt auf.

»Ich wußte es. Schnell jetzt, denn spätes-tens in diesem Augenblick erfährt SENECA, was geschieht.«

Sie rafften nicht zusammen, was sie im Kühlraum fanden, sondern gingen äußerst zielstrebig vor. Ein Thermostrahler zer-schmolz die Impulsschlösser mehrerer Wand-schränke. In einem davon befanden sich glä-serne Ampullen.

»Das ist weniger, als ich dachte. Zerbrecht keine davon.«

Eineinhalb Minuten mochten vergangen sein, als sie den Rückzug antraten.

»Roboter kommen!« zischte einer der drei. »Vanda hat es eben durchgegeben.«

Sie hasteten den Korridor entlang, bis die-ser sich nach ungefähr fünfzig Metern erst-mals teilte.

»Also, wie besprochen. Sucht die Nähe vie-ler Solaner, damit man unsere Spuren nicht über Infrarot verfolgen kann. Und während der nächsten Tage keinerlei Kontaktaufnah-

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me.«

Als das Licht endlich wieder aufflammte, waren sie verschwunden.

*

Selten hatte man Breckcrown Hayes in sol-

cher Verfassung gesehen. Die Hände zu Fäus-ten geballt, schritt er unruhig auf und ab wie ein gefangenes Raubtier in seinem Käfig.

»Keine Hinweise auf die Täter?« »Nichts, was uns weiterhelfen würde«, sag-

te Wajsto Kolsch. »Wir konnten zwar eine Spur verfolgen, haben sie aber schnell wieder verloren.«

»Du bist sicher, daß sie es nur auf das Gift abgesehen hatten?«

»Völlig sicher. Alle anderen Lagerbestände sind unangetastet. Wer immer von den Am-pullen gewußt hat – nach der Tat eines Psy-chopaten sieht das Ganze nicht aus. Wenn das Gift dem Trinkwasser beigemischt wird, be-steht akute Gefahr für mindestens 5000 Sola-ner.«

»Also Erpressung. Aber zu welchem Zweck?«

»Wenn deine Vermutung zutrifft, Breckc-rown, werden wir es wahrscheinlich sehr bald erfahren.«

»Es gärt und brodelt überall. Glaube mir, ich würde die Last der Verantwortung lieber heute als morgen abgeben. – Wir müssen Ü-berwachungsanlagen an sämtlichen neuralgi-schen Stationen anbringen. Kein noch so un-bedeutender Zugang zu den Wasserregenera-toren darf übersehen werden. Und ab sofort entnehmen wir in stündlichen Abständen Wasserproben aus den Leitungen.«

»Ist das alles?« »Was soll ich tun?« brauste Hayes auf.

»Jeden einzelnen an Bord überprüfen? – Ich fürchte, wir sitzen derzeit auf einem Pulver-faß. Ein einziger Funke genügt, um es zur Explosion zu bringen.«

6.

Eine Weile standen sie sich unbewegt ge-

genüber. Atlan fühlte förmlich, daß dieses kleine, bärenhafte Wesen, das ihn an die Koa-las Australiens erinnerte, bereit war, blitz-

schnell zu fliehen. »Es ist zweifellos intelligent«, flüsterte Fe-

derspiel neben ihm. »Allerdings versteht es, seine Gedanken abzublocken.«

»Wir kommen als Freunde.« Der Arkonide hielt die Handflächen so, daß der Bär sie se-hen konnte. Seine eigenen Worte kamen ihm banal vor, aber was sonst hätte er sagen sol-len? Er war überzeugt, daß der Fremde ihn ohnehin nicht verstehen konnte.

Aus seinen kleinen, dunklen Knopfaugen sah das Wesen ihn unentwegt an. Schließlich ließ es eine helle, zirpende Tonfolge verneh-men. Mit der rechten Vorderpfote tippte es sich dabei an die Stirn.

»Teih ... lerrr.« Dasselbe wiederholte sich. Atlan zeigte auf sich selbst und sagte seinen

Namen. »Ich werde dich Tyler nennen. Ein-verstanden?«

Wieder diese hellen, beinahe schon an der Obergrenze menschlichen Hörvermögens liegenden Laute. Der Translator übersetzte bereits einige Brocken.

An mehreren Stellen brach das Erdreich auf, streckten sich witternd dunkle Schnauzen in die Höhe.

»Wir kommen in Frieden«, betonte Atlan. »Ich weiß«, sagte Tyler. »Ihr seid ... anders

als die Zeithüter.« »Sie sind die eigentlichen Bewohner des

VIVARIUMS«, stellte Sanny fest. »Das ist richtig«, erwiderte Tyler. »Wir

sind die ›Mißbrauchten‹ oder, wie wir uns früher nannten, als diese Welt noch uns ge-hörte, die ›Tyler‹. Kommt jetzt, ehe die Zeit-hüter erneut zuschlagen.«

»Wohin?« wollte Blödel wissen. Der Sprecher der Mißbrauchten deutete mit

seinen kurzen Fingern nach unten. »Die meisten unseres Volkes sind gestor-

ben, als die Zeithüter unser Land in Besitz nahmen. Den anderen blieb keine Wahl, als sich unter der Erde zu verbergen. Wir warten schon viel zu lange darauf, daß ein Wunder geschehen möge.«

»Ich gehe mit ihnen«, entschied Sanny spontan. »Ich bin klein genug. Blödel, was ist mit dir?«

»Hage benötigt meine Dienste. Außerdem wurde ich nicht als Erdwühler geschaffen.«

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Eines der bärenähnlichen Wesen stieß einen

schrillen Warnpfiff aus. Im Nu waren die meisten von ihnen verschwunden.

»Die Zeithüter kommen«, sagte Tyler. »Zögert nicht länger, oder wir können euch nicht mehr helfen.«

Federspiel nickte. Er spürte die Nähe der Unsichtbaren.

Innerhalb weniger Sekunden räumte Tyler einen Erdhügel mit bloßen Händen beiseite. Eine schräg abwärts führende, gut einen hal-ben Meter durchmessende Röhre wurde sicht-bar, deren Wände wie geglättet wirkten.

Sanny war die erste, die mit rasch steigen-der Geschwindigkeit in die Tiefe rutschte. Hundert Meter, schätzte sie, dann verlief die Röhre sanfter geneigt. Elektrisches Licht er-hellte die Höhle, in der die Molaatin und gleich darauf auch die anderen anlangten.

Überall scharten sich Mißbrauchte zusam-men und musterten die Solaner aus ihren dunklen Knopfaugen.

»Sie sind begierig darauf, euch kennenzu-lernen«, sagte Tyler. »Endlich, nach endlos langen Zeiten des Wartens, wird unser Leben sich wieder verändern.«

»Das klingt, als sollten wir für euch etwas tun«, bemerkte Hage Nockemann.

»Ihr habt schon mehr getan, als wir jemals verlangen dürften«, erwiderte Tyler.

»Wie meinst du das?« »Später. Solange eure Freunde die Prüfun-

gen nicht für sich entschieden haben, können wir nicht endgültig triumphieren.«

»Freunde?« fragte Federspiel. »Prüfun-gen?«

»Er kann nur die Besatzung der HORNIS-SE meinen«, sagte Nockemann.

»Ich weiß nicht recht ...« Der Telepath schwieg, und auch Tyler schien Erklärungen nicht für angebracht zu halten.

Alles hier unten wirkte primitiv, so ganz anders als in den Gebäuden, die Atlan und seine Begleiter durchsucht hatten.

Tyler stellte den Solanern einige Angehöri-ge seines Volkes vor – Verwalter einer besse-ren Zeit, wie er sie nannte, und sie schienen Exekutive und Legislative zugleich zu sein.

Man nahm auf Fellen Platz, die zweifellos einmal lebenden Tylern gehört hatten. Auf eine entsprechende Frage erfuhr der Arkoni-

de, daß diese Wesen sich regelmäßig häute-ten. Jedes Fell symbolisierte ein bestimmtes Lebensalter und war eine Art Heiligtum.

In tönernen Krügen wurden Speisen ge-bracht, die an einen Brei aus Regenwürmern erinnerten. Dazu gab es Wurzeln verschiede-ner Pflanzenarten und eine nach Honig rie-chende Flüssigkeit, die giftgrün schimmerte.

Federspiel würgte schon beim Anblick der Speisen. Und Hage Nockemann schluckte krampfhaft. Sein Blick glitt hilfesuchend zu Atlan hinüber.

»Wenn wir ablehnen, würden wir sie wahr-scheinlich verärgern«, flüsterte der Arkonide.

Mit den hohlen Händen schöpften die Tyler den Brei. Atlan griff ebenfalls zu. In seinem mehr als zwölftausendjährigen Leben hatte er schon andere Dinge gegessen.

Die Tyler schoben Nockemann den Krug hin. Ihre auffordernden Gesten waren unmiß-verständlich.

»Augen zu und denken, es sei Synthonah-rung«, raunte Blödel.

Der Galakto-Genetiker kam nicht umhin. Mit den Fingerspitzen griff er zu und schluck-te den Brei sofort hinunter.

Die grüne Flüssigkeit war wie Wein. Aller-dings umnebelte sie die Sinne nicht, sondern schärfte sie sogar. Nachdem Nockemann auch davon gekostet hatte, glaubte er plötzlich, auf unverständliche Weise mit den anderen ver-bunden zu sein. Fast war es ihm, als könne er ihre Gedanken erahnen.

Nicht ahnen, wisperte es in seinem Kopf, und er erkannte Federspiels Stimme. Oder war es gar nicht dessen Stimme? Das Getränk scheint eine Art Stimulans zu sein, das psi-ähnliche Sinne aktiviert.

Am Eingang zur Höhle wurde es laut. Etli-che der bärenähnlichen Wesen hasteten heran. Als könne er nicht erwarten, was sie zu be-richten hatten, sprang Tyler auf.

»Die Zeithüter sind verschwunden!« Wie eine Bombe schlug die Nachricht ein.

Überall Jubel, der minutenlang jedes gespro-chene Wort übertönte.

»Eure Freunde haben es geschafft«, sagte dann einer der Verwalter einer besseren Zeit.

»Er kann nur Cpt’Carch und Insider mei-nen«, murmelte Federspiel tonlos. »Aber das, das würde bedeuten ...« Atlan hielt ihn sanft

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zurück, als er aufspringen wollte.

»Verstehst du nicht? Irgendwo auf dieser Welt, wahrscheinlich sogar in der Nähe, ist die HORNISSE gelandet. Und ich bin an Bord, Atlan, ich könnte mir selbst gegenüber-treten und mich warnen.«

»Bist du mir in der Vergangenheit begeg-net?«

»Nein«, machte Federspiel erstaunt. »Aber weshalb sollte ich nicht nach der HORNISSE suchen? Die Tyler scheinen zu wissen, wo das Schiff steht.«

»Du würdest ein Paradoxon auslösen, Fe-derspiel, über dessen Konsequenzen ich mir längst nicht im klaren bin. Wenigstens wissen wir nun, wie weit wir in die Vergangenheit verschlagen wurden. Es sind nur wenige Ta-ge.«

*

20. Januar 3805 Ein Versorgungscontainer befindet sich auf

dem Weg von der SOL zur CHART DECCON. Die Instandsetzung des beschädigten Hyper-vakuum-Verzerrers hat sich in den letzten Tagen als problematischer und bei weitem zeitraubender erwiesen, als anfangs ange-nommen. Immerhin ist man von Planeten als geeignete Rohstofflieferanten vollkommen abgeschnitten. Erneute Ausbruchsversuche mit Beibooten sind fehlgeschlagen. Keines der Schiffe vermochte die Barrieren des Linear- bzw. Hyperraums zu überwinden. Folglich ist man auf die Grundelemente angewiesen, die noch in der SOL lagern.

Innerhalb von zwei Stunden erreicht der ohne eigenen Antrieb fliegende Container die CHART DECCON. Seine Fracht: Überwie-gend Schwermetalle und mikroelektronische Bauteile. Aber auch Nahrungsmittel, da die Empfänger nicht in der Lage sind, sich selbst zu versorgen.

Mittels Zugstrahl wird der Container in ei-nem der Backbordhangars abgesetzt. Minuten später verwandelt sich dieser Hangar in eine Gluthölle. Durch die Wucht mehrerer Explo-sionen wird die Längsseite der CHART DECCON größtenteils aufgerissen. Es kommt zu Vakuumeinbrüchen und Folgeschäden.

Glücklicherweise werden Menschenleben dabei nicht gefährdet.

Unmittelbar nach diesen Geschehnissen bekennt sich eine »Opposition gegen den Hy-pervakuum-Verzerrer« zu den Anschlägen. Über sämtliche Interkomverbindungen wird eine Erklärung verbreitet, daß einzig und al-lein der Verzerrer schuld ist am Einfrieren der Zeit.

Trotz sofortiger Reaktion der Schiffsfüh-rung wird nur ein Speicherkristall gefunden. Von Angehörigen der »Opposition« keine Spur.

Auch der Einbruch in Lagerhalle B-16 konnte bis zum Tage nicht geklärt werden.

*

Der noch fehlende Kontakt zu Atlan und

die grassierenden Mutmaßungen über seinen Tod erzeugten allmählich einen Tiefpunkt in der allgemeinen Stimmung. Die Ruhe an Bord war endgültig dahin.

»Sie fallen Atlan in den Rücken«, behaup-tete Jylene Tapsin. »Manche vielleicht, ohne daß sie es wirklich wollen, aber die meisten sind Mitläufer, die sich von der Unüberlegt-heit der anderen anstecken lassen.« Sie hatte einsehen müssen, daß Helen McKinney schon vor Wochen mit ihren Befürchtungen recht gehabt hatte.

»Längst nicht alle sind so unvernünftig«, stellte Trunk B. Deuergal fest.

»Eben«, nickte Helen. »Breckcrown Hayes und seine Leute werden mit den Vorfällen nicht fertig, weil ihnen einfach die Vorausset-zungen dafür fehlen. Sie müßten sich weit mehr unter die Besatzung mischen.«

»Dann hilf ihm doch ...« »Genau das wollte ich vorschlagen. Wir

könnten auf unsere Weise für Ordnung sorgen und den Verzweifelten beistehen.«

»Glaubst du wirklich, daß man ausgerech-net auf uns hören wird?«

»Weshalb sollten wir keinen Erfolg haben? Immerhin sind wir Atlan und seinen Prinzi-pien treu. Die meisten von uns werden mit-machen.«

*

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25. Januar 3805 Fünf zu allem entschlossene Solaner drin-

gen in ein Depot der SZ-1 ein und entwenden neben Nahrungsmitteln auch verschiedene Waffen. Nur zwei Stunden nach diesem Vor-fall werden drei Roboter aus dem Hinterhalt zerstört. Obwohl sie noch eine Warnmeldung absetzen können, gelingt es den Suchmann-schaften nicht, der Täter habhaft zu werden. Zweifellos wurden bei dem Überfall die erst kurz zuvor erbeuteten Waffen eingesetzt.

Stimmen werden laut, die eine Absetzung des High Sideryt und der Stabsspezialisten fordern.

*

»Ausgerechnet Melbar Wednescoe«, seufz-

te Jylene, nachdem der grünhäutige Extra aufgeregt Bericht erstattet hatte. »Wie kommst du darauf, daß er es war?«

Germ verzog sein Gesicht zu einem überle-genen Lächeln.

»Wir Nicht-Solaner verfügen mitunter über Fähigkeiten, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Und gerade auf Melbar haben einige von uns ein besonderes Auge geworfen – schließlich hat er uns früher, als er noch zu den Ahlnaten gehörte, des öfteren Schwierig-keiten bereitet.«

»Wenn er tatsächlich für die Zerstörung der Roboter verantwortlich ist, sollten wir unser Wissen dem High Sideryt melden.«

Germ stemmte seine zierlichen Fäuste in die Hüften.

»Das hier wäre eine wirkliche Aufgabe für uns, und du hast Angst«, jammerte er. »Was haben wir denn bisher erreicht? Weltbewe-gend ist es nicht, drei Verzweifelten so lange ins Gewissen zu reden, bis sie ihre mögli-cherweise vorhandenen Selbstmordabsichten fallenlassen. Und die beiden Jugendlichen, die plündern wollten? – Wednescoes Kabine liegt auf demselben Korridor wie deine. Deshalb haben wir eine wirkliche Chance.«

»Wir könnten ihn und seine Gruppe überra-schen«, pflichtete Helen McKinney bei.

Eine Stunde später standen Jylene Tapsin und Trunk B. Deuergal vor Wednescoes Ka-bine. Sie mußten den Melder mehrmals betä-

tigen, ehe das Schott einen Spalt breit geöff-net wurde.

»Was wollt ihr?« herrschte eine Frau die beiden an. Jylene konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben.

»... mit Melbar reden.« »Ich glaube nicht ...« »Er wird uns anhören. Aber vielleicht soll-

ten wir warten, bis Hayes ...« Jylene war lei-ser geworden und wandte sich nun abrupt um.

»Wartet!« rief die Frau. Das Schott öffnete sich ganz.

Niemand bemerkte, daß Trunk im Vorbei-gehen den Metallrahmen streifte, und daß ein kleines Plättchen, das er bislang in der Hand gehalten hatte, haften blieb.

Fünf Anwesende zählte Jylene. »Also?« fragte Wednescoe. »Hayes hat herausgefunden, wer die Robo-

ter eliminiert hat«, sagte Trunk. Das Gesicht seines Gegenübers verhärtete

sich schlagartig. Dem Buhrlo fiel auf, daß einer der Anwesenden verstohlen unter seine Kombination faßte, wo sich kaum merklich die Umrisse einer Waffe abzeichneten.

»Ihr solltet euch stellen«, sagte Jylene. »Noch ist nichts geschehen, was sich nicht wieder rückgängig machen ließe.«

In dem Moment, in dem der Mann die Waf-fe zog, schnellte Trunk nach vorne. Der Auf-prall riß beide von den Füßen.

Melbar Wednescoe reagierte prompt, und Jylene war zu überrascht, um sich seinem stahlharten Griff widersetzen zu können.

»Sag deinem Freund, er soll aufgeben, oder ihr werdet beide diese Kabine nicht mehr ver-lassen.«

In dem Augenblick glitt das Schott auf, das sich nicht vollständig geschlossen hatte. Germ und die anderen stürmten herein. Ein einzel-ner Thermoschuß zuckte über ihre Köpfe hinweg und schlug draußen im Korridor ein. In dem folgenden Handgemenge konnte nie-mand seinen Strahler einsetzen. Allerdings errangen Trunk und seine Freunde auch nicht so schnell die Oberhand, wie sie es sich er-hofft hatten.

Endlich trafen die durch den Strahlschuß alarmierten Roboter ein. Da es ihnen unmög-lich war, zwischen Freund und Feind zu un-terscheiden, wurden alle Beteiligten vorsorg-

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lich festgenommen.

*

Jylene Tapsin hätte nicht gedacht, daß man

ihnen so schnell glauben würde. Und erst recht nicht, daß sie und Trunk schon kurze Zeit später dem High Sideryt in dessen Klause gegenüberstehen würden.

»Ihr seid also die Anführer dieser Gruppe? Wie nennt ihr euch?«

»Die Atlantreuen«, sagte Jylene. Dem for-schenden Blick des High Sideryt hielt sie stand. »Am Anfang waren wir nur fünfzig, inzwischen zählen wir knapp zweihundert Mitglieder. Alles Jugendliche, deren Ziel es ist, sich der seelisch Gefährdeten anzunehmen und, wo es geht, für Ordnung zu sorgen.«

Hayes bot den beiden Platz an. »Eure Initiative ist durchaus positiv zu wer-

ten. Allerdings solltet ihr Fälle wie den Waf-fendiebstahl der Schiffsführung überlassen. Das hätte für euch böse enden können.«

»Wir hatten den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite«, widersprach Trunk. »Was aber wäre geschehen, wenn Roboter und Spe-zialisten aufmarschiert wären? Mitunter sind Probleme wie diese auf unsere Weise leichter zu lösen.«

Der High Sideryt schwieg minutenlang. Weder Jylene Tapsin noch der Buhrlo brachen das Schweigen. Schließlich machte Hayes den Vorschlag, auf den sie gehofft hatten:

»Wollt ihr mit mir zusammenarbeiten? SENECA ist zwar absolut loyal, und mit sei-ner Hilfe kann ich die Lage einigermaßen kontrollieren, aber ich sehe vorerst keinen Ausweg, unser Dilemma zu beenden. Ledig-lich von dem Hypervakuum-Verzerrer auf der CHART DECCON erhoffen wir uns eine durchgreifende Veränderung der Situation.«

»Was sollen wir tun?« »Macht weiter wie bisher, aber geht keine

Risiken ein.« Im Verlauf der folgenden Unterhaltung

fand Breckcrown Hayes seine bisherigen Vermutungen durchaus bestätigt. Die At-lantreuen handelten zwar etwas fanatisch, doch hingebungsvoll und ohne Egoismus. Ihre Idee besagte, daß die SOL ohne Atlan verloren sei, und sie wollten alles daranset-

zen, daß der einmal eingeleitete Umschwung zum Positiven erhalten blieb und fortgeführt wurde.

Hayes wußte, daß er wirkliche Freunde ge-funden hatte.

Er führte Trunk und Jylene in die Haupt-zentrale, und als die beiden schließlich gin-gen, hatten sie das Gefühl, von ihm als gleichberechtigt anerkannt zu werden.

»Warum gibst du dich mit ihnen ab?« fuhr Gallatan Herts den High Sideryt unwirsch an.

»Weil wir auf Männer und Frauen wie sie dringend angewiesen sind.«

»Pah«, machte der Leiter der Hauptzentrale und gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen. »Eine Sekte mehr, die uns das Le-ben schwer macht. Du läßt dich vom Namen blenden, den sie sich gegeben haben. Die ›At-lantreuen‹ ... Ist das nicht jeder vernünftig denkende Mensch an Bord? Falls es so einen überhaupt noch gibt.«

»Bravo«, rief Curie van Herling. »Sag die-sem unverbesserlichen Optimisten, was er uns kann. Niemand tut etwas ohne Grund. Wahr-scheinlich wollen die Jugendlichen Macht. Oder sie sind im Begriff überzuschnappen wie manch anderer.«

»Du bist aggressiv, Curie – seit Tagen schon. Sollte der unbekannte Einfluß auch dich nicht verschont haben?«

»Quatsch. Du willst mich nur nicht anhö-ren.« Die Chefin des Funk- und Ortungsper-sonals vollführte eine ärgerliche Handbewe-gung.

»Und du, Gallatan ...« Um die Mundwinkel des High Sideryt begann es zu zucken. »... deine Skepsis entspricht doch nur der Trübsal, mit der du zu kämpfen hast. Manchmal glau-be ich, du bist nahe daran, zu resignieren.«

Als Hayes auf dem Absatz kehrtmachte und sich wieder in seine Klause begab, ließ er einige erstaunte Stabsspezialisten zurück.

Ein Gefühl der Einsamkeit stieg in ihm hoch. Spätestens jetzt war er überzeugt davon, zu wissen, was Atlan am Anfang seiner Odys-see empfunden haben mußte. Zum Glück konnte er sich noch auf Spezialisten wie Lyta Kunduran und Wajsto Kolsch verlassen.

»SENECA«, sagte er, »wie beurteilst du die Chancen für eine Rückkehr des Arkoniden?«

Das Ergebnis, zu dem die Biopositronik

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kam, war alles andere als ermutigend. Dem-nach erschien eine Rettung seitens der SOL oder der CHART DECCON so gut wie aus-sichtslos.

Breckcrown Hayes ahnte, was diese Daten in den falschen Händen verursachen konnten. Deshalb befahl er SENECA, sie vor jeglichem Zugriff zu sichern.

Der Gedanke, Atlan könne seit Wochen schon tot sein, verfolgte ihn sogar in seinen Träumen.

*

2. Februar 3805 Was lange befürchtet wurde, trifft nunmehr

ein. Auf einigen Decks der SZ-2 fließt vergif-tetes Wasser aus den Versorgungsleitungen. Aufgrund eines anonymen Hinweises besteht jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für Solaner und Extras. Trotzdem ist es nicht möglich, die Täter aufzuspüren oder heraus-zufinden, wie es ihnen gelungen ist, das Gift dem Wasser zuzusetzen. Von zehn gestohlenen Ampullen wurde höchstens eine verwendet.

Lange Stunden des Wartens und der inne-ren Anspannung vergehen, in denen vor allem der High Sideryt zu spüren bekommt, was Hilflosigkeit bedeutet. Fast empfindet er die öffentliche Aufforderung, die gesamte Schiffs-führung solle zurücktreten, als Erleichterung. Daß er der Erpressung nicht nachgeben wird, steht allerdings fest.

7.

»Ich hätte sie für gutmütige kleine Bären

gehalten«, sagte Hage Nockemann verblüfft. »Daß sie über ein derartiges Wissen verfügen, hätte ich nie geglaubt.«

Tyler hatte eben ganz beiläufig von den beiden großen Raumschiffen gesprochen und dabei zweifellos die SOL und die CHART DECCON gemeint. Es stellte sich heraus, daß die Ureinwohner des VIVARIUMS über die wahren Vorgänge auch außerhalb des Utopia-Systems außerordentlich gut informiert wa-ren.

»Wir konnten die Unsichtbaren mit unse-rem Gemeinschaftssinn überallhin verfolgen«,

sagte Tyler. »Dennoch haben wie nie eine Chance gegen sie gehabt.«

»Was meint er?« fragte Blödel. »Wahrscheinlich eine Art Kollektivbewußt-

sein auf telepathischer Ebene«, versuchte Fe-derspiel zu erklären. »Ich nehme an, daß jenes bewußtseinserweiternde Getränk dabei eine Rolle spielt, das uns vorgesetzt wurde.«

»Ihr seid anders als die Zeithüter«, sagte Tyler. »Von dir geht etwas aus, was unseren Sinn behindert.«

»Wieso habt ihr uns dann gerettet, wenn ihr nicht wissen konntet, ob wir Freund sind oder Feind? Die Nachstellungen der Unsichtbaren hätte eine Falle für euch sein können.«

»Wir spüren, daß die Zeithüter im Begriff waren, das VIVARIUM zu verlassen, und daß dies mit dem Schiff zusammenhing, in dem dein Ebenbild sich aufhält.« Wieder ein for-schender, nachdenklich auf Federspiel gerich-teter Blick.

»Du existierst doppelt zu ein und derselben Zeit«, stellte einer der Verwalter einer besse-ren Zeit ohne erkennbare Regung fest.

»Ich landete zweimal auf dem VIVARIUM und wurde beim zweitenmal in die Vergan-genheit verschlagen. Das ist alles.«

»Du bist also soviel wie der ältere Bruder deines anderen Ichs.«

Federspiel lachte bedrückt. »So kann man es einfach ausdrücken.« »Einfach und verständlich. Wir haben

durch die Unsichtbaren erfahren, wie unvor-stellbar vielschichtig das Phänomen Zeit ist.«

»Wir müssen zur SOL zurück«, sagte San-ny.

Tyler zuckte merklich zusammen. »Ihr werdet unter die Erde kommen. Das ist

ein Sprichwort und bedeutet ungefähr, daß ihr damit keinen Schritt weiterkommt. Ohne Hil-fe von außen wird es kaum gelingen, das Schiff zu befreien.«

»Was weißt du?« »Daß ihr erbitterte Gegner jenes Wesens

seid, das von euch Hidden-X genannt wird. Und daß die unsichtbaren Zeithüter dessen Helfer waren, jedoch nie zum Einsatz kamen und deshalb allmählich degenerierten.«

»Ich sehe da noch keinen Zusammenhang«, bemerkte Hage Nockemann.

»Der Planet Technokrat birgt die technische

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ATLAN 94 – Die Abenteuer der SOL

Anlage, um ein Zeittal aufzubauen, aus dem es kein Entkommen gibt. Unser ganzes Son-nensystem, einschließlich dem VIVARIUM und Technokrat, befindet sich innerhalb einer gespiegelten Sphäre zu dem Raum, in dem das Zeittal direkt wirkt. Hidden-X hat dieses erst kürzlich aktivieren lassen, um einer gro-ßen Gefahr zu entgehen. Euer Raumschiff wird darin festgehalten.«

»Ich kann mir beim besten Willen nichts unter einem Zeittal vorstellen«, gestand Fe-derspiel. »Was ist es, was bewirkt es?«

»Die Zeit steht in diesem Bereich still«, er-klärte Tyler. »Es ist als würde sie sich anstau-en. Keine Uhr funktioniert mehr.«

»Angestaute Zeit ... Bildlich stelle ich mir eine Art Staudamm vor, der den normalen Lauf hemmt. Aber irgendwann muß es zu einem Überlaufen kommen.«

»Du vergißt, daß es kein ›Irgendwann‹ mehr gibt«, behauptete Tyler.

»Die SOL und die CHART DECCON sind also in diesem Tal gefangen«, sagte Atlan. »Was geschieht, wenn man es abschaltet?«

»Die angestaute Zeit wird sich wie eine al-les vernichtende Flutwelle in die Senke ergie-ßen. Die Folge wäre ein undefinierbarer Stoß in die Zukunft, der um so unberechenbarer sein muß, je größer der Staudruck war. Aller-dings würde sich dann auch der Zeitablauf innerhalb des gespiegelten Raumes wieder normalisieren.«

»Wenn ich richtig verstanden habe, befin-den wir uns in dieser spiegelbildlichen Sphä-re«, sagte Hage Nockemann. »Was ist für uns hier anders?«

»Die Zeit läuft schneller ab als im Normal-universum. Wahrscheinlich bedingt durch eine Art Sogwirkung, die sich an den Rändern des Staus zwangsläufig ausbildet ...«

Gequält stöhnte Federspiel auf. »Hört auf damit«, ächzte er. »Ich kann das

Wort Zeit nicht mehr hören.« »Das heißt«, stellte Atlan fest, »daß, wäh-

rend für uns scheinbar nur Tage vergehen, die Besatzung der SOL wochen- oder gar mona-telang ohne jede Aussicht auf Hilfe ist. Nach allem, was auf Technokrat geschah, brauchen wir auf eine Abschaltung des Zeittals nicht zu hoffen.«

Tyler nickte bedrückt.

»Wüßten wir einen Ausweg, würden wir ihn euch zeigen.«

*

11. Februar Depressionen sind an der Tagesordnung.

Man ist dazu übergegangen, die Betroffenen mit Psychopharmaka zu behandeln. Viele weigern sich jedoch, Medikamente einzuneh-men – und die vermeintlich Gesunden haben keine Einsicht in die Notwendigkeit einer prophylaktischen Behandlung.

Viele Solaner weigern sich, ihre Quartiere zu verlassen. Banden haben sich gebildet und ziehen plündernd durch das Schiff.

SENECA stellt fest, daß nach jedem Höhe-punkt der Ereignisse eine Abflachung zu ver-zeichnen ist. Trotzdem wird es von Mal zu Mal schlimmer.

Und nicht nur Breckcrown Hayes hat auf diese Weise seine Sorgen. Die Atlantreuen müssen sich damit abfinden, daß immer mehr der in Hoffnungslosigkeit verfallenen Solaner gar keine Hilfe wollen.

*

Breckcrown Hayes wußte, daß er nur dank

SENECA, den Atlantreuen und den Stabsspe-zialisten die Lage einigermaßen im Griff hat-te. Dennoch wuchs seine Verzweiflung, und er zog sich öfter zu Beratungen mit der Bio-positronik in seine Klause zurück.

Manchmal wünschte er sich nichts anderes, als frei zu sein. Weshalb hatte Chart Deccon ausgerechnet ihn zu seinem Nachfolger als High Sideryt bestimmt?

»Du bist am Ende deiner Kräfte angelangt, Breckcrown«, sagte SENECA. »Wenigstens für einige Tage solltest du mehr an dich selbst denken.«

»Und was wird aus der SOL? Gerade jetzt brauchen die Solaner eine lenkende Hand.«

»Du kannst das Schicksal nicht aufhalten, höchstens das Ende hinauszögern.«

»Jeder Tag erhöht die Aussicht, daß Atlan zurückkehrt.«

»Die Chancen für eine Rettung werden immer geringer.«

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»Wieviel?« »Fünf Prozent, Breckcrown, nicht mehr.«

*

20. Februar. Roboter nehmen einen Extra fest, der sich

an den Wasserregeneratoren der SZ-1 zu schaffen macht. Bei ihm werden zwei Ampul-len gefunden, die zweifellos aus Lagerhalle B-16 stammen.

Der Extra schweigt auf alle Fragen, auch als Breckcrown Hayes ihn unter vier Augen verhört. Er macht einen äußerst verwirrten Eindruck. Und er hat jegliches Gefühl für die Zeit verloren.

In den folgenden Tagen werden wiederholt Solaner und Extras aufgegriffen, die wie Schlafwandler durch das Schiff taumeln. Kei-ner von ihnen kann sich erinnern, was vorge-fallen ist.

Die einzige plausibel klingende Erklärung ist die, daß der Stillstand der Zeit unvermute-te Spätfolgen zeigt.

*

Ein Stern fiel vom Himmel. Erst nur als winziges, fernes Glitzern er-

kennbar, kam er schnell näher. Kurz darauf ließ sich schon mit bloßem Auge erkennen, daß es sich um ein kugelförmiges Raumschiff handelte.

Die HORNISSE. »Ein eigenartiges Gefühl«, sagte Federspiel

zu dem neben ihm stehenden Atlan, »zu wis-sen, daß man sich selbst an Bord befindet.«

»Jeder Zeitreisende macht irgendwann die Erfahrung, die ihn meist für sein weiteres Le-ben prägt.«

Nachdenklich nickte Federspiel und blickte hinüber zu dem Kreuzer, der knapp fünf Ki-lometer entfernt zur Landung ansetzte.

»Am liebsten würde ich hingehen ...« Atlan hielt ihn am Arm zurück. »In zwei oder drei Stunden denkst du an-

ders. Wir dürfen kein Risiko eingehen.« Sie warteten. Blödel spielte mit dem Bak-

wer Wuschel, der einige Meter im Umkreis alle pflanzlichen Abfälle auffraß. Als das ku-

gelförmige pelzige Etwas sich allerdings an einem der Gebäude zu schaffen machen woll-te, griff Blödel ein. Der Roboter beförderte Wuschel in seinen Rumpf zurück.

Die Sonne wanderte dem Horizont entge-gen, als zwischen den meterhohen Blumen endlich der Arkonide ins Freie trat. Die ande-ren folgten ihm.

»Tatsächlich«, stöhnte Hage Nockemann, der seine Erregung kaum verbergen konnte.

Jeden Schritt wußten sie im voraus, jede Geste, die ihre Ebenbilder machten.

»Unfaßbar.« Der andere Federspiel blickte sich suchend

um. »Ich hatte das Gefühl, daß da etwas war,

aber ich konnte nicht erkennen, was.« »Jetzt weißt du es«, lächelte Atlan. »Ich hätte es nie für möglich gehalten.« Ihre Ebenbilder schickten sich an, die ers-

ten Gebäude der ehemaligen Tylersiedlung zu betreten.

»Was geschieht, wenn wir Blödel daran hindern, die fremden Maschinen zu berüh-ren?«

»Befaßt du dich ernsthaft mit dem Gedan-ken?« fragte Sanny.

Federspiel zuckte mit den Schultern. »Wir melden uns über Funk bei Bjo, sobald

der Sprung in die Vergangenheit erfolgt ist«, sagte Atlan. »Für uns hat sich insofern nichts geändert.«

»Faszinierend«, bemerkte Hage Nocke-mann. »Wenn ich daran denke, daß jeder von uns in dieser Sekunde vielleicht millionenfach existiert ...«

»Eines Tages wird die Menschheit lernen, Zeit und Raum wirklich zu begreifen«, nickte Atlan. »Allein das Geheimnis der Parallelwel-ten, die sich von der unseren nur durch Klei-nigkeiten unterscheiden, ist bis heute umstrit-ten. Und das, obwohl Perry Rhodan seinerzeit von Anti-ES ... Federspiel, bleib!«

Unbemerkt hatte der Telepath sich von ih-nen abgesondert. Als Atlan aufmerksam wur-de, verschwand er gerade in dem Gebäude, in dem sich nicht nur die Maschinen aus Nickel befanden, sondern auch der andere Arkonide, der andere Federspiel ...

Augenblicke später ertönte ein Aufschrei. »Sie sind fort, vor meinen Augen ver-

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schwunden, als hätten sie nie existiert.«

Zerknirscht verließ Federspiel das Gebäu-de, als von der HORNISSE ein Anruf kam. Bjo Breiskoll meldete sich.

»Was ist los bei euch? Wir haben starke Energieemissionen angemessen.«

»Nichts von Bedeutung.« »Soll ich euch einen Gleiter schicken?« Atlan warf einen prüfenden Blick zum Fir-

mament hinauf. Die Nacht brach schnell her-ein.

»Es ist wohl besser, du läßt uns abholen.« »Warum hast du ihm nicht gesagt, was vor-

gefallen ist?« »Damit er uns für verrückt erklärt? So et-

was läßt sich nicht mit wenigen Worten ab-tun.«

»Wir hätten darauf bestehen sollen, daß ei-nige Tyler uns begleiten.«

»Sie sind mit sich selbst beschäftigt. Vergiß nicht, welche Umstellung es für sie bedeutet, plötzlich wieder auf der Oberfläche ihres Pla-neten leben zu können.

Und außerdem will ich so schnell wie mög-lich einen Rückweg zur SOL finden. Allein der Gedanke, daß für uns die Zeit um ein Vielfaches schneller vergeht, läßt das Schlimmste befürchten.«

*

1. März Die sich zuspitzenden Ereignisse geben den

Atlantreuen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Und sie machen ihre Sache gut – zu gut vielleicht, denn es gibt So-laner, denen ihre Aktivitäten ein Dorn im Au-ge sind.

Schon jetzt zeichnet sich ab, daß es sehr bald zur offenen Konfrontation kommen muß. Immer öfter werden die Atlantreuen in Ausei-nandersetzungen verwickelt, und es hat den Anschein, als wären verschiedene Stabsspezi-alisten an dieser Entwicklung nicht ganz un-schuldig.

Die SOL verwandelt sich allmählich in ein Tollhaus.

*

Trunk B. Deuergal sah schlecht aus. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten einen glasigen Schimmer. Die Last der sich selbst auferleg-ten Verantwortung drückte schwer auf den Schultern des Neunzehnjährigen.

Er glaubte kaum mehr daran, daß sich alles zum Guten wenden würde. Und die Zweifel ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Nur bei seinen gelegentlichen kurzen Auf-enthalten im freien Weltraum, nach denen sein Körper immer häufiger verlangte, konnte er vorübergehend vergessen.

Das Gefühl der Freiheit wurde stärker als jemals zuvor. Wieder einmal glaubte Trunk, den Ruf der Unendlichkeit wahrzunehmen. Irgendwo dort draußen lag die Bestimmung der Menschheit – die Bestimmung allen intel-ligenten Lebens.

Langsam entfernte er sich von der SZ-1. Er spürte die schwachen Gravitationskräfte des Raumschiffs. Sie behinderten ihn nicht. Mit Hilfe seines Tornisteraggregats strebte er wei-ter hinaus.

Andere Buhrlos begleiteten ihn. Hier, nur wenige hundert Meter von der SOL entfernt, war noch genügend Licht; weiter draußen aber verschmolzen ihre Körper mit der Dun-kelheit.

Jemand hielt ihm die gefalteten Hände ent-gegen. Zurück in die SOL! bedeutete das.

Trunk zeigte seine Ablehnung. Da war etwas – er spürte es ganz deutlich.

Etwas, das von außen auf ihn zukam. Gefahr! Er wollte zwei Finger heben, um die ande-

ren zu warnen, als es ihn siedendheiß durch-fuhr. Das Schwerefeld der SOL erlosch von einem Augenblick zum anderen. Trunk ver-spürte eine jäh aufkommende Übelkeit, aus-gelöst von dem Gefühl, in einen endlosen Abgrund zu stürzen.

Erst weigerte er sich zu begreifen, daß die SOL verschwunden war. Doch wurde ihm allmählich klar, daß er allein war. Nirgendwo zeichnete sich der fahle Schimmer eines akti-vierten Tornisteraggregats ab.

Panik stieg in ihm auf. Die Furcht lähmte seine Gedanken. In eini-

gen Stunden würde die Kälte langsam in sei-nen Körper vordringen, würde seine Haut

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brüchig werden und dem Vakuum keinen Wi-derstand mehr entgegensetzen.

Er wollte nicht sterben! Mit zitternden Fingern erhöhte Trunk seine

Fluggeschwindigkeit. Er glaubte, den letzten Standort der SOL anzufliegen, doch sicher war er sich dessen keineswegs. Es gab keinen Anhaltspunkt, an dem er sich hätte orientieren können. Nur Leere war um ihn her.

Er wechselte den Kurs, als eine Warnanzei-ge das Ende des Treibstoffvorrats anzeigte. Er war hilflos. Vielleicht stand die SOL mittler-weile Tausende von Kilometern entfernt.

Die Einsamkeit wurde zur Qual. Stunden mochten vergangen sein ... er trieb

dahin, kleiner und unbedeutender als ein Staubkorn in den Wogen eines planetenum-spannenden Ozeans.

Die Einsamkeit peinigte ihn, trieb ihn an den Rand des beginnenden Wahnsinns. Vor seinen Augen tauchten Bilder und Szenen auf, die er nie gesehen hatte. Der beginnende Sau-erstoffmangel erzeugte Halluzinationen.

Würde der Tod rasch kommen? Trunk empfand keine Schmerzen, nur unsagbares Bedauern.

Jylene ...! Aber ihr Antlitz verschwamm, wich einer

riesigen Kugelhülle aus Energie, die durch eine Barriere in zwei gleich große Hälften getrennt war. Ehe er sich fragen konnte, wo-her er die Erkenntnis zog, es mit einem ener-getischen Gebilde zu tun zu haben, erkannte er die SOL und die CHART DECCON in der einen Halbkugel. In der anderen leuchtete eine kleine weiße Sonne, die sieben Planeten besaß.

Ohne sein Zutun raste Trunk diesem Sys-tem entgegen. Er fühlte seinen Körper nicht mehr, war nur Bewußtsein, das Hindernisse mühelos durchdrang.

Ein Raumschiff kreiste in der Nähe des siebten Planeten. Ein Kreuzer der SOL.

Es war die HORNISSE. Trunk durchdrang die Wände des Schiffes,

als wären sie nicht existent. Atlan, Bjo Breiskoll, Federspiel und die anderen, die gehofft hatten, Hidden-X eine erneute Schlap-pe zufügen zu können, befanden sich an Bord. Ihre Bewegungen waren zeitlupenhaft lang-sam. Sie sahen ihn nicht.

Irgend etwas, für das er keine Erklärung fand, drängte den Buhrlo weiter, zwang ihn, die HORNISSE wieder zu verlassen. Er blick-te auf die Trennfläche zwischen den Halbku-geln.

Da war ein heller, leuchtender Fleck, der seine Aufmerksamkeit weckte. Dieses Leuch-ten schien zu leben. Tatsächlich entpuppte es sich bei weiterer Annäherung als ein mehrere Kilometer großes, sich ständig verformendes Wesen aus purer Energie.

Dir liegt viel daran, daß Atlan zur SOL zu-rückkehrt? wisperte es in Trunks Gedanken.

Der Buhrlo nickte stumm. Zumindest hatte er das Gefühl, es zu tun. Das Energiewesen war ihm unheimlich.

Es ist der heimliche Hüter des Zeittals und muß ausgeschaltet werden.

Zweierlei geschah fast gleichzeitig: Zum einen tauchte unvermittelt die

SCHNECKE aus Oggars nicht mehr existie-rendem HORT auf und raste auf die leuchten-de Gestalt zu. Das Energiewesen versuchte vergeblich auszuweichen. Der Zusammenprall wurde von einer heftigen Explosion begleitet.

Zum anderen stand plötzlich die CHART DECCON an dieser Stelle und wandte sich gegen den siebten Planeten der kleinen wei-ßen Sonne, während die Grenze zwischen den Halbkugeln in Auflösung begriffen war.

Erste Strahlbahnen aus Impulsgeschützen rissen die Schwärze des Alls auf. Planetare Abwehrforts feuerten auf die CHART DEC-CON, deren Schirmfelder der Wucht des An-griffs sicher nicht sehr lange standhalten wür-den.

Endlich griff die SOL ein. Und immer deut-licher erwies sich der siebte Planet als waf-fenstarrende Festung. Ein gewaltiger Kampf entbrannte, dessen Ausgang allerdings von vornherein feststand.

Die SOL und die CHART DECCON ver-gingen im konzentrierten Feuer einer giganti-schen Kriegsmaschinerie.

8.

Trunk schrie gellend auf. Gepeinigt fuhr er hoch, spürte den sanften,

doch bestimmten Druck hilfreicher Hände, die ihn zurückhielten.

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Aus dem zarten Grün, das ihn umgab,

schälten sich erste Konturen heraus. Das helle Licht einer Atomlampe blendete; trotzdem konnte er erkennen, daß sich jemand über ihn beugte.

»Ich weiß nicht, ob er dich jetzt wahr-nimmt«, sagte eine fremde Stimme.

»Er hat die Augen geöffnet.« »Jylene ...« Es fiel ihm schwer, die Lippen

zu bewegen. »Was ... was ist ... geschehen?« stammelte er.

Jylene tupfte ihm den Schweiß von der Stirn.

»Du bist im Raum bewußtlos geworden. Es dauerte lange, bis die anderen darauf auf-merksam wurden. Nur eine Stunde länger, und niemand hätte dir mehr helfen können.«

Bewußtlos? Er erinnerte sich an so vieles, was ihn zutiefst aufwühlte. War das alles nur ein Alptraum gewesen?

»Wo ist die SOL?« brachte er mühsam her-vor.

»Sie hat ihren Standort nicht verändert.« »Sie ist vernichtet, Jylene. Ich habe es

selbst gesehen ... Du mußt mir glauben.« »Er phantasiert«, sagte die fremde Stimme.

»Das ist eine zwangsläufige Folge des Sauer-stoffmangels. Er braucht jetzt viel Schlaf.«

Trunk war zu schwach, um sich gegen die Injektion zu wehren. Kurz darauf fühlte er, wie ihn die Müdigkeit übermannte.

*

Zwei Tage später entließ man ihn aus der

Medostation. Obwohl er sich noch immer schwach fühlte, erwachte bereits neuer Taten-drang in ihm.

Auch wurde er die Bilder seiner Visionen nicht los. Wohin er ging, verfolgten sie ihn.

Waren sie mehr als Träume? Er hatte das Fremde nicht vergessen.

»Oggars SCHNECKE befindet sich tat-sächlich noch an Bord der SOL«, sagte Jyle-ne. »Wußtest du es nicht?«

»Zumindest kann ich mich nicht erinnern, davon gehört zu haben. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst. Was ich erlebt habe, war zu realistisch, um Einbildung zu sein. Die SOL wurde vernichtet, Jylene. Ich bin bereit, jeden Eid zu schwören.«

Ihm wurde schwarz vor Augen, und er mußte nach einem Halt suchen.

»Was ist mit dir, Trunk?« »Nichts«, wehrte er ab. »Es ist sicher gleich

vorüber.« Trunk, flüsterte es in ihm. Du weißt, was du

zu tun hast? Da war das Fremde wieder. Der Buhrlo

spürte es deutlicher. Und plötzlich wußte er, daß es die Wahrheit war.

Hayes soll so handeln, wie du es gesehen hast.

»Wer bist du?« Jylene zuckte zusammen, weil Trunk die

Frage unwillkürlich laut ausgesprochen hatte. Ich bin Oggar! »Bleib. Du mußt mir vieles erklären.« Aber die Stimme wurde leiser, als entferne

sie sich rasch. Ungläubig, beinahe zweifelnd, ruhte Jyle-

nes Blick auf dem Buhrlo. Immerhin war sie so verständnisvoll, jetzt nicht auf ihn einzure-den.

»Wir müssen zu Breck«, sagte er schließ-lich.

»Wieso?« »Ich habe nicht phantasiert, Jylene. Oggar

war es, der mir die Bilder zeigte. Du mußt mir glauben.«

Sie nickte zögernd. »Es mag unwahrscheinlich klingen, aber ir-

gendwie ergibt das Ganze tatsächlich einen Sinn. Nur eines darfst du nicht: Hayes gegen-über die Vernichtung der SOL erwähnen. Mich fröstelt, sobald ich daran denke.«

*

Gallatan Herts reagierte schroff und abwei-

send, als die beiden Atlantreuen in der Haupt-zentrale erschienen.

»Der High Sideryt will nicht gestört wer-den«, sagte er mißgelaunt. »Das gilt auch für euch.«

»Ich sagte bereits, daß es um das Schicksal der SOL geht«, stellte Trunk zum zweitenmal fest.

»Es geht nur noch um die SOL und die CHART DECCON.« Der Leiter der Haupt-zentrale wandte sich wieder einer Reihe von Instrumenten zu. »Verschwindet lieber und

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überlaßt die Arbeit denen, die genug davon verstehen.«

»Wir warten hier«, beharrte Jylene Tapsin. »Irgendwann wird Breckcrown für uns Zeit haben.«

»Habt ihr nicht gehört?« rief Curie van Herling aufgebracht. »In der Zentrale ist kein Platz für Kindereien.«

»Willst du uns hinauswerfen?« Wütend stemmte Trunk die Fäuste in die Hüften. »Versuch’s nur.«

»Ich?« erwiderte Curie spöttisch. »Die Ro-boter werden euch zum Schott geleiten ...«

Der Buhrlo wollte aufbegehren, doch Jyle-ne fiel ihm in den Arm.

»Nicht, Trunk«, flüsterte sie. »Dagegen kommen wir nicht an.«

»Du willst aufgeben?« fragte er überrascht und ungläubig zugleich.

Sie nickte. »Komm schon. Von denen haben wir ohne-

hin nichts zu erwarten.« Kaum hatte sich das Schott hinter ihnen ge-

schlossen, fuhr Deuergal seine Begleiterin scharf an.

»Bist du von allen guten Geistern verlas-sen? Du weißt genau, um was es geht.«

»Natürlich.« »Wohin willst du überhaupt?« Endlich

schien Trunk zu begreifen. Ein Aufleuchten huschte über sein Gesicht, als er erkannte, daß Jylene die Richtung eingeschlagen hatte, in der der zweite Zugang zu Hayes’ Klause lag.

Unvermutet kamen ihnen Kampfroboter entgegen. Ihre Haltung war unmißverständ-lich. Als Jylene ihre Schritte beschleunigte, ruckten die Waffenarme herum.

»Herts wird es nicht wagen, auf uns schie-ßen zu lassen.«

»Ich wäre da nicht so sicher«, meinte Trunk.

»Aber wir müssen zu Hayes.« »Hättest du in der Zentrale nicht so schnell

klein beigegeben.« »Soll das heißen, daß ich an allem schuld

bin?« Trunk seufzte und legte die Stirn in Falten.

»Das wollte ich damit nicht sagen.« »Was machen wir nun?« »Erst einmal weg von diesen Robotern.

Und dann ...« Trunk lächelte plötzlich wieder.

»Ursula Grown wird uns helfen. Sie steht noch immer auf Atlans Seite. Sonst hätten die verzweifelten Bemühungen, den Hypervaku-um-Verzerrer instand zu setzen, längst aufge-hört.«

*

Es war nicht leicht, eine Plattform mit Im-

pulsantrieb zu ergattern. Meist wurden die raumtüchtigen Fahrzeuge von mehreren Buhr-los zusammen benutzt. Trunk B. Deuergal aber wollte sein Vorhaben allein ausführen.

Als er die SOL verließ, war von der CHART DECCON mit bloßem Auge noch nichts zu sehen. Trunk mußte damit rechnen, daß Gallatan Herts ihn überwachen ließ.

Anfangs hielt er sich in der Nähe der SZ-1, umrundete das Schiff mehrmals von Pol zu Pol, wobei er sich langsam entfernte. Schließ-lich beschleunigte er in Richtung auf die CHART DECCON. Er spürte die leichte Gra-vitation, die von seinem Ziel ausging.

Immer wieder hielt er Ausschau nach even-tuellen Verfolgern. Doch schien man sein Verschwinden auf der SOL nicht bemerkt zu haben.

Als er endlich die Lichter der CHART DECCON gewahrte, mochten mehrere Stun-den vergangen sein. Er lenkte die Plattform in einen der zerstörten Hangars.

In der Schleusenkammer, die er schließlich betrat, gab es einen Interkomanschluß. Trunk stellte eine Verbindung zur Zentrale her. Smash Oligs meldete sich.

»Ich muß mit der Kommandantin reden«, eröffnete Trunk. »Es geht um das Schicksal der HORNISSE.«

»Du wurdest uns von der SOL nicht avi-siert«, erwiderte sein Gesprächspartner, ohne auf das Gesagte einzugehen.

Der Buhrlo beschloß, bei der Wahrheit zu bleiben. Er erwähnte Oggar und daß es ihm nicht gelungen war, zum High Sideryt vorzu-dringen. Vorübergehend verdunkelte sich der Bildschirm, dann stand eine neue Verbindung. Ursula Grown schien sich in ihrer Kabine zu befinden. Sie wirkte, als sei sie eben erst aus tiefem Schlaf geweckt worden.

»Wir haben von dir und deinen Freunden gehört«, sagte sie. »Es tut gut zu wissen, daß

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es noch Idealisten gibt. Smash erwähnte, daß du den Standort der HORNISSE kennst.«

Der Buhrlo nickte eifrig. Er wiederholte seinen Bericht.

»Wir treffen uns in der Zentrale«, unter-brach die Stabsspezialistin nach einer Weile. »Ich lasse dich von einem meiner Leute abho-len. Wenn das stimmt, was du sagst, werden wir so bald wie möglich losschlagen.«

*

In spätestens zwei Tagen würde der Verzer-

rer hinreichend betriebsbereit sein. Trunk B. Deuergal atmete erleichtert auf, als Ursula Grown ihm diese Neuigkeit verriet.

»Du bist der erste, der es erfährt«, ließ sie ihn wissen. »Bei uns herrschen noch einiger-maßen normale Verhältnisse, und wir betrach-ten die Entwicklung der SOL mit Sorge. Viel-leicht kommt uns eine noch unbekannte Ne-benwirkung des Verzerrers zugute, vielleicht haben wir dies aber einfach der Tatsache zu verdanken, daß wir relativ wenige Besat-zungsmitglieder sind. Wenn wir wollen, kön-nen wir uns tagelang aus dem Weg gehen.«

Es gab nicht viel zu besprechen. »Wir haben kaum etwas zu verlieren«, sag-

te Ursula Grown abschließend. »Entweder erweisen deine Visionen sich als zutreffend, dann werden wir Atlan und die anderen he-raushauen, oder du hast dich getäuscht, dann bleibt alles beim alten. Auf jeden Fall ist es besser, als tatenlos abzuwarten. Ich finde, daß wir schon viel zu lange warten mußten.«

Sie stellte eine Hyperfunkverbindung zur SOL her und landete, wie kaum anders zu erwarten gewesen, bei Gallatan Herts.

»Gib mir den High Sideryt, Gal.« »Was willst du von ihm?« »Mit ihm sprechen, was sonst?« Herts grinste plötzlich. »Gibt es Probleme auf der DECCON?« »Wenn du es schon weißt ...« »Na gut. Du kannst dein Gespräch haben.

Meiner Meinung nach hätten wir den Verzer-rer längst zerstören sollen.«

Augenblicke später meldete sich Breckc-rown Hayes. Er war sichtlich überrascht, Deuergal neben Ursula Grown zu sehen. Die Kommandantin ließ ihn gar nicht erst zu Wort

kommen. »Trunk ist hier, weil er vergeblich versucht

hat, dich zu erreichen. Kann jemand mithö-ren?«

»Nein«, machte Hayes überrascht. »Wer sollte ...?«

»Weißt du nicht, was auf der SOL vorgeht? Nach allem, was ich gehört habe, hat es mitt-lerweile auch Gal und Curie erwischt.«

»Rufst du mich an, nur um mir das zu sa-gen?«

»Wir benötigen deine Hilfe, Breck, und die Feuerkraft der SOL. Aber am besten erzählt Trunk selbst, was vorgefallen ist.«

Mir kurzen, abgehackten Worten berichtete der Buhrlo. Mehrmals legte er Pausen ein, um festzustellen, welche Wirkung das Gesagte auf den High Sideryt hatte. Hayes zeigte sich erst skeptisch, reagierte aber doch aufge-schlossen.

»Es wird neue Unruhen geben«, meinte er. »Viele wünschen sich schon jetzt die alten Verhältnisse zurück.«

Ursula Grown winkte ab. »Sie wollen vollendete Tatsachen. Du hast

die Möglichkeit, alle Vorbereitungen im Ge-heimen zu treffen, und du wirst wissen, auf wen von uns du dich noch verlassen kannst.«

Breckcrown Hayes nickte. »Ich werde mit SENECA alles in die Wege

leiten«, sagte er. Trunk B. Deuergal war nicht recht wohl

dabei. Immerhin hatte er verschwiegen, wie das Ende des Kampfes gegen den waffenstar-renden Planeten ausgegangen war. Aber er vertraute Oggar. Und er sah das Bild der bei-den zerstörten Großraumschiffe nur als War-nung.

9.

Trunk war zur SOL zurückgekehrt, um den

High Sideryt zu unterstützen. Der 10. März sollte die Entscheidung bringen.

Mit Gallatan Herts hatte es eine deutliche Meinungsverschiedenheit gegeben. Seither würdigte der Leiter der Hauptzentrale die bei-den Atlantreuen nicht mehr eines einzigen Blicks, gestattete ihnen aber sozusagen still-schweigend, sich in der Hauptzentrale aufzu-halten. Weder er noch Curie van Herling wuß-

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ten, was wirklich geplant wurde. Allerdings konnte ihnen nicht verborgen bleiben, daß es um die SCHNECKE ging.

Wiederholt kam die Frage nach einem ver-borgenen Angriffsziel. Denn Oggars Beiboot war mit Robotern bemannt und so mit Energie überladen worden, daß eine einzige Fehlschal-tung genügt hätte, die halbe SOL zu zerstören.

Endlich kam das vereinbarte Signal von der CHART DECCON. Jeder der Beteiligten fie-berte dem Augenblick entgegen, in dem der Hypervakuum-Verzerrer wieder in Betrieb genommen wurde.

Auf den Bildschirmen der Hyperortung schien der Raum aufzureißen. Inmitten der Schwärze entstand etwas, das man nur als Loch bezeichnen konnte – ein Nichts in der endlosen Leere des Weltalls. Erst nur wenige hundert Meter durchmessend, wurde es rasch größer. Dennoch gewann es nicht an Stabili-tät; seine Ränder wirkten faserig und zeigten flackernde Lichterscheinungen.

»Da ist es!« rief Trunk freudig erregt aus und deutete auf die optische Wiedergabe. »Das Energiewesen, von dem ich euch berich-tet habe.«

Noch während er hinsah, verblaßte die Er-scheinung wieder. Die Ränder des Loches wirkten nun wie feurige Lohen.

»Der Verzerrer arbeitet unregelmäßig«, stellte Hayes in der ihm eigenen Wortkargheit fest.

»Wo ist die SCHNECKE?« wollte Deuer-gal wissen.

»Entfernung zum Durchgangspunkt noch eine Lichtsekunde«, meldete SENECA. »Ü-bertritt erfolgt in zwanzig Sekunden.«

»Das wird knapp«, stöhnte Jylene. »Hof-fentlich hält der Verzerrer durch.«

Die CHART DECCON geriet in den Be-reich äußerer Entladungsfronten. In ihren Schutzschirmen tobten wahre Energiegewit-ter.

Noch fünf Sekunden ... »Sie muß es schaffen. Sie muß einfach.«

Krampfhaft hielt Trunk die Fäuste geballt. Auf dem Ortungsschirm wanderte ein win-

ziger Lichtpunkt auf einen weitaus größeren zu. In dem Moment, in dem sie sich vereinten, verschwanden beide von der Scheibe. Eine blendende Lichtflut brach über die SOL her-

ein. »Ortung!« meldete SENECA. »Vor uns

liegt ein Sonnensystem mit sieben Planeten.« »Curie«, befahl Hayes, »versuche, mit der

HORNISSE Verbindung aufzunehmen. Atlan muß in der Nähe sein.«

Jetzt, nachdem die SCHNECKE vernichtet war und mit ihr das fremdartige Energiegebil-de, schien sich das Loch im Raum zu stabili-sieren. Die SOL beschleunigte.

Plötzlich ertönte eine Stimme aus den Laut-sprechern, die jeder kannte. Es war Atlan. Jubel brach aus, wie man ihn lange nicht mehr erlebt hatte. Jylene Tapsin und Trunk B. Deu-ergal lagen einander in den Armen, und sogar Curie van Herling und Gallatan Herts klatsch-ten lautstark Beifall. Nur der High Sideryt ließ sich davon nicht anstecken.

»Bleibt, wo ihr seid«, sagte Atlan. »Uster wird euch anfliegen.«

»Wo habt ihr so lange gesteckt?« wollte Hayes wissen.

»In der Nähe von Technokrat«, antwortete der Arkonide. »Wir versuchten, einen Aus-weg aus dem Zeittal zu finden.«

Ehe Breckcrown Hayes fragen konnte, was um alles in der Welt Technokrat sei, brach das Unheil über die HORNISSE herein. Es kam, wie Trunk »vorausgesehen« hatte. Der siebte Planet des Sonnensystems verwandelte sich in eine feuerspeiende Festung, von der aus glei-ßende Strahlbahnen nach dem Kreuzer grif-fen.

Uster Bricks Reaktion, die HORNISSE mit höchsten Beschleunigungswerten aus dem Gefahrenbereich zu manövrieren, kam zu spät. Ein Großteil der Triebwerksenergie wurde von den flackernden Schutzschirmen aufgezehrt.

Nicht nur der Kreuzer, sondern auch die CHART DECCON erwiderten das Feuer. Die SOL stand zu weit entfernt, um wirkungsvoll eingreifen zu können.

»Wie lange bis zum Erreichen der An-griffsdistanz?« fragte Hayes.

»Rechnerisch drei Minuten«, antwortete SENECA.

Eine kleine Ewigkeit schien es zu werden. Die CHART DECCON schob sich zwi-

schen die HORNISSE und den Planeten. »Sie versucht, Atlans Rückzug zu decken«,

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stellte Curie van Herling nervös fest. »Das kann nicht gutgehen.«

Kurz darauf wurde die CHART DECCON getroffen. Flackernd brachen ihre Schutz-schirme zusammen. Weitere Strahlbahnen rissen den Rumpf des Schiffes auf. Die Platt-form war endgültig verloren.

»Transmitteraktivierung«, meldete SENE-CA. »Der Sendeimpuls kommt von der DEC-CON.«

»Gut«, nickte der High Sideryt. »Bestätige, wenn die Mannschaft vollzählig an Bord ist.« Er wandte sich an Trunk. »Davon hast du nichts vorausgesehen, oder?«

Um die Mundwinkel des Buhrlos zuckte es. Aber er schwieg.

»Funkspruch an Atlan!« Die Sendung war zwar von Störungen über-

lagert, aber immerhin einigermaßen verständ-lich.

»... von Technokrat aus wird das Zeittal er-zeugt ... eine Waffe von Hidden-X. Der Planet ist unbewohnt ... nur Roboter ...«

Der Rest verging im aufbrandenden Lärm, als die SOL massiert unter Feuer genommen wurde. Gallatan Herts antwortete mit mehre-ren Breitseiten. Die Einschläge auf dem Pla-neten waren deutlich auszumachen, trotzdem war ihre Wirkung gleich Null.

»Belastung des HÜ-Schirms fünfundacht-zig Prozent.«

Der Angriff wurde heftiger, ließ die Au-ßenhülle der SOL erdröhnen, als sei eine gi-gantische Glocke angeschlagen worden. Zweifellos kam es in diesen Augenblicken zu Schäden an der Peripherie.

Atlan meldete sich wieder. »... Aussicht auf Erfolg. Deshalb unbedingt

Transformbomben einsetzen. Ich wiederhole: unbedingt ...«

»Aus«, sagte Curie betreten. Breckcrown Hayes gab seine Befehle. Die

Impulsgeschütze und Desintegratoren der SOL schwiegen fast schlagartig. Dann schlug Perry Rhodans altes Fernraumschiff so hart zu wie nie zuvor in seiner Geschichte.

»Das Wrack der CHART DECCON wurde vollständig evakuiert«, kam SENECAS Mit-teilung. »Es hat keine Verluste gegeben, aber die Plattform wurde vollständig zerstört.«

Die Planetenkruste von Technokrat zer-

barst. Glutflüssiges Magma bahnte sich aus der Tiefe herauf einen Weg an die Oberfläche. Die Verwüstung war vollkommen. Und noch immer strahlten die meisten der insgesamt 160 Transformzwillingskanonen Bomben im Gigatonnenbereich ab.

»Die HORNISSE befindet sich in Reich-weite unserer Traktorstrahlen.«

»Einholen!« befahl Hayes. Zum Glutball geworden, brach Technokrat

auseinander. Ein Dutzend neuer Sonnen schien in der ewigen Schwärze aufzuflam-men.

Zugleich verschwand die Umgebung. Keine Spur mehr von der kleinen weißen Sonne und ihren Planeten.

»Die Uhren! Seht!« Die Digitalanzeigen gerieten wieder in Be-

wegung. Immer schneller veränderten sie sich, bis niemand mehr ihnen mit den Augen zu folgen vermochte.

Das Gefühl, in einen endlosen Abgrund zu stürzen, wurde unwiderstehlich. Alles um die SOL her schien in rasender, wirbelnder Be-wegung begriffen.

*

Am 1. September 3807 um 14.00.37 Bord-

zeit normalisierten sich die Verhältnisse. Die Uhren funktionierten wieder und zeigten ein-heitlich dieselbe Zeit an.

Nur zögernd setzte sich unter den Solanern die Erkenntnis durch, daß man dieser Falle glücklich entronnen war. Wo man eben noch lautstark Breckcrown Hayes’ Absetzung ge-fordert hatte, kam es nun zu spontanen Sym-pathiekundgebungen. Nicht nur in der Haupt-zentrale wurden Atlan und seine Begleiter freudig empfangen.

»Befinden wir uns in der Zukunft?« fragte der High Sideryt zögernd.

Der Arkonide schüttelte den Kopf. »Wie wir auf dem VIVARIUM, unterlag

auch die SOL einem anderen Zeitablauf. Auf-grund des Uhrenphänomens kann man durch-aus von einem Stillstand sprechen. Die Zeit wurde sozusagen angestaut, und die Vernich-tung von Technokrat löste den Staudruck, wodurch wir wie auf einer Flutwelle vorwärts geschleudert wurden. Nach allem, was wir

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ATLAN 94 – Die Abenteuer der SOL

von den Tylern erfahren konnten, mußte ich mit diesem Effekt rechnen. Aber es gab kei-nen anderen Weg.«

»Was wurde aus Hidden-X?« »Unser Gegner ist vor nunmehr zweiein-

halb Jahren geflohen. Niemand kann wissen, welche Vorbereitungen er inzwischen getrof-fen hat.«

Aus allen Abteilungen des Schiffes trafen Meldungen ein, daß die Lage sich allmählich beruhigte. Jede Verzweiflung schien wie weggeblasen.

Ein Solaner meldete sich über Interkom und verlangte, den High Sideryt zu sprechen. Er hielt Hayes seine Hände entgegen. Als er sie öffnete, lagen sechs gläserne Ampullen darin.

»Ich weiß nicht«, sagte er, »wie ich an die-ses Zeug komme. Aber ich fürchte, eine Dummheit begangen zu haben.«

»Wo bist du?« Breckcrown Hayes reagier-te, ohne zu zögern.

»SZ-1. Hydroponisches Deck, Sektion 8.« Zehn Minuten später stand der Mann dem

High Sideryt gegenüber. Er machte einen ü-beraus zerknirschten Eindruck.

»Erpressung mit dem Ziel, die Schiffsfüh-rung zu stürzen«, murmelte Gallatan Herts. »Was hast du dir dabei gedacht, Tausende von Solanern und Extras in Lebensgefahr zu bringen?«

»Ich verstehe nicht.« »Wie ist es dir gelungen, das Gift dem

Wasser beizufügen?« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.

Schließlich gebe ich die Ampullen doch zu-rück.«

»Nachdem du wahrscheinlich den Inhalt von zweien ins Versorgungsnetz eingebracht und zwei weitere einem Extra überlassen hast.«

»Ich kann mich nicht erinnern.« »Er weiß es wirklich nicht«, bestätigte Bjo

Breiskoll. »In seinen Erinnerungen klafft eine große Lücke. Gal und Curie, bei euch beiden verhält es sich ähnlich. Ich vermute eine Art Selbstschutz des Gehirns, ausgelöst durch den Stillstand der Zeit. Was ich bisher über die Vorgänge an Bord gehört habe, bestätigt dies.«

»Werde ich bestraft?« fragte der Mann be-

unruhigt. »Nein, ich glaube nicht. Niemand scheint

für sein Handeln wirklich verantwortlich zu sein.« Breckcrown Hayes sah die Umstehen-den der Reihe nach an. »Eine äußere Beein-flussung muß als gegeben angenommen wer-den.«

»Warten wir ab, was die kommenden Tage bringen«, meinte Trunk B. Deuergal.

»Hyperfunkspruch!« gab Curie van Herling bekannt.

Es war ein Anruf von Oggar, der großes Er-staunen hervorrief.

»Endlich. Seit Jahren versuche ich fast pau-senlos, die SOL zu erreichen. Es hat lange gedauert, bis die Zeit euch eingeholt hat. Aber noch ist nichts verloren.«

»Wir haben dir unsere Rettung zu verdan-ken«, nickte der High Sideryt.

»Es war mir leider unmöglich, direkt ein-zugreifen«, erwiderte Oggar. »Aber der Hin-weis über das gefühlsmäßig verwandte Be-wußtsein von Trunk hat ja wohl geklappt. Viel ist inzwischen geschehen. Ich bin nach Vasterstat zurückgekehrt und zu einem Seher geworden, der Raum und Zeit körperlos durchstreifen kann. Dabei habe ich das Flek-to-Yn entdeckt. Vermutlich befindet es sich in der Dimension, die du, Atlan, das Sternenuni-versum genannt hast. Und Hidden-X ist mit Sicherheit auch dort. Und als ich dir das be-richten wollte, entdeckte ich euch alle, die SOL und den Hypervakuum-Verzerrer als Gefangene des Zeittals. Ich erwarte euch in Pers-Mohandot.«

Er überspielte einen Satz Zielkoordinaten. Breckcrown Hayes warf Atlan einen Blick

zu und traf dann eine Entscheidung über den weiteren Kurs der SOL. Das Ziel hieß Pers-Mohandot.

Dort könnte man versuchen, den Hinweisen Oggars auf der Spur nach Hidden-X zu fol-gen. Notfalls, so dachte der High Sideryt, würde man auch noch einmal in das ungastli-che Sternenuniversum vordringen.

Noch war der Kampf nicht entschieden, und ihm ausweichen, das wollte nun auch niemand.

ENDE

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ATLAN 94 – Die Abenteuer der SOL

Weiter geht es in Band 95 der Abenteuer der SOL mit:

Das Tor zum anderen Universum von Falk-Ingo Klee

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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