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Matthias Meyer Die aventiurehafte Dietrichepik als Zyklus 1. In der deutschen Literaturgeschichte ist - ohne daB der Begriff regelmäBig Verwendung fände - die Vorstellung von Zyklenbildung ge rade als Spezifikum der Literatur des 13. lahrhunderts kurrent. Geprägt wurde sie nicht zuletzt durch Hugo Kuhn, der die Bildung von summas als ein typisches Erkennungs- merkmal des 13. lahrhunderts bezeichnet. 1 Dies gilt bei Kuhn ausdrücklich für alle Bereiche der Literatur, also auch für Fachliteratur. Andererseits ist im Ver- gleich mit der an Zyklusbildung reichen anglo-normannischen Literatur auffäl- lig, daB im engeren literarischen Bereich in der deutschen Literatur Zyklusbil- dung zunächst keine groBe Rolle zu spielen scheint. 2 Immerhin lassen sich in beiden groBepischen Erzählbereichen, der Heldenepik und dem Artusroman, Erscheinungen finden, die man über den Begriff der summa hinaus durchaus sinnvoll mit der Erscheinung der Zyklenbildung in Zusammenhang bringen kann. Das macht vielleicht schon ein Blick auf den Titel des umfänglichsten deutschen versifizierten Artusromans des 13. lahrhunderts, Heinrichs von dem Türlin Diu Cróne,3 deutlich, wo die Funktion des Téxtes, "aller aventiure cröne"4 (also eine summa) zu liefern, mit dem Bild der Krone ausgedrückt wird, die ein in sich geschlossenes, eben kreisförmiges, zyklisches Gebilde ist. 2. Auf der Amsterdamer Konferenz wurden eine Reihe von Merkmalen fest- gehalten, die man im Rahmen der Zyklusbildung in mittelalterlicher Literatur immer wieder vorfindet. Povl Skärup hat als typisch für nordische Zyklenbil- dung den kodikologischen Zusammenhalt der verschiedenen Texte, die Identität der Hauptfiguren und inter- und intratextuelle Zyklussignale wie chronologische Hinweise und genealogische Prinzipien genannt. JaDe Taylor unterschied sequentielle und organische Zyklenbildung, letztere dem organologischen I Hugo Kuhn, 'Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur' (Akademievortrag), in Kuhn, Entwü/fe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters (Tübingen: Niemeyer, 1980), S. 1-18; ders. : 'Aspekt des 13 . Jahrhunderts', in Entwürfe, S. 19-56. 2 Es gibt - neben der letztlich unselbständigen Erscheinung des mittelhochdeutschen Prosa-Lan- celots - nur den Karlmeinet-Zyklus; cf. die Beiträge von Hartmut Beekers und Gertrud Zandt in diesem Band. 3 Heinrich von dem Türlin, Diu Cróne, Hrsg. Gottlob Heinrich Friedrich SchoB, Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 27 (Stuttgart, 1852; Reprint Amsterdam: Rodopi, 1966). 4 So die Formulierung in der Würdigung Heinriehs durch Rudolf von Ems in seinem Alexander; cf. Rudolf von Ems, Alexander. Ein höfischer Versroman des 13 . Jahrhunderts, Hrsg. Victor Junk, Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 272 (Leipzig: Hiersemann, 1928), Bd. I, v. 3219- 27 , Zitat v. 3219. 158 Die aventiurehafte Dietrichepik als Zyklus

Die aventiurehafte Dietrichepik als ZyklusEckenliedes', in Heldensage-Heldenlied-Heldenepos, Ergebnisse der IJ. Jahrestagung der Reineke Gesellschaft, Gotha 16-20. Mai 1991 , Wodan,

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Matthias Meyer

Die aventiurehafte Dietrichepik als Zyklus

1. In der deutschen Literaturgeschichte ist - ohne daB der Begriff regelmäBig Verwendung fände - die Vorstellung von Zyklenbildung ge rade als Spezifikum der Literatur des 13. lahrhunderts kurrent. Geprägt wurde sie nicht zuletzt durch Hugo Kuhn, der die Bildung von summas als ein typisches Erkennungs­merkmal des 13. lahrhunderts bezeichnet. 1 Dies gilt bei Kuhn ausdrücklich für alle Bereiche der Literatur, also auch für Fachliteratur. Andererseits ist im Ver­gleich mit der an Zyklusbildung reichen anglo-normannischen Literatur auffäl­lig, daB im engeren literarischen Bereich in der deutschen Literatur Zyklusbil­dung zunächst keine groBe Rolle zu spielen scheint. 2 Immerhin lassen sich in beiden groBepischen Erzählbereichen, der Heldenepik und dem Artusroman, Erscheinungen finden, die man über den Begriff der summa hinaus durchaus sinnvoll mit der Erscheinung der Zyklenbildung in Zusammenhang bringen kann. Das macht vielleicht schon ein Blick auf den Titel des umfänglichsten deutschen versifizierten Artusromans des 13. lahrhunderts, Heinrichs von dem Türlin Diu Cróne,3 deutlich, wo die Funktion des Téxtes, "aller aventiure cröne"4 (also eine summa) zu liefern, mit dem Bild der Krone ausgedrückt wird, die ein in sich geschlossenes, eben kreisförmiges, zyklisches Gebilde ist.

2. Auf der Amsterdamer Konferenz wurden eine Reihe von Merkmalen fest­gehalten, die man im Rahmen der Zyklusbildung in mittelalterlicher Literatur immer wieder vorfindet. Povl Skärup hat als typisch für nordische Zyklenbil­dung den kodikologischen Zusammenhalt der verschiedenen Texte, die Identität der Hauptfiguren und inter- und intratextuelle Zyklussignale wie chronologische Hinweise und genealogische Prinzipien genannt. JaDe Taylor unterschied sequentielle und organische Zyklenbildung, letztere dem organologischen

I Hugo Kuhn, ' Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur' (Akademievortrag), in Kuhn, Entwü/fe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters (Tübingen: Niemeyer, 1980), S. 1-18; ders. : 'Aspekt des 13 . Jahrhunderts', in Entwürfe, S. 19-56. 2 Es gibt - neben der letztlich unselbständigen Erscheinung des mittelhochdeutschen Prosa-Lan­celots - nur den Karlmeinet-Zyklus ; cf. die Beiträge von Hartmut Beekers und Gertrud Zandt in diesem Band. 3 Heinrich von dem Türlin, Diu Cróne, Hrsg. Gottlob Heinrich Friedrich SchoB, Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 27 (Stuttgart, 1852; Reprint Amsterdam: Rodopi, 1966). 4 So die Formulierung in der Würdigung Heinriehs durch Rudolf von Ems in seinem Alexander; cf. Rudolf von Ems, Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, Hrsg. Victor Junk, Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 272 (Leipzig: Hiersemann, 1928), Bd. I , v. 3219-27, Zitat v. 3219.

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Schema von "rise and fall" verbunden; die literarische Entwicklung vom 13. zum 14. Jahrhundert beschrieb sie als Entwicklung "from accident to order", die mit einer Verlagerung von sequentieller hin zu organischer Zyklizität einher­geht. Wenn auch festzuhalten ist, daB der deutschen Literaturgeschichte diese Eindeutigkeit fehlt, so soll im folgenden doch der Versuch gemacht werden, die aventiurehaften Dietrichepen unter dem Aspekt der Zyklizität zu betrachten, da sich so bestimmte Eigenheiten der Überlieferungsgeschichte sinnvoll beschrei ben lassen.

3. Im ganzen Bereich der Heldenepik trifft man - bei den sogenannten SproB­dichtungen - auf Ausweitungen älterer Erzählkerne. Die Anknüpfung wird meist durch Personenidentität oder durch genealogische Anknüpfungen in alle zeitlichen Richtungen geleistet: verwiesen sei auf die Kudrun 5 (der Ausbau der Handlung auf drei Generationen bei weitgehender Identität der narrativen Sche­mata), den Wolfdietrich-Stoff (die unterschiedlichen Ausprägungen der Hugdiet­rich-Episoden und die Angliederung des Ortnit sind genealogische Erweiterun­gen6

); selbst den Zusammenhang von Nibelungenlied7 und (im Mittelalter als fester Bestandteil dazugehörig) Klage 8 kann man unter dem Aspekt der Personen­identität fassen.

3.1 Die Zyklenbildung im Bereich der historischen Dietrichepik ist gekenn­zeichnet durch die Wiederholung des als Kern anzunehmenden Motivs vom ver­geblichen Sieg Dietrichs und der so erreichten Perrnanenz des Exils unter widri­gen Umständen - eine Rolle, die nicht zuletzt durch die frühe mittelhochdeut­sche schriftliche Ausprägung im Nibelungenlied festgeschrieben sein dürfte. Die­ses iterative Prinzip ähnelt der Ausbreitung eines Motivs über mehrere Genera­tionen in der Kudrun, bleibt aber naturgemäB auf Dietrich beschränkt. Der ite­rative Charakter des Erzählens und die Zentrierung auf das eine wiederholte Hauptereignis sprechen mei nes Erachtens gegen eine Interpretation der histori­schen Dietrichepik als Text, der bereits dem roman haften Erzählen zuzuordnen ist. 9 Andererseits ist auch hier bereits eine Interpretation unter Hinweis auf Romanstrukturen möglich, lo was die Ambivalenz dieses biographisch fixierten Verfahrens der amplificatio unterstreicht.

4. Nimmt man die aventiurehafte Dietrichepik ins Visier, so sind zwei Aspekte zu unterscheiden: eigentlich zyklische Erscheinungen innerhalb der Gat­tung und die Einordnung der Gattung selbst.

5 Kudrun, Hrsg. Karl Bartsch, 5. Aufl . überarbeitet und neu eingeleitet von Karl Stackmann, Deutsche Klassiker des Mittelalters (Wiesbaden: Brockhaus, 1965). 6 Orrnir und die Wolfdietriche, nach Müllenhoffs Vorarbeiten hrsg. v. Arthur Amelung und O. Jänicke, Deutsches Heldenbuch III (Dublin/Zürich: Weidmann, 1968, werst 1866). 7 Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. v. Helmut de Boor, 20. Auflage, Deutsche Klassiker des Mittelalters (Wiesbaden: Brockhaus, 1972). 8 Der Nibelunge Noth und Die Klage, Hrsg. Karl Lachmann, 6. Auflage (Berlin: De Gruyter, 1960). 9 Ähnlich, mit weiteren (guten) Gründen: Ulrich Wyss, ' Fiktionalität - heldenepisch und arthu­risch' , in F. Wolfzettel und V. Mertens, Hrsg., Fiktionalität im Arrusroman (Tübingen: Niemeyer, 1993), S. 242-56, hier S. 254. 10 Walter Haug, ' Hyperbolik und Zeremonialität' , in Haug, Strukturen als Schlüssel zur Welt (Tübingen: Niemeyer, 1989), S. 314-76.

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4.1 Innerhalb der aventiurehaften Dietrichepik gibt es einen Fall von rudi­mentärer Zyklusbildung: Sigenot ll und Eckenlied l2 kann man als Zyklus en miniature urn Dietrichs Ausrüstung bezeichnen. Der enge Zusammenhang der Texte ist unbestreitbar, wie auch die Überlieferungsgemeinschaft belegt; der Sigenot kann als vom Eckenlied abhängige SproBdichtung klassifiziert werden. Bemerkenswert ist an diesem Fall, daB die Personalidentität sekundär ist, weil im (motivischen) Zentrum der Texte jeweils die Ausrüstungsgegenstände der Protagonisten stehen und weil deren vorbestimmter Weg die anderen Parameter der Texte prägt. Figurenkonstanz ist nur im ätiologischen Telos der gesamten Textgruppe gegeben - Dietrich und dessen Rüstung ist das Ziel; für die Aus­führung dieses Zyklus' ist nur die Objektkonstanz entscheidend.

4.2 Die gesamte Gattung aventiurehafte Dietrichepik kann als soIche als rudi­mentärer Zyklus betrachtet werden . Die in der historischen Dietrichepik und im Nibelungenlied überlieferte Kontur der Dietrichfigur bildet die Folie, vor der die in den Texten überlieferten Ereignisse stehen und die mehr oder weniger explizit präsent gehalten wird: Als Beispiel sei auf die exaltierte und in ihrem Umfang im Rahmen des Eckenliedes nicht erklärbare Klage Dietrichs über den Tod sei­nes Kontrahenten Ecke verwiesen, in der mehrfach auf den Topos des vergebli­chen Sieges angespielt wird, was nur als intertextueller Verweis zu lesen ist. 13

Da die Ereignisse der historischen Dietrichepik nicht mit der (zumindest grundsätzlich) optimistischen Grundstimmung der aventiurehaften Dietrichepik übereinstimmen, ergibt sich erzählerisch nur die Möglichkeit der Klassifizierung als enfance. lm Laurin 14 wird dies in den ersten Versen deutlich gemacht, da Dietrich " der getwerge aventiure" (Laurin A , v. 30) noch unbekannt ist. Die gleiche Begründung findet sich in der Virginal, 15 wo die Einordnung als enfance im weitesten Sinne (als Vorgeschichte der Ereignisse der historischen Dietrich­epik) noch durch die Bestimmung der Zwergenkönigin Virginal als erste Gattin Dietrichs verstärkt wird.

Das Eckenlied ist weniger eindeutig in der zeitlichen Einordnung, denn Diet­rich wird hier nicht als jugendlich gekennzeichnet, sein Ruhm ist bereits weitrei­chend. Auch agiert er (untypisch für diese Gestalt, aber den Gesetzen des Textes selbst gehorchend) ohne seinen Waffen- und Lehrmeister Hildebrand. Dennoch ist auch hier die zyklische Anordnung in der Vorgeschichte der historischen Diet­richepen durch den ätiologischen Kern des Textes sichergestellt. 16

11 Sigenot , Hrsg. Julius Zupitza, in Dietrichs Abenteuer. Von Albrecht von Kernenaten. Nebst den Bruchstücken von Dietrich und Wenzeslan , Deutsches Heldenbuch v (Dublin/Zürich: Weidmann, 1968, zuerst 1866). 12 Das Ecken/ied. MittelhochdeutschlNeuhochdeutsch, Text, Übersetzung und Kommentar von Francis B. Brevart , Reclams Universalbibliothek 8339 (Stuttgart: Reclam, 1986). 13 Cf. den Hinweis von Brevart in Das Eckenlied, S. 283-84; Matthias Meyer, ' Zur Struktur des Eckenliedes', in Heldensage-Heldenlied-Heldenepos, Ergebnisse der IJ. Jahrestagung der Reineke­Gesellschaft, Gotha 16-20. Mai 1991 , Wodan, Recherches en littérature médiévale 12 ([Amiens]: Université de Picardie, 1992), S. 173-85. 14 Laurin wui Der Kleine Rosengarten, Hrsg. G . Holz (Halle a.S.: Niemeyer, 1897). 15 Virginal, Hrsg. Julius Zupitza, in Dietrichs Abenteur. 16 Es wird bekanntlich eine - sekundäre - etymologische Erklärung für den Schwertnamen Eckensachs gegeben, indem die Figur des Riesen Ecke eingeführt wird.

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4.3 Es finden sich also folgende Methoden der Zyklenbildung in der aventiu­rehaften Dietrichepik: ätiologische Spro/3dichtung, historische Spro/3dichtung, enfances; letztere liefern den Rahmen für die gesamte Gattung.

Mit Dietrich und seinem Erzieher Hildebrand (der auch im Eckenlied auftritt, nur nicht mit Dietrich zusammen agiert - ein Hinweis darauf, da/3 der Erzähler wu/3te, da/3 er auf diese zentrale Figur nicht verzichten kann) ist der Figurenkern der Gattung aventiurehafte Dietrichepik umrissen; es können noch weitere "Helden ", die - ähnlich den Artusrittern - urn Dietrich angeordnet sind , hin­zutreten. Hierbei gehen die Verfasser sehr genau mit eventuell auftretenden Schwierigkeiten urn: die Figur des Witege ist in der historischen Dietrichepik als Verräter charakterisiert, in der aventiurehaften kann sie durchaus positiv darge­stellt werden (etwa im Laurin , Fassung A), allerdings wird diese Aufwertung bewu/3t durch intertextuelle Bezüge etwa zum Artusroman ins Werk gesetzt. 17

Da/3 die Personalidentität mit der historischen Dietrichepik trotz solcher Schwierigkeiten aufrechterhalten wird, verweist auf deren Priorität. Da/3 sie selbst nicht zu weiteren Zyklen ausgebildet wurde und da/3 auch kein Übergang zwischen aventiurehafter und historischer Dietrichepik im mittelhochdeutschen Sprachgebiet ge schaffen wurde (oder genauer: da/3 keiner erhalten ist, wenn man von einer mittelhochdeutschen Vorlage der Thidrekssaga 18 ausgeht, in der ja diese Verbindung zumindest teilweise geleistet wurde), hat mei nes Erachtens einen gewichtigen Grund in der Dominanz des Motivs des vergeblichen Sieges, das als narrativer Kern denkbar ungeeignet ist und nur in der permanenten Wie­derholung Verbreiterung, wenn auch nicht Erfüllung finden kann. 19 Zudem liegt das Motiv in seiner Wirkung merkwürdig unentschlossen zwischen dem arthuri­schen happy en ding und der totalen Katastrophe des Burgundenuntergangs im Nibelungenlied, ist also vielleicht erzählerisch weniger wirkungsvoll.

5. Da/3 es unter diesen Umständen zu einer (zumindest entstehungsgeschicht­lichen) Abkopplung der aventiurehaften Dietrichepik als zwar durch die Figur verbundene, aber auf der Textoberfläche separat existenzfähige enfance kommt, pa/3t in die literarische Landschaft auch im deutschsprachigen Raum, wo sich enfances-Bildung nicht nur in der Karlmeinet-Kompilation 20 finden lä/3t. So trifft man auf das Motiv von Artus' Jugend nicht nur im Rahmen des Prosa-Lance-10t,21 sondern auch in den Prologen von Strickers Daniep2 und Heinrichs von dem Türlin Diu Cr6ne. Beim Stricker erscheint es in der Form der praeteritio

17 Cf. etwa die Inszenierung von Laurins Auftritt, Witeges Reaktion darauf, die .an Parzivals erste Begegnung mit Rittern erinnert, und wiederum Dietriehs Reaktion auf Witeges Auf3erung (Laurin A, v. 151-242). 18 Cf. Die Geschichte Thidreks I'on Bern. Übertragen von Fine Erichsen, Neuausgabe, mÜ Nach­wort von Helmut Voigt, Thule Reihe 2, Bd. 22 (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1967). 19 Einen weiteren Grund, dessen Stellenwert aber m.E. schwer einzuschätzen ist, kann man im lang­andauernden Kampf der Kirche gegen mit dem Arianer Theoderich verbundene Geschichten sehen; er ist also historisch-religiöser Natur. 20 Karl Meinet, Hrsg. Adelbert von Keller, Bibliothek des Litterarischen Vereins 45 (Stuttgart, 1858). 21 Lancelot, Hrsg. Reinhold Kluge, Deutsche Texte des Mittelalters 42, 47 , 63 (Berlin: Akademie­Verlag, 1948-1974). 22 Der Stricker, Daniel I'on dem blühenden Tal, Hrsg. Michae1 Resler, Altdeutsche Textbibliothek 92 (Tübingen: Niemeyer, 1983)

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und ist so ein Verweis auf die Gattungskonstanten - man erzählt im Artusro­man Chrétien-Hartmannscher Prägung, als der sich der Daniel gibt, nicht von Artus ' Jugend. In Prolog und Handlungseingang von Heinrichs Roman wird dieses Motiv mehrfach verwendet, eingeführt wird es im Zusammenhang von Artus' Historizität, seiner Vergangenheit: der Tod von Artus ist das Ende seiner Biographie und verweist so implizit auf dessen Jugend. Heinrich enthält sich einer expliziten zeitlichen Einordnung der dargestellten Ereignisse, der Aufbau seines Romans läBt allerdings die Interpretation der Ereignisse des ersten Romanteils als Bestandteil einer " J ugendgeschichte" im weitesten Sinne zu.

Es ist also festzustellen, daB die Zyklenbildung in der aventiurehaften Diet­richepik in ihren Verfahren und Methoden den literarischen Strömungen der Zeit entspricht. Hervorzuheben ist, daB auch im späteren Artusroman diese Tenden­zen anzutreffen sind; auch das Motiv der enfances ist dort vorgebildet. Die aven­tiurehafte Dietrichepik ist also in Gänze erklärbar aus den bereits schriftlitera­risch vorhandenen Elementen; man muB keinen weiteren prägenden mündlichen EinfluB annehmen.

6. Die Bildung von enfances läBt sich beschrei ben als" Hineinerzählen" in eine bereits etablierte literarische Existenz, die noch über "Leerstellen " verfügt. Sie korrespondiert mit dem Hauptcharakteristikum der Gattung aventiurehafte Dietrichepik auf der Ebene der Textkonstitution: dem Auserzählen von Valen­zen, erzählerischen Leerstellen, was zu extrem divergenten, den noch zusammen­gehörigen Textfassungen führt. 23 Da es in der Geschichte der Gattung nie einen Gesamt-Kompilator gegeben hat, spiegelt sich dieses Verfahren der Textkonsti­tution, das zu einer relativ groBen Varianz führen kann,24 auch im Vergleich der unterschiedlichen Texte: Dietrich als eher unerfahrener Held steht gegen den bereits hochberühmten; Dietrich als absoluter Jungritter steht gegen Dietrich, der eine Ehefrau erwirbt. Dabei ist festzuhalten, daB ein wesentliches Merkmal selbst additiver Zyklen zunächst nicht ausgebaut ist: zwar gibt es einen gemein­samen Kern der Texte, untereinander nehmen sie jedoch nicht aufeinander Bezug. 25 Für das 13. Jahrhundert, der Entstehungszeit der Texte, kann man also - bedingt nicht zuletzt durch das gattungstypische poetische Verfahren - ausge-

23 Cr. Joachim Heinzie, Mitte/hochdeutsche Diell·ichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Uberlieferungskritik und Gattungsgeschichte später He/dendicht/1.ng, Münchner Texte und Untersu­chungen 62 (München: Artemis, 1978), passim, bso S. 19-38 (l)berblick über Textfassungen) und S. 223-30 (StrukturelIe Offenheit und Zyklusbildung); ders., 'Uber!ieferungsgeschichte als Litera­turgeschichte. Zur Textentwicklung des Laurin " in Deutsche He/denepik in Tiro/. König Laurin und Dietrich van Bern in der Dichtung des Mille/a/ters . Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südti­roler Kulturinstituts, in Zsarb. mit Kar! H. Vigl hrsg. v. Egon Kühebacher, Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstituts 7 (Bozen: Athesia, 19.79), S. 172-91. 24 Beispie\e dafür sind zahlreich: cf. Heinzie, ' Uberlieferungsgeschichte' zum Laurin; für das Eckenlied sei auf die extreme Divergenz der Schlüsse hingewiesen: Dietrich als Schlagetot, der einen Frauenritter im sinnlosen Kampf umgebracht hat, steht gegen Dietrich als Retter der Damen, der sie von einem lästigen Bewerber befreit hat - und alles in Texten , die weitgehend identisch sind. 25 Die Ausnahme bildet der oben erwähnte Fall des ätiologischen " Kleinzyklus" urn Dietriehs Schwert. Eine weitere Ausnahme könnte im Bezug Go/demar (Deutsches Heldenbuch v) - Laurin liegen, wofür ein ähnlicher Handlungsverlauf und eventuell ähnliche Thematik Indizien sind; auf­grund des fragmentarischen Status des Go/demar mul3 dies allerdings Vermutung bleiben.

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prägte Tendenzen der Zyklusbildung festhalten, ohne daB der letzte notwendige Schritt unternommen worden wäre.

7. Das Erzählen von Jugendgeschichten von etablierten Helden bildet nicht nur eine einfache und struktureIl unproblematische Erzählmöglichkeit, es öffnet auch diese Figuren hin zur Biographie. Enfances urn Dietrich bilden sich aus, als das Ende dieser Figur als glückloser König im Exil, als Chiffre für den Unter­gang, etabliert ist. Gleiches gilt für den Artusroman, wo das Motiv von Artus' Jugend erst nach der Etablierung eines festen literarischen Charakters, vielleicht erst nach der Mort Artu erscheint. 26 Tod und Jugend erweitern eine sagenhafte, mythische oder literarisch-topische Figur, die so zum Protagonisten werden kann. Vorgeprägt ist diese Biographiefähigkeit im Modell der vita, sie öffnet sich hin zum modernen Roman.

8. Zyklenbildung urn die Dietrichfigur ist so als Schritt auf dem Weg zu einem (nicht erreichten) Dietrich-Roman zu lesen. Da im 13. Jahrhundert nicht einmal ein Dietrich-Zyklus entstanden ist, muB man im Grunde die aventiure­hafte Dietrichepik als abgebrochene Zyklusbildung oder, genauer, als Zyklus, der zu entstehen versucht, bezeichnen. leh habe bereits inner- wie auBerliterari­sc he Gründe für diese miBglückte Zyklusbildung, deren Voraussetzungen denk­bar gut waren, genannt. Hinzu tritt das schlichte Fehlen eines Kompilators, einer Person, die die unterschiedlichen Texte nicht nur in einer Handschrift zusammenträgt, sondern redigierend eingreift - eine Tätigkeit, die (wenn man das heute noch richtig einschätzen kann) nicht allzu viel handwerkliches Geschick erfordert hätte. DaB sie unterblieben ist, hängt wohl nicht zuletzt mit dem geringeren Alter (und der damit geringeren Dignität) der schriftliterarischen Existenz der Gattung zusammen.

In Ansätzen wird im späten Mittelalter dieser "Dietrich-Roman " in den Hel­denbüchern und den Heldenbuchdrucken geschrieben. In ihnen wird zusätzlich zur Identität der Figurenkonstellation die kodikologische Identität erreicht und bis in den Druck tradiert. Diese Tendenz ist zwar schon früh nachweisbar (man denke an die frühen Pergamentfragrnente eines "Heldenbuchs" in BerlinIWol­fenbütteF7), wird jedoch erst ab dem 15. lahrhundert prägend. Zu einem Zyklus (wenn auch - vom Umfang her gesehen - en miniature) wird der Dietrichstoff im deutschsprachigen Raum nur einmal, in der Heldenbuchprosa.28 Hier wird Dietrich zur Integrationsfigur der gesamten heldenepischen Welt, aventiurehafte

26 Heinrichs Cróne ist mit Sicherheit nach der Kenntnis einer Mort Artu entstanden. Gleiches läBt sich für den Daniel nicht behaupten; andererseits könnte der sicher klerikal gebildete Stricker­über lateinische Texte vermittelt - durchaus Kenntnis von dem Motiv gehabt haben; darüberhin­aus ist festzuhalten , daB die festgefügte Artusrolle, wie sie durch die Hartmannschen Romane eta­bliert wurde, einer narrativen Mort Artu gleichkommt. 27 Dazu gehören die Berliner Fragmente mgf 745 und mgf 844 und die Fragmente der Herzog­August-Bibliothek Wolfenbüttel cod. A Novi (6), cf. dazu Heinzie, Dietrichepik, S. 291-93, sowie den Artikel ' Heldenbücher ' von Joachim Heinzie in Kurt Ruh, Hrsg., Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von W. Stammier, fortgeführt von K. Langosch. Zweite, völlig neu be<;lrbeitete Auflage. Bd. III (BerlinlNew York: De Gruyter, 1981), Sp. 947-55; auch Sammelhandschriften wie der thematisch geordnete Cod. Vind. 2779 können als Vorläufer dieser Tendenz gewertet werden 28 Cf. Heldenbuch. Hrsg. Joachim Heinzie, Bd. J, Abbildungsband, Litterae 75/1 (Göppingen: Kümmerle, 1981), folio 1-6.

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wie historische Dietrichepik sind - im Zusammenklang mit anderen Stoffkrei­sen - zusammengebracht. Es ist dies allerdings nur ein programmatischer Zyklus, quasi eine Leseanweisung, die die folgenden Texte, ohne wesentlich in sie einzugreifen, als Teile eines Zyklus präsentiert. Die im 13. Jahrhundert nicht ausdrücklich durchgeführte Zyklenbildung wird also verspätet und auch nur rudimentär nachgeholt. DaB dies geschieht, scheint mir wichtig zu sein und zur Sicherung der Überlieferung beigetragen zu haben. In dem so neu konstituierten Textkonvolut entstehen Erzählzusammenhänge, die strukturell nur unwesentlich von der additiven Struktur der Prosaromane unterschieden sind; die Heldenepik konnte SO , vom Verfasser der Heldenbuchprosa (und den späteren Nachdruck­ern) als Rumpfzyklus des sequentiellen Typs interpretiert, literarisch konkur­renzfähig bleiben.

Universität Bielefeld

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