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J Public Health (2004) 12:218–228 DOI 10.1007/s10389-004-0037-2 ORIGINAL ARTICLE Michael Simon Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung Kritische Anmerkungen zur Validität der Ergebnisse Eingegangen: 13 August 2003 / Angenommen: 16 Februar 2004 / Online verɆffentlicht: 16 April 2004 # Springer-Verlag 2004 Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Pflegebegutachtungen des Medizinischen Diens- tes der Krankenversicherung (MDK) fɒr die soziale Pflegeversicherung. Grundlage der vorliegenden Unter- suchung sind die Daten der Pflegeversicherung und des MDS sowie vorliegende Forschungsergebnisse zur Be- gutachtungspraxis des Medizinischen Dienstes. Es wird herausgearbeitet, dass es sich bei den Ergeb- nissen der Begutachtung des MDK nicht um mit wis- senschaftlichen Methoden erhobene empirische Daten ɒber Ausmaß und Verteilung von Pflegebedɒrftigkeit handelt, sondern vor allem um Ergebnisse eines sozialen Interaktionsprozesses. Wie jede soziale Interaktion un- terliegt auch die Begutachtung des MDK unvermeidlich dem Einfluss von Werthaltungen, Rollenerwartungen, Deutungsmustern und Interaktionskompetenz der Inter- aktionsteilnehmer. Im Falle der Pflegebegutachtungen scheinen diese Einflɒsse ‚Verzerrungen‘ insbesondere in AbhȨngigkeit von sozialer Schicht und Geschlecht zu bewirken. Eine Analyse der Entwicklung der bewilligten Pflegeminuten wirft zudem die Frage auf, ob in den Jahren 1997 bis 2001 eine an finanzwirtschaftlichen Zielen orientierte Steuerung des Pflegestufenspektrums erfolgt ist. Gegen eine Verwendung der Daten der Pfle- geversicherung fɒr epidemiologische Zwecke sind von daher erhebliche Vorbehalte anzumelden. Diese Vorbe- halte gelten auch gegenɒber der amtlichen Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes, da sie in wesentlichen Teilbereichen auf den Angaben der sozialen und privaten Pflegeversicherung aufbaut. SchlɒsselwɆrter Pflegeversicherung · Medizinischer Dienst der Krankenversicherung · Pflegebegutachtung The examination in the frame of social care insurance Critical comments on the validity of results Abstract This article deals with the validity of nursing care assessment as carried out by the Medical Services of the Statutory Health Insurance. The investigation is based on data published by the Nursing Care Insurance and the Medical Services and on results of studies on nursing care assessment. The author argues that the assessment is not a scien- tific study but primarily a social interaction. As any type of social interaction, the assessment is influenced by values, role expectations, interpretation patterns and in- teraction competence. In the case of the nursing care as- sessment, these influences seem to cause a bias towards social status and sex. An analysis of nursing care minutes allowed brings up the question of whether nursing care levels were governed by financial goals. The author concludes that there are considerable reservations against using the data of the Nursing Care Insurance for epi- demiological purposes. These reservations are also valid for the nursing care statistics of the Federal Office for Statistics, because they are partly based on the data of the Statutory Nursing Care Insurance. Keywords Nursing Care Insurance · Medical Services · Nursing Care Assessment Einleitung In den Jahren 1997 bis 2001 hat es in der Pflegeversi- cherung eine deutliche Verschiebung im Pflegestufen- spektrum von den hɆheren zu den niedrigeren Pflegestu- fen gegeben. WȨhrend in der Pflegestufe I ɒberpropor- tionale ZuwȨchse zu verzeichnen sind, ist die Zahl der LeistungsempfȨnger in der Pflegestufe III absolut rɒck- lȨufig. Auf den ersten Blick kɆnnte dies als Ausdruck einer Verbesserung der Situation von Pflegebedɒrftigen und Rɒckgang des Ausmaßes der Pflegebedɒrftigkeit M. Simon ( ) ) Evangelische Fachhochschule Hannover, Fachbereich Gesundheitswesen, Blumhardtstr. 2, 30625 Hannover E-Mail: [email protected]

Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

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Page 1: Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

J Public Health (2004) 12:218–228DOI 10.1007/s10389-004-0037-2

O R I G I N A L A R T I C L E

Michael Simon

Die Begutachtung im Rahmen der sozialen PflegeversicherungKritische Anmerkungen zur Validit�t der Ergebnisse

Eingegangen: 13 August 2003 / Angenommen: 16 Februar 2004 / Online ver�ffentlicht: 16 April 2004� Springer-Verlag 2004

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag befasst sichmit den Pflegebegutachtungen des Medizinischen Diens-tes der Krankenversicherung (MDK) f�r die sozialePflegeversicherung. Grundlage der vorliegenden Unter-suchung sind die Daten der Pflegeversicherung und desMDS sowie vorliegende Forschungsergebnisse zur Be-gutachtungspraxis des Medizinischen Dienstes.

Es wird herausgearbeitet, dass es sich bei den Ergeb-nissen der Begutachtung des MDK nicht um mit wis-senschaftlichen Methoden erhobene empirische Daten�ber Ausmaß und Verteilung von Pflegebed�rftigkeithandelt, sondern vor allem um Ergebnisse eines sozialenInteraktionsprozesses. Wie jede soziale Interaktion un-terliegt auch die Begutachtung des MDK unvermeidlichdem Einfluss von Werthaltungen, Rollenerwartungen,Deutungsmustern und Interaktionskompetenz der Inter-aktionsteilnehmer. Im Falle der Pflegebegutachtungenscheinen diese Einfl�sse ‚Verzerrungen‘ insbesondere inAbh�ngigkeit von sozialer Schicht und Geschlecht zubewirken. Eine Analyse der Entwicklung der bewilligtenPflegeminuten wirft zudem die Frage auf, ob in denJahren 1997 bis 2001 eine an finanzwirtschaftlichenZielen orientierte Steuerung des Pflegestufenspektrumserfolgt ist. Gegen eine Verwendung der Daten der Pfle-geversicherung f�r epidemiologische Zwecke sind vondaher erhebliche Vorbehalte anzumelden. Diese Vorbe-halte gelten auch gegen�ber der amtlichen Pflegestatistikdes Statistischen Bundesamtes, da sie in wesentlichenTeilbereichen auf den Angaben der sozialen und privatenPflegeversicherung aufbaut.

Schl�sselw�rter Pflegeversicherung · MedizinischerDienst der Krankenversicherung · Pflegebegutachtung

The examination in the frame of socialcare insuranceCritical comments on the validity of results

Abstract This article deals with the validity of nursingcare assessment as carried out by the Medical Services ofthe Statutory Health Insurance. The investigation is basedon data published by the Nursing Care Insurance and theMedical Services and on results of studies on nursing careassessment.

The author argues that the assessment is not a scien-tific study but primarily a social interaction. As any typeof social interaction, the assessment is influenced byvalues, role expectations, interpretation patterns and in-teraction competence. In the case of the nursing care as-sessment, these influences seem to cause a bias towardssocial status and sex. An analysis of nursing care minutesallowed brings up the question of whether nursing carelevels were governed by financial goals. The authorconcludes that there are considerable reservations againstusing the data of the Nursing Care Insurance for epi-demiological purposes. These reservations are also validfor the nursing care statistics of the Federal Office forStatistics, because they are partly based on the data of theStatutory Nursing Care Insurance.

Keywords Nursing Care Insurance · Medical Services ·Nursing Care Assessment

Einleitung

In den Jahren 1997 bis 2001 hat es in der Pflegeversi-cherung eine deutliche Verschiebung im Pflegestufen-spektrum von den h�heren zu den niedrigeren Pflegestu-fen gegeben. W�hrend in der Pflegestufe I �berpropor-tionale Zuw�chse zu verzeichnen sind, ist die Zahl derLeistungsempf�nger in der Pflegestufe III absolut r�ck-l�ufig. Auf den ersten Blick k�nnte dies als Ausdruckeiner Verbesserung der Situation von Pflegebed�rftigenund R�ckgang des Ausmaßes der Pflegebed�rftigkeit

M. Simon ())Evangelische Fachhochschule Hannover,Fachbereich Gesundheitswesen,Blumhardtstr. 2, 30625 HannoverE-Mail: [email protected]

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gedeutet werden. Eine solche Interpretation l�sst sich je-doch kaum in Einklang bringen mit zwei weiteren do-minierenden Trends in der Leistungsentwicklung dieserJahre: Im gleichen Zeitraum verlagerte sich im ambu-lanten Bereich die Inanspruchnahme von den Geldleis-tungen zu den Pflegesachleistungen und stieg insgesamtder Anteil vollstation�r versorgter Pflegebed�rftiger inallen Altersgruppen. Beides spricht gegen eine r�ckl�u-fige Entwicklung der Pflegebed�rftigkeit und eher f�reinen steigenden Pflegebedarf und zunehmende Defizitein der ambulanten Versorgung Pflegebed�rftiger.

Ausgehend von diesem Widerspruch befasst sich derfolgende Beitrag mit der Frage nach den Ursachen derVerschiebungen im Pflegestufenspektrum. Im Mittelpunktdes Interesses steht dabei die Begutachtung durch denMedizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK)im Rahmen der Pflegeversicherung. Der Begutachtungkommt insofern eine zentrale Bedeutung zu, als diePflegekassen auf Grundlage des MDK-Gutachtens �berdie Leistungsgew�hrung entscheiden. Das Gutachtenenth�lt als zentrale Aussagen, ob eine Pflegebed�rftigkeitim Sinne des SGB XI vorliegt und welche Pflegestufeempfohlen wird. In der Regel folgen die Pflegekassen denEmpfehlungen des MDK.

Seit Bestehen der Pflegeversicherung ist die Begut-achtungspraxis des MDK der Kritik ausgesetzt, dassdie Einstufungen h�ufig nicht dem tats�chlichen Pflege-bedarf von Pflegebed�rftigen gerecht werden. Vor diesemHintergrund analysiert der vorliegende Beitrag die Er-gebnisse der Begutachtungen f�r die Pflegeversicherungauf Grundlage bisher ver�ffentlichter statistischer Datender Pflegeversicherung und des MDK sowie der Ergeb-nisse ausgew�hlter Forschungsprojekte zu diesem The-menbereich. Auch wenn es mittlerweile zahlreiche em-pirische Forschungsprojekte zum Themenbereich Pflege-bed�rftigkeit und MDK-Begutachtung gibt, so ist dieDatenlage doch immer noch unbefriedigend. Aufgabe desBeitrages ist es von daher in erster Linie, Probleme auf-zuzeigen und auf Forschungsbedarf hinzuweisen.

Verschiebungen im Pflegestufenspektrum:Von den h�heren zu den niedrigeren Pflegestufen

Sowohl in der ambulanten wie auch in der station�renpflegerischen Versorgung hat sich in den letzten Jahrendas Pflegestufenspektrum deutlich in Richtung Pflege-stufe I bzw. II verschoben. Diese Entwicklung wirdallerdings erst bei der Betrachtung eines gr�ßeren Zeit-raums erkennbar. In seinem Pflegebericht f�r die Jahre1999/2000 konstatierte der Medizinische Dienst derSpitzenverb�nde der Krankenkassen (MDS) noch, dasSpektrum der Pflegestufen habe sich „nur geringf�gigver�ndert“ (MDS 2002, S. 31).

In der ambulanten Pflege ist f�r den Zeitraum 1997 bis2001 lediglich in der Pflegestufe I ein Anstieg zu ver-zeichnen (+22,7%), in den Pflegestufen II und III dagegensogar absolute R�ckg�nge (Tabelle 1). Im Jahr 2001waren gegen�ber 1997 etwa 50.000 Pflegebed�rftige

(�14,7%) weniger in Pflegestufe II und knapp 16.000(�11,0%) weniger in Pflegestufe III eingestuft. Ent-sprechend stieg der Anteil der Leistungsempf�nger inPflegestufe I von 47,5% auf 55,3% und fielen die Anteileder Stufe II von 40,6% auf 34,6% und Stufe III von 11,9%auf 10,1%.

Etwas anders stellt sich die Entwicklung im station�renBereich dar, wenngleich im Ergebnis durchaus �hnlich.Auch hier stieg die Zahl der Leistungsempf�nger in derPflegestufe I mit 37,3% �berproportional, zugleich nahmaber auch die Zahl der Pflegebed�rftigen in der Stufe IIum 27,9% zu. Die Entwicklung der Zahl der Leistungs-empf�nger in Stufe III blieb mit einem Zuwachs von 2,6%hinter dem Durchschnitt zur�ck. Dementsprechend habensich auch hier die Gewichte verschoben: Der Anteil derPflegestufe I stieg von 34,5% auf 37,9% und der Anteilder Stufe III fiel von 24,5% auf 20,1%, w�hrend derAnteil der Stufe II fast unver�ndert blieb.

Die Verschiebungen im Pflegestufenspektrum k�nntendie Annahme nahe legen, dass das Ausmaß der Pflege-bed�rftigkeit in Deutschland r�ckl�ufig ist (so beispiels-weise Roth 2003, S. 79). Immerhin ist der durchschnitt-liche Grad der Pflegebed�rftigkeit nach Feststellung desMDK offensichtlich gesunken und—so k�nnte man an-nehmen—somit m�sste auch die individuelle Situationdes durchschnittlichen Pflegebed�rftigen besser sein alsvier Jahre zuvor.

Eine solche Schlussfolgerung erscheint jedoch ange-sichts der beiden anderen dominierenden Trends in derPflegeversicherung1, der zunehmenden Inanspruchnahmevon Pflegesachleistungen und der Verlagerung des Leis-tungsgeschehens in den station�ren Bereich, als voreilig;denn: Wenn das Ausmaß der Pflegebed�rftigkeit r�ck-l�ufig w�re und 2001 zwar mehr Menschen Leistungenaus der Pflegeversicherung erhalten haben als 1997, dieseaber im Schnitt nicht mehr so pflegebed�rftig waren wienoch vier Jahre zuvor, dann w�re nicht einsichtig, warumdiese im Schnitt ges�nderen Menschen verst�rkt Sach-leistungen f�r professionelle Pflege in Anspruch neh-men sollten und nicht mit Geldleistungen f�r Laienpflegeauskommen, vor allem aber warum zunehmend mehrPflegebed�rftige in Heime wechseln.

Zudem widerspr�che die Annahme einer r�ckl�ufi-gen durchschnittlichen Pflegebed�rftigkeit in Deutsch-land den Erfahrungen aus der Gutachtert�tigkeit derMedizinischen Dienste. Pflegebed�rftigkeit verl�uft in derweit �berwiegenden Mehrzahl der F�lle progredient, alsofortschreitend im Sinne eines zunehmenden Selbstst�n-digkeitsverlustes und wachsenden Hilfebedarfes: „DieAnalysen zu den Wiederholungsbegutachtungen belegen,dass eine idealtypische Pflegebiographie durch eine Zu-nahme des gesetzlich definierten Hilfebedarfs gekenn-zeichnet ist“ (MDS 2000, S. 3).

Eine Verschiebung des Pflegestufespektrums zu denunteren Pflegestufen kann auch nicht mit einer in denh�heren Pflegestufen zu erwartenden �berdurchschnittli-chen Sterblichkeit befriedigend erkl�rt werden. Geht man

1 Zu einer ausf�hrlicheren Analyse der Trends vgl. Simon 2003.

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von einem in der Regel progredienten Verlauf aus, so istzu erwarten, dass die sterblichkeitsbedingte Reduzierungder Zahl der Pflegebed�rftigen in der Pflegestufe III durchein „Nachr�cken“ aus dem Bereich der Pflegestufe IIausgeglichen wird.

Es bleibt also die Frage, wie und wodurch es zu einersolchen—der zu erwartenden Leistungsentwicklung zu-widerlaufenden—Verschiebung im Pflegestufenspektrumgekommen ist. Mit einem Wandel im Spektrum ‚objektivgegebener‘ Pflegebed�rftigkeit scheint sie jedenfalls nichterkl�rbar zu sein. Wenngleich eine empirisch gesicherteAussage hierzu im Grunde nicht m�glich ist, da eine„unabh�ngige“ wissenschaftliche Datenbasis fehlt. Ver-f�gbar sind lediglich die Daten der Pflegeversicherung,und die geben genau genommen nur das Ergebnis einesAntrags- und Leistungsbewilligungsverfahrens wieder,das nicht den methodischen Anforderungen an ein wis-senschaftliches Forschungsprojekt gen�gen muss, sonderndenen des Sozialrechts und Verwaltungsverfahrensrechts.Es geht letztlich um Entscheidungen von Pflegekassen,und das sind—da es sich um mittelbare Staatsverwaltunghandelt—Verwaltungsakte. Diese m�ssen im Zweifelsfalleiner gerichtlichen �berpr�fung standhalten, die sich vorallem darauf richten wird, ob die Verfahrensvorschriftenim Einzelfall korrekt angewendet wurden. Gegenstand dergerichtlichen �berpr�fung wird nicht sein, ob diese DatenArt und Umfang von Pflegebed�rftigkeit in Deutschlandrichtig abbilden. An den Daten �ber Leistungsempf�nger,bewilligte Pflegestufe etc. ist somit im Kern nur derAusgang von mehreren Hunderttausend Verwaltungsak-ten ablesbar.

Sicherlich geben diese Daten auch �ber Art und Um-fang von Pflegebed�rftigkeit in Deutschland Auskunft.

Sie sind aber unter den grunds�tzlichen Vorbehalt zustellen, dass die Basisdaten von einer Organisation erho-ben werden, die sich in der Tr�gerschaft der Kranken-kassen befindet, die wiederum mit eigenen wirtschaftli-chen Interessen in die Thematik verstrickt sind. DerMedizinische Dienst der Krankenversicherung wird beider Begutachtung von Pflegebed�rftigkeit im Auftrag derPflegekassen t�tig und gibt diesen Empfehlungen f�rdie Ablehnung oder Bewilligung von Leistungen (§ 18SGB VI).

Die Entscheidung liegt zwar letztlich bei der jewei-ligen Pflegekasse, mit seinen Gutachten und Empfehlun-gen �bt der MDK aber dennoch einen nicht zu unter-sch�tzenden Einfluss auf die finanzielle Entwicklung derPflegekassen aus. Diese Bedeutung ist unvermeidbar je-dem einzelnen Gutachter bewusst. Je großz�giger oderrestriktiver die Gutachten und Empfehlungen �ber dieBewilligung und Einstufung von Antragstellern ausfallen,um so st�rker oder geringer werden die Pflegekassenfinanziell belastet. Dieser Zusammenhang ist so offen-sichtlich wie auch das Bem�hen der MDKs erkennbarund bekannt, die Gutachtenpraxis zu objektivieren. ImZentrum dieser Bem�hungen stehen bundeseinheitlicheBegutachtungsrichtlinien, die seit 1997 gelten und 2001�berarbeitet wurden2. Dar�ber hinaus gibt es in denMDKs kontinuierliche Anstrengungen im Bereich derinternen Qualit�tssicherung und -kontrolle.

Wenn im Folgenden n�her auf den Einfluss der Be-gutachtungspraxis des MDK eingegangen wird, so nicht,um diese zu diskreditieren, sondern um deutlich zu ma-

Tabelle 1 Soziale Pflegeversi-cherung Leistungsempf�ngernach Pflegestufen 1997 bis2001

1997 1998 1999 2000 2001 1997–2001

[%]

Ambulant 1.198.103 1.206.482 1.280.379 1.260.760 1.261.667 63.564 5,3darunterPflegestufe I 568.768 607.188 668.314 681.658 697.714 128.946 22,7[%] 47,5 50,3 52,2 54,1 55,3Pflegestufe II 486.338 463.721 472.189 448.406 436.693 �49.645 �10,2[%] 40,6 38,4 36,9 35,6 34,6Pflegestufe III 142.997 135.573 139.876 130.696 127.260 �15.737 �11,0[%] 11,9 11,2 10,9 10,4 10,1Station�r 462.607 509.490 545.983 561.344 577.935 115.328 24,9darunterPflegestufe I 159.467 187.232 203.950 210.883 218.909 59.442 37,3[%] 34,5 36,7 37,4 37,6 37,9Pflegestufe II 189.862 209.751 226.657 234.836 242.779 52.917 27,9[%] 41,0 41,2 41,5 41,8 42,0Pflegestufe III 113.278 112.507 115.376 115.625 116.247 2.969 2,6[%] 24,5 22,1 21,1 20,6 20,1Insgesamt 1.660.710 1.715.972 1.826.362 1.822.104 1.839.602 178.892 10,8darunterPflegestufe I 728.235 794.420 872.264 892.541 916.623 188.388 25,9[%] 43,9 46,3 47,8 49,0 49,8Pflegestufe II 676.200 673.472 698.846 683.242 679.472 3.272 0,5[%] 40,7 39,2 38,3 37,5 36,9Pflegestufe III 256.275 248.080 255.252 246.321 243.507 �12.768 �5,0[%] 15,4 14,5 14,0 13,5 13,2

Quelle: BMG; eigene Berechnungen.

2 Zu den aktuell geltenden Begutachtungs-Richtlinien vgl. http://www.mds-ev.org

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chen, dass es sich bei den Begutachtungen nicht umeine von wirtschaftlichen Interessen und Fragen unab-h�ngige wissenschaftliche Datenerhebung handelt, son-dern um einen sozialen Aushandlungsprozess, der—wiejedes soziale Aushandeln—unvermeidlich von Rahmen-bedingungen und Verlauf der sozialen Interaktion beein-flusst wird. Dies ist auch dem Medizinischen Dienst be-wusst und wird in den beiden bisherigen Pflegeberichtendes MDS reflektiert (MDS 2000, 2002).

Es kann nicht darum gehen, eine ‚objektive‘, vonjeglichem Umwelteinfluss unabh�ngige Begutachtungs-praxis zu fordern, sondern den Blick zu sch�rfen, woeventuell vorhandene oder fehlende soziale Einfl�sse zusystematischen ‚Verzerrungen‘ von Begutachtungsergeb-nissen f�hren k�nnten.

Zweifel an der Validit�t der Begutachtungsergebnisse

An der Validit�t der Begutachtungen des MDK gibt esseit Einf�hrung der Pflegeversicherung Zweifel. Stell-vertretend f�r andere an dieser Stelle die Kritik einerAutorengruppe, zu der auch ein leitender Mitarbeiter ei-nes MDK geh�rte: „Wissenschaftlich fundierte Studienbei Pflegebed�rftigen, die den durchschnittlichen Zeit-aufwand im Hinblick auf die definierten Verrichtungenuntersuchen, existieren nicht. Dar�ber hinaus stellt sichdie Frage, inwieweit die definitorisch festgelegten Zeit-grenzen zur Abgrenzung der Pflegestufen untereinanderin medizinischer oder pflegefachlicher Hinsicht tats�ch-lich geeignet sind, den Pflegebedarf richtig abzubilden.(...) Das bisherige gutachterliche Verfahren ist wedervalidiert noch reliabel. Haupts�chlicher Punkt zur Ein-stufung in eine bestimmte Versorgungsstufe ist nicht derGrad der Hilfebed�rftigkeit, sondern die Zeit, die f�r denPflegebed�rftigen zur Pflege bereitgestellt werden muss.Hierbei handelt es sich um eine eher subjektive Beurtei-lung, auch wenn inzwischen Zeitkorridore f�r definiertepflegerische Verrichtungen existieren“ (Maidhof et al.1999, S. 381, 383).

Auf die Kritik reagierten die Medizinischen Dienstemit verst�rkten Bem�hungen um eine zumindest in Bezugauf die Verfahrensgrunds�tze verbesserte und vor allemeinheitlichere Begutachtungspraxis. Eines der Ergebnissewar die Ver�ffentlichung von Begutachtungsrichtliniendes MDS im Jahr 1997 und ihre �berarbeitung im Jahr2001. Aber auch wenn das Begutachtungsverfahren nor-miert und vereinheitlicht wird, so bleibt doch die Frageweiter offen, wie valide waren und sind die Ergebnisseder Begutachtung, inwieweit bildeten sie eine vorhande-ne Pflegebed�rftigkeit richtig ab. Auf diese Problematikweist auch die Bundesregierung in ihrem zweiten Bericht�ber die Entwicklung der Pflegeversicherung hin, wennsie zur internen Qualit�tssicherung der MedizinischenDienste feststellt: „Ein formal nicht zu beanstandendesGutachten ist nicht zwingend in allen Bereichen schl�ssigund inhaltlich kritikfrei“ und von daher sei „die Fort-entwicklung der Qualit�tspr�fungen hin zu einer mehrinhaltlichen und zielorientierten Pr�fphilosophie auch

k�nftig weiter zu forcieren“ (Bundesregierung 2001,S. 37).

Und in der Tat gibt es eine Reihe von Hinweisen undAnhaltspunkten, die zumindest f�r Teilbereiche der Be-gutachtungs- und Bewilligungspraxis Zweifel an derValidit�t der Gutachten bzw. Angemessenheit der bewil-ligten Pflegestufen n�hren k�nnen. Im Folgenden soll aufeinige Problembereiche eingegangen werden, die in ver-schiedenen wissenschaftlichen Studien untersucht und/oder vom Medizinischen Dienst der Spitzenverb�nde derKrankenkassen in seinen beiden Pflegeberichten thema-tisiert wurden.

In den letzten Jahren hat es zwar eine Reihe vonkleineren und mittleren Untersuchungen zur Validit�t derBegutachtungspraxis von MDKs gegeben, eine bundes-weite und repr�sentative Evaluationsstudie oder kontinu-ierliche begleitende externe Qualit�tssicherung mit j�hr-licher Berichtslegung findet jedoch nicht statt. Beidesw�re angesichts der Bedeutung dieses Themas nicht nurf�r die mittlerweile etwa 2 Millionen Pflegebed�rftigenund deren Angeh�rige durchaus angebracht, sondernk�nnte auch zu einer Entlastung der MDKs von internenund externen Zweifeln beitragen. Das Interesse aus denReihen der Medizinischen Dienste an einer externenQualit�tspr�fung der Begutachtungspraxis und Verbesse-rung ihrer Validit�t ist nicht nur an den bisherigen Pfle-geberichten erkennbar, sondern auch daran, dass mittler-weile mehrere Forschungsprojekte im Auftrag und/oderunter Beteiligung von MDKs durchgef�hrt und derenErgebnisse ver�ffentlicht wurden.

Zwar ergaben einige der ver�ffentlichten Untersu-chungen eine Best�tigung der Begutachtungsergebnisse,indem sie beispielsweise auch bei Anwendung aner-kannter externer Klassifikationssysteme oder beim Ein-satz externer Gutachter zu gleichen Einstufungsergeb-nissen wie der MDK kamen (vgl. u.a. Kliebsch et al.1997; Maidhof et al. 1999; Westhoff 2000), h�ufig aberwird auf nicht unerhebliche Probleme hingewiesen. ImVordergrund standen dabei in den letzten Jahren insbe-sondere die teilweise erheblichen regionalen Unterschiedebei der Leistungsbewilligung und Pflegestufenverteilung.Zwischen den einzelnen MDKs, die im wesentlichen aufL�nderebene organisiert sind, waren von Beginn der Be-gutachtungspraxis an teilweise erhebliche Unterschiedefeststellbar, die nicht mit Unterschieden der soziodemo-graphischen Struktur der begutachteten Klientel erkl�rtwerden konnten (vgl. hierzu u.a. MDS 2000, 2002;R�disch et al. 1995, 1996; Schneekloth 1996). Aber auchinnerhalb einzelner MDKs gab es Unterschiede in derAblehnungsquote oder Pflegestufenverteilung, die mitexternen Faktoren nicht erkl�rt werden konnten (vgl.hierzu u.a. Dinkel et al. 1997; Pritzkuleit u. Erben 2001).Zudem liegen Untersuchungen zu einzelnen Gruppen vonPflegebed�rftigen vor, die Zweifel an der Validit�t derEinstufungen durch den zust�ndigen MDK bzw. Ange-messenheit der bewilligten Pflegestufe n�hren (vgl. u.a.Lange et al. 2000; H�ußler et al. 2002; Schmitt u. B�h-ning 2002). Im Mittelpunkt des Interesses standen in denletzten Jahren insbesondere zwei Gruppen von Pflegebe-

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d�rftigen: altersverwirrte oder demenziell erkrankte Men-schen und behinderte Kinder. Aber es gibt auch grund-s�tzliche Kritik, die die Angemessenheit des gutachterli-chen Konzepts in Frage stellen (vgl. u.a. Wingenfeld1998).

Demenziell Erkrankten und behinderten Kindern wur-den—das wird mittlerweile auch von der Bundesregie-rung bzw. vom MDS anerkannt—in der Vergangenheit imRahmen der Pflegeversicherung auf Grund von Vorgabendes SGB XI oder der Begutachtungsrichtlinien systema-tisch Hilfebedarfe nicht anerkannt und notwendige Leis-tungen nicht bewilligt. Systematisch meint hier und imFolgenden, dass die Ablehnung eines entsprechendenLeistungsantrags nicht mehr oder weniger zuf�llig oderbewusst willk�rlich auf der Ebene der Einzelbegut-achtung erfolgte, sondern aufgrund bundesweit gelten-der Vorgaben. Im Fall der demenziell Erkrankten wardie Ber�cksichtigung bestimmter Hilfebedarfe gesetzlichnicht vorgesehen, im Fall der behinderten Kinder liegt dieUrsache offenbar in den Begutachtungsrichtlinien desMDS.

Auf die Kritik an einer systematisch unzureichendenLeistungsgew�hrung f�r demenziell Erkrankte hat dieBundesregierung mittlerweile mit einer Ausweitung derLeistungen speziell f�r diese Gruppe der Pflegebed�rfti-gen reagiert. Zum 01.01.2002 trat das Pflegeleistungs-Erg�nzungsgesetz in Kraft, das zus�tzlichen Hilfebedarfanerkennt und Anspr�che auf entsprechende Leistungengew�hrt. Im Fall der behinderten Kinder steht eine solche�nderung noch aus. Der MDS hat jedoch bereits einge-r�umt, dass die bisherigen Richtlinien dem tats�chlichenHilfebedarf von Kindern unter 14 Jahren nicht gerechtwerden und die Begutachtungsrichtlinien in diesem Be-reich deshalb „revisionsbed�rftig“ seien (MDS 2002,S. 3).

Insgesamt aber erscheint der Forschungsstand zu Be-gutachtungsrichtlinien und Begutachtungspraxis nicht nurwegen der geringen Zahl und Reichweite der Untersu-chungen, sondern auch wegen methodischer Problemeeiniger der vorliegenden Studien unbefriedigend. Sowurde eine relativ h�ufig zitierte Untersuchung zur Re-liabilit�t der Begutachtungsrichtlinien mit nur vier alsunabh�ngige Gutachter eingesetzten Personen durchge-f�hrt. Zwei der „Gutachter“ waren Medizinstudenten im9. Semester und zwei waren Krankenpflegekr�fte mit le-diglich zweij�hriger Berufserfahrung (Kliebsch et al.1997). Keiner der Gutachter verf�gte �ber Erfahrungen inder ambulanten oder station�ren Pflege oder Altenhilfe.Dass dann auch noch trotz Spannweiten bei der Beurtei-lung, die zwischen 51,6 und 69,9% (Pflegebed�rftigkeitliegt vor), 1,4 und 14,0% (pers�nliche Desorientierung)oder 2,2 und 71,9% (pr�ventive Maßnahmen empfohlen)variierten, dem Begutachtungsverfahren eine „hohe Re-liabilit�t“ (Kliebsch et al. 1997, S. 34) bescheinigt wurde,erscheint angesichts des methodischen Zuschnitts derStudie und der gewonnenen Daten nicht nachvollziehbar.

Dass die Begutachtungspraxis des MDK auch auf an-dere Faktoren als nur rein medizinisch-pflegerische Be-darfslagen reagiert, daf�r sind insbesondere „teilweise weit

auseinander klaffende regionale Unterschiede“ (Maidhof etal. 1999, S. 380) zwischen den verschiedenen MDKs, aberauch innerhalb einzelner MDKs, ein relativ deutlicherBeleg. Seit Beginn der Begutachtung sind zwischen denregional organisierten MDKs Unterschiede in der Aner-kennungsquote wie auch dem Pflegestufenspektrum zuverzeichnen, die sich auch nach entsprechender �berpr�-fung weder mit unterschiedlichen soziodemographischenStrukturen noch mit unterschiedlichen Angebotsstrukturenerkl�ren ließen (Dinkel et al. 1997; R�disch et al. 1995,1996; Schneekloth 1996; Pritzkuleit u. Erben 2001).

Auch in Bezug auf das Geschlecht und die bewilli-gende Pflegekasse wurden Unterschiede festgestellt, diesich kaum befriedigend mit einer ‚objektiv‘ unterschied-lichen Pflegebed�rftigkeit erkl�ren lassen. Bereits imersten Jahr der Pflegeversicherung f�hrte eine verglei-chende Untersuchung zu dem Ergebnis, dass weniger dasLebensalter als die „Maßst�be der Gutachter und/oderbegr�ndetes Antragsverhalten“ als wesentliche Einfluss-gr�ßen in Frage k�men (R�disch et al. 1995, S. 681).Maßst�be einzelner Gutachter kamen zumindest in denersten Jahren der Pflegeversicherung als relevante Ein-flussgr�ße insbesondere deshalb in Betracht, weil „so-wohl bei den Begutachtungsanleitungen als auch bei denRichtlinien gewisse subjektive Ermessensspielr�umeverbleiben“ (Dinkel et al. 1997, S. 62). Wie bereits er-w�hnt gibt es begr�ndete Zweifel, dass sich dies nachEinf�hrung der Begutachtungsrichtlinien grundlegendge�ndert hat.

Auch wenn nach Darstellung des MDS die Homoge-nit�t der Begutachtungsergebnisse vor allem im ambu-lanten Bereich nach Einf�hrung der Begutachtungsricht-linien 1997 und Durchf�hrung von Gutachterschulungengestiegen ist, so zeigen doch auch die Daten f�r das Jahr2000 immer noch deutliche Unterschiede zwischen denverschiedenen MDKs (Tabelle 2).

Schwankten die Ablehnungsquoten (nicht pflegebe-d�rftig) bei ambulanten Erstbegutachtungen im Jahr 1995zwischen 22,0% (Baden-W�rttemberg) und 43,1% (Ber-lin), so bewegten sie sich im Jahr 2000 immer nochzwischen 28,6% (Th�ringen) und 43,9% (Berlin/Bran-denburg, Tabelle 2). Auch im Spektrum der bewilligtenPflegestufen unterscheiden sich die verschiedenen MDKs.W�hrend beispielsweise 1995 im MDK Berlin bei am-bulanten Antr�gen nur 3,8% der Antragsteller die Pfle-gestufe III zuerkannt wurde, erhielten im MDK Baden-W�rttemberg immerhin 18,5% und damit fast 5-mal mehrErstantragsteller die h�chste Pflegestufe. Vergleicht mandie Ergebnisse der ambulanten Erstbegutachtungen derJahre 1995 und 2000 so zeigt sich eine Nivellierung undReduzierung der Spannweiten nur in den oberen beidenPflegestufen. In Pflegestufe II wurde sie von 10,3 Pro-zentpunkten auf 9,2 Prozentpunkte reduziert und inPflegestufe III sogar von 14,7 Prozentpunkten auf 6,4Prozentpunkte. Aber trotz dieser Verringerung erhieltenim Jahr 2000 in Th�ringen mit 8,6% anteilig mehr als4-mal so viele Erstantragsteller im ambulanten Bereichdie Pflegestufe III zugesprochen wie in Westfalen-Lippe(2,1%).

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Page 6: Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

Die Reduzierung der Spannweiten in den oberen bei-den Pflegestufen ging einher mit einer deutlichen Redu-zierung ihrer Anteile insgesamt. Erhielten 1995 im am-bulanten Bereich im Bundesdurchschnitt noch 12,6% derErstantragsteller die Pflegestufe III und 27,3% die StufeII, so waren es 2000 nur 5,0% f�r die Pflegestufe III und19,9% f�r die Stufe II.

�hnliche Spannweiten und Trends sind auch bei denstation�ren Erstbegutachtungen zu beobachten (Tabelle 3).So schwankte die Ablehnungsquote im Jahr 2000 zwi-schen 11,2% (Sachsen) und 26,3% (Hamburg und Saar-land) und wurde in Bremen mit 16,3% die Pflegestufe IIIrelativ zur Gesamtzahl der Antr�ge fast 4-mal so h�u-fig gew�hrt wie in Baden-W�rttemberg mit lediglich4,2%. Von 1998 bis 2000 ging im Bundesdurchschnitt dieH�ufigkeit der gutachterlichen Empfehlungen f�r diePflegestufe III im station�ren Bereich von 10,4 auf 7,9%zur�ck, blieb die f�r Pflegestufe II fast unver�ndert undstieg die Zahl der Empfehlungen f�r Pflegestufe I von 38,0auf 42,5%.

Begutachtung als soziale Interaktionund Aushandlungsprozess

Wie bereits angesprochen, bleiben im Rahmen des stan-dardisierten Begutachtungsverfahrens „subjektive Er-messensspielr�ume“ (Dinkel et al. 1997, S. 62). EineAnalyse der ver�ffentlichten Begutachtungsdaten legt dieVermutung nahe, dass die Nutzung dieser Ermessens-spielr�ume auch von den Rahmenbedingungen der Inter-

aktionssituation beeinflusst wird. Zu diesen Rahmenbe-dingungen sind insbesondere Vorannahmen, Werthaltun-gen, Rollenerwartungen, Deutungsmuster von Gutachternzu rechnen, aber auch Werthaltungen und Interaktions-kompetenz der Begutachteten bzw. ihrer gegebenenfallsanwesenden Angeh�rigen. In den vorliegenden Datenzeigen sich einige Auff�lligkeiten, die als Indiz f�r dasWirken derartiger Einfl�sse gewertet werden k�nnen. Sof�llt beispielsweise die Begutachtung h�her aus, wennprofessionelle Pflegekr�fte die Begutachtung begleiten,und es erhalten M�nner �ber alle Altersgruppen hinwegh�here Pflegestufen als Frauen. Auch scheint eine h�heresoziale Schicht die Wahrscheinlichkeit zur Durchsetzungvon Leistungsanspr�chen zu erh�hen.

Die Bedeutung der Anwesenheitprofessioneller Pflegekr�fte

Auch der MDS geht davon aus, dass die Anwesenheitprofessioneller Pflegekr�fte, die nicht zum MDK geh�renoder in seinem Auftrag t�tig sind, Einfluss auf den Aus-gang von Begutachtungen hat (MDS 2002, S. 15). Dies istohne weiteres plausibel und muss auch f�r den umge-kehrten Begutachtungsfall angenommen werden. Auchdie Abwesenheit professioneller Pflegekr�fte ist dann alsrelevanter Einflussfaktor in Rechnung zu stellen, und diesbetrifft vor allem den ambulanten Bereich. Dort werdendie Begutachtungen �berwiegend in der h�uslichen Um-gebung durchgef�hrt und erfolgen vor allem als Befra-gung und Gespr�ch mit den Pflegebed�rftigen und gege-

Tabelle 2 Gutachterliche Empfehlung einer Pflegestufe in v.H. beiambulanten Erstbegutachtungen 2000

MDK nicht-pflege-bed�rftig

Pflege-stufe I

Pflege-stufe II

Pflege-stufe III

Baden-W�rttemberg 29,7 44,2 20,9 5,1Bayern 30,1 44,8 17,9 7,2Berlin-Brandenburg 43,9 38,3 13,6 4,2Bremen 30,8 45,6 17,6 6,0Hamburg 35,7 44,6 16,6 3,1Hessen 31,9 45,9 17,2 5,0Meckl.-Vorpommern 32,6 47,1 16,5 3,8Niedersachsen 29,3 46,1 18,9 5,8Nordrhein 33,8 44,5 17,4 4,3Rheinland-Pfalz 31,0 41,2 22,9 4,9Saarland 41,6 34,2 16,2 8,0Sachsen 30,1 46,0 19,7 4,2Sachsen-Anhalt 34,4 42,1 16,9 6,7Schleswig-Holstein 31,7 48,9 16,4 2,9Th�ringen 28,6 43,4 19,4 8,6Westfalen-Lippe 38,3 42,3 17,2 2,1Durchschnitt 33,1 43,9 18,0 5,0StatistikMinimum 28,6 34,2 13,6 2,1Maximum 43,9 48,9 22,9 8,6Spannweite 15,3 14,7 9,2 6,4Mittelwert* 33,4 43,7 17,8 5,1Median 31,8 44,5 17,3 5,0

* ungewichteter MittelwertQuelle: MDS 2002, S. 19.

Tabelle 3 Gutachterliche Empfehlung einer Pflegestufe in v.H. beistation�ren Erstbegutachtungen 2000

MDK nicht-pflege-bed�rfig

Pflege-stufe I

Pflege-stufe II

Pflege-stufe III

Baden-W�rttemberg 14,6 52,4 28,7 4,2Bayern 19,2 41,8 26,9 12,1Berlin-Brandenburg 23,7 33,0 33,8 9,5Bremen 13,6 35,3 34,8 16,3Hamburg 26,3 41,4 23,4 8,9Hessen 13,0 45,7 30,2 11,1Meckl.-Vorpommern 13,6 42,8 37,2 6,4Niedersachsen 15,0 45,9 31,6 7,5Nordrhein 15,9 38,1 38,7 7,3Rheinland-Pfalz 20,1 36,4 34,7 8,9Saarland 26,3 33,6 29,8 10,4Sachsen 11,2 38,8 40,8 9,2Sachsen-Anhalt 18,9 40,1 30,1 10,9Schleswig-Holstein 14,7 50,5 30,1 4,7Th�ringen 12,7 37,5 34,9 14,9Westfalen-Lippe 20,3 39,3 35,6 4,8Durchschnitt 16,9 42,5 32,6 7,9StatistikMinimum 11,2 33,0 23,4 4,2Maximum 26,3 52,4 40,8 16,3Spannweite 15,1 19,4 17,4 12,2Mittelwert* 17,4 40,8 32,6 9,2Median 15,5 39,7 32,7 9,1

* Ungewichteter Mittelwert.Quelle: MDS 2002, S. 20.

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Page 7: Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

benenfalls auch mit pflegenden Angeh�rigen. Professio-nelle externe Pflegekr�fte nehmen eher selten an derBegutachtung teil. Das aber heißt auch, die Gutachtertreffen dort in der Regel auf Laien, die weder die Rele-vanz von bestimmten Fragen einsch�tzen k�nnen noch inder Lage sind, die Richtigkeit der Einsch�tzungen derGutachter zu beurteilen.

Erfahrungsberichte von Mitarbeitern aus der ambu-lanten Pflege, die bei Begutachtungen in h�uslicher Um-gebung anwesend waren, legen auch die Vermutung nahe,dass insbesondere �ltere und hochbetagte oder verwirrtePflegebed�rftige den Grad ihrer Selbst�ndigkeit zu hochund Hilfebedarfe zu niedrig angeben. Dabei d�rften nebenVerwirrtheit und Defiziten bei der Selbstwahrnehmungauch sozialisatorische Einfl�sse eine wesentliche Rollespielen. Ist eine professionelle Pflegekraft anwesend, dieum den Hilfebedarf des Pflegebed�rftigen aufgrund bis-heriger Betreuung weiß, so kann sie intervenieren undirref�hrende Ausk�nfte korrigieren oder auf Selbstst�n-digkeitsdefizite hinweisen.

Es ist auch zu vermuten, dass nur die wenigstenPflegebed�rftigen und Angeh�rigen um die M�glichkeitdes Widerspruchs wissen und in der Lage sind, zu er-kennen wann sie nach den Begutachtungsrichtlinien zuniedrig eingestuft sind und ein Widerspruch angebrachtist. So k�nnte sich auch die deutliche Diskrepanz zwi-schen der relativ niedrigen Widerspruchsquote und einervon Infratest ermittelten erheblich h�heren Unzufrieden-heitsquote erkl�ren lassen. So legten im Jahr 1998 zwarlediglich 7,4 % der ambulanten Antragsteller Wider-spruch gegen den Leistungsbescheid ein (MDS 2002,S. 12), hielten aber 27% der Antragsteller im ambulantenBereich die gew�hrte Pflegestufe f�r zu niedrig (Schnee-kloth u. M�ller 2000, S. 70).

Wie wichtig f�r Pflegebed�rftige die Unterst�tzungdurch professionelle Pflegekr�fte bei der Antragstellungist, zeigt die im Heimbereich zu verzeichnende deutlichh�here Quote von Folgegutachten. Auch der MDS gehtdavon aus, „dass das geschulte Personal in Heimen sen-sibler auf eine �nderung des Pflegebedarfs reagiert unddeshalb vermehrt zu einem Antrag auf Folgebegutachtungr�t“ (MDS 2002, S. 12).

Wenn man bedenkt, dass 1998 im ambulanten Bereich40% und im station�ren Bereich sogar 50% der Wider-spr�che erfolgreich waren und zu einer H�herstufungf�hrten (MDS 2000, S. 36) und anscheinend nur etwa einDrittel potenzieller Widerspr�che �berhaupt gestellt wird,k�nnte dies darauf hindeuten, dass die zahlreichen Klagen�ber tendenziell zu niedrige Einstufungen des MDKdurchaus ihre Berechtigung haben.

Das Wissen um die Widerspruchsm�glichkeit d�rfteauch bereits f�r das erste Begutachtungsgespr�ch durch-aus von Relevanz sein, da es zu einer subjektiv empfun-denen St�rkung der Verhandlungsposition f�hren und dasSignalisieren dieses Wissens durchaus auch den „sub-jektiven Ermessensspielraum“ eines Gutachters beein-flussen kann. Da jeder Gutachter davon ausgehen muss,dass dieses Wissen bei professionellen Pflegekr�ften inder ambulanten und station�ren Pflege vorhanden ist,

ebenso wie wahrscheinlich auch bereits Erfahrungen mitanderen Begutachtungen und somit Vergleichsm�glich-keiten, erscheint es plausibel, dass bereits die bloße An-wesenheit einer externen Pflegekraft Einfluss auf denVerlauf der Begutachtung hat.

Einfluss von Interaktionskompetenzund sozialer Schicht

Wenn die Begutachtung als sozialer Interaktionsprozessbetrachtet wird, dessen Verlauf und Ergebnis nicht nurvon Richtlinien, sondern auch vom sozialen Handeln derBeteiligten beeinflusst wird, dann ist es plausibel, anzu-nehmen, dass das Ergebnis der Begutachtung auch vonder Interaktionskompetenz und sozialen Schichtzugeh�-rigkeit der Pflegebed�rftigen und ihrer Angeh�rigen ab-h�ngig ist.

Zwar mangelt es an Untersuchungen, die genau diesenZusammenhang n�her betrachten, aber es lassen sichHinweise auf einen solchen Zusammenhang in einigender bisherigen Studien durchaus finden. So ergab eineUntersuchung von Mitarbeitern des MDK Schleswig-Holstein �ber Unterschiede im Antrags- und Leistungs-spektrum zwischen verschiedenen Siedlungsr�umen, dassin den relativ wohlhabenden „Speckg�rteln“ der Groß-st�dte bei ambulanten Begutachtungen die relativ h�chs-ten Unselbst�ndigkeitswerte und ein �berproportionalerAnteil der Pflegestufe III zu verzeichnen war (Pritzkuleitu. Erben 2001). Dieser Siedlungsraum ist vielfach ge-kennzeichnet durch einen hohen Anteil von Eigenheimenund eine durchschnittlich relativ h�here soziale Schichtseiner Bewohner. Nach Auffassung der Autoren sindinsbesondere die �berproportional hohen Unselbst�ndig-keitswerte, auf deren Grundlage die Pflegestufe ermitteltwird, durch ein bei den dortigen Antragstellern anzu-treffendes „Anspruchsverhalten“ (Pritzkuleit u. Erben2001, S. 203) beeinflusst. Das aber bedeutet im Grundegenommen, dass das Begutachtungsergebnis auch von derF�higkeit der Antragsteller abh�ngig ist, ihre Interessenin einem Interaktionsprozess durchzusetzen. Und wenndiese F�higkeit sozial ungleich verteilt ist, kann dies auchzu einer sozial ungleichen Verteilung von Leistungen derPflegeversicherung f�hren.

Dieser Zusammenhang k�nnte auch zur Erkl�rungunterschiedlicher Pflegestufenverteilungen zwischen ge-setzlicher und privater Pflegeversicherung beitragen. Inder privaten Pflegeversicherung wurden von Beginn anweniger Antr�ge abgelehnt und insgesamt h�here Pfle-gestufen bewilligt als in der sozialen Pflegeversicherung(BMG 2001, S. 36), und dies obwohl auch das Risiko derPflegebed�rftigkeit offenbar sozial ungleich verteilt istund untere Einkommensschichten �berproportional trifft(Schneekloth u. M�ller 2000, S. 39).

Weitere Hinweise auf den Einfluss und die sozialungleiche Verteilung von Verhandlungskompetenz und-macht finden sich in zwei Berliner Untersuchungen. Ineiner Studie zu den Auswirkungen der Pflegeversicherungberichten interviewte Pflegekr�fte aus der ambulanten

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Page 8: Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

Pflege, dass die h�rtesten Verhandlungen �ber Pflege-vertr�ge und Leistungskomplexe von den Bewohnern derwohlhabenderen Bezirken der Stadt gef�hrt werden, alsokeineswegs von denen, die �ber das geringere Einkom-men verf�gen (Br�mme 1999, S. 68). Eine Vergleichs-studie des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums Ber-lin, in der Pflegebedarf und bewilligte Pflegestufen beiRheumakranken verglichen wurden, ergab u.a. dass An-geh�rige der deutschen Rheumaliga einen signifikanth�heren Grad der Bedarfsdeckung erreicht hatten (West-hoff 2000, S. 490).

Geschlechtsspezifische Unterschiede

Insgesamt ist die Datenlage �ber den Einfluss von so-zialer Schicht und Interaktionskompetenz auf das Be-gutachtungsergebnis aber noch vollkommen unzurei-chend, sind diese Einflussfaktoren noch zu wenig oder�berhaupt nicht in das Blickfeld empirischer Forschungger�ckt. Etwas anders stellt sich die Situation bei derFrage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden dar.Dies liegt sicherlich wesentlich auch darin begr�ndet,dass das Merkmal „Geschlecht“ standardm�ßig bei derBegutachtung erhoben und seit Einf�hrung der Pflege-versicherung in die bundesweiten Auswertungen einbe-zogen wird. Dabei zeigten sich bereits im ersten Jahr derPflegeversicherung Auff�lligkeiten, die sich auch in denFolgejahren fortsetzten.

So ergab eine Auswertung der Daten des Jahres 1995,dass bei M�nnern eine deutlich geringere Ablehnungs-quote und ein h�herer Anteil der Pflegestufe III zu ver-zeichnen war (R�disch et al. 1995, S. 681). Eine diffe-renziertere Analyse des MDS f�r das Jahr 1998 kommt imPrinzip zu dem gleichen Ergebnis (Tabelle 4): Antr�gevon Frauen wurden in allen ausgewiesenen Altersgruppenh�ufiger abgelehnt, und relativ zu den gestellten Antr�generhielten Frauen in allen Altersgruppen seltener h�herePflegestufen als M�nner. Eine Analyse der Unselbst�n-digkeitswerte in den Gutachten ergab, „dass m�nnlicheAntragsteller im Durchschnitt mehr F�higkeitseinschr�n-

kungen als Frauen in der gleichen Altersgruppe aufwei-sen“ (MDS 2000, S. 63).

Nach Einsch�tzung der MDK-Gutachter hatten an-tragstellende Frauen demnach im Schnitt einen geringerenHilfebedarf als M�nnern. Dass dies mit einer ‚objektiv‘gegebenen geringeren Pflegebed�rftigkeit, zu fr�her An-tragstellung oder einem �berproportional ausgepr�gten„Anspruchsdenken“ insbesondere �lterer Frauen erkl�rtwerden kann, erscheint wenig �berzeugend, nicht nur imHinblick auf typische Sozialisations- und Wertemuster�lterer Frauen.

Es ließe sich auch kaum damit in Einklang bringen,dass 2001 unter den Pflegebed�rftigen im ambulantenBereich doppelt so viele, im station�ren aber mehr als3-mal so viele Frauen wie M�nner waren. Da offenbarinsbesondere alleinlebende �ltere Frauen bereits bei ei-nem—nach MDK-Gutachten—vergleichsweise geringenHilfebedarf in die vollstation�re Pflege wechseln, dr�ngtsich hier die Frage auf, ob bei der ambulanten Begut-achtung vorhandene Hilfebedarfe �lterer Frauen ausrei-chend ber�cksichtigt werden. Sollte—aus welchen Gr�n-den auch immer—diese Gruppe Pflegebed�rftiger mitambulanten Leistungen der Pflegeversicherung tendenzi-ell unterversorgt werden, w�re dies folglich nicht nur einProblem f�r die betroffenen Frauen, sondern auch f�r diefinanzielle Stabilit�t der Pflegeversicherung.

Bei einer Begutachtung in h�uslicher Umgebung nichtber�cksichtigte Bedarfe w�rden dann zu einem relativfr�hzeitigen Wechsel in ein Heim zwingen, wo unterAssistenz von professionellen Pflegekr�ften vorhandeneLeistungsanspr�che erfolgreich geltend gemacht werdenk�nnen. Unter dieser Annahme ließen sich verschiedenePuzzleteile durchaus zu einem stimmigen Bild zusam-menf�hren, das die Parallelit�t des R�ckgangs h�hererPflegestufen im ambulanten Bereich und des Anstiegsstation�rer Pflege erkl�ren k�nnte. Alleinlebende �ltereund pflegebed�rftige Frauen scheinen gegenw�rtig eineder zentralen, wenn nicht sogar die wichtigste Problem-gruppe in der pflegerischen Versorgung zu sein.

Als Fazit der bisherigen Untersuchung kann festge-halten werden, dass es Hinweise darauf gibt, dass die

Tabelle 4 Begutachtungsemp-fehlungen des MDK bei Erst-antragstellern 1998

Erstantrag-steller

davon in v.H.

nichtpflege-bed�rftig

Stufe I Stufe II Stufe III

Alter in Jahrenbis 19 10.861 49,7 37,9 10,3 2,220–65 58.634 40,9 36,9 16,9 5,266–80 149.305 34,4 42,5 19,2 3,981 und �lter 188.738 27,8 47,8 21,1 3,2Demographische Gruppenbis 19 Jahre 10.861 49,7 37,9 10,3 2,2M�nner 20–65 Jahre 31.043 38,6 37,5 18,0 5,8Frauen 20–65 Jahre 27.591 43,4 36,3 15,7 4,6M�nner 66–80 Jahre 48.747 25,7 43,9 24,9 5,5Frauen 66–80 Jahre 100.558 38,7 41,9 16,4 3,1M�nner 81 Jahre u.�. 42.288 23,4 47,6 25,1 4,0Frauen 81 Jahre u.�. 146.450 29,1 47,9 20,0 3,0Gesamt 407.538 32,7 44,1 19,5 3,7

Quelle: MDS 2000, S. 71.

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Page 9: Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

Bewilligung und H�he der Pflegestufe auch von demVorhandensein oder Fehlen professioneller Unterst�t-zung, der sozialen Schicht und Interaktionskompetenzvon Antragstellern und Angeh�rigen sowie der Ge-schlechtszugeh�rigkeit der Antragstellenden beeinflusstwird. Dies kann dann nicht �berraschen, wenn man dieBegutachtung und Ablehnung oder Bewilligung als einensozialen Interaktionsprozess betrachtet, dessen Verlaufund Ergebnis nicht nur von externen Vorgaben, sondernauch von den Interaktionspartnern beeinflusst wird. Die-ses Zwischenergebnis sollte darum auch nicht als gene-relle Kritik an den Gutachtern oder der Begutachtungs-praxis des MDK missverstanden werden. Wer auch im-mer als Gutachter in einen solchen Interaktionsprozesseintritt, er ist diesen Einfl�ssen ausgesetzt.

Es geht hier nicht um die Frage bewusster Benach-teiligungen oder Bevorzugungen einzelner Gruppen,sondern um allgemeine, in weiten Bereichen der Ge-sellschaft wirkende Deutungsmuster, Werthaltungen undGeschlechterstereotypen. Und diese wirken nicht nur aufSeiten von Gutachtern, sondern mit Sicherheit auch aufSeiten der Pflegebed�rftigen und ihrer Angeh�rigen.Wenn �lteren Frauen tendenziell im Rahmen von Be-gutachtungen zur Pflegebed�rftigkeit ein geringererHilfebedarf zugesprochen wird, so wird dies vermutlichauch mit dem Selbstbild und Auskunftsverhalten �ltererAntragstellerinnen zusammenh�ngen.

Aber dennoch sind diese Einfl�sse ein Problem, dasie quasi „hinter dem R�cken“ und unbewusst wirkenund zu einer Ungleichbehandlung und Benachteiligungbestimmter Gruppen von Antragstellenden f�hren k�n-nen. Wenn die Analyse zutreffend ist, m�ssten hier ge-zielte Maßnahmen der Gegensteuerung—beispielsweiseim Rahmen der Gutachterschulung—eingeleitet werden,um derartige ‚Schieflagen‘ zuk�nftig bereits im Begut-achtungsprozess besser erkennen und dann auch bewusstvermeiden zu k�nnen.

Ein weiterer Ansatz f�r den Ausgleich derartiger‚Schieflagen‘ k�nnte die Einf�hrung eines unabh�ngigenCase-Managements im deutschen Gesundheitswesen sein(zu Konzeption und internationalen Erfahrungen vgl. u.a.Ewers u. Schaeffer 2000). Case-Managerinnen, die wederAngestellte von Kostentr�gern noch von Leistungser-bringern sind, k�nnten im Rahmen einer anwaltschaftli-chen Interessenwahrnehmung bei Begutachtungen anwe-send sein und gegebenenfalls intervenieren und dar�berhinaus Pflegebed�rftige und ihre Angeh�rigen in allenFragen der Pflegeversicherung und pflegerischen Ver-sorgung beraten.

Pflegestufenverteilung und Beitragssatzstabilit�t

Sowohl MDK als auch Pflegekassen waren von Beginnder Pflegeversicherung an mit dem Verdacht konfrontiert,Einstufungen und Bewilligungen k�nnten gesteuert sein,um die Ausgabenentwicklung im vorgegebenen Finanz-rahmen zu halten. In der Tat kann die Konstruktion derPflegeversicherung einen solchen Verdacht nahe legen.

Im Unterschied zur gesetzlichen Krankenversicherung istnicht die Bedarfsdeckung oberstes Ziel, sondern Bei-tragssatzstabilit�t. Ausdr�cklich haben sich die Ausgabennach den Einnahmen zu richten und nicht umgekehrt. DerBeitragssatz ist gesetzlich fixiert und seine Ver�nderungist dadurch der Kompetenz der Pflegekassen entzogen.

Die Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip hat Bedeu-tung auch f�r das hier behandelte Thema. Wenn die Si-cherung der gegebenen Beitragssatzh�he Vorrang vor derDeckung tats�chlich vorhandener Bedarfe von Pflegebe-d�rftigen hat, d�rfen Pflegebedarfe im Grunde nur bis zuder Grenze von MDK und Pflegekasse ber�cksichtigt undanerkannt werden, die mit dem gegebenen Beitragssatzfinanzierbar ist. Soll trotz steigender Antragszahlen Bei-tragssatzstabilit�t von den Pflegekassen sichergestelltwerden, so erfordert dies insbesondere eine Steuerung desPflegestufenmix. Die Bundesregierung selbst weist inihrem zweiten Bericht �ber die Entwicklung der Pflege-versicherung auf die zentrale Bedeutung der Pflegestu-fenverteilung f�r die finanzielle Stabilit�t der Pflegever-sicherung hin: „Die Zahl der Empf�nger von Versiche-rungsleistungen und ihre Verteilung auf die einzelnenPflegestufen sind die entscheidenden Einflussfaktoren f�rdie Ausgabenentwicklung der Pflegeversicherung“ (Bun-desregierung 2001, S. 27).

Es ist davon auszugehen, dass dieser Zusammenhangden Gutachtern bewusst ist. Vor dem Hintergrund derErgebnisse eines Forschungsprojektes zur Begutachtungs-praxis wurde denn auch vermutet, dass die politischeDiskussion �ber die Finanzierbarkeit der Pflegeversiche-rung auch die Gutachter beeinflusst und in die Richtungeiner eher restriktiven Begutachtungspraxis dr�ngt, diesich in der Pflicht sieht, „st�rker im Sinne einer ‚Miss-brauchskontrolle‘ t�tig zu werden“ (Wingenfeld 1998,S. 102).

Zwar gibt es keinen Hinweis auf eine Steuerung desPflegestufenmix, wohl aber eine Auff�lligkeit, die esschwer f�llt als Zufall zu deuten, da es sich um einestatistische Gr�ße handelt, die �ber Jahre nahezu konstantblieb. Der nachfolgenden Berechnung liegt die Frage-stellung zu Grunde, wie es dazu kommen konnte, dass dieLeistungsausgaben der gesetzlichen Pflegeversicherungmit +11,8 % trotz eines Trends von Geldleistungen zu denteureren Sachleistungen, der teilweise nicht unerhebli-chen ‚Turbulenzen‘ im Spektrum der Pflegestufen unddes Trends zur teureren station�ren Pflege zwischen 1997und 2001 nicht wesentlich st�rker gestiegen sind als dieZahl der Leistungsempf�nger (+10,8 %). Das Zusam-menspiel der angesprochenen Teilprozesse h�tte durchausauch dazu f�hren k�nnen, dass die Ausgaben st�rkersteigen als geschehen, n�mlich dann, wenn die verschie-denen Prozesse kumulativ zu Leistungsausweitungen ge-f�hrt h�tten.

Dass dies nicht geschehen ist, scheint in erster Linieder Verschiebung des Pflegestufenspektrums in derh�uslichen Pflege zu verdanken zu sein. Das verdeutlichteine Zusammenstellung der Gesamtsummen bewilligterPflegeminuten, die sich aus den Daten der Pflegeversi-cherung errechnen lassen. Die in Tabelle 5 enthaltenen

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Page 10: Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

Werte ergeben sich aus der Multiplikation der im SGB XIvorgegebenen Minutenwerte je Pflegestufe mit der Zahlder Leistungsempf�nger je Pflegestufe. Die hier vorge-stellte relativ simple Berechnungsmethode wird auch vonden Spitzenverb�nden der Pflegekassen in ihrem Rund-schreiben vom 10.10.2002 zur Umsetzung der leistungs-rechtlichen Vorschriften des § 43 SGB XI den Mit-gliedskassen f�r die Ermittlung der durchschnittlichenAusgaben je Pflegebed�rftigen in der station�ren Pflegeempfohlen3.

Die Zahl der bewilligten Pflegeminuten ist nicht diealleinige Einflussgr�ße f�r die Ausgabenentwicklung, abersie ist insofern von besonderem Interesse, als sie durchausinternen Steuerungsprozessen in den MDKs sowie in denPflegekassen zug�nglich ist, beispielsweise �ber die Aus-gestaltung von Begutachtungsrichtlinien, Zeitkorridoren,Gutachterschulungen oder informellen internen Diskus-sionen.

Bei der Betrachtung der Daten zeigen sich zwei Auf-f�lligkeiten: Trotz einer Zunahme der Gesamtzahl derLeistungsempf�nger um 10,8% und der teilweise erheb-lichen Ver�nderungen im Pflegestufenmix stieg die Ge-samtsumme der bewilligten Pflegeminuten nur um 5,2%.Damit blieb das von den MDKs empfohlene und denPflegekassen bewilligte Gesamtleistungsvolumen voll-kommen im Rahmen der Entwicklung der Einnahmen, dieim gleichen Zeitraum um 5,4% stiegen. Auff�llig ist vorallem die Entwicklung des Minutenvolumens f�r h�usli-che Pflege. Abgesehen von einem kurzen leichten Anstiegim Jahr 1999 blieb es �ber f�nf Jahre fast unver�ndert aufdem gleichen Niveau, und das bei einer Gesamtsummevon etwa 180 Millionen. Dass beides Zufallsprodukte seinsollen, f�llt schwer anzunehmen, nicht zuletzt auch vordem Hintergrund der bisherigen Untersuchung, die dieprinzipielle Beeinflussbarkeit von Gutachterentscheidun-gen aufzeigte.

Schlussbetrachtung

Die Untersuchung f�hrte zu dem Ergebnis, dass Zweifelgegen�ber der Validit�t der Begutachtungen im Rahmender sozialen Pflegeversicherung berechtigt erscheinen.Bei den Begutachtungen handelt es sich um soziale In-teraktionen, die unvermeidlich dem Einfluss von Wert-haltungen, Rollenerwartungen, Deutungsmustern, Inter-aktionskompetenz etc. der Interaktionseilnehmer unter-liegen. Dies gilt sowohl f�r die Begutachtenden wie auchf�r die Antragstellenden. Im Falle der Pflegebegutach-tungen scheinen diese Einfl�sse ‚Verzerrungen‘ insbe-sondere in Abh�ngigkeit von sozialer Schicht und Ge-schlecht zu bewirken. Die verf�gbaren Daten legen denEindruck nahe, dass vor allem �ltere alleinstehendeFrauen in h�uslicher Umgebung auf Grund des Wirkensder genannten Einflussfaktoren systematisch benachteiligtwerden. Eine Analyse der Entwicklung der bewilligtenPflegeminuten wirft zudem die Frage auf, ob in denJahren 1997 bis 2001 eine an finanzwirtschaftlichen Zie-len orientierte Steuerung des Pflegestufenspektrums er-folgt ist.

Gegen eine uneingeschr�nkte Verwendung der Datender Pflegeversicherung f�r epidemiologische Zwecke sindvon daher erhebliche Vorbehalte anzumelden. Bei denLeistungsdaten der sozialen Pflegeversicherung handeltes sich nicht um mit wissenschaftlichen Methoden erho-bene empirische Daten, die die soziale Wirklichkeit derPflegebed�rftigen abbilden, sondern um Angaben �berdas Ergebnis eines sozialrechtlich begr�ndeten Begut-achtungsverfahrens und den Ausgang von Verwaltungs-akten der Pflegekassen. Dieser Vorbehalt ist auch ge-gen�ber der amtlichen Pflegestatistik des StatistischenBundesamtes geltend zu machen, da sie in Teilbereichenauf Daten der sozialen und privaten Pflegeversicherungaufbaut und vor allem bei der Pflegestufenzuordnungden Leistungsbescheiden der Pflegekassen bzw. privatenPflegeversicherung folgt.

Tabelle 5 Soziale Pflegeversicherung Bewilligte Pflegeminuten im Tagesdurchschnitt

1997 1998 1999 2000 2001 1997–2001 [%]

AmbulantInsgesamt 181.629.060 178.788.600 187.105.080 181.271.100 179.577.000 �2.052.060 �1,1darunterPflegestufe I 51.189.120 54.646.920 60.148.260 61.349.220 62.794.260 11.605.140 22,7Pflegestufe II 87.540.840 83.469.780 84.994.020 80.713.080 78.604.740 �8.936.100 �10,2Pflegestufe III 42.899.100 40.671.900 41.962.800 39.208.800 38.178.000 �4.721.100 �11,0Station�rInsgesamt 82.510.590 88.358.160 93.766.560 95.937.450 98.276.130 15.765.540 19,1darunterPflegestufe I 14.352.030 16.850.880 18.355.500 18.979.470 19.701.810 5.349.780 37,3Pflegestufe II 34.175.160 37.755.180 40.798.260 42.270.480 43.700.220 9.525.060 27,9Pflegestufe III 33.983.400 33.752.100 34.612.800 34.687.500 34.874.100 890.700 2,6Ambulant und station�rInsgesamt 264.139.650 267.146.760 280.871.640 277.208.550 277.853.130 13.713.480 5,2

Quelle: BMG; eigene Berechnungen.

3 Vgl. http://www.vdak.de/pflegevg.htm.

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Page 11: Die Begutachtung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung

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