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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 70 Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19 Von Michael Dreyer und Oliver Lembcke Duncker & Humblot · Berlin

Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19...Die Schuldfrage Der Mars hat die Jungfer Europa poussiert Und hat ihr das Kränzel verungeniert. Nun drückt er sich um die

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft

Band 70

Die deutsche Diskussion umdie Kriegsschuldfrage 1918/19

Von

Michael Dreyer und Oliver Lembcke

Duncker & Humblot · Berlin

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MICHAEL DREYER / OLIVER LEMBCKE

Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft

Band 70

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Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19

Von

Michael Dreyer und Oliver Lembcke

Duncker & Humblot * Berlin

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Dreyer, Michael: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19 / von Michael Dreyer und Oliver Lembcke. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993

(Beiträge zur Politischen Wissenschaft ; Bd. 70) ISBN 3-428-07904-3

NE: Lembcke, Oliver:; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany

ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-07904-3

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Die Schuldfrage

Der Mars hat die Jungfer Europa poussiert Und hat ihr das Kränzel verungeniert. Nun drückt er sich um die Vaterspesen, -Er sagt, es wäre der Michel gewesen.

Der Michel schwört verdutzten Gesichts: "Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts! Der Wiener Schani war das Karnickel Nu schön, dann nehme man den beim Wickel."

Der Schani spricht: "Dös wär' gelacht! Ich habe dem Madel koa Schand' gemacht. Der Bruder meiniges von den Serben, Der leistete sich den Leibeserben."

Der Sergius aber erwidert barsch: "Mein großer Bruder, der Iwan war'seh!" Doch dieser strampelt mit Händ* und Füßen. Nun kommt die Sache vor die Assisen.

In Frankreichs Hauptstadt, oje, oje! Da tagt man von wegen paternité. Der Papa Wilson, als Prokurater, Der löst die Frage: Wer ist der Vater?

Ach Michel, Michel, ich glaube fast, Du bist der Arme, den man verknast't. Du sollst für das Kindlein gradestehen! Ο Junge, Junge! Wie wird's dir gehen?

Altro

(Welt am Montag, 31. März 1919)

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Vorwort

Bei einem Buch, das unter zwei Namen erscheint, hat der Leser Anspruch darauf, über die Entstehungsgeschichte und die Anteile der beiden Autoren unterrichtet zu werden. Den ersten Anstoß zu der vorliegenden Arbeit erhielt einer der beiden Autoren (MD) im Frühjahr 1987 im Bundesarchiv Koblenz. Der Besuch in Koblenz hatte einen anderen Anlaß, aber die Atmosphäre dieses schönen Gebäudes, die langen Öffnungszeiten und die einmalig benutzelfreundliche Aktenaushebung verführten neben der eigentlichen Arbeit zum Stöbern. Was ursprünglich nur als kleiner Aufsatz gedacht war, vergrößerte und verselbständigte sich immer mehr, zumal nachdem ein zweiter Autor (OL) hinzukam. Seitdem sind einige Jahre verstrichen, in denen wir zusammen mit größeren und großen Unterbrechungen immer wieder daran gearbeitet haben, bis wir jetzt glauben, ein Resultat vorlegen zu können. Die thematische Konzeption und die ersten Textfassungen stammen überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, vom erstgenannten Autor. Die Arbeit an Quellen und Literatur haben wir in Bibliotheken und Archiven stets gemeinsam durchgeführt, und in den langen Perioden der Überarbeitung und Erweiterung der frühen Versionen gab es wohl keinen Abschnitt des Textes, an dem nicht jeder der beiden Autoren seinen Teil geschrieben hätte. Daher können wir die Verantwortung für die einzelnen Kapitel nicht gut teilen, sondern tragen sie gemeinschaftlich.

Barbara Tuchman hat einmal gesagt, daß man in sein Thema verliebt sein müsse, um gut schreiben zu können. Die Beurteilung, ob wir gut geschrieben haben, müssen wir dem Leser überlassen - aber in das Thema verliebt haben wir uns zweifellos. Sonst wären wir kaum neben anderen Projekten, Prüfungen und Abgabeterminen immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Über die Jahre hinweg war die Arbeit alles mögliche, hatte ihre Höhe- und Tiefpunkte - aber langweilig war sie nicht für eine Minute.

Dazu haben auch die vielen freundlichen Menschen beigetragen, die uns auf dem Weg von der ersten Idee zum fertigen Buch geholfen haben. Das beginnt mit den hilfsbereiten Bibliothekaren und Archivaren zahlreicher Institutionen, das endet mit dem Verlag Duncker & Humblot und seinem Geschäftsführer,

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8 Vorwort

Prof. Norbert Simon, dem wir für die Aufnahme unserer Arbeit in sein Verlagsprogramm zu danken haben.

Zeitlich in der Mitte stehen unsere Freunde und Kollegen, deren wachsame Augen manche Fehler und Versäumnisse korrigieren konnten. Sven Weber und Dr. Ewald Grothe haben das gesamte Manuskript gelesen, und Dr. Ulrich Sieg hat sich im Laufe der Jahre gleich durch mehrere Fassungen gekämpft. Von ihrem eifrigen Sachverstand haben wir enorm profitieren können. Dr. Carsten Schlüter-Knauer gab uns die Gelegenheit, erste Ergebnisse auf einem internationalen Symposium vorzutragen, und Dr. Barbara Schwegmann hatte als ein ruhender Pol in der Hektik dieser Zeit ihren Anteil daran, daß über-haupt solche Ergebnisse existierten. Als wir mit der Arbeit begannen, waren wir beide noch blutige Laien am Computer. In den ersten Kämpfen mit Text-programmen, die die Tendenz hatten, ganze mühsam geschriebene Abschnitte ein-fach verschwinden zu lassen, hat uns Timm Abrahams mehrfach aus der Ver-zweiflung gerettet. Ohne seine telephonischen Diagnosen hätten wir manchen Abschnitt noch häufiger schreiben müssen, als wir dies ohnehin schon getan haben. Inzwischen haben wir zwar auch in dieser Hinsicht viel gelernt, aber die technische Publikationsreife konnte nur dadurch erzielt werden, daß Dr. Peter Nißen bereit war, viele Stunden seiner Zeit zu opfern. Unser Dank gilt ihnen allen.

Speziell danken möchte Oliver Lembcke seinem Geschichtslehrer Burkhard Zarnack für den exzellenten Unterricht, der zu Fragestellungen motivierte, die über den Lehrplan hinausgingen; Inga Kempas für die Hilfe bei den zahlreichen nervenaufreibenden nächtlichen Probeausdrucken; schließlich und vor allem seinen Eltern und Bettina Güntner, die ihm mit Worten und noch mehr Taten die vorliegende Untersuchung überhaupt erst ermöglichten.

Außerdem muß auch Michael Dreyer noch einen besonderen Dank abstatten: an seinen langjährigen Geschichtslehrer, Peter Brickmann, der ihn nicht nur vor vielen Jahren erstmals mit dem Namen Fritz Fischer bekannt machte, sondern der vor allem zeigte, wie fesselnd und lebendig Geschichte sein kann und der damit schon für den Mittelstufen-Schüler das Studienfach praktisch festlegte. Hoffentlich ist er mit dem späten Resultat seiner Bemühun-gen zufrieden.

Kiel, im September 1993

Michael Dreyer Oliver Lembcke

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Inhalt

A. Die Kriegsschuldfrage als Problem der historischen Forschung 13

I. Fritz Fischer und die Folgen 13

II. Die Kriegsschulddiskussion in der Weimarer Republik 23

B. Die Revolution und die Kriegsschuldfrage 31

I. Die Kriegsschuldfrage im Weltkrieg 31

II. Neuanfang oder Kontinuität - November 1918 56

1. Die Funktion der Kriegsschuldfrage in der Revolutionszeit 56

2. Die Aktenpublikation Kurt Eisners 63 3. Die Kriegsschuldfrage in der Presse der Parteien 77

III. Die Kriegsschuldfrage auf der Berner Sozialistenkonferenz 87

IV. Die "Schuld am Krieg" und die "Schuld im Krieg" 92

C. Die Kriegsschuldfrage bis zum Versailler "Schmachfrieden" 101

I. Die Kriegsschuldfrage vor Bekanntgabe des Friedensentwurfes 101

II. Art. 231 und die deutsche Öffentlichkeit 123

1. Der Schock des Vertragsentwurfes 123 2. Deutsche Gegenvorschläge und "Professoren-Denkschrift" 133 3. Alliierte Schuldzuweisungen 153 4. Annehmen oder ablehnen? 157

III. Kriegsschuldfrage und Parlamente 168

1. Die Nationalversammlung zu Weimar 168

2. Die Preußische Landesversammlung zu Berlin 176

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10 Inhalt

D. Die Kriegsschuldfrage und der Kampf gegen Versailles 181

I. Nach Versailles: Die Rolle der Ehrenpunkte 181

II. Die offiziöse Linie in der Kriegsschuldfrage 198

E. Strukturen der Kriegsschulddiskussion am Anfang der Weimarer Republik 223

Quellen- und Literaturverzeichnis 231

A. Ungedruckte Quellen 231

B. Dokumentarische Quellen 232

C. Literarische Quellen 235

1. Bücher und Aufsätze 235 2. Zeitungen 247

D. Sekundärliteratur 248

Personenregister 265

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Abkürzungsverzeichnis

A Abendausgabe AA Auswärtiges Amt ADV Arbeitsausschuß Deutscher Verbände Β Beilage BA Bundesarchiv Koblenz BAP Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam Bb Beiblatt BBC Berliner Börsen-Courier BNN Berliner Neueste Nachrichten BT Berliner Tageblatt und Handelszeitung CEH Central European History DAZ Deutsche Allgemeine Zeitung DP Deutsche Politik DR Deutsche Rundschau DS Denkschrift DTZ Deutsche Tageszeitung FZ Frankfurter Zeitung und Handelsblatt GSA Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin GSM Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Merseburg GuG Geschichte und Gesellschaft GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HJB Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft HZ Historische Zeitschrift JCH Journal of Contemporary History JMH Journal of Modern History KSF Die Kriegsschuldfrage/ Berliner Monatshefte KZ Neue Preußische [Kreuz-] Zeitung LA Leitartikel M Morgenausgabe

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12 Abkürzungsverzeichnis

MGM Militärgeschichtliche Mitteilungen MNN Münchener Neueste Nachrichten NL Nachlaß NPL Neue Politische Literatur NZZ Neue Zürcher Zeitung PA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn Pr.Jbb. Preußische Jahrbücher Rep. Repositorium RF Die Rote Fahne RfH Reichszentrale für Heimatdienst RH Revue historique SM Sozialistische Monatshefte SZ Süddeutsche Zeitung TR Tägliche Rundschau VfZ Vierteljahrshefte ftlr Zeitgeschichte VZ Vossische Zeitung WaM Die Welt am Montag WK Weltkrieg ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

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Die Geschichte der Jahre 1914 bis 1918 ist so gut durchforscht wie kaum eine andere Epoche. Der Historiker bewegt sich überall auf sicherem Boden. Heftige Fehden in der Öffentlichkeit, scharfe Auseinandersetzungen in der Wissen-schaft sind ausgefochten worden - man wird zugestehen, daß mit großem Aufwand Bleibendes erreicht wurde. Die Katastrophe eines weltumspannenden Krieges der modernen Staatenwelt ... steht uns heute vor dem geistigen Auge anders, als die Mitlebenden sie mit leibhaftigen Augen sahen, schon in kühler Distanz, in allen Einzelheiten beleuchtet, fast ohne Rätsel. Forscher in allen Ländern sind sich über die Grundzüge der Vorgänge im großen und ganzen einig - sofern nicht ideologische Bindungen die unbefangene Beurteilung beeinträchtigen.

Walther Hubatsch (1955)

A. Die Kriegsschuldfrage als Problem der historischen Forschung

L Fritz Fischer und die Folgen

Selten oder nie hat ein knapp 900 Seiten starkes wissenschaftliches Buch eine solche Reaktion hervorgerufen, wie dies 1961 der "Griff nach der Welt-macht" des Hamburger Historikers Fritz Fischer tat1. Eine Frage, die schon längst erledigt und definitiv beantwortet zu sein schien, rückte mit einem Schlag in den Mittelpunkt der historisch-politischen Kontroversen. Walther Hubatsch dürfte seine oben wiedergegebene Bemerkung, die den scheinbar gesicherten Stand der Forschung widerspiegeln sollte, schnell bereut haben2. Umgekehrt wird Fischer sehr genau gewußt haben, wie weit sich seine Ergebnisse vom allgemeinen Konsens entfernten, als er seinen ersten Aufsatz

1 F. Fischer: Der Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961. Eine 3. verb. Aufl., in der die ersten beiden Kapitel neu geschrieben waren, erschien ebd. 1964, eine völlig Überarb. Sonderausgabe 1967; auch Nachdruck Kronberg i.Ts. 1977.

2 W. Hubatsch: Der Weltkrieg 1914/1918. Handbuch der Deutschen Geschichte. Hg. v. L. Just, 4. Bd., Abschnitt 2, Konstanz 1955, S. 2. Mit diesem Absatz leitete Hubatsch seinen Beitrag ein.

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14 Α. Die Kriegsschuldfrage als Problem der historischen Forschung

zum Thema 1959 in der Historischen Zeitschrift mit diesem Hubatsch-Zitat beginnen ließ3.

Ein im Grunde bis heute andauernder Historikerstreit erhob sich, gegen den der sogenannte "Historikerstreit" der achtziger Jahre in jeder Beziehung wie ein fader Aufguß wirken muß. Dabei war es nicht einmal der Hauptteil von Fischers akribischer Untersuchung, die auf der Auswertung von Bergen von Archivmaterialien beruhte, der die "Fischer-Kontroverse" auslöste. Es ging vielmehr um die beiden ersten der insgesamt 23 Kapitel des Buches. In 21 Kapiteln wurde die Kriegszielpolitik während des Krieges untersucht, die Ein-leitung wollte hingegen aufzeigen, daß der Krieg planmäßig von Deutschland vorbereitet und in der Julikrise 1914 zumindest leichtfertig entfacht wurde.

Dies ist gewiß eine fast unzulässige Veikürzung wenigstens der damaligen Gedanken Fischers, und dieser hat sich denn auch dagegen gewehrt, in dieser Ver-kürzung mißverstanden zu werden. Aber wenn er auch nicht die deutsche Allein-schuld behauptet hatte, liefen seine Thesen in der unübersehbar immer weiter verschärften und pointierten Form, die er ihnen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte gab, cum grano salis doch genau darauf hinaus. Was 1961 als Untersuchung der Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland begonnen hatte und sich 1969 dahin weiterentwickelte, das Deutsche Reich habe spätestens seit 1912 planmäßig auf einen Krieg hingearbeitet4, mündete schließlich konsequent in der Behauptung der Kontinuität deutscher Politik vom kaiserlichen bis zum nationalsozialistischen Hegemonialstreben. 1979 verstand Fischer den Zweiten Weltkrieg "vor allem als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg ..., als Weigerung der führenden Schichten des Deutschen Reiches, den Ausgang des Ersten Weltkrieges hinzunehmen"5.

J F. Fischer: Deutsche Kriegsziele, Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914-1918, in: HZ, 188. Bd. (1959), S. 249-310, hier S. 249. Fischer nennt die Aussage Hubatschs "um so überraschender", als die Ententearchive noch ungeöflnet und die deutschen Akten nicht voll ausgeschöpft seien. Letzteres war genau sein Vorhaben.

4 "Krieg der Illusionen", Düsseldorf 1969. Zur Abwehr der Kritik an seinem ersten Buch siehe den ersten Teil von Fischers Aufsatz "Weltpolitik, Weltmachtstreben und deutsche Kriegsziele", in: HZ, 199. Bd. (1964), S. 265-346, hier S. 265-280 (erneut und nur diesen ersten Teil umfassend unter dem Titel "Zur Kritik an dem Buch 'Griff nach der Weltmacht'", in: ders., Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild, Düsseldorf 1977, S. 223-237).

5 F. Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979, S. 94. Vgl. zur Kontinuitätsproblematik auch Fischers "Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im ersten Weltkrieg", Frankfurt a.M. 1965; verschiedene Aufsätze in der in der letzten Anmerkung genannten Sammlung "Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild", v.a. S. 350ff.; und zuletzt Fischers Aufsatzsammlung "Hitler war kein Betriebsunfall", München 1992.

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I. Fritz Fischer und die Folgen 15

Damit war Fischer letztlich mehr oder weniger dort angelangt, wo ihn einer seiner schärfsten Kritiker, der Kieler Politikwissenschaliler Michael Freund schon 1962 vermutete; bei der Kontinuitätsthese von Bethmann Hollweg zu Hitler6.

In den über 30 Jahren, die seit Fischers erstem Aufsatz vergangen sind, ist zum Teil tatsächlich das eingetreten, was Hubatsch fälschlich konstatiert hatte: Inzwischen dürfte der Erste Weltkrieg in der Tat so gut durchforscht sein, wie kaum eine andere Epoche. Im Rahmen der Debatte um die Thesen Fischers wurden die Archive erneut durchsucht, Akten und Dokumente herausgegeben, Tagebücher der Akteure von 1914 ediert und eine Unmenge von Büchern, Aufsätzen und Rezensionen geschrieben. In den sechziger Jahren findet sich schnell die zutreffenden Behauptung, daß die Diskussion unübersehbar geworden sei. Inzwischen füllen nicht nur die Beiträge der Kontrahenten in der Fischer-Kontroverse ganze Bibliotheken, auch die Literatur über den Streit ist gewaltig angewachsen. In regelmäßigen Ab-ständen sind die hauptsächlichen Positionen resümierend wiedergegeben worden, zuletzt mit umfassenden Literaturangaben 1989 von Klaus Hildebrand7. Die Notwendigkeit, die Fortentwicklung der Kontroverse immer neu zu dokumentieren, zeigt überdeutlich, daß die Behauptungen Gassers von

M. Freund: Bethmann-Hollweg, der Hitler des Jahres 1914. Zu einer Spätfrucht des Jahres 1914 in der Geschichtsschreibung, in: FAZ, 28.3. 1964. Erneut in E.W. Graf Lynar (Hg.): Deutsche Kriegsziele 1914-1918. Eine Diskussion, Frankfurt a.M., Berlin 1964, S. 175-182.

η Vgl. in chronologischer Reihenfolge F. Klein (Hg.): Deutschland im ersten Weltkrieg, 3 Bde.,

[Ost-]Berlin 1968 u. 1969, hier Bd.l, S. 40ff; W. Schieder: Einleitung, in: ders. (Hg.), Erster Welt-krieg, Köln u. Berlin 1969, S. 11-26; E. Schraepler: Die Forschung über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Wandel des Geschichtsbildes 1919-1969, in: GWU, 23.Jg. (1972), S. 321-328; A Sywottek: Die Fischer-Kontroverse. Ein Beitrag zur Entwicklung des politisch-historischen Bewußtseins in der Bundesrepublik, in: I. Geiss, B.-J. Wendt (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag, Düsseldorf 1973, S. 19-47 (hierzu V.R. Berghahn: Fritz Fischer und seine Schüler, in: NPL, 19.Jg. (1974), S. 143-154); K. Hildebrand: Imperialismus, Wettrüsten und Kriegsausbruch 1914, in: NPL, 20.Jg. (1975), S. 160-194 u. S. 339-364, hier S. 324ff.; G. Schöllgen: "Fischer-Kontroverse" und Kontinuitätsproblem. Deutsche Kriegs-ziele im Zeitalter der Weltkriege, in: A Hillgruber, J. Dülffer (Hg.), Ploetz Geschichte der Weltkriege, Freiburg u. Würzburg 1981, S. 163-177; ders.: "Griff nach der Weltmacht?" 25 Jahre Fischer-Kontro-verse, in: HJB, 106.Jg. (1986), S. 386-406; B.-J. Wendt: Zum Stand der "Fischer-Kontroverse" um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Annales Scientiarum Budapestinensis, Bd.24 (1985), S. 99-132; ders.: Über den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit der Kriegsschuldfrage, in: K.J. Gantzel (Hg.), Wissenschaftliche Verantwortung und politische Macht, Berlin u. Hamburg 1986, S. 1-63; und schließlich K. Hildebrand: Deutsche Außenpolitik 1871-1918, München 1989, S. 79ff. Diese Liste er-hebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zur Rezeption der Kontroverse in Schulbüchern V. Berghahn: Die Fischer-Kontroverse - 15 Jahre danach, in: GuG, 6.Jg. (1980), S. 403-419. Um-fassend W. Jäger: Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland, Göttingen 1984.