16
Die Diskussion um die metaphysische Kantinterpretation von Gerhard Funke, Mainz „Daß Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegen- standes ist, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren will" 1 , war die These Nicolai Hartmanns in Diesseits von Idealismus und Realismus (1924) gewesen. Ihm kam es unter sachimmanenten Aspekten auf die Heraus- arbeitung eines „Minimums an Metaphysik zur Behandlung der Probleme" an. Hartmanns Rückkehr zum eigentlichen Kant stellt im Grunde eine Wende zur aporetisdien Metaphysik Kants dar 2 . Sie steht im Gegensatz zu Heimsoeths Wende zur Metaphysik, die von der Neudeutung Kants als des Metaphysikers einer intelligiblen Freiheitswelt und eines Freiheitsbewußtseins den Ausgang nimmt und eine „Wende zu Fichte" nicht ausschließt 3 . Daß weiterhin, von den Antinomien Kants ausgehend, ein Übergang zu der Polaritätsphilosophie der Romantik und vor allem Sdiellings möglich ist, sei wenigstens angemerkt. Die „Wende zur Metaphysik" wird dann, etwa bei Paul Tillich 4 , als »Wendung zu Schelling" verstanden, und sie hat sich ja auch im Neu-Schellingianismus des ersten Drittels dieses 20. Jahrhunderts niedergeschlagen. Endlich hatte bereits im strengen Neukantianismus alter Art das Problem des Individuums und der Geschichte bei Windelband eine „Wende zu Hegel" vorbereitet. Individuelles Werden und Ge- setz in der Geschichte sollten zusammengebracht werden: das Wissenschaftsprinzip der Allgemeingesetzlichkeit führte zur Ausbildung des Wert-Neukantianismus und zu den gesdiichtsmethodologisdien Untersuchungen Ernst Troeltschs (1924). Erst als Kant überhaupt nicht mehr aus sich selbst, sondern ganz von Hegel her ver- standen werden sollte wie bei Richard Kroner (1921/4), nahm die Wendung zur Metaphysik die Gestalt einer „Wende zu Hegel" an 5 . Das Problem der Persönlichkeit, ihrer geschichtlichen Bildung und ihrer meta- physischen Bedeutung beherrscht (unabhängig von Heimsoeths Untersuchungen) aus Systemzwanggründen die ganze Zeit, speziell die Kant-Vorlesungen Georg Simmels, die die Schwierigkeiten einer lebensphilosophischen Kant-Metaphysik deutlich zutagetreten lassen. Und man darf sicher auch von einem lebensphilo- 1 N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, S. 1. 2 Ober „Wenden" überhaupt siehe E. Przywara, Ringen der Gegenwart, Bd. II, S. 930. 5 H. Heimsoeth, Fichte (1923). 4 Paul Tillidi, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung (1912); Kairos (1926). 5 W. Windelband, Die Erneuerung des Hegelianismus, in: Sitzungsberidite der Heidel- berger Akademie der Wissensdiaften (1910), Heft 10; E. Troeltsdi, Der Historismus und seine Probleme (1922); R. Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 Bde. (1921/4). Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller L Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Die Diskussion um die metaphysische Kantinterpretation

  • Upload
    gerhard

  • View
    212

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Die Diskussion um die metaphysische Kantinterpretationvon Gerhard Funke, Mainz

„Daß Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegen-standes ist, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren will"1,war die These Nicolai Hartmanns in Diesseits von Idealismus und Realismus(1924) gewesen. Ihm kam es unter sachimmanenten Aspekten auf die Heraus-arbeitung eines „Minimums an Metaphysik zur Behandlung der Probleme" an.Hartmanns Rückkehr zum eigentlichen Kant stellt im Grunde eine Wende zuraporetisdien Metaphysik Kants dar2. Sie steht im Gegensatz zu HeimsoethsWende zur Metaphysik, die von der Neudeutung Kants als des Metaphysikerseiner intelligiblen Freiheitswelt und eines Freiheitsbewußtseins den Ausgangnimmt und eine „Wende zu Fichte" nicht ausschließt3. Daß weiterhin, von denAntinomien Kants ausgehend, ein Übergang zu der Polaritätsphilosophie derRomantik und vor allem Sdiellings möglich ist, sei wenigstens angemerkt. Die„Wende zur Metaphysik" wird dann, etwa bei Paul Tillich4, als »Wendung zuSchelling" verstanden, und sie hat sich ja auch im Neu-Schellingianismus des erstenDrittels dieses 20. Jahrhunderts niedergeschlagen. Endlich hatte bereits im strengenNeukantianismus alter Art das Problem des Individuums und der Geschichte beiWindelband eine „Wende zu Hegel" vorbereitet. Individuelles Werden und Ge-setz in der Geschichte sollten zusammengebracht werden: das Wissenschaftsprinzipder Allgemeingesetzlichkeit führte zur Ausbildung des Wert-Neukantianismus undzu den gesdiichtsmethodologisdien Untersuchungen Ernst Troeltschs (1924). Erstals Kant überhaupt nicht mehr aus sich selbst, sondern ganz von Hegel her ver-standen werden sollte wie bei Richard Kroner (1921/4), nahm die Wendung zurMetaphysik die Gestalt einer „Wende zu Hegel" an5.

Das Problem der Persönlichkeit, ihrer geschichtlichen Bildung und ihrer meta-physischen Bedeutung beherrscht (unabhängig von Heimsoeths Untersuchungen)aus Systemzwanggründen die ganze Zeit, speziell die Kant-Vorlesungen GeorgSimmels, die die Schwierigkeiten einer lebensphilosophischen Kant-Metaphysikdeutlich zutagetreten lassen. Und man darf sicher auch von einem lebensphilo-1 N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, S. 1.2 Ober „Wenden" überhaupt siehe E. Przywara, Ringen der Gegenwart, Bd. II, S. 930.5 H. Heimsoeth, Fichte (1923).4 Paul Tillidi, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung

(1912); Kairos (1926).5 W. Windelband, Die Erneuerung des Hegelianismus, in: Sitzungsberidite der Heidel-

berger Akademie der Wissensdiaften (1910), Heft 10; E. Troeltsdi, Der Historismus undseine Probleme (1922); R. Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 Bde. (1921/4).

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

410 Gerhard Funke

sophischen Neu-Kantianismus sprechen. Simmel metaphysiziert in seinen Vorlesun-gen (1904) Kant durch die Lehre vom „Menschen schlechthin"6. Der lebensphi-losophische Interpret des individuellen Daseins kommt dabei zu einem Indivi-dualismus, der keiner mehr ist. Denn es ist kein Zweifel: der Mensch der schonvollkommenen Autonomie, den das 18. Jahrhundert vor Augen führt und denauch Kant im Auge hat, ist im Grunde der Allgemein-Mensch, nicht das ganzbesondere Individuum ineffabile7. Der Mensch — das ist das, was in allen Men-schen, so individuell sie immer sind, gleich ist. Die Menschheit im Menschen8, dasist es auch, wovon die sogenannten allgemeinen Menschenrechte sprechen (weshalbes ein Nonsens ist, hier noch rights of women zu proklamieren). Die Menschheitim Menschen soll auch bei Kant die Feststellung treffen, welche Maximen allge-mein werden könnten. Der Mensch allein, aber eben der Allgemein-Mensch undnicht das Individualsubjekt, ist bei Simmel der von Kant gemeinte „Gesetzgeberder Natur", zugleich auch der Verantwortliche des „unendlichen Progresses" inder Geschichte. Das transzendentale und nicht das empirische Subjekt steht in Rede.Von hier aus gesehen, bleibt es auch für Simmel selbstverständlich, daß „Wahrheitnur objektive, d. h. für alle gültige Wahrheit sein kann". Zugleich ist für ihn dieVorstellung, „daß ein jeder seine besondere Wahrheit hat, ein Widerspruch undein Greuel". Die Objektivität, um die es geht, ist die des Allgemeinmenschen, istim Allgemeinmenschlichen verankert, das aber dem Individuum innewohnt unddessen Feststellung die einzelnen im praktischen Bereich zustreben. Der hier vor-liegende „unendliche Prozeß" ist vom Ideal aus („von der Ferne her") normiert.

Natürlich hat Simmel Recht, wenn er die „populäre Mär vom SubjektivismusKants", die besonders in den traditionellen Kantinterpretationen katholischerObservanz immer wieder verbreitet worden ist, scharf bekämpft. Denn die objek-tive wahre, sachlich notwendige Erkenntnis „ist die subjektiv allgemeine, an derÜbereinstimmung aller möglichen Subjekte erkennbare". Sie ist schlechtweg dasProdukt dessen, „was eben allein allen gemeinsam ist, des Allgemein-Menschenin uns, des überhistorischen, überindividuellen ,Menschen überhaupt'". Es bleibtsomit dabei: Kant faßt die Welt als Erkenntnisprodukt, als Auffassungsresultatauf, aber es besteht dennoch keine Gleichsetzung von Erkenntnissubjekt undErkenntnisobjekt, keine Gleichheit von Ich und Welt. Denn das „Ich" ist ja nichtder reale historische Mensch (wie man bei einem Lebensphilosophen erwartenwürde), sondern ein ideelles Gebilde9; nicht irgendeine reale seelische Energie,sondern das Bewußtsein überhaupt: nicht das Ich als Persönlichkeit, sondern die„Einheit des Bewußtseins"10. Es handelt sich damit um den Inbegriff überhauptmöglicher Erkenntnis, wobei „Ich" und „Objekt" nur „Ausdrücke für die einheit-liche Form, in der diese sich darbieten"11, abgeben.

8 Georg Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen (1904, 192l5).7 G. Simmel, S. 2—4.8 G. Simmel, 16. Vorlesung, S. 256.0 G. Simmel, S. 3—4.10 G. Simmel, S. 112. ll Vgl. E. Przywara, Ringen der Gegenwart, Bd. II, S. 737.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Metaphysische Kantinterpretation 411

„Ich* ist ein Nomen für die „Funktion" in sich gültiger Erkenntnisse oder derrein formale Ausdruck für ihren Zusammenhang. Kant hat nach Simmel die Weltgewiß nicht „subjektiviert", vielmehr hat er das „Ich" (gnoseologisch) „objekti-viert", weil es eben als „transzendentales Ich" nichts als die formale Einheit insich zusammenhängender Gehalte darstellt. Simmel erklärt ausdrücklich: das „Welt-bild ist durch das Ich da, aber das Ich ist für das Weltbild da" — nämlich alskorrelativ unerläßliche Erklärungsgrundlage12.

Die Kantdeutung dieses konsequenten Vertreters eines personalistischen Indivi-dualismus läuft auf einen erklärten gnoseologischen Objektivismus hinaus. Dennwas begründet die „Einheit des Kantinischen Weltbildes"? — offenbar doch dies:„das Aufeinanderhinweisen, Auseinanderfolgen, Miteinanderverbundensein derElemente der Wirklichkeit, weil sie eben nur dann der Wirklichkeit angehören,wenn der Verstand sie als der Erfahrung notwendig zugehörig begreift"13.

Die Metaphysik, die Simmel hieran anschließt, ist eine solche der Hypothesis.Nicht zufrieden mit der transzendentalen Einheit und dem transzendentalen Ich,und doch überzeugt vom konkreten Vorhandensein einer schöpferischen Indivi-dualität, meint er, es müsse „im Menschen noch ein Drittes geben, jenseits ebenso-sehr der individuellen Subjektivität wie des allgemein überzeugenden logischenDenkens". Dies Dritte müßte von der Philosophie einfach angenommen werden,„ja, die Existenz der Philosophie forderte als ihre Voraussetzung, daß ein solchesDrittes da sei". Simmel will es mit einer sehr ungefähren Charakteristik „als dieSchicht der typischen Geistigkeit in uns bezeichnen". Denn „Typus" sei doch einGebilde, „das sich weder mit der einzelnen realen Individualität deckt, noch eineObjektivität jenseits der Menschen und ihres Lebens darstellt"14.

Die Crux von Simmels Lehre besteht darin, daß — wenn für den KantischenGeistestypus das Allgemein-Menschliche im Individualmenschen innewohnt — dieVerlegung aller Gültigkeit „in den Menschen" psychologisch dazu führt, daß jederMensch sich für den Menschen hält und darum Unterwerfung unter gerade seinUrteil fordern könnte. Das heißt, ein so verstandener Kant würde mit dem hierauftretenden Anthropologismus und dem dazugehörigen Primat des Menschen„zur unerträglichen Tyrannis des subjektiven Urteils, zur weitgehendsten Intole-ranz" verleiten können15. Das einzige Gegenmittel hiergegen besteht in dem folge-richtigen Rückgang auf den „unendlichen Progreß": Wirklichkeit ist ja das Korre-lat des Erkennens; nicht dieses oder jenes Bruchstücks von Erkenntnis, und so bleibtangesichts der Unausschöpflichkeit der Realität auch die Erkenntnis des Einzel-menschen fragmentarisch und ebendeshalb der Ergänzung bedürftig. Erkenntnisals Aufgabe für die Gemeinschaft der Erkennenden — dies ist nach Simmel dasletzte Wort einer Metaphysik einschließenden Kantinterpretation.

12 G. Simmel, S. 78.1S G. Simmel, S. 115.14 G. Simmel, Hauptprobleme der Philosophie (1913), S. 25.15 G. Simmel, Kant, S. 256 ff.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

412 Gerhard Funke

Dies Ergebnis hat etwa gleichzeitig Hans Cornelius in seiner TranszendentalenSystematik (1916) in die Schulsprache übersetzt. Er erklärt16: was für die natu-ralistische Wirklichkeitsauffassung als ein dem Erkennen von vornherein selbstän-dig Gegenüberstehendes galt — nämlich die Welt der Gegenstände, die unabhängigvom Wahrgenommenwerden ihr Dasein haben sollen —, das läßt eine konsequentdurchgeführte Kant-Betrachtung „als eine Folge von Begriffsbildungen erkennen,in die wir die Erscheinungen überall zu fassen durch die Faktoren der Einheitunseres Bewußtseins genötigt sind". Das heißt aber, Außenwelt und Innenweltsind ihrem Wesen nach dem Erkennen nichts Fremdes, „sondern vielmehr etwas,was nur als Gegenstand unseres Erkennens besteht"n. Im Ganzen steht dahinter,daß „die Einheit des Bewußtseins als Quelle der Systematik des unmittelbarGegebenen"18 selbstverständlicherweise anzunehmen sei, und zwar als die Einheiteines immer ganz persönlichen Bewußtseins anzunehmen sei.

Die Unvollendbarkeit der Aufgabe einer erkennenden Wirklichkeitsbewältigungmacht allerdings verständlich, daß die Kantinterpretation der Zwanziger Jahreeinen Ausweg sucht. Er wird darin gefunden, daß plausibel gemacht wird, Kanthätte nicht eigentlich als Gnoseologe oder Methodologe Gewicht, sondern alsMetaphysiker, der eine philosophische Weltanschauung vertritt. So sieht MaxWundt in der Untersuchung über Kant als Metaphysiker (1924) den Grundfehleraller früheren Kantauslegungen darin, daß sie eine Reduktion eben auf „Logik",auf „Methode", auf „Gnoseologie" enthielten, während Kant doch, historischbetrachtet, in seinem ganzen Werk durchgängig nichts als die schließliche Formu-lierung einer von Anfang an geheim zugrundeliegenden Weltanschauung versuchthabe. Das heißt also, das so angenommene, von Anbeginn an geplante metaphy-sische System erwüchse aus immer neuen Untersuchungen und Voruntersuchungen,die alle insgesamt natürlicherweise die Kennzeichen der traditionellen Metaphysiknoch an sich trügen. Wundt stellt es ausdrücklich als Verkennung der KantischenBemühungen dar, nur die Motive der Zeit zwischen 1770 und 1798 als eigentlichkennzeichnend anzuerkennen.

Wundt glaubt sich in der Lage, ein zentrales Motiv in Kants Weltanschauungund in der durch die drei Kritiken begründeten neuen Metaphysik aufweisen zukönnen, von dem her sich Kants Absicht erklärt. Es ist für Wundt das Problemder Verbindung von Mechanismus und Teleologie. Heinz Heimsoeth hatte in derDarstellung der Sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik die histo-rische kontinuierliche Wirkung solcher thematischen Gesichtspunkte grundsätzlichaufgedeckt, freilich dabei dieses von Wundt herausgegriffene Gegensatzpaar nichtzum Angelpunkt einer besonderen Betrachtung gemacht. Wundt kommt es beider Behandlung dieses seiner Meinung nach weltanschauungbildenden Punktesdarauf an, eine Verbindung des historischen und des systematischen Gesichtspunktszu erreichen. Alle in der Kantphilologie festgestellten etwaigen „Umkippungen" bei

18 Hans Cornelius, Transzendentale Systematik (1916), S. 260.17 H. Cornelius, S. 259.18 H. Cornelius, S. 264.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Metaphysische Kantinterpretation 413

Kant bedeuten für ihn nur den Beweis, daß Kant immer wieder neue Versucheunternommen habe, bessere Begründungen für die ihm eigentlich vorschwebendeWeltanschauung zu geben. So kann hier bei Wundt sowohl die Frage nach dem„eigentlichen" Kant aufgegriffen werden als auch das Problem der geistesgeschicht-lichen Einordnung Kants seine Erledigung finden.

Was für Leibniz noch ein Grundproblem war und von Wolff bereits als fremdempfunden wurde: die höhere Einheit oder Verbindung von ideologischer wiemechanistischer Betrachtungsweise, das erscheint bei Wundt als Inhalt der Aufgabe,die sich Kant gesetzt habe. „Kant als Metaphysiker" zu verstehen, erklärt sichnach Wundt leicht: indem über das mechanistische Prinzip hinausgefragt wird (umes nämlich zu sichern!), erkennt man mit Kants Untersuchungen bei der Begrün-dung der Naturwissenschaft die Begrenztheit und Bedingtheit der in Frage ste-henden naturwissenschaftlichen Betrachtung. So wird von der Welt der Erfahrungher zu der des Obersinnlichen reflektierend fortgeschritten und damit eben schonder Weg der Metaphysik19 gegangen. Die sogenannte und vielberufene Begründungder Naturwissenschaft durch Kant stellt sich dann nicht als Zweck, sondern alsErgebnis einer eigentlich durch traditionelle metaphysische Problemstellungen an-geregten Untersuchung dar: sie ist nicht Thema, sondern Ertrag. Wenn die Erfah-rung in ihrer Bedingtheit erkannt wird, so wird sie dadurch nicht zugleich relati-viert: die empirische Realität der Erfahrungsobjekte erweist sich bei angemessenerAnalyse eben als die andere Seite einer transzendentalen Idealität20. Dabei wer-den inems die Grenzen entdeckt, vor denen die Naturwissenschaft haltmachen muß.

Wenn in eben dieser transzendentalen Idealität die Begründung für die objek-tive Gegenständlichkeit steckt und die „Erkenntnis der Erscheinungswelt" die inder Naturwissenschaft allein mögliche bleibt21, so ist diese Erscheinungswelt nichtsan sich selber, sondern hängt ab „von einer anderen unbedingten Realität"22. Inähnlichem Sinne hat auch Johannes Volkelt von „Kant als Philosophen des Unbe-dingten" gesprochen (1924). Es muß zwar eine Welt möglicher Dinge an sichanerkannt werden23, aber auch dies, daß in ihr für die Naturwissenschaft nichtszu holen ist. Für eine tragbare philosophische Weltanschauung muß die Vernunft-kritik feststellen, wie weit das Verfahren der Naturwissenschaft reicht, und mußversuchen, es „gegenüber seiner unberechtigten Erweiterung auf das Feld der Meta-physik hinaus abzugrenzen"24.

Im ganzen hat die Vernunftkritik mit der Lösung einer doppelten Aufgabe aufdie künftige Metaphysik vorzubereiten. Sie hat das Recht der mechanistisch ver-fahrenden Naturwissenschaft sicherzustellen, und sie hat ineins die Grenzen diesesRechtes zu bestimmen. Die Grenzziehung selbst wird als Sache der Widerlegung

19 Max Wundt, Kant ah Metaphysiker (1924), S, 205.20 M. Wundt, S. 205.21 M. Wundt, S. 201.« M. Wundt, S. 206.23 M. Wundt, S. 205.24 M. Wundt, S. 212.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

414 Gerhard Funke

aller erdenklichen philosophischen Dogmatismen angesehen, die die Aufgabe der„transzendentalen Dialektik* bleibt. Die eigentliche Metaphysikbegründung je-doch wird in der Kritik der reinen Vernunft durch die „Methodenlehre" vorberei-tet, die die „objektive Realität der intelligiblen Welt als Gegenstand des morali-schen Glaubens" gewinnt25. Von solchem Ansatz aus kann dann das „doktrinaleGeschäft" als eben das eigentliche Anliegen Kants erledigt werden.

Über die „knappen Ausführungen der Methodenlehre"26 muß also nach Wundthinausgegangen werden, und Kant selbst ist diesen Weg in den beiden anderenKritiken sowie in den Grundlegungsarbeiten gegangen. Insofern verbietet sichbereits von der inneren Anlage der Forschungsarbeit Kants her eine Beschränkungauf die erste Vernunftkritik ebenso wie auch nur deren bevorzugte Heranzie-hung27. Wenn die Kritik der reinen theoretischen Vernunft eine transzendentaleMetaphysik der Natur impliziert, so ist die Kritik der reinen praktischen Vernunftihr nebengeordnet — und zwar genauso, wie die Grundlegung zur Metaphysikder Sitten neben den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaftsteht.

Wundt macht darauf aufmerksam, daß sich aus dieser Nebenordnung bzw. ausdieser „Selbständigkeit beider Grundgerüste" eine neue Aufgabe (systemimma-nent) ergibt, nämlich ein neues „sie verbindendes Gewölbe" zu finden, das, „zwi-schen beiden Oberbauten angebracht, keinen eigenen Überbau mehr tragen sollte"28.So ist die gesamte Vernunftkritik in ihrer nun dreiteiligen Ausführung von system-bestimmendem Charakter und bildet erst historisch ein Ganzes, wobei schließlichdie (immer geplante) Neubegründung der Metaphysik zur Begründung einerneuen Metaphysik wurde29. Die Frage, die zu klären ist, lautet: Wie sieht fürWundt der Zugang zu dieser Metaphysik aus? Die Einsicht, daß die Kategorienzwar „nicht wie die Anschauungsformen auf Sinnlichkeit gründen und deshalbeine über die Sinnlichkeit hinaus erweiterte Anwendung gestatten", erlaubt (inAnalogie) einen weiterführenden Schluß. Das Denken kann die Sinnlichkeit da-durch begrenzen, daß es auf außerhalb der Sinnlichkeit Liegendes hinweist, wel-ches sie denknotwendig begrenzt30. Ebenso gibt die jenseits des Verstandes ent-deckte Vernunft mit den zugehörigen Vernunftbegriffen, die nicht auf Sinnlichkeitzurückverweisen, einen zusätzlichen Anstoß. Die „Entdeckung des Vernunftbe-griffs ... und die Einsicht, daß der Vernunftbegriff ein anderes Verfahren erfor-dere als die gewöhnlichen Operationen des Verstandes, lassen Kant das echtemetaphysische Verfahren wiedergewinnen"31.

Wundt stellt das historisch-faktisch fest, nicht nimmt er systematische Ableitun-gen vor. Darin liegt das Negative wie das Positive seines Ansatzes. Wundt übt

25 M. Wundt, S. 278.26 M. Wundt, S. 279—280.27 Wolfgang Ritzel, Studium zum Wandel der Kantauffassung (1952), S. 11.28 M. Wundt, S. 375.29 M. Wundt, S. 376.30 W. Ritzel, Studien, S. 86. « M. Wundt, S. 301.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Metaphysische Kantinterpretation 415

nicht Kritik an Kants Kritik. Was die Metaphysik, speziell die Metaphysik derDinge an sich betrifft, befindet sich Wundt weitgehend mit Adickes in Über-einstimmung. Dieser hat gleichzeitig mit Wundt nachzuweisen versucht, daß auchskeptisch klingende Äußerungen Kants bezüglich der Dinge an sich eindeutig inter-pretiert werden könnten. Sie bezweifelten und leugneten „niemals auch nur vonFerne ihre transsubjektive Existenz, sondern immer nur deren theoretische Erweis-barkeit und die Erkennbarkeit des Transzendenten"32. Kants „realistisch gefärbtesErleben" mache das auch ganz unmöglich. Als Hilfsmittel der weiterführendenErklärung verbleibt bei Wundt wie bei Adickes „überall die praktische Philoso-phie, bereit, das zu ergänzen, was der theoretischen abgeht"33.

Ein neuer Gesichtspunkt wird erreicht, wenn „Gnoseologie", „Ontologie", „phi-losophische Weltanschauung", wenn „Wissenschaft" überhaupt als Kulturgebildeund als Teil der Kultur begriffen wird. Nach Bruno Bauch zielt die Hauptfragedes Kritizismus weder auf Natur noch auf Moral, sondern auf die Kultur34. Diescharfe Fassung des Kulturproblems jedoch leistet auch dies, Einheit und Zusam-menhang der drei Kritiken Kants aufzudecken. Das traditionell an den Anfangder Kantinterpretation gestellte Problem der Natur und der Naturerfahrungerschließt sich nach Bauch als Kulturproblem.

Selbstverständlich ist in der Frage der Kritik der reinen Vernunft nach derMöglichkeit von synthetischen Urteilen a priori auch die nach der Möglichkeit vonso etwas wie Natur enthalten, aber diese Frage ist in eine andere eingebettet35.Sie zielt auf Begriff, Leistung und Aufgabe der Kultur, durch die Wissenschaftüberhaupt auftritt. Das heißt: Erfahrung geht nicht in Naturerfahrung auf, wennnaturwissenschaftliche Erfahrung ihrerseits wieder ein Kulturgebilde und ein Kul-turerzeugnis darstellt. Und ebenso geht „Natur" nicht in der von der Natur-wissenschaft unterstellten Natur auf, weil die vielleicht eine zurechtgemachte Naturist. Der Erfahrungsbegriff wird hier offenbar anders (und weiter) gefaßt als beiKant. Das Recht dazu wird wie folgt begründet: Außer der exakten Wissenschaft(einer Kulturhervorbringung) und der dazugehörigen Erfahrung (deren Möglich-keit die erste Vernunftkritik klärt) gibt es noch eine weitere Erfahrung nichtminderen Ranges, eine Erfahrung „im Ganzen des kulturgeschichtlichen Lebens"36.Neben der sogenannten wissenschaftlichen Erfahrung im Rahmen der Natur-erscheinungen steht die „sittliche, rechtliche, ästhetische, religiöse Erfahrung". Daßhier ein anderer terminologischer Gebrauch als etwa bei dem Kant von 1781 vor-liegt, ist offensichtlich. Andererseits ist von der Sache her solche Abweichung selbstvon Kant her nicht unmöglich, da dieser ja auch für die Ermittlungen über Erfah-

32 E. Adickes, Kant und das Ding an sich (1924), S. 159.33 E. Adickes, S. 159.34 Von Bruno Baudis Schriften sind heranzuziehen: Immanuel Kant (1917, 19233);

Immanuel Kant (Göschen-Sammlung 1920, 19334); Wahrheit, Wert und Wirklichkeit(1923); Immanuel Kant, in: Aufriß der Philosophiegeschichte 1933/4; Grundzüge derEthik (1935).

35 W, Ritzel, Studien, S. 111.3« B. Bauch, Immanuel Kant (19238), S. VIII.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

416 Gerhard Funke

rung Erkenntnischarakter in Anspruch nehmen muß, wenn sein Anliegen nichtbodenlos werden soll. Hier liegen faktisch Äußerungen des Lebens vor, die denAnlaß für die Frage nach der Möglichkeit von so etwas wie Kultur im weitestenSinne bieten. Der Nachweis der Verankerung der Objekte der Naturwissenschaftim Nichtnaturwissenschaftlichen („Übersinnlichen") wird als Thema Kants vonBauch in der Form in den Mittelpunkt gestellt, daß das „Faktum Wissenschaft"als Kulturfaktizität relevant wird, die ja nicht selbstverständlich ist und so ihrer-seits Begründung heischt.

Die Wende zur Metaphysik erfolgt hier somit nicht historisch, sondern aus demBewußtsein heraus, daß „alles Faktische schon Theorie" ist, daß somit besonderesFaktisches auch eine besondere Theorie erforderlich macht. Unter dem Eindruck,daß wissenschaftliche qua naturwissenschaftliche Erkenntnis nur einen Ausschnittaus dem Bereich möglicher Erkenntnis repräsentiert, wird an diesem Beispiel dieErkenntnis der Erkenntnis zum Problem. Naturerscheinung, Naturerfahrung, Na-turwissenschaft — hiermit kann die Erörterung des kritischen Verfahrens wohl inGang gebracht werden, aber die Erfahrungshaftigkeit der Erfahrung wird dabeinicht durchsichtig.

Natürlich ist Erkenntnis allemal Erkenntnis eines zu erkennenden Gegenstan-des; und die Erkenntnis, die die erste der Vernunftkritiken behandelt, hat ihrenGegenstand in der vor allem in die Augen fallenden „Natur". Dieser Zusammen-hang nun ist seinerseits nicht selbst wieder ein Naturgegenstand, aber er ist auchnicht nichts, insofern stellt er sich als über die erste Naturwirklichkeit hinaus-weisend dar.

Bauch geht nun nicht so vor, daß er mehr oder weniger willkürlich beliebigeKulturfakten im sogenannten ästhetischen, moralischen, religiösen Bereich einervielberufenen geisteswissenschaftlichen Erfahrung herausgreift und etwa die hierzuständigen synthetischen Einheitsfunktionen innerhalb der speziellen „Kultur-gebiete" aufdeckt. Er nimmt sich nicht jeweils einzeln die Probleme des Rechts,der Kunst, der Sittlichkeit, des Glaubens usw. vor.

Er geht von dem Kulturfaktum „Wissenschaft" aus, das zwar ein Kulturfak-tum unter anderen darstellt, aber wegen seiner ins Auge springenden, unüberseh-baren Gegenstandsbefaßtheit überhaupt als Ausgangsfaktum prärogative Bedeu-tung zu besitzen scheint. Der Grund der wissenschaftlichen Hinwendung zurNatur in ihrer bloßen Natürlichkeit birgt den Ansatz für die Lösung des Kultur-problems. Das heißt: die transzendentallogischen Erörterungen der Kritik derreinen Vernunft mit dem Versuch einer Begründung von Naturwissenschaft über-haupt können auch das tieferliegende und eben diese Bemühungen selbst tragendeKulturproblem einer Aufklärung zuführen. Mit der Herausstellung der Möglich-keit synthetischer Urteile a priori ist die Logizität der Natur37 plausibel gemacht.Das heißt, es ist damit in kritischer Wendung Front gemacht gegen alle dogma-tische Metaphysik, vor allem gegen die Deutung der Natur als eines „substanz-

37 W. Ritzel, S. 112.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Metaphysische Kantinterpretation 417

haft zu denkenden Allwesens". So kann man sagen: mit der selbst offenbar meta-physisdi verankerten Theorie des Kulturfaktums „Naturwissenschaft" ist zweifel-los die Theorie der Kultur38 selbst verbunden. Allerdings, wenn sie miteinanderin Verbindung stehen, dürfen sie doch nicht miteinander verwechselt werden.

Bei Kant wird von einem doppelten Begriff von Erkenntnis Gebrauch gemacht:es gibt Direkterfahrung des Gegenstandes und transzendental-reflexive Erkennt-nis bezüglich soldier Erfahrung des Gegenstandes. Natur und Naturwissenschaftstellt dann einen Kulturgegenstand aus eigenem Logos dar. Und es ist durchausrichtig festzuhalten, daß für Bauch „dieses Gegründetsein des Tatsächlichen imLogos ... von zentraler Bedeutung für die kritische Lehre"39 ist. Denn damit wirddie Wirklichkeit insgesamt als nichts Alogisches genommen, und diese Feststellungerhebt ihrerseits Geltungsanspruch. Ist sie „Erkenntnis", so gründet sie in einerVernunft, die mehr ist als der naturkonstituierende Verstand, und im grundsätz-lichen Rückgang auf sie liegt Bauchs Metaphysik40.

Kultur insgesamt mit allen ihren Äußerungen, eingeschlossen die Hervorbrin-gung von „Wissenschaft", stellt sich als nur „praktisch" erklärbar dar. Das Faktumder Wissenschaft verweist von sich aus auf ursprünglichere Begründungen undverweist auf Praxis insofern, als Praxis immer etwas darstellt, was nicht ist, son-dern was nur als aufgegeben verstanden werden kann. Die Möglichkeit praktischerBewältigung und Gestaltung der Wirklichkeit (und das heißt „Erzeugung vonKultur") ergibt sich mit Notwendigkeit bei Gelegenheit der kritischen Analyseder Voraussetzungen von so etwas wie Naturwissenschaft, die eben die natur-wissenschaftliche Einstellung zur Bedingung hat. Also ist die betätigte Natur-erfahrung und der analysierende Versuch ihrer Erklärung die Gelegenheitsursachefür die Begegnung mit der Metaphysik.

Aus der Möglichkeit von Natur und kritisch aufgeklärter Naturwissenschaftwird — wie an einem Exempel — die Möglichkeit von Kultur ersichtlich, ohnedaß selbstverständlich der Umgang mit Gegenständen der Naturerfahrung oderohne daß die hier tätigen Erscheinungswissenschaften dies wollen oder gar zumZiele haben müßten. Die Möglichkeit der Kultur liegt mit der Naturwissenschaftoder in Gestalt der Naturwissenschaft offen zutage und begründet diese im kri-tischen Sinne selbst, die Besonderheit des Naturkonstituierten übersteigend. Ersthiernach wird es, sekundär, möglich und erscheint es auch gerechtfertigt, zu einerkritischen Theorie der einzelnen sogenannten Kulturgebiete fortzuschreiten, nach-dem die Frage ihrer Erzeugung anhand der Analyse der Natur und der Natur-erfahrung gelöst worden ist. Von hier aus ist es auch keine Schwierigkeit, Kantals Philosophen der modernen Kultur hinzustellen und zu behandeln.

Die Erweiterung des Erfahrung*- und Wissenschaftsbegriffes, die bei Bauchunter kulturtheoretischen Gesichtspunkten im Mittelpunkt steht, läßt sich nochin einer anderen Perspektive sehen. Es ist die gegenstandstheoretische.

w W. Ritzel, S. 112.39 W. Ritzel, S. 112.40 B. Bauchs Hauptwerk Wahrheit, Wert und Wirklichkeit (1923) sucht sie zu begründen.

28 Kant-Studien 67

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

418 Gerhard Funke

Hans Pidiler hat in einer genauen Interpretation von Christian Wolffs Onto-logie (1910) die scientia entis in genere nicht als Wissenschaft vom Seienden, son-dern als· Wissenschaft von den Gegenständen vorgeführt41. Und Kant nennt dasSystem aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt be-ziehen42, Ontologie. Diese terminologische Festlegung wird durch C. Ch. E.Schmidts Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kartuschen Schriften (1788)bekräftigt, heißt da doch Ontologie ihrer Absicht nach: „eine systematische Doc-trin synthetischer Erkenntnisse a priori von Dingen überhaupt." Aus sachlichenGründen also wird Kant auf Wolff zurückbezogen.

„Metaphysik" heißt bei Kant diejenige Philosophie, welche jene Erkenntnisin systematischer Form und Reinheit darstellen soll43. Sie ist allgemein „Meta-physik der Natur", sofern sie alles, was ist, aus „Begriffen a priori erwägt", undsie heißt „Metaphysik der Sitten", wenn sie sich in der entsprechenden Weisemit dem, „was sein soll", befaßt. Die im engeren Sinne „Metaphysik" genanntePhilosophie ist „Transzendentalphilosophie" bzw. „Physiologie der reinen Ver-nunft"44. Und diese Transzendentalphilosophie betrachtet Verstand und Vernunftselbst „in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenständeüberhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären"45. Eben sol-che Transzendentalphilosophie hat den Namen „Ontologie" — sie ist von derPhysiologie der reinen Vernunft insofern verschieden, als diese die Natur als den„Inbegriff gegebener Gegenstände" untersucht. Die Transzendentalphilosophie je-doch, die das System der Kategorien entwickelt, ist insofern und nur insofernOntologie, als diese Kategorien die einzigen Begriffe sind, die sich „auf Gegen-stände überhaupt" beziehen, und Kant darf nur deshalb „Subjektivist" heißen,weil die von ihm entfaltete Transzendentalphilosophie eben den Verstand und dieVernunft analysiert. Die Physiologie der reinen Vernunft aber betrachtet dieNatur als den „Inbegriff gegebener Gegenstände", und der Vernunftgebrauch istbei solcher rationalen Naturbetrachtung „entweder immanent oder transzendent".Dabei wird die rationale Physiologie als „in der Erfahrung anwendbare" Physio-logie getrennt von derjenigen Physiologie, die „über mögliche Erfahrung" hinaus-geht, so daß von der „transzendentalen Welterkenntnis" (in der Immanenz derNatur) unterschieden werden muß die transzendentale Gotteserkenntnis. Dem-gemäß bestehe, wie Pidiler zeigt, das ganze „System der Metaphysik" bei Kantaus eigentlich vier Hauptteilen: der Ontologie, der rationalen Physiologie, Kos-mologie und Theologie. Und der zweite Teil, eben die Naturlehre der reinenVernunft, enthält nebeneinander die physica rationalis und die psychologia ratio-nalis46. In den Vorlesungen über die Metaphysik heißt es von der Transzendental-

41 Hans Pidiler, Über Christian Wolffs Ontologie (1910), S. 4.42 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 873, Ak. Ausg., Bd. III, S. 546.43 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 873, Ak. Ausg., Bd. III, S. 546.44 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 873, Ak. Ausg., Bd. III, S. 546.45 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 346, Ak. Ausg., Bd. III, S. 232.46 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 874, Ak. Ausg., Bd. III, S. 547.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Metaphysische Kantinterpretation 419

Philosophie, daß sie das „System aller unserer reinen Erkenntnisse a priori" sei,und „gewöhnlich wird sie Ontologie genannt". Diese Ontologie ist „eine reineElementarlehre aller unserer Erkenntnisse a priori"47.

Mellin setzt unter diesem Gesichtspunkt Ontologie bei Kant und Transzenden-talphilosophie gleich, und Schmidts Wörterbuch nennt die Ontologie eine „voll-ständige Analytik des reinen Verstandes", also Transzendentalphilosophie. WennPidiler hierauf aufmerksam macht48, so deshalb, um zu zeigen, wie Kant bei derAnwendung seines kritischen Verfahrens auf die Natur einen Sprung von der„Definition" zur „Aussage" vollzieht. Das sieht so aus: Kant erklärt49: „UnterNatur (im empirischen Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erschei-nungen ihrem Dasein nach nach notwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen", und erfährt dann unvermittelt fort: „Es sind also gewisse Gesetze und zwar a priori,welche allererst eine Natur möglich machen"50. Die hierin vorliegende (recht ver-standen) „subjektivistische" Wende macht nach Pichler das Neue bei Kant aus,während die „objektivistische" Kategorienlehre schon bei Wolff bekannt sei unddie Transzendentalphilosophie überhaupt auf eine lange Tradition zurückblickenkönnte51. Quintessenz ist bei Pichler, daß auch der Subjektivismus der Kritik derreinen Vernunft, d. h. daß die sogenannte neue Metaphysik in keiner Weise dieBerechtigung und die Notwendigkeit einer alten Ontologie als Grundwissenschaft52

tangierte.Kant habe der Ontologie nicht schlechtweg den Boden fortgezogen, denn er

habe den erforderlichen Beweis für die Nichtbeweisbarkeit metaphysischer Sätzeselbst nicht geführt53. Sein „Dogmatismus" besteht dann darin, daß er geglaubthabe, die ursprünglichen Begriffe des reinen Verstandes, als da sind die Kategorien,ohne Hinblick auf die Erfahrung inventarisieren zu können54. Damit hat er dannselbst nichts als „die knappe Skizze einer Ontologie"55 gegeben.

Diesen Zusammenhang aufgedeckt oder wieder in Erinnerung gebracht zu haben,stellt auch eine Wende zur Metaphysik im Gesamtrahmen einer Kantinterpreta-tion des 20. Jahrhunderts dar.

Karl Jaspers hat die referierende und historisch interpretierende Arbeit dieserArt als lehrreich bezeichnet56, auch wenn sie Kants Philosophie selbst nicht erreicht.Jaspers verweist auf Gottfried Martin, der bei Kant mit Recht die alten über-lieferten Kategorien der Ontologie wiederfand (ebenso wie Pichler das tat), wo-

47 Kants Vorlesung über Metaphysik, hrsg. von Pölitz, S. 18.49 H. Pichler, Über Christian Wolff s Ontologie, S. 74.49 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 263, Ak. Ausg., Bd. III, S. 184.50 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 263, Ak. Ausg., Bd. III, S. 184.51 H. Pidiier, S. 84.52 H. Pidiler, S. 86.53 H. Pichler, Die Erkennbarkeit der Gegenstände (1909), S. 76.54 H. Pidiler, Über Christian Wolff s Ontologie, S. 85.55 H. Pidiler, S. 89.56 Karl Jaspers, Drei Gründer des Philosophierens: Plato, Augustin, Kant (1957, Nach-

druck Paperback 1967), hier: S. 392: Über Kant-Interpretation.

28*

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

420 Gerhard Funke

bei philosophisch freilich allein entscheidend bliebe, in welchem Sinne denn vonKant mit diesen traditionellen Beständen operiert worden sei. Die Ontologie hatKant dann verworfen und nicht verworfen: er hat die überlieferten Begriffe zurKennzeichnung eines neuen, verwandelten Sinnes so ergiebig benutzt, daß es loh-nend sei, „das bis in die Besonderungen klar zu sehen". Der grundlegende Einwandhierbei ist jedoch, man dürfe diese Mittel der Strukturierung — obgleich Kantdurch ihre Benutzung zweifellos der überlieferten Weise des Denkens angehört —nicht schon für die Kantische Philosophie halten57. Und ganz und gar biete siesich nicht als „eine neue Gestalt der alten Ontologie" an. Für die Wendung zurMetaphysik, die im 20. Jahrhundert bei der Kantinterpretation faktisch zubeobachten ist, erklärt dementsprechend der tatsächlich bestehende geistesgeschicht-liche Zusammenhang nicht alles, es muß als ebenso wichtig das neue Problem-bewußtsein in Rechnung gestellt werden.

Metaphysische und ontologische Kantauffassung, gleich ob historisch odersystematisch begründet, sind mit ihrem Auftreten auf Widerstand gestoßen. Dietraditionellen Gesichtspunkte der rein logischen Deutung Kants finden sich schonfrüh (1924) bei Richard Honigswald58: „Kant das nehmen, was sie an ihm gerngeringschätzig das Logische nennen... bedeutet den Verzicht auf Kants Frage-stellung überhaupt, ja den Verzicht auf den Begriff wissenschaftlicher Philoso-phie." Wer wissenschaftlich von „Tatsachen" spricht, hat es immer mit durch Rela-tionen bestimmten Tatsachen zu tun. Wer Kant interpretiert, muß daran festhal-ten, „daß Tatsachen durch Relationen müssen bestimmt werden können", daßRelationen „für Tatsachen eintreten", daß sie „Tatsachen bestimmen" könnenmüssen, „weil Bestimmtheit selbst Relation ist, Tatsachen aber nur vermöge ihrerBestimmtheit Tatsachen sind"59. Begriffsgemäßheit, Begrifflichkeit „ist zugleichBegreiflichkeit"60. Es ist dies der Standpunkt des Logizismus, der sich da konse-quent meldet.

Daneben wird die Frage nach der Kantischen Fragestellung selbst (und ihrerBehandlung in der gnoseologischen bzw. ontologischen Diskussion) aufgeworfen.Julius Ebbinghaus hat sie (ebenfalls 1924) am schärfsten formuliert und ent-scheidend begründet. Ebbinghaus stellt zunächst fest, was Kants Philosophie prin-zipiell sein kann, räumt dann zugleich ein, was sie in der gegebenen konkretenSituation faktisch bedeutet, und er prüft endlich, welcher Sinn der KantischenFragestellung immanent zukomme61.

57 K. Jaspers, S. 392—3.58 Richard Hönigswald, Immanuel Kant. Festrede (Breslau 1924).59 R. Hönigswald, S. 11.60 R. Hönigswald, S. 23.61 J. Ebbinghaus, Kantinterpretation und Kantkritik (1924 bzw. 1968) und Kant und das

20. Jahrhundert, in: Studium Generale, 7. Jahrgang (1947), S. 513—524). Jetzt: Ge-sammelte Aufsätze, Vorträge und Reden (1968), S. 97—119.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Metaphysische Kantinterpretation 421

Kants Philosophie ist primär und prinzipiell als „Leitfaden" anzusehen „fürdie Prüfung dessen, was überhaupt gefragt werden kann, was gefragt werdenmuß, was zweifelhaft blieb, welche Widersprüche aufgetreten sind, was unhalt-bar geworden ist, und welche Beweise gefunden werden mußten, wenn Zweifel-haftes gesichert werden sollte"62. Insofern ist diese Philosophie kritisch und Ver-anlassung zu fortgesetzter weiterer Kritik, ist sie doch „die letzte, die die Mög-lichkeit einer Übersicht enthält, aus der die Philosophen bestimmen könnten,welches der geschichtliche Stand der Frage ist, die ihnen durch die mit der Naturdes Menschen verbundene Idee der Philosophie gestellt ist"63. Dieser Umstandmacht sie pädagogisch und didaktisch relevant und berechtigt, sie zum Lehrgegen-stand in unserer Zeit zu erheben. Das gilt grundsätzlich.

Faktisch ist allerdings der Kantianismus des 19. und des beginnenden 20. Jahr-hunderts zunehmend einem Anti-Kantianismus gewichen, der in Gestalt der Wendezu Fichte-Schelling-Hegel (samt Marx), im Aufkommen der Neuontologie, desNeopositivismus und zahlreicher anderer Nach- und Spätformen früherer Philo-sophien sichtbar wird.

Dieser Anti-Kantianismus findet nach Ebbinghaus seinen „Treibstoff so gut beiEinstein wie bei Max Scheler, bei Dilthey so gut wie bei Dewey, beim Papst sogut wie bei Karl Barth"64. Dabei fällt es nicht schwer zu sehen, daß der Kant desdieserart bekämpften Kantianismus weder „ein genuin verstandener Kant nochauch ein seinen eigenen Intentionen und Kräften gemäß gebrauchter Kant"65 ist.

An einem Beispiel kann das klargemacht werden. Im Marburger Neukantianis-mus stand Kants sogenannte „Theorie der Erfahrung" im Mittelpunkt. Aber eswurde dabei vergessen, daß die berühmte „Möglichkeit der Erfahrung" in derKritik der reinen Vernunft keineswegs den „Charakter des das Werk konstitu-ierenden Problems"66 hat. Mit Ebbinghaus läßt sich zeigen, daß die „Möglichkeitder Erfahrung" nicht Hauptproblem ist, sondern zur Lösung eines Hauptproblemsgehört, insofern die Antwort auf die wirkliche Grundfrage, „Wie sind synthetischeUrteile a priori möglich?", jene Möglichkeit mit erklärt.

Wenn es in der Kritik der reinen Vernunft heißt, „die Möglichkeit der Erfah-rung ist also das, was allen unseren Erkenntnissen a priori objektive Realitätgibt"67, so bedeutet dies nach Ebbinghaus folgendes: es war „die Absicht desWerkes, die Bedingung zu finden, unter der die Begriffe, deren sich die traditionelleMetaphysik bediente, auf etwas Wirkliches bezogen sein könnten"68. Denn selbst-verständlich ist es trivial, nochmals nachweisen oder bestätigen zu wollen, wiesehr die Begriffe der alten Ontologie (Quantität, Qualität, Substanz, Ursache,

e2 J. Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, S. 524.«3 J. Ebbinghaus, S. 119.

4 J. Ebbinghaus, Kantinterpretation, in: Gesammelte Vor träge, S. 17.e5 J. Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, in: Gesammelte Vorträge, S. 97—8.w J. Ebbinghaus, S. 98.e7 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 195, Ak. Ausg., Bd. III, S. 144.68 J. Ebbinghaus, S. 98.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

422 Gerhard Funke

Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) eben Begriffe sind, von deren Geltungfür die Gegenstände unserer Wahrnehmung die Erfahrung überhaupt in ihrerMöglichkeit abhängt. Dies war ja nicht die Frage! Die Frage war vielmehr, ob esein Prinzip gäbe, aus dem heraus die Notwendigkeit der Geltung von Verknüp-fungsbegriffen (bezüglich der Gegenstände der Wahrnehmung) einsehbar wäre.Denn daß natürlich Erfahrung objektiver Art dann unmöglich ist, wenn dieErscheinungen nicht Gesetzen irgendwelcher notwendigen Verknüpfungen gehor-chen, muß nicht noch tausendmal wiederholt werden.

Der sogenannte Skeptizismus (Hume) bezweifelt, daß es ein solches Prinzipgibt; der traditionell-ontologische Dogmatismus (Wolff) hat den Zweifel durchdie Annahme „übersprungen, es handle sich bei ihren allgemeinen Begriffen umBegriffe, die man ohne weitere Zeremonien als Begriffe von der Möglichkeit derDinge überhaupt und also vom Seienden als solchem in synthetischen Urteilena priori gebrauchen könne". Diese Annahme ist nicht schon dadurch gerechtfertigt,daß sie gemacht wird. „Ontologismus"69 darf das Kennwort für solche Annahmenheißen, und Ebbinghaus wehrt sich dagegen, daß es ein „idealistisches Vorurteil"70

sei, ihn auch beim Namen zu nennen. Und selbst, wenn Kant in einem „idealisti-schen Vorurteil" befangen gewesen wäre, so würde daraus für die Position desihn bekämpfenden Ontologismus noch längst nidits folgen, bestimmt nicht dies,daß die Dinge in ihrem aller Erfahrung vorausliegenden Sein erkennbar wären.Die Verwerfung von Kants Erklärungsversuch bedeutet nicht die Richtigkeit desOntologismus oder der alten Metaphysik.

Es kommt auf eine beweisbare Theorie über die Möglichkeit einer Erkenntnisa priori der Gegenstände unserer Erfahrung an. Die neue Ontologie liefert siejedenfalls nicht. Wenn man etwa erklärt, die Kategorien, von denen die neueOntologie handelt, seien Zug um Zug den Realverhältnissen abgelauscht71, so istes für Ebbinghaus leicht, da das punctum crucis zu kennzeichnen. Denn „dadurch,daß wir auf das lauschen, was ist, können wir unser Hörorgan sicherlich nichtin ein Organ verwandeln, das uns über das informiert, was nur immer seinkann"™.

Folgerichtig muß dann eins zugegeben werden: „haben wir auch im Denken alssolchen keine Verbindung mit der Seinsmöglichkeit selber, so scheint es vernünftigzu sagen, daß wir gar keine haben und also auch nicht wissen können, ob Seiendesüberhaupt irgendwelcher vorgängiger Bestimmtheit und folglich irgendeinem Ver-ständnis unterliegen kann"73. Wo diese Einsicht fehlt, gibt es auch keine wissen-schaftlich haltbare Position.

69 J. Ebbinghaus, S. 100.70 J. Ebbinghaus, S. 99.71 N. Hartmann, Neue Wege der Ontologie, in: Systematische Philosophie, hrsg. von

N. Hartmann (1942), S.U.72 J. Ebbinghaus, S. 101.73 J. Ebbinghaus, S. 101.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

Metaphysische Kantinterpretation 423

Wenn es also in der metaphysisch-ontologisdien Bewegung heißt, „Bedingungder Möglichkeit der Erfahrung zu sein, is t . . . die höchste Dignität, die ultimaratio der Beweisführung, ob die. Erfahrung selbst mit ihrem Geltungsanspruchzu Recht besteht, bleibt hier unerwogen", so ist eben dies „Dogmatismus", denGeltungsanspruch nicht zu erwägen. Bei Kant findet sich dergleichen nicht.

Es ist also zu wenig, wenn man Kants Kritik der reinen Vernunft auf folgendesreduziert: Synthetische Urteile a priori sind gültig, sofern ohne diese GültigkeitErfahrung als gültige Erkenntnis nicht möglich wäre. Denn da läßt sich die Rück-frage stellen, inwiefern denn Erfahrung als objektiv gültige Erkenntnis anzu-sehen sei. Kant setzt überhaupt nicht eine Erkenntnis als objektiv gültig voraus,indem er einen Zirkel begeht. Er setzt nach Ebbinghaus allein etwas voraus,„aus dem sich zwar nicht ergibt, daß irgendeine Erkenntnis objektiv gültig ist,wohl aber, daß es notwendig möglich ist, Vorstellungen hinsichtlich des Charak-ters der objektiven Gültigkeit zu bestimmen".

Diese Voraussetzung besteht nicht als problematische Hypothese, sondern siebesteht einfach darin, daß Kant den Blick auf eine Grundnotwendigkeit lenkt,„die für alle unsere Vorstellungen bezeichnend ist, nämlich auf ihre Zugehörigkeitzu einem Ich"74. Denn es ist kein Zweifel: ich kann mir mit Bezug auf das Bewußt-sein aller meiner mir überhaupt möglichen Vorstellungen noch dazu bewußt wer-den, daß ich mir ihrer bewußt bin. Das Bewußtsein ist die Voraussetzung, die nichtübersprungen werden kann. Ebbinghaus verweist auf den Kantischen Satz, daßdas „Ich denke" alle meine Vorstellungen begleiten können muß75. Solch Bewußt-sein ist also „notwendig möglich", und wenn es „möglich" ist, wie die con-scientia prinzipiell beweist und wie sich deiktisch zeigen läßt, dann ist der Rück-gang auf die Formen dieses „ich denke" kein „idealistisches Vorurteil" und kein„gnoseologischer Umweg", sondern ein sach- und bewußtseinsimmanentes Struk-turelement, das am Anfang steht.

Das „muß" in jenem Kantischen Satz bedeutet eine immanente Notwendigkeitdes Bewußtseins. Es stellt demgemäß einen Widerspruch dar, etwa mit Bezug aufirgendeine beliebige Vorstellung denken zu wollen, ich „sollte mir dieser Vor-stellung nicht als der meinigen bewußt werden können"76.

Der Blick auf die Wendung zur Metaphysik im Neukantianismus des 20. Jahr-hunderts berührt notwendig das Bewußtsein. Das heißt: Nur als Einheit des Be-wußtseins einer möglichen Vereinigung des Bewußtseins eines Mannigfaltigen vongegebenen Vorstellungen ... kann ich mir die ursprüngliche Einheit des Selbst-bewußtseins denken. Das stellt den gnoseologisch-ontologischen Ausgangspunktdar und ist nicht mehr hinterfragbar. An diesem Punkt endet wohl auch die„Wende zur Metaphysik**.

Symptomatisch für die ganze Epoche der Kantdiskussion, die in der „Wendungzu Kant" kulminierte, ist folgendes. Hans Vaihinger, der Kant-Kommentator, der

74 J. Ebbinghaus, S. 7.75 J. Ebbinghaus, S. 7.7 J. Ebbinghaus, S. 7.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM

424 Gerhard Funke

zugleich der Organisator der Kant-Studien und der Kant-Gesellschaft war (1896 f.bzw. 1904 f.) und der mit seiner u. a. an Kant orientierten Philosophie des Als-ob(1911) in den Streit um die adäquate Interpretation Kants in zahlreichen Schrifteneingegriffen hat, hat seinen eigenen „Fiktionalismus" ebensowenig wie die anderenin der Kontroverse auftretenden Kantpositionen als „die einzig richtige Ausle-gung Kants" ansehen wollen77. Die Tatsache, daß nicht nur er selbst sich in be-stimmten Punkten auf den Philosophen von Königsberg berufen kann, sonderndaß dies in gewissem Umfange die panlogistischen Marburger ebenso wie dievoluntaristischen Badener tun dürfen, daß es Idealisten (wie Heimsoeth) undPersonalisten (wie Troeltsch), Lebensphilosophen (wie Simmel) und Phänomeno-logen (wie Husserl), Ontologen (wie Hartmann) und Vertreter einer Philosophieder Philosophie (wie Lask) ohne gewalttätige Auslegung ebenfalls können, legtihm zum Falle Kant eine besondere Antwort nahe. Vaihinger will in Kant dengroßen Vermittler entgegengesetzter und zunächst unvereinbar erscheinenderStandpunkte sehen.

Dann ist er Synthetiker und Antithetiker zugleich, Gnoseologe und Metaphysi-ker, Standpunktphilosoph und Methodologe. Vaihinger nimmt die immer wiederübrigbleibenden Widersprüche „nicht mehr als ein Zeichen der Armut und Unvoll-kommenheit, sondern doch auch andererseits als Zeichen des inneren Reich-tums, der inneren Fülle"78. Er nimmt damit die Probleme Kants exemplarischals Lebensprobleme des Menschen. Und er greift, um diese Seite bei Kant zu kenn-zeichnen, auf ein Wort von Kants Königsberger Freund und DiskussionspartnerTheodor Gottlieb von Hippel zurück, der für Kant die Bezeichnung „Zentral-mensch" gebraucht79. Und Edmund Husserl hat (1924) die Frage gestellt: „wasmüssen wir heute, nach anderthalb Jahrhunderten einer unsre gesamte Philosophiein allen Richtungen mitbestimmenden Wirkung Kants, als das ewig Bedeutsameseiner monumentalen Vernunftkritiken ansehen, somit als das, dessen reine Aus-gestaltung uns und aller Zukunft anvertraut ist80?"

77 H. Vaihinger, Pessimismus und Optimismus vom Kant sehen Standpunkt aus, in:Archiv für Rechts- und Wirtsdiaftsphilosophie XVII (1924), S. 168—188, hier: S. 188.

78 H. Vaihinger, Neue Kant-Perspektiven, in: Neue Freie Presse (1924), Nr. 21, S. 414,zitiert bei E. Przywara, Ringen der Gegenwart, Bd. II, S. 770.

79 H. Vaihinger, Kant in der deutschen Philosophie, in: Berliner Tageblatt (1924), Nr. 160,zitiert bei E. Przywara II, S. 770.

80 Edmund Husserl, Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie (1924), in: ErstePhilosophie, Bd. I (1923/4), veröffentlicht in Husserliana, Bd. VII (1956), S. 230—287,hier: S. 239.

Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Library)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 5/25/12 3:30 PM