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5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie 5.1. Die Vereinbarkeit von Freiheit und Naturkausalität und die endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen und der Moral vom Recht Das Erstaunliche ist, daß Kant schon am 7. Juni 1771 „die Dissertation mit ihren Fehlern keiner neuen Auflage würdig" erklärt (A 10, 123, 35—36). Die Reflexionen des Metaphysiknachlasses, die Erich Adickes der Phase λ (1769—1770) zuordnet, legen den Schluß nahe, daß Kants Zweifel in der praktischen Philosophie am Problem der Vereinbarkeit intellektueller und empirischer Bestimmungen in der Handlung einsetzen. Während die Dissertation selbst vermuten läßt, daß die Schwierigkeiten, die die Reflexionen 4218, 4219, 4222, 4224 (A 17, 462-464) formulieren, durch die abbildhafte Entsprechung von Intellekt und sensibler Welt lösbar sind, beinhalten zwei Reflexionen, für die nur Datierungsvorschläge vorliegen, 4226 und 4227, ein Verhältnis des Intellektuellen und Sensiblen in der Freiheit, an dem Kant festhalten wird: „Wären die Menschen völlig intellektual, so wären alle ihre Handlungen tätig determiniert, aber doch frei und würden nur in Ansehung der veränderlichen Gelegenheiten zufällig sein. Es würden ihnen auch diese Handlungen imputiert werden können zusamt den Belohnungen, ob sie gleich Geschöpfe eines höhern Wesens wären. Denn sie wären als selbsttätige Prin- zipien und als würdige Gegenstände seiner Gütigkeit anzusehen. Wären sie völlig sinnlich, so wären ihre Handlungen allein passiv determiniert, ihnen könnte nichts imputiert werden, und sie würden keiner Belohnungen und Bestrafungen fähig sein. Nun sind sie zum Teil sinnlich, zum Teil intellektual, doch so, daß die Sinnlichkeit freilich das Intellektuale nicht passiv machen kann, aber das Intellektuale die Handlungen auch nicht anders als durch ein gewisses Maß des Übergewichts über die Sinnlichkeit überwinden kann. Also ist der Mensch weder active noch passive determiniert; und da die Sinnlichkeit sowohl als die Stärke der Vernunft von den Umständen abhängt, so dependieren seine Handlungen zum Teil von den Umständen, zum Teil von dem Gebrauche seiner Vernunft und können ihm nicht gänz- lich imputiert werden. Er ist frei, wenn man es aufs genaueste nimmt, allein die Möglichkeit etwas Gutes zu tun, worin die Freiheit eigentlich besteht. Allein ob die Handlung wirklich aus diesem principio oder dem Sensitiven entspringe, kommt auf die Konditionen an. So wie im Spiel ein jeder Wurf gewinnen kann, ohnangesehen der vorhergehenden und begleiten- den Umstände." (A 17, 466, R 4227) Weder daß Freiheit nicht passiv sein kann, sondern Aktivität voraussetzt, noch daß das Problem der Freiheit mit der Zurechnung verbunden ist, erscheint hier als neues Element, 1 sondern daß Kant sich hier eindeutig gegen den intellektuellen Freiheits- begriff Wolffs für den juristischen Baumgartens entscheidet. Eine solche Inter- pretation legt die Polemik des Gunnerus gegen § 7 der „Institutiones iurisprudentiae 1 Siehe dazu A 17, 314, R 3856; A 17, 315/6, R 3860 Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.34.168 Download Date | 3/20/14 8:38 AM

Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

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5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

5.1. Die Vereinbarkeit von Freiheit und Naturkausalität und die endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen

und der Moral vom Recht

Das Erstaunliche ist, daß Kant schon am 7. Juni 1771 „die Dissertation mit ihren Fehlern keiner neuen Auflage würdig" erklärt (A 10, 123, 35—36). Die Reflexionen des Metaphysiknachlasses, die Erich Adickes der Phase λ (1769—1770) zuordnet, legen den Schluß nahe, daß Kants Zweifel in der praktischen Philosophie am Problem der Vereinbarkeit intellektueller und empirischer Bestimmungen in der Handlung einsetzen. Während die Dissertation selbst vermuten läßt, daß die Schwierigkeiten, die die Reflexionen 4218 , 4219 , 4222 , 4224 (A 17, 4 6 2 - 4 6 4 ) formulieren, durch die abbildhafte Entsprechung von Intellekt und sensibler Welt lösbar sind, beinhalten zwei Reflexionen, für die nur Datierungsvorschläge vorliegen, 4226 und 4227, ein Verhältnis des Intellektuellen und Sensiblen in der Freiheit, an dem Kant festhalten wird:

„Wären die Menschen völlig intellektual, so wären alle ihre Handlungen tätig determiniert, aber doch frei und würden nur in Ansehung der veränderlichen Gelegenheiten zufällig sein. Es würden ihnen auch diese Handlungen imputiert werden können zusamt den Belohnungen, ob sie gleich Geschöpfe eines höhern Wesens wären. Denn sie wären als selbsttätige Prin-zipien und als würdige Gegenstände seiner Gütigkeit anzusehen. Wären sie völlig sinnlich, so wären ihre Handlungen allein passiv determiniert, ihnen könnte nichts imputiert werden, und sie würden keiner Belohnungen und Bestrafungen fähig sein. Nun sind sie zum Teil sinnlich, zum Teil intellektual, doch so, daß die Sinnlichkeit freilich das Intellektuale nicht passiv machen kann, aber das Intellektuale die Handlungen auch nicht anders als durch ein gewisses Maß des Übergewichts über die Sinnlichkeit überwinden kann. Also ist der Mensch weder active noch passive determiniert; und da die Sinnlichkeit sowohl als die Stärke der Vernunft von den Umständen abhängt, so dependieren seine Handlungen zum Teil von den Umständen, zum Teil von dem Gebrauche seiner Vernunft und können ihm nicht gänz-lich imputiert werden. Er ist frei, wenn man es aufs genaueste nimmt, allein die Möglichkeit etwas Gutes zu tun, worin die Freiheit eigentlich besteht. Allein ob die Handlung wirklich aus diesem principio oder dem Sensitiven entspringe, kommt auf die Konditionen an. So wie im Spiel ein jeder Wurf gewinnen kann, ohnangesehen der vorhergehenden und begleiten-den Umstände." (A 17, 466, R 4227)

Weder daß Freiheit nicht passiv sein kann, sondern Aktivität voraussetzt, noch daß das Problem der Freiheit mit der Zurechnung verbunden ist, erscheint hier als neues Element , 1 sondern daß Kant sich hier eindeutig gegen den intellektuellen Freiheits-begriff Wolffs für den juristischen Baumgartens entscheidet. Eine solche Inter-pretation legt die Polemik des Gunnerus gegen § 7 der „Institutiones iurisprudentiae

1 Siehe dazu A 17, 314, R 3856; A 17, 315/6, R 3860

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Dié endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen 71

universal is" des Darjes nahe. 2 Letzterer nämlich benutzt den Freiheitsbegriff W o l f f s ,

der auf Graden des Bewußtseins beruht:

„Act io deliberata magis libera, quam indeliberata et eo magis deliberata fuerit, eo magis libera es t . " 3

Ebenso faßt Achenwal l die Freiheit allein als Verstandestätigkeit:

„Act io , quae a libero hominis arbitrio dependet, seu in eius libertate mentis rationem suam sitam habet, vocatur actio hominis libera (actio humana per excellentiam)".4

Gegen diesen Freiheitsbegriff referiert Gunnerus seinen „Tractatus philosophicus

de libertate scientifice adornatus", der in nichts anderem als einer Verteidigung der

§§ 7 19—721 von Baumgartens Metaphysik beruht:

„Actiones, ad quas per libertatem se determinare est in potestate alicuius substantiae positum, liberae sunt ." „Pone enim, me me ipsum determinare per arbitrium sensitivum, ubi me deter-minare per libertatem fuit in potestate mea positum, erit eiusmodi actio involuntaria, tarnen l ibera ." 5

Gunnerus erläutert dazu:

„Woll te Gott, daß es wahr wäre, was der Herr Verfasser" (Darjes) „mit allen Wolffianern behauptet, daß die Menschen sich in allen ihren freien Handlungen durch eine allgemeine deutliche Erkenntnis des Guten und Bösen bestimmeten: ich bin gut davor, daß nicht so viele schändliche Sünden in der Welt ausgeübt würden." — „Wer der Lehre von der Zurechnung nachdenkt, wird eines ganz andern überführet werden. Man wird mir zugeben, daß einer ganz nüchtern durch eine bloß verworrene und undeutliche Erkenntnis eines Scheinguts (boni apparentis) sich bestimmen kann, seinem Nachbar die Fenster einzuschmeißen, dem Sempronius ein paar Ohrfeigen zu geben usw. . Würde er aber wohl damit bei der Obrigkeit wegkommen, wenn er sagen wollte, daß diese Handlungen nicht freie wären?" 6

Dieser Gesichtspunkt, daß Freiheit von einer öffentlichen Gerichtsbarkeit voraus-

gesetzt w i r d und geltend gemacht wird , ist im doppelten Gebrauch bei Heinrich

K ö h l e r , dem A u t o r Baumgartens, 7 angelegt:

„Libertas ergo mentis eodem sensu est facultas illius, vi spontaneitatis ex duabus vel pluribus rebus aeque posibilibus eligendi illam, quae sibi quam maxime placet. Consectarium: 4) Quo casu duae ad minimum res aeque possibiles dantur, eodem et datur contingentia alterius utrius, et consequenter electio et libertas locum habet. Hinc Lucretiae, stuprum passae a Sexto, tribuitur libertas: mortem enim amplecti poterat, quam Tarquinius minabatur. Hue spectat casus, ubi victor victo vel mortem vel servitutem omnimodam eligendam proponi t . " 8

2 Joachim Georg Darjes, Institutiones iurisprudentiae universalis, 2. Aufl . Jena 1745 3 Phil , pract. univ. 605; vgl. Kants Kritik in § 7 der Diss. A 2, 395, 9 - 1 4 4 Prol. 7. Achenwall beruft sich wiederum auf Burlamaqui, a . a . O . , 1, 2, 3 5 a . a . O . , 719, 721 (A 17, 136). Gunnerus schließt: „Ich habe diesen Begriff des Herrn Profes-

sor Baumgartens von einer freien Handlung in meiner Abhandlung von der Freiheit mehren-teils angenommen, wider verschiedene Einwürfe verteidiget und in sein gehöriges Licht ge-setzt ." a . a . O . , 1, S. 88. Der oben genannte S. G. Succov teilt eben diesen Begriff, a . a . O . , 1, S. 83f . . S. o. S. 48f.

6 a . a . O . , 1, S. 80f. 7 S. o . S. 49 8 Exerc. 186

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72 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Gunnerus definiert demnach:

„Will man eine freie Handlung überhaupt erklären: so kann man sagen, daß eine Handlung in Absicht auf denjenigen frei genannt werde, in Absicht, auf welchen sie eine willkürliche Handlung ist, zu der es in se iner Gewa l t gestanden, sich durch eine a l l geme ine deutliche Erkenntnis des Guten und Bösen zu bestimmen."9 (Hervorhebung von mir.)

Dieser Definition schließt sich Kant an:

„Das arbitrium brutum ist determiniert secundum rationes sensitivas, das göttliche secundum intellectuales, das menschliche durch keines. Seine Handlungen hät ten alle können nach der V e r n u n f t geschehen." (A 17, 465, 23-26, R 4226)

Es läßt sich leicht zeigen, daß es sich hierbei um das kritische Verhältnis von

Sinnlichkeit und vernünftiger Bestimmung in der Handlung handelt. Einmal wieder-

holt Kant in der 2. Hälfte der 70er Jahre das Beispiel der Wahrscheinlichkeit im Spiel

zur Erläuterung der Freiheit,10 zudem gebraucht sowohl die K.d.r.V. als auch die

K.d.pr .V. diesen Begriff der M ö g l i c h k e i t der vernünftigen Bestimmung. In der

„Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit in Verbindung mit der allge-

meinen Naturnotwendigkeit" der K.d.r.V. gebraucht Kant ein Beispiel, in dem er erst

den empirischen Charakter des Täters

„in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells, aufsucht" (B 582),

dann aber schließt, daß man den Täter sehr wohl verurteilen könne:

„Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedin-gungen, anders habe bestimmen können und sollen." (B 583)

Die K.d.pr.V. führt ein Beispiel an, das dem zitierten Köhlers entspricht. Nachdem

Kant festgestellt hat, daß ein Mensch angesichts einer unmittelbaren Todesdrohung

einer „wollüstigen Neigung" durchaus entsagen könne, fährt er fort:

„Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen." (A 5, 30, 27—33)

Wie aber ist die Vernunft näher zu bestimmen, nach der alle Handlungen hätten

geschehen können? Der angeführte Abschnitt der K.d.r.V. erklärt die Vernunft in der

Freiheit folgendermaßen:

„Die Freiheit wird hier nur als transzendentale Idee behandelt, wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung durch das Sinnlichunbedingte schlechthin anzu-heben denkt, dabei sich aber in eine Antinomie mit ihren eigenen Gesetzen, welche sie dem empirischen Gebrauche des Verstandes vorschreibt, verwickelt." (B 586)

Die Auflösung des Problems der Vereinbarkeit von freier und naturkausaler

Bestimmung dadurch, daß die Vernunft sich außerhalb der Naturordnung „denkt" ,

setzt eine Differenzierung der intellektuellen Tätigkeit des Menschen voraus, nämlich

9 a . a .O. , 1, S. 87 10 A 19, 262/3, R 7170f.; A 19, 265, R 7178

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Die endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen 73

daß sich ein Teil, der Verstand, nur auf Gegenstände der Erfahrung bezieht und ein anderer, die Vernunft, auch ohne Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung sinnvoll zu gebrauchen ist. Gerade dieses Verhältnis des Intellekts zu den Gegen-ständen der Erfahrung behandelt der Brief vom 21. Februar 1772 an Mercus Herz (A 10, 129—132), in dem Kant die Aufdeckung der Kategorien als reine Verstandes-begriffe mitteilt. Da mit dieser Wendung die intellektuelle Erkenntnis nicht mehr, wie noch die Dissertation sagt, die Gegenstände zeigt, „wie sie sind" (A 10, 131, 3), sondern die Erscheinungen nur noch unter Denkgesetze faßt, bedeutet jede Be-stimmung des Menschen durch Erkenntnis von erfahrbaren Gegenständen, daß er sich innerhalb der Naturkausalität bestimmt und diese auf keine Weise überschreiten kann. Theoretisch formuliert und löst Kant dieses Problem in der dritten Antinomie der reinen Vernunft (B 472ff.). Für die praktische Philosophie heißt das: mit der im genannten Brief an Herz mitgeteilten Erkenntnis sind Bestimmung durch Erkenntnis von Gegenständen und Freiheit in der Handlung nicht mehr vereinbar.11 Im Gegen-teil kann die Handlung nur dadurch frei sein, daß der Handelnde einen formalen, d. h. von Erkenntnis empirischer Gegenstände unabhängigen Standpunkt einnimmt, daß er sich frei d e n k t . Diese Kritik am Versuch einer einheitlichen Theoriebildung in der Dissertation bedeutet dann allerdings erst die Trennung der praktischen Philoso-phie von der theoretischen.

Diese kritische Scheidung wiederum läßt sich in den Reflexionen des Metaphysik-nachlasses aufzeigen:

„Da die Freiheit eine vollständige Selbsttätigkeit des Willens ist, ohne durch stimulos oder durch irgend etwas anderes, was das Subjekt affiziert, bestimmt zu sein, so kommt es bei ihr nur auf die Gewißheit der Persönlichkeit an: daß sie nämlich bewußt sei, sie handle aus eigner Willkür, der Wille sei tätig und nicht leidend, weder durch stimulos noch durch fremde Eindrücke. . . . Das Ich ist eine unerklärliche Vorstellung. Sie ist eine Anschauung, die unwandelbar ist." (A 17, 464, 11-16 ; 465, 3 - 4 , R 4425)12

In dieser naturkausalen Unerklärlichkeit ist die Freiheit eine „notwendige prak-tische Voraussetzung" (A 17, 510, 2 - 3 , R 4336) oder nach Reflexion 1010 des Anthropologienachlasses :

„Die Möglichkeit, nach motivis intellectualibus zu handeln und also independenter a stimulis, ist das Fundament eines jeden praktischen Urteils; also ist die Freiheit eine anticipatio practica." (A 15, 451, 6 - 8 ) 1 3

11 Vgl. K.d.r.V. (B 571) gegen den Standpunkt der Diss.: „Wenn wir der Täuschung des transzendentalen Realismus nachgeben wollen: so bleibt weder Natur noch Freiheit übrig."

12 Ebenso A 17, 467, R 4228: „Wir sehen uns durch das Bewußtsein unsrer Persönlichkeit in der intellektualen Welt und finden uns frei. Wir sehen uns durch unsre Abhängigkeit von Eindrücken in der Sinnenwelt und finden uns determiniert. Unsere Anschauungen der Körper gehören alle zur Sinnenwelt; demnach stimmen die Erfahrungen mit den Gesetzen derselben von determinierenden Gründen. Aber unsre intellektualen Anschauungen vom freien Willen stimmen nicht mit den Gesetzen der phaenomenorum."

13 Das Naturrecht Feyerabend formuliert folgendermaßen: „Die Freiheit des Wesens muß ich voraussetzen, wenn es soll ein Zweck von sich selbst sein. Ein solches Wesen muß also Frei-heit des Willens haben. Wie ich sie begreifen kann, weiß ich nicht; es ist doch aber eine not-

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74 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Dennoch ist die Freiheit als formaler Standpunkt und praktische Voraussetzung kein leerer Begriff; seine Realität erhält er durch das juristische Element, demgemäß sich der Handelnde für einen Standpunkt außerhalb der Naturordnung entscheiden k a n n , daß er angesichts der Möglichkeit, einen solchen Standpunkt einnehmen zu können, verantwortlich ist:

„Die Freiheit von aller äußeren Nötigung unsrer Willkür ist durch Erfahrung klar, ungleichen die bewegende Kraft der intellektualen Gründe vom Guten; wir können desfalls auf keine anderen Wesen die Schuld schieben." (A 17, 510, 1 5 - 1 8 , R 4338)

Etwas zweites trennt wiederum diese kritische Lösung des Vereinbarkeitsproblems von sensibler und intellektueller Bestimmung, nämlich Recht und Moral: wird der Handelnde gemäß der Theorie der vorherigen Phase in der Nachfolge von Hume in der Moral von der Erkenntnis einzelner Gegenstände, im Recht von allgemeinen Regeln — beides in Gott geschaut — bestimmt, so liegt im kritischen Freiheitsbegriff moralisch die Freiwilligkeit der Entscheidung für den nicht naturkausalen Stand-punkt, für das Recht aber bleibt demgegenüber nur der Zwang —, ein Verhältnis, das weiter unten noch entwickelt wird.

Christian Ritter erkennt mit Josef Schmucker eine Wendung zur kritischen prak-tischen Philosophie nicht an;14 im Gegenteil spricht Ritter in bezug auf die Rechts-philosophie von einer „Tendenz zur Konsolidierung der bereits erreichten Positio-nen", es fehlten „— mit wenigen Ausnahmen — neue Denkansätze", es zeige sich vielmehr der „Beginn einer systematischen Verhärtung der Konzeption des kan-tischen Rechtsgedankens an".15

Dem seien ergänzend zwei Beobachtungen entgegengestellt. Einmal bringt Kant selber in der K.d.pr.V. die Entdeckung der Kategorien in unmittelbaren Zusammen-hang mit den wahren Prinzipien der Moral:

„Aus diesen Erinnerungen wird der Leser der Kritik der reinen spekulativen Vernunft sich vollkommen überzeugen: wie höchstnötig, wie ersprießlich für Theologie und Moral, jene mühsame Deduktion der Kategorien war. Denn dadurch allein kann verhütet werden, sie, wenn man sie im reinen Verstände setzt, mit Plato für angeboren zu halten, und darauf über-schwengliche Anmaßungen mit Theorien des Übersinnlichen, wovon man kein Ende absieht, zu gründen, dadurch aber die Theologie zur Zauberlaterne von Hirngespenstern zu machen." (A 5, 141, 5 - 1 2 )

Zweitens weist diese Kritik an Plato unmittelbar auf die Kritik zurück, die Kant am Beispiel dieses Autors im genannten Brief an Herz eben am Standpunkt der

wendige Hypothesis, wenn ich vernünftige Wesen als Zwecke an sich denken soll." (S. 9) — „Ob wir frei sind oder das wenigstens annehmen können, muß die Metaphysik ausmachen." (S. 29)

1 4 Schmucker, a .a .O. , S. 389/90: „Immer wieder stellt er (Kant) als den entscheidenden Unter-schied zwischen der theoretischen Metaphysik bzw. der Transzendentalphilosophie und der Moral fest: die erstere ist wesentlich kritisch, dialektisch, subjektiv, sie vermag durch ihre Ideen keine Erkenntnis von ihren Objekten zuwege bringen, die letzte ist dogmatisch, d. h. festsetzend, sie vermag durch ihre Ideen objektiv gültige Sätze über ihren Gegenstand: die Willkür des Menschen, auszusagen." Daraus schließt Schmucker, daß er gar keine „kri-tische" Ethik bei Kant gibt.

1 5 a .a .O. , S. 267/8

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Die endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen 75

Dissertation übt (A 10, 131, 23—26). Daß gerade diese Kritik ein ganz neues Verhältnis der Moral zu Gott bewirkt, geht aus den Reflexionen zur Ethik überdeut-lich hervor:

„Das principium der moralischen Dijudikation ist nicht der göttliche Wille. . . . 3. — sondern Vernunft." (A 19, 151, 2 - 3 , 2 2 - 2 3 , R 6760) „Die Religion ist nicht ein Grund der Moral, sondern umgekehrt." (A 19, 150, 25, R 6759) „Auetor legis obligantis est legislator. Auetor obligationis conformiter legi non est legislator. Utrum deus possit auetor legum moralium primitivarum dici? Est principium, non auetor." (A 19, 156, 1 7 - 1 9 , R 6771)

Aufgrund unserer genetischen Erläuterung von Kants kritischem Freiheitsbegriff können wir andererseits auch Julius Ebbinghaus nicht zustimmen, wenn er unter Berufung auf die K.d.r.V. (B 562) die praktische Freiheit allein negativ als „Unab-hängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit" definiert, auf eine „tägliche, ja stündliche Erfahrung" des Bewußtseins der Freiheit schließt16

und über dieses alltägliche Bewußtsein der praktischen Freiheit Kants Rechtsphiloso-phie von der kritischen Philosophie überhaupt löst.17

Es ist wohl nicht richtig, nur den negativen Aspekt der Freiheit, die Unabhängig-keit von sinnlichen Antrieben zu betonen; vielmehr ist diese Unabhängigkeit nur möglich durch einen positiven Entscheidungsakt für einen Standpunkt, der nicht durch Naturkausalität bestimmt ist. Andrerseits ist es tatsächlich richtig, auf die Banalität von Kants kritischem Freiheitsbegriff zu pochen. Aber diese besteht nicht in der Unabhängigkeit von der kritischen Philosophie, sondern im Gegenteil im foren-sischen Element der Freiheit, daß nämlich vor jedem praktischen Urteil im vernünf-tigen Wesen die Möglichkeit vorausgesetzt wird, daß es sich für den geforderten Standpunkt hat entscheiden k ö n n e n .

Damit besteht Kants kritische Lösung der Freiheitsproblematik ganz einfach in der Erkenntnis, daß weder der Realismus der ersten und zweiten Phase noch der Idealismus der Dissertation eine öffentliche Gerichtsbarkeit möglich erscheinen lassen, da diese entweder Tiere dressieren würde oder Engeln gegenüber machtlos wäre. Im Gegenteil setzt die rechtlich notwendige öffentliche Gerichtsbarkeit einen formalen Standpunkt voraus, aufgrund dessen der Mensch überhaupt erst verantwort-lich ist. Die Bedeutung dieser Erkenntnis für die kritische Philosophie überhaupt formuliert Kant einmal knapp zur Zeit der Entstehung der „Rechtslehre":

„6. Ursprung der kritischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen." (A 20, 335, 8 -9)»»

Blickt man von dieser Lösung des Freiheitsbegriffs auf das Programm von 1762 zurück, dann ist festzustellen, daß es Kant erst zehn Jahre später gelungen ist, einen

1 6 Ebbinghaus, Julius, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechts-philosophie der Freiheit, Kantstudien Ergänzungsheft 94, Bonn 1968, S. 20. Gertrud Scholz, Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie, Diss. phil. Köln 1972, S. 23f. folgt Ebbinghaus.

1 7 a . a . O . , S. 22, vgl. Brandt, Eigentumstheorien, a . a .O . , S. 1828

1 8 Zur Datierung s. A 20, 480

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76 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

nicht naturkausalen Standpunkt in der praktischen Philosophie zu begründen. Die Frage bleibt nur, wie das Prinzip lauten muß, das einerseits dem Formalismus des geforderten Standpunkts genügt, andererseits aber jeder alltäglichen Handlung gegen-über konkret anwendbar ist.

5.2. Die Entstehung der Form und der Selbstgesetzgebung des kategorischen Imperativs

Es ist offensichtlich, daß die Regel jeder freien Handlung in Kants kritischer Philo-sophie der kategorische Imperativ darstellt. Dieser „oberste Grundsatz der Sitten-lehre" gehört nach der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten" sowohl der Rechts-ais auch der Tugendlehre an (A 6, 226, 1—3). Die ersten Formulierungen dieser Grundregel finden sich erst in der Mitte der 70er Jahre. Die Reflexionen, die zwischen der Erkenntnis der Subjektivität unseres Erkenntnisvermögens und der Entdeckung der Form des kategorischen Imperativs liegen, sind vom ständig wieder-holten Versuch gekennzeichnet, diese formale und doch konkret anwendbare oberste Regel zu ergreifen und festzuhalten.

5 .2 .1 . R e g e l n des R e c h t s als f o r m a l e G r ü n d e des Wi l l ens

Die Fragestellung Kants beleuchtet die Reflexion 6725 der Phase ξ (1772), die das Problem von 1762 mit der Idee in der Tugend und der kritischen Forderung des Formalismus verbindet:

„Die ganze Schwierigkeit bei dem Streit über das principium der Moral ist: wie ein katego-rischer imperativus möglich sei, der nicht konditional ist, weder sub conditione problematica noch apodictica (der Geschicklichkeit, Klugheit). Ein solcher imperativus sagt, was ursprüng-lich, primitive gut ist. Es ist zu bewundern, daß das primitive Gut: die Kondition von allem, was gefällt, nur einem Willen zukomme. Die Ursache ist, weil alle Vollkommenheit eine Idee und die Wirklichkeit derselben einen Willen voraussetzt und weil alles Zufällige und aller Ur-sprung sich auf Freiheit gründet. Alle Notwendigkeit der Urteile gründet sich auf die Allge-meinheit oder diese auf jene. Mithin ist der Grund der Notwendigkeit, welche moralische Sätze enunziieren, in der Allgemeingültigkeit der Gründe des Wollens zu setzen (schlechthin notwendig, absolute, bedeutet nicht innerlich, sondern überhaupt notwendig)." (A 19, 141/2)

Aus Kants vorherigen Überlegungen ist leicht zu ersehen, daß diese Bedingung der formalen Allgemeingültigkeit nur Rechtssätze erfüllen. Eine Priorität des Rechts erkannte Kant schon lange an; das Besondere der kritischen Wendung aber ist, daß in den Gründen des Wollens nicht verschiedene Prinzipien des Rechts und der Moral entgegengesetzt und dann irgendwie verbunden werden, sondern daß die „Persönlich-keit" als „die Unabhängigkeit des Willens von Neigungen" und deren „Moralität" (A 19, 139, 3—4, R 6713) überhaupt darin besteht, daß sie sich von formalen Sätzen, d. h. Rechtssätzen bestimmen läßt. Das sieht deskriptiv folgendermaßen aus:

„Viele Menschen haben wohl Lust, gute Handlungen zu tun, wollen aber desfalls unter keiner Schuldigkeit gegen andere stehen; wenn man ihnen nur nicht mit Unterwerfung kommt, so

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Die Entstehung der Form des kategorischen Imperativs 77

tun sie alles; sie wollen sich nicht den Rechtsamen der Menschen unterwerfen, sondern solche nur als Gegenstände ihrer Großmut ansehen. Es ist nicht einerlei, unter welchem Titel ich etwas bekomme. Das, was zu dem Meinigen gehört, muß man nicht bloß meiner Bitte ge-währen. Daher vor aller Anpreisung der Regeln der Gütigkeit zuerst der Nacken unter das Joch der schuldigen Pflichten muß gebeugt werden. Der ist immer ein Rebell gegen das göttliche Regiment, der es sich ausnimmt, als ein Freigeist nach bloßem eigenen Gutdünken zu tun, was Menschen von ihm fordern können." (A 19, 145, R 6736, 1772)

Fragt man nun, unter welchen Prinzipien die Forderung der Menschen, denen

man sich unterwer fen muß, stehen, dann stößt man wiederum auf die sociabilitas, die

Mögl ichkeit der Gesellschaft, von der Kant in den Bemerkungen' erkannt hatte, daß

sie auf Vernunft regeln des Rechts beruht:

„Eine Handlung ist unrecht, insoferne sie, wenn andere diese Grundsätze in uns voraussetzen, unmöglich ist. E. g. Lüge. Es ist unmöglich, einen zu betrügen, der da weiß, daß man be-trügen wil l , oder Treulosigkeit im Vertrage. Es ist auch unmöglich, solche Handlung als eine allgemeine Befugnis zu wollen und zu billigen. Ungesellig ist der, der solche Maximen hat, daß, wenn andere eben dergleichen haben, er mit ihnen nicht umgehen könnte. Dazu gehört Geld. Der gefällige Mensch wünscht, daß alle Menschen ebenso wären wie er; der unge-sellige das Gegenteil. Der Gerechte fordert es. Die Gerechtigkeit ist ein Grund der Möglich-keit der Gesellschaft, obzwar ohne Wunsch. Die Gütigkeit ist ein Antrieb zur Gesellschaft. Fordere das von andern, was du willst, daß andere von dir fordern sollen." (A 19, 144, R 6734, 1772 -1778 ) 1 '

D . h. Kant erhebt in der kritischen praktischen Philosophie Rechtsgründe als

unabhängig v o n einem materialen Handlungsgegenstand zu einer möglichen formalen

Best immung jeder sittlichen Handlung. Daß Kant bei der Formulierung dieser

Rechtsmoral sehr w o h l die Gefahr eines juristischen Rigorismus sah, geht aus der

Einschränkung des absoluten Rechtsstandpunktes hervor , den er noch 1786 Gott l ieb

Hufe land v o r w i r f t , der ihm zu fordern scheint, „daß man von seinem Rechte sogar

nichts nachlassen könne" (A 8, 129 , 3—4):

„Die moralischen Gesetze, weil sie vor den freien Willen überhaupt gelten, so sind sie auch gültig vor den menschlichen; allein die reinen Regeln der Pflicht, appliziert auf die Schwäche der menschlichen Natur, erleiden zwar keine Ausnahmen oder Milderung (diese würde auch zum Schaden der menschlichen Natur und anderer Menschen gereichen), aber sie dienen durch das Bewußtsein der eignen Ungerechtigkeit, nicht bloß aus Gütigkeit, sondern aus Gründen des Rechts nicht alle Ansprüche zu machen, welche sonst nach den strengen Befugnissen der Gerechtigkeit von einer Person, die selbst gerecht wäre, zu machen sein würden. E. g. Staatsverfassung. Denn es ist nicht zu verlangen, daß alles gerecht sei gegen uns, wenn wir es nicht mit Gewißheit gegen andre sein." (A 19, 139, 1 4 - 2 4 , R 6715, 1772?)

Typisch f ü r dieses Experimentieren mit Rechtsregeln als obersten Gründen des

Wi l lens dürf ten die Reflexionen zur Geltung der Billigkeit sein:

„Was durch keine allgemeinen ausdrücklichen Gesetze nezessitiert werden kann, ob es zwar durch das stillschweigende notwendig ist, ist billig. Also ist die Billigkeit eigentlich die Ein-schränkung des äußerlich gültigen Rechts (wovon äußere und ausdrückliche Gesetze möglich

19 Es ist auffällig, daß nach dieser Reflexion die Gerechtigkeit „e in" Grund der Gesellschaft ist; in den Bemerkungen ' hätte es heißen müssen ,der' Grund der Gesellschaft. Dazwischen liegt die Entdeckung des notwendigen Staatsrechts.

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78 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

sind) durch die nur innerlich gültigen Gesetze. Also gibt die Billigkeit kein Recht und befreit auch von keiner Schuldigkeit." (A 19, 147, R 6747, 1772)20

Dennoch bleibt zu fragen, ob solche genannten Rechtsbegriffe unter der obersten

Regel der sociabilitas wie Vertragstreue, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit den

ganzen Umfang des menschlichen Handelns umreißen können.

5 . 2 . 2 . D a s R e c h t d e r M e n s c h e n und der M e n s c h h e i t

als G r ü n d e des W i l l e n s

In einem zweiten Angang untersucht Kant die „wesentlichen Bestimmungen des

Menschen", „ohne die er entweder kein Mensch oder kein freies Wesen sein würde".

Der Zusammenhang ist folgender:

„Denn weil in Bestimmung des Nutzens alles zufällig ist . . ., so muß das, was eine vorher-gehende Bedingung ist, sich seiner Freiheit zu bedienen, die Freiheit notwendig einschränken, folglich die wesentlichen Bestimmungen seiner eignen Person und das Leben selbst. Wider diese kann keine Absicht stattfinden, ob sie zwar selbst nicht eben die Absicht selber sein dürfen. Wesentliche Bestimmungen sind die, ohne die er entweder kein Mensch oder gar kein freies Wesen sein würde. Er soll nicht die Absicht haben, die Unwahrheit zu reden, weil er als einer, der seinen Sinn bezeichnen kann, die Bedeutung derselben nicht vernichtigen muß. Er soll nicht sich selbst töten, weil er, wenn er mit sich selbst schaltet, sich als eine Sache betrachtet und die Würde eines Menschen verliert. Er beleidigt andre, wenn er das, was nicht seine Sache ist, als die seinige behandelt. Der Selbstmörder zeigt auch die Freiheit in dem größten Widerstreit mit sich selbst, mithin in der größten Zerrüttung des eignen Wahnes. Die Menschheit ist heilig und unverletzlich. (SSowohl in seiner eignen Person als in der anderer. Seine eigne Einwilli-gung ist hier nichtig, weil man keinen Willen hat, um aufzuhören, gar etwas zu sein.) Alle Pflichten, nämlich die notwendigen, bestehen nicht darin, daß wir der Menschen Wohlfahrt, sondern der Menschheit Vorzüge und Würde ehren. Also ist das Recht der Menschheit das-jenige, was alle Freiheit durch notwendige Bedingungen einschränkt." (A 19, 165, 10-11, 16-32, 166, 1 - 5 , R 6801, 1772-1775)

Christian Ritter interpretiert diese Gedanken Kants gemäß seiner genannten These

folgendermaßen :

„Wenn Kant in der oben zitierten Reflexion lehrt, daß „die wesentlichen Bestimmungen seiner (sc.: des Menschen) Person und das Leben selbst" „vorhergehende Bedingung(en)" sind, „sich seiner Freiheit" nämlich der sittlichen Freiheit des Vernunftwesens — „zu be-dienen", so klingt hier bereits das zweite Element des Rechts der Menschheit an. Weil der Mensch nicht nur „wesentlichen Bestimmungen" genügen muß, „ohne die er . . . kein freies Wesen sein würde, sondern ebenso jene, ohne die er „kein Mensch" wäre, stellt Kant das „anthropologische" Apriori, die materialen, realen Inhalte der „Menschheit" neben ihre idealen, „formalen" Elemente — Vernunft und Freiheit."21

Verstößt Kant hier wirklich gegen die von ihm selbst als unumstößlich aufgestellte

Bedingung des Formalismus in der praktischen Philosophie? Die einzige Basis, von

der aus man argumentieren kann, ist der Freiheitsbegriff. Nun besteht Kants

Wendung gerade darin, daß ein Freiheitsbegriff als Denktätigkeit, als Freiheit des

20 Vgl. A 19, 146/7, RR 6742, 6743, 6745, 6746 21 a . a .O. , S. 320

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Die Entstehung der Form des kategorischen Imperativs 79

Denkens nicht nur als untauglich erkannt wird, sondern daß die Freiheit darin besteht, daß ein Sinnenwesen als solches einen vernünftigen formalen Standpunkt ein-nehmen k a n n : d. h. wenn man vom Menschen als einem freien Wesen spricht, formuliert man stets die Sinnlichkeit mit; anders ausgedrückt: im kritischen Freiheits-begriff stecken analytisch sowohl Intellekt als auch Sinnlichkeit.

Somit sind alle Bestimmungen der Freiheit zuwider, die das Sinnenwesen der Wirk-samkeit der Vernunft berauben. Was die Vernunft aber am allerersten unbrauchbar macht, ist der Widerspruch zwischen Gedanken und deren Zeichen, d. i. die Unwahrhaftigkeit, — was Kant schon lange als formales Gesetz erkannt hatte. Unter eben einer solchen Vernichtung der Brauchbarkeit der Vernunft aber lassen sich die anderen Beispiele begreifen. So ist es ein Widerspruch, sich als freies vernünftiges Wesen anzuerkennen und aufgrund dieser Vernunft die Brauchbarkeit der Vernunft durch Selbstmord zu vernichten. Es ist ebenso ein Widerspruch, Eigentum für die eigene Person anzuerkennen, aber durch Raub so zu handeln, als ob kein Eigentum existiere, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß es Kant an dieser Stelle ferne liegt, eine eigentliche Eigentumstheorie zu entwickeln. D. h. die Regeln, nach denen die Freiheit arbeitet, sind zwar formal nach dem Satz des Widerspruchs entwickelt, sie beziehen sich aber aufgrund des ihnen zugrunde liegenden Freiheitsbegriffs auf das vernünftige Sinnenwesen als Ganzes.

Kant formuliert diese wesentlichen Gesetze, deren Nichtbeachtung das vernünftige Sinnenwesen zum vernunftlosen macht, wie folgt:

„Die wesentlichen Gesetze sind die, ohne welche die Freiheit ein gefährliches Ungeheuer sein würde; nämlich die Freiheit muß nicht so gebraucht werden, daß sie der Menschheit an sich selbst, 2. nicht der Freiheit anderer zuwider ist. Es sind also Rechte der Menschheit und Rechte der Menschen : Rechte der Menschheit in seiner eigenen Person und ebensolche Rechte in Ansehung andrer." (A 19, 163, R 6795, 1 7 7 2 - 1 7 7 5 ) "

Der erste Fall ist zum Beispiel der, daß ein Mensch durch andauernde Trunkenheit oder andere Rauschzustände seine Vernunftfähigkeit gegen den Gebrauch der Ver-nunft einsetzt, d . h . , wie man sagt, sich entmenscht;23 der zweite Fall, daß ein Mensch durch Betrug den Vernunftgebrauch des anderen unwirksam macht, d. h. dem anderen nicht als einem vernünftigen Wesen begegnet. Zumindest in den zitierten Reflexionen ist nicht zu erkennen, daß Kant andere als formale Schlüsse aus dem Freiheitsbegriff zieht. O b dieses Ergebnis ζ. B. auf das spätere persönliche Recht auf dingliche Art zutrifft, muß allerdings am besonderen Fall geprüft werden. Die Behauptung Ritters eines materialen Aprioris scheint demnach tatsächlich auf einem Mißverständnis des Freiheitsbegriffs zu beruhen, nämlich daß Kant von einer faktischen metaphysischen Freiheit ausgehe, die auf sich selbst bezogene, absolute

2 2 Ebenso Moralphilosophie Collins A 27, 1, 258, 1 - 6 ; Naturrecht Feyerabend S. 9f . 2 3 Vgl. Tugendlehre § 8: „Die tierische Unmäßigkeit im Genuß der Nahrung ist der Mißbrauch

der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellektuellen Gebrauchs derselben gehemmt oder erschöpft wird. Versoffenheit und Gefräßigkeit sind die Laster, die unter diese Rubrik gehören. Im Zustande der Betrunkenheit ist der Mensch nur wie ein Tier, nicht als Mensch zu behandeln." (A 6, 427, 1 2 - 1 7 )

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80 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Sätze formulierte. Dann allerdings benötigte Kant etwas absolutes Reales, wie er es sich um 1770 durch die Erkenntnis in Gott wirklich konstituierte. Im Gegenteil aber ist die Freiheit, die Kant seit 1772 in ihrem ganzen Umfange meint, keine andere, als die vom Richter vorausgesetzte eines Sinnenwesens, das von seiner Vernunft Ge-brauch machen kann und muß.

In diesem Zusammenhang werden zwei Dinge deutlich. Erstens, daß Kants Bestim-mungen des reinen Willens, durch die die Freiheit erst möglich wird, auf den Bedingungen der Gesellschaft vernünftiger Sinnenwesen überhaupt beruhen. Das gilt selbst für die Rechte der Menschheit in der eigenen Person. Zum Selbstmord heißt es:

„ W i e würdet ihr einen Freund ansehen, von dem ihr nie sicher wäret, ob er nicht mit dem Selbstmorde umginge?" (A 19, 166, 1 6 - 1 7 , R 6801)

Die Antwort muß lauten, daß wir mit einem Menschen umgehen müßten, der sein Menschsein ablehnt, der die gemeinsame Bedingung des Menschseins, den wirksamen Vernunftgebrauch verneint. Man wüßte tatsächlich wohl kaum mit einem solchen Menschen als Partner umzugehen, es sei denn unter dem Ziel, diesem wieder zur Bejahung der Vernunft zu verhelfen, was aber einschließt, daß man ihn eher als Gefangenen seiner Vorstellungen als ein freies Wesen, mit dem R e c h t s g e s c h ä f t e möglich sind, ansieht. Entsprechend läßt sich vom Umgang mit Betrunkenen, selbst wenn sie uns nicht verletzen, urteilen. Anders formuliert: die Freiheit ohne den Gebrauch der vernünftigen Gesetze der sociabilitas ist „ein gefährliches Ungeheuer", das jede Gesellschaft aufheben würde.

Zweitens ist deutlich, daß mit den formalen Regeln der Freiheit jeder materiale Altruismus, die unmittelbare „Wohlfahrt" der Menschen aus den Gründen des Willens beseitigt ist.

Damit besteht der von Kant in der kritischen Phase der Philosophie bisher entwickelte Formalismus in der Kombination des kritischen Freiheitsbegriffs mit dem Formalismus der intellektuellen und rechtlichen Verbindlichkeit als Bedingung der Geselligkeit, ein Formalismus, den Kant schon seit ungefähr 10 Jahren besitzt. Dieser große Umweg, den Kant seit den Bemerkungen' machen mußte, weil er noch nicht im Besitz eines absoluten Freiheitsbegriffs war und diese formale Verbindlichkeit daher stets an andere Freiheit vernichtende Materien anhängen mußte — moralisches Gefühl, konkrete Hochbilder, hobbesische Staatsgewalt, Civitas dei —, verführt sowohl Josef Schmucker24 als auch Christian Ritter25 zu dem Schluß, daß Kants praktische Philosophie schon seit der Mitte der 60er Jahre in allen ihren wesentlichen

2 4 a . a . O . , S. 256: „Aus dieser Zusammenfassung wird hinreichend deutlich werden, daß in der Tat um die Mitte der sechziger Jahre, also etwa fünfzehn Jahre vor dem Erscheinen der Kr .d . r .V . und zwanzig vor dem der Grundlegung der „Metaphysik der Sitten" die Kantische Ethik bereits in ihren Grundzügen geprägt ist, ein bedeutsames Ergebnis, vor allem auch des-wegen, weil es die traditionelle Auffassung widerlegt, daß er seine „kritische Ethik" erst entscheidend im Anschluß und unter dem Einfluß seiner theoretischen Vernunftkritik ausge-bildet habe."

2 5 a . a . O . , S. 339: „Bereits zu Anfang des durch die frühen Quellen aufgeschlossenen Zeit-raums (um 1764) finden sich in nuce die gleichen grundlegenden Bestimmungen wie in der M.d.S."

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Die Entstehung der Form des kategorischen Imperativs 81

Zügen fertig ist. Die Frage ist allerdings, was formale praktische Sätze ohne einen brauchbaren Freiheitsbegriff wert sind.

Was aber hat Kant mit dem Recht der Menschheit und der Menschen bisher erreicht, außer daß er die kritische Freiheitsfähigkeit des vernünftigen Sinnenwesens auf den Inbegriff aller Menschen und jeder menschlichen Gesellschaft ausdehnt? Denn will man aus diesem Recht der Menschheit und der Menschen, aus den „Grundeigen-schaften der Seele", die „sich von selbst nicht variieren" können und denen „selbst der Mensch als ein Tier unterworfen" ist (A 19, 138, 8-10 , R 6709, 1772-1775), die bisher erreichte praktische allgemeine Regel ziehen, dann müßte sie folgendermaßen lauten: Handle vernünftig nach den Regeln der Geselligkeit, und zwar so, daß die Möglichkeit deines eigenen Vernunftgebrauchs und desjenigen anderer nicht ver-hindert wird, — ein richtiges, aber wahrhaft mageres Ergebnis: Den kategorischen Imperativ bedeutet das noch lange nicht.

5 .2 .3 . D i e F o r m der S e l b s t g e s e t z g e b u n g des k a t e g o r i s c h e n I m p e r a t i v s aus e iner a l l g e m e i n e n R e f l e x i o n P ierre B a y l e s

Im „Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus Christ: Contrains-les d'entrer, ou traité de la tolérance universelle" von 1686 gibt Pierre Bayle als allgemeine Reflexion zur Beurteilung von Handlungen eine Formulierung des kategorischen Imperativs :

„ P o u r se défaire donc de ces deux obstacles " (Leidenschaft und Gewohnheit), „ j e voudrais qu'un homme, qui veut connaître distinctement la lumière naturelle, par rapport à la morale, s'élevât au dessus de son intérêt personnel et de la coutume de son pays et se demandât en général: une telle chose est-elle juste, et s'il s'agissait de l'introduire dans un pays où elle ne serait pas en usage et où il serait libre de la prendre où de ne la prendre pas, verrait-on, en l'examinant froidement, qu'elle est assez juste pour mériter d'être adoptée?2 6

Er bezeichnet diese Reflexion als „ la pierre-de-touche de tous les préceptes et de toutes les lois particulières, sans en excepter mêmes celles que dieu nous révèle ensuite extraordinairement."2 7

Die Frage ist nun, ob Pierre Bayle diese Vorwegnahme der obersten Regel der kantischen praktischen Philosophie in einen philosophisch überzeugenden Zusam-menhang stellen kann und ob Kant selbst diese allgemeine Reflexion kannte.

Den Hintergrund dieser Reflexion bildet Bayles philosophischer Kampf gegen die orthodoxe Wundergläubigkeit und die Praxis der Zwangsbekehrung der Hugenotten unter Ludwig XIV.. Das erste Kapitel des .Commentaire', in dem auch die zitierte Reflexion steht, vereinigt die wichtigsten Elemente von Bayles Argumentation.

Die Auseinandersetzung mit dem wörtlichen Sinn der Bibel (Lukas 14, 23), auf den sich die Orthodoxen berufen, führt Bayle als Cartesianer. Der Sinn der Bibel müsse sich an Axiomen messen:

2 6 Wir zitieren aus Gründen, die zu zeigen sein werden, aus der Ausgabe Rotterdam 1713; hier S. 142

2 7 a . a . O . , S. 143

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82 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

„comme que le tout est plus grand que sa partie, que si de choses égales, on ôte choses égales, les résidus en seront égaux, qu'il est impossible que deux contradictoires soient véritables, ou que l'essence d'un sujet subsiste réellement après la destruction du sujet."28

N u n liegt es für einen Cartesianer nahe, in der Moral dem cartesischen Moralisten, nämlich Malebranche zu folgen, nach dessen Lehre wir alle Dinge mit Hilfe der Gnade durch die Liebe zum höchsten Gut lieben.29 Tatsächlich zeigt sich Bayle noch 1682 in den „Pensées diverses sur la comète" als eine Anhänger einer solchen Güter-moral, denn es ist die Gnade und die Liebe Gottes, die uns an diesen als unser höchstes Gut bindet.3 0

Die zitierte allgemeine Reflexion aber hat mit einem höchsten Gut nichts gemein, da sie die Prüfung der Handlung allein an anderen menschlichen Verhältnissen vor-schreibt. Bayle muß sich also von der Lehre des höchsten Guts befreit haben, und er tut das tatsächlich mit Hilfe seines skeptischen Standpunkts. Schon in den „Pensées diverses" hatte er mit Ciceros „ D e divinatione" und Montaigne gegen die Wunder-gläubigkeit argumentiert, im .Commentaire' beruft er sich kritisch auf Lukrez:

„Un philosophe épicurien" (Anm. Lucretius lib. IV) „raisonne fort juste, quoiqu'il applique mal son principe, lorsqu'il dit, que puisque nos sens sont la première règle de nos connaissances et la voie originale, par où les vérités entrent dans nos âmes, il faut qu'ils ne soient pas sujets à l'erreur. Il se trompe, en posant la règle ou la pierre-de-touche de la vérité dans le témoignage des sens: mais il a raison, en supposant cela, de conclure que nos sens doivent être les juges de nos controverses et décider de nos doutes."31

Wenn unsere sinnliche Erfahrung allein das Material für unsere Erkenntnis hergibt, dann können wir die Gegenstände immer nur beurteilen, wie sie uns erscheinen; da-her ist es möglich, Menschen wegen bestimmter Urteile zu Gegenständen, wie die Zwangsbekehrung es z. B. angesichts der Transsubstantiationslehre vorsieht, irgend-welchem Zwang zu unterwerfen. Diese Subjektivität unseres Erkenntnisvermögens formuliert Bayle nun folgendermaßen:

(Gott) „ n o u s a imposé une charge proportionnée à nos forces qui est de chercher la vérité et de nous arrêter à ce qui nous paraît l'être après l'avoir sincèrement cherchée, d'aimer cette vérité apparante et de nous régler sur ses préceptes, quelques difficiles qu'ils soient. Cela veut dire, que la conscience nous a été donnée pour la pierre-de-touche de la vérité dont la connaissance et l 'amour nous est commandée. Si vous demandez d'avantage, il est clair que vous demandez l'impossible, et il est aisé de le démontrer." 3 2

Daß angesichts dieser Subjektivität unserer Erkenntnis eine Priorität der Moral im Vernunftgebrauch vorliegt, stellt Bayle ausdrücklich fest. Er sagt in Bezug auf die Geltung der Vernunft:

2 8 a . a . O . , 137; vgl. .Pensées diverses', Oeuvres Diverses, La Haye 1727, Bd. 3, S. 120b: „ L a bonne philosophie nous apprend aujourd'hui d'une manière très convaicante, que notre âme est distincte du corps et par conséquent qu'elle est immortelle."

2 9 Recherche de la vérité; a . a . O . , 4, 1, 3: „C 'e s t l'amour du bien en général qui est le principe de tous nos amours particuliers."

3 0 a. a. O . , S. 94b : „ E l l e " (die Gnade) „consiste dans la charité, qui nous fait aimer dieu et qui nous attache à lui comme à notre souverain bien."

3 1 a .a .O. , S. 148f. 3 2 a . a . O . , 2, 10, S. 461 f.

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Die Entstehung der Form des kategorischen Imperativs 83

„S'il peut avoir certaines limitations à l'égard des vérités spéculatives, je ne pense pas qu'il en doive avoir aucune à l'égard des principes pratiques et généraux, qui se rapportent aux moeurs."3 3

Die Vernunft, gebunden durch die Gewissenhaftigkeit, konstituiert nicht die Wahrheit, sondern entscheidet nur noch als Richter:

„ . . . le tribunal suprême, et qui juge en dernier ressort et sans appel, de tout ce qui nous est proposé, est la raison, parlant par les axiomes de la lumière naturelle ou de la méta-physique."3 4

Nach dieser einleuchtenden Argumentation kann ebenfalls ein material erkanntes höchstes Gut nicht mehr allgemein verbindlich gemacht werden. In die entstandene Leerstelle der Moral setzt Pierre Bayle folgerichtig formale Gesetze, die man leicht als die von Hobbes erkennt,35 dessen Staatsrecht er selbst angesichts der bekämpften Er-scheinungen des Absolutismus verteidigt.36 Die Vernunft zeigt uns,

„que le tout est plus grand que sa partie, qu'il est honnête d'avoir de la gratitude pour ses bienfaiteurs, de ne point faire à autrui ce que nous ne voudrions pas qui nous fût fait, de tenir sa parole et d'agir selon la conscience."37

Um nun über die Anwendung solcher formaler Regeln hinaus die praktische Möglichkeit einer Handlung zu prüfen, empfiehlt Bayle, von seinen besonderen Interessen abzusehen und die Handlung als Gegenstand der Gesetzgebung eines beliebigen Landes zu betrachten.

Kannte Kant diese formale, nichtmateriale Moral Pierre Bayles und läßt sich ein Zeitpunkt der Beschäftigung damit festlegen?

Daß Kant den .Commentaire philosophique' tatsächlich für seine Argumentation benutzte, zeigt der 2. Teil des 4. Stücks der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft" von 1793 „Vom Afterdienst Gottes in einer statuarischen Religion" und darin der § 4 „Vom Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen". Es heißt don:

„Man nehme z. B. einen Ketzerrichter an, der an der Alleinigkeit seines statuarischen Glaubens bis allenfalls zum Märtyrertume fest hängt und der einen des Unglaubens verklagten soge-nannten Ketzer (sonst guten Bürger) zu richten hat, und nun frage ich: ob, wenn er ihn zum Tode verurteilt, man sagen könne, er habe seinem (obzwar irrenden) Gewissen gemäß gerich-tet oder ob man ihm vielmehr schlechthin Gewissenlosigkeit schuld gegen könne, er mag geirrt, oder mit Bewußtsein unrecht getan haben; weil man es ihm auf den Kopf zusagen kann, daß er in einem solchen Falle nie ganz gewiß sein konnte, er tue hierunter nicht viel-leicht unrecht. Er war zwar vermutlich des festen Glaubens, daß ein übernatürlich-geoffen-barter göttlicher Wille (vielleicht nach dem Spruch: compellite intrare) es ihm erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den vermeinten Unglauben zusamt den Ungläubigen auszurot-ten ." (A 6, 186, 21-33)

Kant löst die Frage wie Bayle, daß nämlich der Geschichtsglaube den moralischen Grundsätzen nicht widersprechen dürfe. Die Sicherheitsmaxime angesichts der Offen-

3 3 a . a . O . , S. 141; ebenso S. 151 3 4 a . a .O . , S. 139 35 Leviathan 1, 14/15, De cive 2/3. 3 6 Dictionnaire historique et critique, Art. Hobbes 3 7 a . a . O . , S. 148

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84 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

barung bestehe darin, diese Glaubenssätze zwar als heilbringend, aber nicht unter den

Begriffen wahr oder falsch anzunehmen:

„In dieser Maxime ist wahrhafte moralische Sicherheit, nämlich vor dem Gewissen (und mehr kann von einem Menschen nicht verlangt werden)." Sic! (A 6, 189, 13—15)

Pierre Bayle formulierte: „Si vous demandez d'avantage, il est clair que vous

demandez l'impossible"!38

Diese Kenntnis des ,Commentaire' läßt sich allerdings schon für eine frühere Zeit

nachweisen.

Das Erscheinen von Herders 1. Teil der „Ältesten Urkunden des Menschenge-

schlechts" im Jahr 1774 hatte Anlaß zu einem Briefwechsel zwischen Kant und

Hamann gegeben, aus dem hervorgeht, daß beide Autoren darin einig waren, daß die

Bibel als Grundlage einer Religion nicht historisch oder philosophisch interpretiert

werden dürfe. Kant schreibt:

„Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, daß kritische Kenntnis alter Sprachen, philolo-gische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundfeste ausmacht, auf die sie durch alle Zeit-alter und in allen Völkern erbauet sein muß, so schleppt der, welcher im Griechisch — Hebräisch — Syrisch — Arabischen etc. imgleichen in den Archiven des Altertums am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen, wie sie wollen, als Kinder, wohin er will ." (A 10, 160, 25-31 ; Brief vom 8. April 1774)

Hamann antwortet:

„Unter allen Sekten, die für Wege zur Glückseligkeit, zum Himmel und zur Gemein-schaft mit dem Ente Entium oder dem allein weisen Enzyklopädisten des menschlichen Ge-schlechts ausgegeben worden, wären wir die elendeste unter allen Menschen, wenn die Grund-feste unsers Glaubens in einem Triebsande kritischer Modegelehrsamkeit bestünde." (A 10, 163, 27 -32 ; Brief vom 10. April 1774)39

Dies aber gerade ist das Programm Pierre Bayles, mit dem er den ,Commentaire'

einleitet:

„Je laisse aux théologiens et aux critiques à commenter ce passage, en le comparant avec d'autres, en examinant ce qui précède et ce qui suit, en faisant voir la force des termes de l'original et les divers sens dont ils sont susceptibles et qu'ils ont effectivement en plusieurs endroits de l'écriture. Je prétends faire un commentaire d'un nouveau genre et l'appuyer sur des principes plus généraux et plus infaillibles, que tout ce que l'étude des langues, de la critique et des lieux communs me pourrait fournir."40

A m 28. April 1775 schreibt Kant an Lavater, der ihn um ein Urteil über die 2. Ab-

handlung seiner Vermischten Schriften, erschienen 1774,4 1 gebeten hatte:

38 Kant folgt in der Gewissenlehre Bayle; s. Tugendlehre § 13. Dort spielt ein Gesichtspunkt Adam Smiths mit, der als Instanz des Gewissens einen unparteiischen Beobachter annimmt (Theorie der moralischen Empfindungen, Braunschweig 1770, S. 284 f.). Zur Kenntnis Kants A 19, 185, 11-13, R 6864; vgl. A 19, 309, 13-17, R 7312; auch Kr.d .r .V. Β 597; „Vom Ende aller Dinge" A 8, 329f.; „Über das Mißlingen aller philo-sophischen Versuche in der Theodicee" A 8, 266ff.

39 Zu diesem Briefwechsel und seinem Hintergrund siehe Klaus Reich, Einleitung zu „Der Streit der Fakultäten", 1959, Phil. Bibl. Meiner Bd. 252, S. Xlff.

4 0 a . a .O. , S. 135f. 41 Zu Lavaters Buch A 13, 67

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Die Entstehung der Form des kategorischen Imperativs 85

„Sie verlangen mein Urteil über Ihre Abhandlung vom Glauben und dem Gebete. Wissen Sie auch, an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reinste Aufrichtigkeit in Ansehung der verbor-gensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor ein Verbrechen hält, Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu tun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüt nicht in freiem Glauben zusammenstimmt. Ich unterscheide die Lehre Christi von der Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben und, um jene rein heraus-zubekommen, suche ich zuvörderst die moralische Lehre abgesondert von allen neutestamen-tischen Satzungen herauszuziehen. . . . Nun gestehe ich frei: daß in Ansehung des Histori-schen unsere neutestamentischen Schriften niemals in das Ansehen können gebracht werden, daß wir es wagen dürften, jeder Zeile derselben mit unangemessenem Zutrauen uns zu über-geben und vornehmlich dadurch die Aufmerksamkeit auf das einzig Notwendige, nämlich den moralischen Glauben des Evangelii zu schwächen, dessen Vortrefflichkeit eben darin besteht, daß alle unsre Bestrebung auf die Reinigkeit unserer Gesinnung und die Gewissenhaftigkeit eines guten Lebenswandels zusammengezogen wird ." (A 10, 176, 10—21, 178, 11 — 19)

Kant muß sich bis Apr i l 1775 mit Pierre Bayles Argumentation im ,Commentaire'

auseinandergesetzt haben, deren Merkmal gerade die Ablehnung des Buchstabenglau-

bens und die reinste Gewissenhaftigkeit ist!

Der Bezug zur herangezogenen Korrespondenz zwischen Kant und Hamann liegt

nahe: Hamann besaß diesen ,Commentaire' in der von uns zitierten Ausgabe von

1713 in seiner umfangreichen Bibliothek;4 2 Kant und Hamann versorgten sich damals

gegenseitig mit Lektüre, 4 3 nichts ist wahrscheinlicher, als daß Hamann seinem Freund

Kant den ,Commentaire ' als Beispiel ihres gemeinsamen Standpunktes auslieh.

Den Hintergrund für Kants Übernahme der allgemeinen Reflexion Pierre Bayles

erhellt die Vorlesungsnachschrift Powalski . 4 4 Neben der Einsicht, daß Gott nicht der

Urheber des moralischen Gesetzes ist (A 27, 121 , 5—12; 135, 21—35; 145f . ) , neben

der Bestimmung des Willens durch die wesentlichen Zwecke der Menschheit und

Rechtsregeln betont Kant „die Einfalt" als „Haupteigenschaft der Erkenntnis der

natürlichen Religion" (A 27, 1, 170, 37—38). Er erklärt diese folgendermaßen:

„Unter der Einfalt verstehe ich den Grad der Erkenntnis, die durch den bloßen eigenen

Gebrauch des gemeinen und gesunden Verstandes erkannt werden kann. Der gemeine und

gesunde Verstand muß hinreichend sein, sie nicht nur zu fassen, sondern auch auszuüben

und sie zu erlangen, und dieses kann ich auch von jedermann verlangen." Sic! (A 27, 1, 170,

3 8 - 1 7 1 , 4 )

Bayles allgemeine Reflexion selbst, die Handlung mit Hilfe der Vorstellung eines

Gesetzgebers zu prüfen, schlägt sich in Kants Reflexionen nieder:

„Warum ist die natürliche allgemeine Begierde (zur Glückseligkeit) der Idee nach unter dem obersten ursprünglichen Willen sowohl der Natur als der Freiheit und an ihn als dessen Kondition gebunden? Wir stellen uns nämlich vor, daß dasjenige geschehen müsse, was wir nach unsrer unparteiischen Willkür verlangen würden, wenn andere unserem Willen unterworfen wären. Ihr Wille müßte untereinander und mit unserm obersten Willen zusammenstimmen. Wir würden verlangen, daß sie der Idee von ihrem Dasein sich gemäß verhielten, aller Wille Einheit hätte." (A 19, 217, 19 -26 , R 6973)

4 2 Imendörffer, Nora, J . G. Hamann und seine Bibliothek, Königsberg/Berlin 1938, S. 106 4 3 Siehe die Briefe Hamanns vom 18. 2. und 13. 3. 1775; A 10, 172-174 44 Zur Datierung siehe Lehmann A 27, 2

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86 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Schließen wir auf den kritischen Freiheitsbegriff zurück, dann erfüllt Kant den zur Freiheit erforderlichen vernünftigen Standpunkt dadurch mit Inhalt, daß er den Handelnden sich als Gesetzgeber allgemeiner Regeln vorstellen oder denken läßt. Da jener Standpunkt der Vernunft aber die einzige Möglichkeit der Freiheit überhaupt ausmacht, ist der Handelnde den von ihm vorgestellten allgemeinen Gesetzen, d. h. sich selbst als Gesetzgeber zugleich unterworfen:

„Die Unterwerfung der Freiheit unter die Gesetzgebung der reinen Vernunft. . . . Die reine, d. i. von allen (sinnlichen) Triebfedern abgesonderte Vernunft hat in Ansehung der Freiheit überhaupt gesetzgebende Gewalt, die jedes vernünftige Wesen erkennen muß, weil ohne Be-dingungen der allgemeinen Einstimmung mit sich selbst in Ansehung seiner selbst und anderer gar kein Gebrauch der Vernunft in Ansehung ihrer stattfinden würde. Nun ist das ein natür-licher und notwendiger Gegenstand des Abscheues, wodurch die oberste Kraft sich selbst widerstreitet, ebenso wie im Logischen, wenn sie sich selbst widerspricht." (A 19, 179, R 6853)

Diese Reflexion ist in die Jahre 1776—1779 datiert. Der späteste Datierungsvor-schlag der vorher zitierten Reflexion 6973 geht wenig über die Mitte der 70er Jahre hinaus. Aufgrund der Datierungsvorschläge und inhaltlichen Kriterien bestehen keine Bedenken, die Reflexion 6973 in unmittelbaren Zusammenhang mit dem herangezo-genen Brief an Lavater und der Lektüre des „Commentaire philosophique" Bayles zu bringen.

Genetisch betrachtet verbindet Kant danach im kategorischen Imperativ den kritischen Freiheitsbegriff einerseits mit der notwendigen Widerspruchsfreiheit der Persönlichkeit aufgrund des Verbindlichkeitsbegriffs, andrerseits mit der Prüfung der Handlung mittels der Vorstellung eines wirklichen Gesetzgebers. Daß die Einheit-lichkeit des daraus resultierenden Standpunkts in der Widerspruchslosigkeit der vor-gestellten Persönlichkeit des Gesetzgebers, dem ich zugleich unterworfen bin, in der Einheit einer vorgestellten Rechtsperson liegt, ist nur eine Sache der Formulierung.

Trotzdem bedürfen zwei Fragen weiterer Klärung, was erstens Kant neben der religionsphilosophischen Erörterung Bayles auf dessen moralische Theorie aufmerk-sam machte und warum zweitens Kant seinen Anreger Bayle nicht zitiert. Am offen-sten liegt die Bayle und Kant gemeinsame skeptische Grundhaltung in der Moral als der des einfachen Mannes. Nun besteht für Bayle die sittliche Handlung gerade darin, dem Gewissen selbst dann zu folgen, wenn alle Nützlichkeiserwägungen innerhalb der erscheinenden Wahrheiten, alle Handlungen der wirklichen Handlungspartner dem widersprechen. Gerade einen solchen von Erscheinungen unabhängigen Stand-punkt macht Kants kritischer Freiheitsbegriff aus, nämlich eine vernünftige Haltung selbst dann einzunehmen, wenn die unsittliche Handlung in naturkausalen Verhält-nissen vorteilhafter wäre. Diese beiden Autoren gemeinsame Forderung eines ange-sichts von Nützlichkeitserwägungen möglicherweise unsinnig erscheinenden Stand-punkts nennt Kant später etwas ,Unvermutetes im Denken' (A 27, 1, 457, 4, Moralph. Collins), ein Paradox:

„Und hierin liegt eben das Paradoxon: daß bloß die Würde der Menschheit als vernünftiger Natur ohne irgendeinen andern dadurch zu erreichenden Zweck oder Vorteil, mithin die Achtung für eine bloße Idee dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willens dienen sollte." (A 4, 439, 3 - 7 , Gründl, z. Met. d. S.)

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Die Entstehung der Form des kategorischen Imperativs 87

Selbst wenn Kant gegen Mitte der 70er Jahre seine paradoxe Lehre in der prak-tischen Philosophie bei Bayle wiederfindet und dessen Reflexion der Rechtsschöpfung als Inhalt seines formalen Standpunkts in der Freiheit übernimmt, kann er sich doch den Begründungszusammenhang selbst zuschreiben.

Der Hintergrund der allgemeinen Reflexion Bayles ist dem Ergebnis nach zwar kritisch zu nennen, sie selbst ist mit der genialen Treffsicherheit einer praktisch reflektierenden Vernunft gesehen, aber Bayle besitzt weder eine haltbare Theorie der Freiheit noch einen absoluten Verbindlichkeitsbegriff. Daher bleibt seine Reflexion Empfehlung. Demgegenüber gibt sich Kant nur mit einer universalen Handlungs-theorie zufrieden, die, gesichert gegen Einwürfe der theoretischen Philosophie, über den Vorwurf einer unverbindlichen Empfehlung erhaben ist. Zwar macht Bayles Reflexion eines Gesetzgebers den formalen Standpunkt der Freiheit über die An-wendung einzelner Rechtsbegriffe wie Vertragstreue, Wahrhaftigkeit, Erhaltung der Rechtspersönlichkeit hinaus erst allseitig konkret anwendbar, doch steckt in der all-gemeinen Anwendbarkeit selbst Kants eigentliches praktisches Grundproblem, wie nämlich eine oberste praktische, d. i. kategorische Regel, die ihrer praktischen Forderung nach konkret anwendbar sein muß, überhaupt möglich ist. Diesen Nachweis aber führt Kant unabhängig von Bayle in der Deduktion des kritischen Freiheitsbegriffs.

Interessant ist festzustellen, an welcher Stelle des handschriftlichen Nachlasses die Formel des kategorischen Imperativs zuerst sichtbar wird.

Die Akademieausgabe ordnet der Phase ρ, 1773 —1775, eine Reihe Reflexionen zum Kriegsvölkerrecht zu:

„Das Völkerrecht beruht auf diesem einzigen Probierstein. Wenn meine Unternehmung (so) beschaffen ist, daß die Maxime derselben als öffentlich bekannt kann angenommen werden, ohne daß dieses ihr widerstreitet, so ist sie recht. Dagegen ist die Handlung unrecht, deren Maxime, wenn sie öffentlich bekannt wäre, sich natürlicherweise allgemeinen Widerstand verursachen müßte. . . . Wenn jemand bloß die vorteilhafte Gelegenheit wählt, um einen andern Staat zu unterdrük-ken, so muß er sich vorstellen, daß diese Maxime öffentlich bekannt wäre, folglich ein jeder urteilen könnte, daß an ihn auch die Reihe kommen könne." (A 19, 525, 10—15, 20—23, R 7818)

Die Forderung der Öffentlichkeit der Maxime kann als ein Ausfluß der sociabilitas aus Wahrhaftigkeit angesehen werden und ist daher nicht neu.45 Solange Zeichen und Denken nicht übereinstimmen, bzw. ein Mensch durch Verweigerung von Zeichen seines Denkens auf den Gebrauch der Vernunft im sozialen Bezug verzichtet, kann ich dem Gegenüber nicht als einem vernünftigen Menschen begegnen; d. h. ich habe keinen Anhaltspunkt für die wirkliche Beschaffenheit seiner Handlungen und bin

4 5 A 19, 122/3, R 6642, 1769?: „Unter den Intellektualphilosophen der Moral ist das prin-cipium der Wahrheit als ein Mittel der Beurteilung gut. Denn dasjenige, dessen Maxime öffentlich kann gestanden werden, ist gut. Daher ist alles moralisch Böse wider die Wahr-heit, weil er tacite eine andre Maxime annimmt, als er bekennt." - A 19, 435, 3—5, E 7514, 1769—1771?: „Omnis actio iniusta est, quae fit per maximam necessario dissimulandam. Maximae debent esse ("publice) profitendae (propatulae, apertae, retectae)."

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88 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

daher auf meine Macht bzw. auf die meiner Verbündeten angewiesen. Daß aber die Möglichkeit der Handlung nicht in faktischer Anerkennung der Rechtspartner etwa als Vertragspartner beruht, sondern auf Selbstprüfung, ist ebenfalls nicht neu.

Überraschend ist, daß Kant innerhalb dieser Reflexionen zum Völkerrecht die Forderung der Öffentlichkeit auf jede Rechtshandlung überhaupt, nach seiner Theorie auf jede Handlung ausdehnt:

„ D a s principium der rechtlichen Pflicht ist: ich muß so handeln, als wenn meine Maximen ebenso von jedermann wie von Gott gesehen würden. Ich kann mir des Vorteils nicht bedienen, daß mein Herz Fensterladen hat. Würde einem jeden ins Herz gesehen werden können, so müßte er gute Maximen annehmen." (A 19, 526/7, R 7822)

Diese Reflexion ist durch ihren Inhalt eindeutig mit dem zitierten Brief an Lavater in Verbindung zu setzen und kann daher mit handschriftlicher Hauptdatierung nach ρ in die Jahre 1774/75, d. h. in die erschlossene Zeit der Beschäftigung mit Pierre Bayle datiert werden. Nun notiert sich Kant auf derselben Seite seines Handexemplars mit der handschriftlichen Hauptdatierung nach ρ—σ, 1773—1777, folgendes:

„ E i n Gesetz ist etwas Allgemeines, wornach man sich richten kann. Diejenige Handlung, deren Maxime unmöglich öffentlich Gesetz werden kann, ist unrecht." (A 19, 527, 4—6, R 7823)

Die Maxime soll nicht nur auf ihre Öffentlichkeit geprüft werden, sie wird daraufhin geprüft, ob sie wirkliches Gesetz in irgendeinem Land werden kann!

Dieses frühest feststellbare Beispiel zeigt, wie konkret Kant die Anwendung des kategorischen Imperativs ganz im Sinne der Supranationalität Bayles versteht. Der verantwortliche Politiker ist verpflichtet, wenn er sich auf den Standpunkt der vernünftigen Freiheit stellt, unabhängig von Sitten und Rechtspraxis einzelner Länder zu prüfen, ob sein Grundsatz Teil einer wirklichen Gesetzgebung eines wirklichen Landes bzw. eines wirklichen Rechtszustandes werden könnte. Damit dient der kategorische Imperativ der Schaffung eines Friedenszustandes unter freien Wesen, er selbst ist die Regel einer konkreten sociabilitas, ohne die ein friedliches Zusammen-leben der Menschen nicht möglich ist. Diesen Charakter der obersten Rechts- und Friedensregel des kategorischen Imperativs zeigt noch die Rechtslehre:

„ W a s ist aber nun nach Begriffen des Völkerrechts, in welchem wie überhaupt im Naturzu-stande ein jeder Staat in seiner eigenen Sache Richter ist, ein ungerechter Feind? Es ist der-jenige, dessen öffentlich (es sei wörtlich oder tätlich) geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müßte." (A 6, 349, 19—25)

Mit einem solchen kategorischen Imperativ als oberstem Prinzip ist die praktische Philosophie überhaupt eine Lehre der Rechts- und Friedensschöpfung unter Menschen.

5 .2 .4 . R e c h t und M o r a l unter dem k a t e g o r i s c h e n I m p e r a t i v

Für die zweite Hälfte der 70er Jahre liegen zahlreiche Reflexionen vor, die das Ver-hältnis von Recht und Moral formulieren. Dadurch daß eine Reflexion der Rechts-prüfung oberstes Prinzip aller Handlungen geworden ist, besteht der Unterschied der

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Die Entstehung der Form des kategorischen Imperativs 89

ethischen und rechtlichen Handlung nur darin, daß die Motivation zur ethischen

Handlung unabhängig von der Erwägung eines möglichen Zwangs im Subjekt selbst

liegt:

„Von den Pflichten der Menschen in Ansehung der Handlungen: Jus. In Ansehung der Ge-sinnungen, d. i. der Bewegungsgründe, jene Pflichten zu leisten: Ethica. Der Beweggrund ist hier innerlich, dort der Zwang." (A 19, 235, 13-15 , R 7050)

Das Recht selbst ist damit Gegenstand der Sittlichkeit:

„Das ius strictum sagt nur, was Recht ist, d. i. geschehen soll in Beziehung auf das arbitrium commune (^problematisch). Die necessitatio subiectiva ist hier pathologisch. Die Ethik sagt, es sei gut, d. i. aus motivis internis notwendig, recht zu handeln. Daher gehört das Recht mit unter die Sittlichkeit." (A 19, 227, 3 - 7 , R 7014)

Die Moral besteht darin, freiwillig den Rechtsstandpunkt einzunehmen:

„Achte das Recht hoch, selbst wo es kein Zwangsrecht ist. Ethik." (A 19, 244, 26, R 7081)

Den verschiedenen Motiven der Rechtsregel gegenüber ordnet Kant sowohl das

Begriffspaar littera — anima legis, wobei die „anima legis moralis" als „der mo-

ralische Bewegungsgrund" definiert wird (A 19, 233, 22—23, R 7043) 4 6 als auch das

Begriffspaar legalis — moralis zu:

„Alle Handlung, deren Bedingungen zum allgemeinen Gesetz der Willkür (inneren, äußeren) dienen können, ist moralisch gut. Eine empirische Bedingung (Glückseligkeit) kann dazu nicht dienen, mithin nicht die Ubereinstimmung (8mit) der Neigung, sondern die Form der Frei-heit, Moralität — Legalität; diese natürlich oder bürgerlich. Die aptitudo der Handlungen zu äußern Gesetzen ist legalitas, vel naturalis vel civilis." (A 19, 239, 17 -23 , R 7062, 1776-8) 4 7

Dieses Begriffspaar hat Kant dem § 114 der Prolegomena Achenwalls entnehmen

können ; 4 8 daß er die Prolegomena aber wirklich benutzt und sich damit auseinander-

gesetzt hat, zeigt deutlich das Naturrecht Feyerabend.4 9

Mit der Übernahme dieses Begriffspaars bemüht Kant allerdings Termini der Tradi-

tion, um sein Verhältnis zwischen Moral und Recht zu charakterisieren. Das darf aber

nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kant dieses Verhältnis in diametralem Gegensatz

zur Schultradition versteht. Daß für ihn dieses Verhältnis nicht wie für Achenwall mit

innerlich und äußerlich, d. h. vor einem Richter verantwortlich, umschrieben werden

kann , 5 0 sondern daß der Mensch als freies Wesen äußerem Recht gegenüber stets

innerlich verpflichtet ist und daher für das Recht nur der Zwang als Unterschei-

dungsmerkmal bleibt, formuliert einmal sehr deutlich die Moralphilosophie Collins

von 1785, deren Vorlage noch auf das Ende der 70er Jahre zurückgehen dürfte:

„Es ist also ein wahrer Unterschied der obligationum, wenn man sie einteilt in internas und

externas, aber darin besteht nicht der Unterschied der Ethik und des Juris, sondern der Unter-

4 6 Ebenso A 19, 233/34, R 7044ff., 1776-78; vgl. A 27, 1, 138, 17ff. 4 7 Vgl. A 19, 154, R 6764: „Wir können an den Handlungen die Moralität und Legalität der-

selben betrachten. Wenn diese stattfindet, ist jene noch nicht entweder dem Objekt nach (Gütigkeit) oder bloß dem Bewegungsgrunde nach (Gesinnung oder Furcht). Die Lega-lität ist entweder juridisch oder ethisch." Zur letztgenannten Differenzierung s. u. S. 92

4 8 S. o. S. 48 4 9 S. 24, S. 27, S. 32; vgl. o. S. 5096

5 0 S. o. S. 45f.

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90 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

schied besteht in den Bewegungsgründen zu diesen Verbindlichkeiten; denn wir können den obligationibus Genüge tun aus Pflicht und aus Zwang." (A 27, 1, 272, 10— 15) s l

D a nun aber Moral freiwillige Rechtsausübung bedeutet, kann der Rechtszwang selbst nicht wiederum moralisch begründet werden, wie es Kants Vorgänger mit den Prinzipien der Selbsterhaltung, Lebensdauer, auf die Person bezogener Friedenszu-stand oder Vervollkommnung tun, sondern der Rechtszwang selbst kann nur auf der Differenz zur absoluten N o r m in der Freiheit, dem Gesetz der Geselligkeit, beruhen. Mit dieser alleinigen Scheidung der Ethik vom Recht durch das Motiv ist die N o r m selbst, die sowohl angesichts der moralitas als auch der legalitas aufgrund des kritischen Freiheitsbegriffs gilt, von der Trennung in Recht und Moral unabhängig.

Unter dieser absoluten Geltung des Gesetzes der sociabilitas, des kategorischen Imperativs, ist es Aufgabe der Moral, den Menschen zum achtungswürdigen Rechts-subjekt zu machen:

„Ethisch: Handle nach Bewegungsgründen eines innern allgemeingültigen Willens, i. e. so daß du zu dulden, zu lieben und zu achten seist." (A 19, 299, R 7271, 3 1 - 3 2 , 1776-1789) 5 2

Aufgabe des Rechts ist, die erzwingbaren Bedingungen eines menschenwürdigen Zusammenlebens dieser Rechtssubjekte zu liefern. Allerdings muß Kant dem Vorwurf entgegentreten, daß eine solche Moral der Rechtsausübung die Liebespflichten vernachlässige:

„Man muß solche Maximen zum Handeln haben, als nur allein möglich sind, wenn wir solche öffentlich deklarieren müßten. Man muß sich des Vorteils, geheim zu sein, begeben und handeln vor den Augen von jedermann. Die ethischen Maximen, wenn sie öffentlich bekannt sein sollen, können nicht lieblos sein, weil sie uns aller Liebe berauben würden, auch nicht unnatürlich, weil wir uns dadurch von der Menschheit absondern." (A 19, 526, R 7819)53

N o c h in der Tugendlehre bezieht Kant das Wohlwollen auf die Gesetze der Gesel-

ligkeit:

„Denn alles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen ist ein Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen Vernunft, d. i. der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, die also nicht selbstsüchtig (ex solipsismo prodeuntes) sein können." (A 6, 450, 34—451, 4)

5 1 Vgl. die Diskussion zum Verhältnis von Recht und Moral im Naturrecht Feyerabend, S. 20ff. , S. 42ff. , vgl. S. 6. -Ritter, a .a .O. , S. 273ff., scheint im Gebrauch der vorkritischen Termini ein vorkritisches Relikt zu sehen. Vgl. A 19, R 7004; 236, R 7053; 245, R 7085. Aber selbst das formale und materiale Unrecht haben mit der Materie von 1770 nichts gemeinsam: „Gewisse Regeln gehören zur Ethik schon materialiter, als die Liebespflichten (sPflichten gegen sich selbst), andere nur formaliter, als die Pflicht, dem Recht anderer aus Gesinnung ein Genüge zu tun." A 19, 243, R 7076. Das Materiale bezieht sich nur auf die unmittelbare Folge der Handlung. Ebenso A 19, 143/4, R 6732; 204, R 6913; 241, R 7067

5 2 Ebenso A 19, 244, R 7081/2, 1776-78 5 3 Handschriftliche und inhaltliche Datierung wie R 7822, s. o. S. 88

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Der kritische Rechtsbegriff 91

5.3. Der kritische Rechtsbegriff

D i e Individuen, die sich gemäß dem Freiheitsbegriff nach vernünftigen allgemeinen Regeln bestimmen können, müssen nebeneinander existieren. Aus der Bedingung der Koexistenz dieser der Freiheit fähigen Individuen entsteht der Rechtsbegriff. U m 1776 formuliert Kant:

„Was mit dem Privatwillen übereinstimmt, ist angenehm; ein allgemein gültiger Wille ist gut. Was die Bedingungen enthält, durch die es möglich wird, daß ein Wille mit dem andern ein-stimmen kann, ist recht; wodurch er wirklich stimmt, ist gut." (A 19, 177, R 6845)

D i e vom Willen des freiheitsfähigen Wesens bestimmte Handlung trifft auf die gleiche des Rechtspartners, d. h. die Handlung des einen freien Wesens schränkt die des andern ein:

„Recht überhaupt ist eine Handlung, sofern man in Ansehung derselben frei ist. Ein Recht aber ist die Freiheit, wodurch die Freiheit anderer eingeschränkt wird: ius quaesitum." (A 19, 145, 24-26, R 6738, 1772-78)54

D . h. voneinander unabhängige Willen gleichen sich aufgrund ihrer Vernunft-bestimmbarkeit aus:

„Die Freiheit besteht in der (Ssubjektiven) Unabhängigkeit der Willkür von allem, was auf unsre Sinne innerlich und äußerlich einfließt. Das Recht ist die objektive Unabhängigkeit unsrer Willkür von fremder, d. i. die Einschränkung jeder Willkür durch die Bedingung der wechselseitigen Einstimmung und die Notwendigkeit der Handlungen, die aus diesen Bedin-gungen fließen. Der weiseste und gütigste Mensch, der alles auf unser Bestes anlegte, hat darum nicht ein Recht über uns." (A 17, 590, 4 -10 , R 4549, 1772-1775?)

Das Maß der freien Handlungen zueinander ist wiederum das einer möglichen Ge-sellschaft, der sociabilitas, wie die schon oben angeführte Reflexion 6734 zeigt.5 5

N u n stellt sich als das oberste Prinzip aller Geselligkeit der kategorische Imperativ heraus als Prüfstein der Tauglichkeit zu einer positiven Gesetzgebung; d. h. nur die Handlung kann als Rechtshandlung bezeichnet werden, die mit dem kategorischen Imperativ übereinstimmt. In diesem Sinne meint Kant in der K.d.pr.V.,

„daß man praktische Freiheit auch durch Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen außer allein dem moralischen Gesetze definieren könnte." (A 5, 93, 37—94, 2)

Diese Verankerung des Rechts in einem intelligiblen Gesetz zeigt ein als Beispiel eingefügter Passus der K.d.r.V.:

„Ohne Zweifel enthält der Begriff von Recht, dessen sich der gesunde Verstand bedient, eben-dasselbe, was die subtilste Spekulation aus ihm entwickeln kann, nur daß im gemeinen und praktischen Gebrauche man sich dieser mannigfaltigen Vorstellungen in diesen Gedanken nicht bewußt ist. Darum kann man nicht sagen, daß der gemeine Begriff sinnlich sei und eine bloße Erscheinung enthalte, denn das Recht kann gar nicht erscheinen, sondern sein Begriff liegt im Verstände und stellt eine Beschaffenheit (die moralische) der Handlungen vor, die ihnen an sich selbst zukommt." (B 61)

54 Kant schÜeßt die Reflexion folgendermaßen: „A natura sind alle frei, und nur die Hand-lungen sind recht, die keines Freiheit einschränken." (A 19, 145, 26-27) Wenn Kant den Naturzustand meint, kann man auch umgekehrt schließen, daß gar kein Recht stattfindet, da alle freien Handlungen sich gegenseitig einschränken.

" S. o. S. 77

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Page 23: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

92 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Es liegt auf der Hand, daß die genannte moralische Eigenschaft der Handlung des Rechts nur in der Übereinstimmung mit der Tauglichkeit von deren Maxime zu einer allgemeinen praktischen Gesetzgebung liegen kann. Etwas anderes aber ist klar: Die geforderte Ubereinstimmung der Handlung mit dem kategorischen Imperativ als Rechtsprinzip kann im Recht nur die der Legalität betrachten. D. h. das von anderen unabhängige Subjekt kann rechtlich — im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens — mit anderen nur unter der Form eines möglichen positiven Gesetzes in Verbindung treten, ob es dessen Geltung nun will oder nicht.

Von hieraus hellt sich die Unterscheidung der Reflexion 67645 6 in eine juridische und ethische Legalität auf. Ethische Legalität bestünde ζ. B. darin, sich nur deshalb nicht dem Alkohol hinzugeben, weil dessen unmäßiger Gebrauch an anderen privaten Genüssen des Lebens hindert, juridische Legalität aber darin, selbst wenn ich aus Egoismus kein Recht und kein Gesetz anerkennte, trotzdem aus Furcht oder Nützlichkeitserwägungen ζ. B. nach Vertragsbestimmungen oder Verkehrsregeln zu handeln.57 Mehr als diese Legalität, d. h. äußere Übereinstimmung der Handlung mit der Regel des menschlichen Zusammenlebens, mit dem kategorischen Imperativ, wird für das Recht nicht erforden.

In dieser wenn auch äußeren Ubereinstimmung der Rechtshandlung mit dem kate-gorischen Imperativ besteht die absolute Geltung des Rechts:

„Der ein Recht wider jemand hat, kann ihn in allen Freuden stören, ihn vom Altar wegholen. Alle Macht des Himmels steht auf der Seite des Rechts." (A 19, 224, R 7006, 1776-78)

Aus diesem Rechtsbegriff der sich gegenseitig einschränkenden Handlungen der freiheitsfähigen Individuen ergibt sich eine Vielzahl einzelner konkreter Rechtsformen und Rechtsbestimmungen:

„Es gibt Gesetze, (8die) etwas kategorisch gebieten (Materie) etwas zu tun, und andre, die hypothetisch gebieten, wenn man etwas tun will (das ist beliebig), es auf eine gewisse beson-dere Art zu tun, die unter dieser Regel steht (Form); die letzten sind regulae iuris." (A 19, 168, 3 - 6 , R 6805, 1773-75)

Zu dieser Konkretisierung und Anwendung des Rechtsbegriffs zu einzelnen Rechtsregeln gehört allerdings Erfahrung:

„Wie kann man sich Rechtserfahrenheit denken, da alles Recht bloß auf Vernunftprinzipien beruhen muß, selbst das statuarische, dessen Gesetze den Rechtsprinzipien auch gemäß sein müssen? Rechtserfahrenheit geht auf die Erforschung der Bestimmtheit und nähere Bestim-mung, die dem Gesetze in der Anwendung noch fehlen möchten. Dazu gehört Erfahrung vieler Fälle." (A 19, 237, R 7057, 1776-78)

Kant vergleicht wiederholt von den .Bemerkungen' 1764/558 bis zur „Metaphysik der Sitten" von 1797 die Rechtsverhältnisse mit den Verhältnissen der Körper zu-einander, ein Verhältnis, das er als Paradebeispiel für eine Analogie gebraucht:

5 6 S. o. S. 894 7

5 7 Das Begriffspaar bürgerliche - natürliche Legalität der Reflexion 7062 (s. o. S. 89) betrifft nur die Legalität Regeln überhaupt und positiven Gesetzen gegenüber. Die natürliche Legalität kann wiederum moralisch und juridisch sein, wie das Völkerrecht zeigt.

5 8 S. o. S. 27

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Der kritische Rechtsbegriff 93

„Man kann die Verhältnisse des Rechts mit denen der Körper vergleichen. Ein jeder Körper ist gegen alle anderen in Ruhe, außer sofern er durch andere bewegt wird, und ebenso hat jedermann gegen andere Pflichten der Unterlassung, außer sofern andere entweder mit ihm einen einstimmigen Willen machen oder seinen Zustand wider seinen Willen verändern. Actio est aequalis reactione. Soviel ein großer Körper auf einen kleinen wirkt, so viel dieser auf den großen zurück. Der gemeinschaftliche Schwerpunkt, d. i. der gemeinschaftliche Wille, ist vor und nach der Handlung einerlei." (A 19, 128, 1 7 - 2 5 , R 6667, 1769 - 72) „Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit ist gleichsam die Konstruktion jenes Be-griffes, d. i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung."5 9 (A 6, 232, 3 0 - 3 5 , Rechtslehre)

Ist die Analogie nicht ein Beweis dafür, daß Kant ungeachtet jeder kritischen Wendung über mehr als 30 Jahre hinweg denselben Rechtsbegriff gebraucht? Der Vergleich mit dem Rechtsbegriff der ,Bemerkungen' zeigt allerdings das Gegenteil. Dieser bestand darin, daß die naturalistisch freien Wesen mit Hilfe vernünftiger Sätze nach der voluntas communis ihre Interessen ausgleichen; d. h. Kant geht von einem Freiheitsbegriff aus, in dem „der Wille eines jeden Menschen . . . die Wirkung seiner eignen Triebe" ist. Kant bemerkt selbst, daß dieser Freiheitsbegriff im Grund auch auf die natürliche Unabhängigkeit eines Tieres zutrifft, denn er vermag diese Parallele nur mit Hilfe der Addition des Bewußtseins zu beseitigen.60 Nun zeigt aber gerade die Kritik von 1772, daß die Kausalität aus dem Bewußtsein der eigenen Triebe und .wahrer oder eingebildeter Wohlfahrt'61 den Freiheitsbegriff keineswegs konstituieren kann, sondern daß Freiheit allein in der M ö g l i c h k e i t besteht, sich nach formalen Gesetzen zu bestimmen, indem man den Standpunkt der Vernunft einnimmt.

Das Rechtsmodell der Bemerkungen' dagegen setzt den Ausgleich durch das Rechtsbewußtsein voraus. Da dieses aber keineswegs immer vorhanden ist, leistet dieses Rechtsmodell nach der Erkenntnis des kritischen Freiheitsbegriffs keineswegs den versprochenen Ausgleich, sondern kann nur in einem einzigen Kampf der Egoismen bestehen, der hier und da von Rechtsbewußtsein beeinflußt wird. Der kritische Rechtsbegriff geht im Gegenteil nur von der äußeren Einstimmung — ob mit oder ohne Bewußtsein von Rechtsprinzipien — mit dem Rechtsmodell aus, das dadurch gewonnen wird, daß man die mögliche Geselligkeit der freiheitsfähigen Individuen als objektive Norm vorstellt. Daß damit das kritische Rechtsmodell unmittelbar auf den Rechtszwang verweist, liegt schon in der M ö g l i c h k e i t der Freiheit begründet.

Somit stimmt der Rechtsbegriff der .Bemerkungen' aus geregelter natürlicher Un-abhängigkeit keineswegs mit dem kritischen überein, der nicht von faktischem

5 9 Ebenso K.d.U. A 5, 464, 7 - 4 6 5 , 5; Tugendl. Vorrede A 6, 375 Anm.; Prolegomena A 4, 357 Anm.; vgl. Theorie u. Praxis im Staatsr. A 8, 292, 27ff. ; vgl. A 15, 789, 1 2 - 1 5 : „2 . Die Menschen sind zur Gesellschaft gemacht. Bienenstock. Sie müssen unter gegensei-tigem Zwange stehen, damit eines Freiheit die andere einschränke bis zur größten allge-meinen Freiheit, wie Bäume in einem Walde." - Vgl. Naturrecht Feyerabend S. 38

6 0 S. o. S. 26, s. u. S. 132f. 6 1 S. o. S. 25

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94 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Rechtsbewußtsein, sondern von der absoluten vernünftigen R e c h t s f ä h i g k e i t der Menschen ausgeht. Gleich bleibt nur das Bild der sich ausgleichenden Rechtssphären.

Weiterhin folgt aus dem Rechtsbegriff aus der Freiheitsfähigkeit der Menschen, daß kein Raum mehr für eine Liste angeborener Rechte wie ζ. B. bei Wolff bleibt:

„lus connatum dicitur, quod ex obligatione connata oritur. — Ita obligatio conservandi corporis sui connata obligatio est. Ex ea oritur ius tum ad eas actiones, sine quibus vita conser-van nequit, tum ad eas res, quae ad vitae conservationem necessariae sunt. Utrumque ius connatum est." 6 2

Einzelne Rechte, und mögen sie noch so wichtig sein, sind nicht angeboren, sondern müssen aus der Freiheits- und damit Rechtsfähigkeit des Menschen als darin enthalten nach der Regel des Zusammenlebens, dem kategorischen Imperativ, abge-leitet werden. 6 3

5.4. Montesquieu gegen Beccaria: Rechtszwang und Strafwürdigkeit

Ein Recht kommt dem Menschen zu aufgrund der Regel jeder Geselligkeit überhaupt. Dieses Recht wäre nichtig, wenn es nicht mit der Möglichkeit verbunden wäre, den Rechtspartner dazu zu zwingen, die Handlung gemäß dieser Regel zuzulassen.

„Es kann kein Mensch ohne Recht, mithin gegenseitig nicht ohne Pflicht und also auch nicht ohne Zwang sein." (A 19, 243, 1 4 - 1 5 , R 7078, 1776-78)

Dieser Rechtszwang schränkt die Bewegungsfreiheit des Menschen ein, entspricht aber im Sinne der Legalität der allgemeinen Regel des Zusammenlebens:

„Der Rechtszwang ist ein pathologischer, aber der Obligation konformer Zwang." (A 19, 223, 1 2 - 1 3 , R 7000, 1776-78)

Mit dieser Einschränkung der menschlichen Handlungen auf die äußeren Regeln der Geselligkeit ist aber auch deren mögliche Verletzung und damit Strafe gegeben:

„Die Schuldigkeit ist die Pflicht, zu der wir von andern moralisch gezwungen werden; daher ist auch der pathologische Zwang erlaubt. Zur obligatio externa kann einer nicht allein ge-zwungen, sondern auch, wenn er sie übertritt, gestraft werden; das letzte folgt aus dem ersten." (A 19, 224, 16 -19 , R 7004, 1776- 78)

6 2 I . N . , 1, 26. Vgl. Achenwall, I . N . , 1, 64: „Homini competit ius naturale in corporis vitaeque suae conservationem, hinc ius naturale (externun certe) ad ea agenda omnia, quae conserva-rioni alterius non adversantur, et ius agendi, quaecumque naturaliter non sunt iniusta (externe), seu quibuscumque alter non laeditur: atque hoc ius ipsi competit, quatenus est homo, ideoque a natura seu in statu naturali originario, hinc tamquam ius connatum. Ergo cuilibet homini a natura competit ius 1) in sui conservationem, 2) in omnes actiones naturaliter iustas."

¿ 3 Vgl. Rechtslehre, Einleitung Β, A 6, 237f. : Hier scheint ein Kernpunkt der Systematik der Rechtslehre vorzuliegen auch in Hinsicht auf die Regel der Ableitung einzelner Rechte; vgl. o. S. 3 2 " . Vgl. auch Naturrecht Feyerabend, das mehrere angeborene Rechte annimmt, S. 44 ff.

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Montesquieu gegen Beccaria: Rechtszwang und Strafwürdigkeit 95

Nun schließt Christian Ritter aus einer Bemerkung zu den ,Beobachtungen' zum Strafrecht übergangslos auf die Strafrechtstheorie Kants bis zur „M.d.S . " 6 4 Die Bemerkung lautet folgendermaßen:

„ E i n Räuber wünscht wohl, daß er möchte pardonniert werden, aber weiß wohl, daß, wenn er Richter wäre, er nicht pardonnieren würde. Der Richter straft, ob er gleich weiß, daß, wenn er Delinquent wäre, er nicht würde wollen gestraft sein, aber mit der Strafe ist es anders. Die Beraubung des Lebens geschieht nicht durch den Richter, sondern durch den Verbrecher wegen seiner Missetat." (A 20, 158, 1—6)

Es ist allerdings kein Geheimnis, daß Kant vom Prinzip der Vergeltung im Straf-recht nicht abrückt. Die zitierte ,Bemerkung' selbst und außerordentliches Lob lassen schließen, daß Kant sich für diese Theorie auf Montesquieu beruft. In den .Bemer-kungen* heißt es:

„ E i n e Ursache, weswegen Montesquieu so viel vortrefflich hat sagen können, ist diese, daß er vorausgesetzt hat, diejenigen, welche Gebräuche einführeten oder Gesetze gaben, hätten jederzeit einen vernünftigen Grund gehabt." (A 20, 166, 24—167, 2)

In den Logikvorlesungen nach Blomberg und Philippi empfahl Kant seinen Studenten einige Bücher „von großer Wichtigkeit", die „viel Nachforschen" erfor-derten und die man daher „o f t " lesen müsse:

, ,Z. E. den Hume, Rousseau, Locke, der als eine Grammatik für den Verstand kann ange-sehen werden, und Montesquieu von dem Geist der Gesetze." (A 24, 1, 300, 17—20)65

Der Bezug bei Montesquieu, dessen Meinung auch die Coccejis teilen,66 lautet fol-gendermaßen:

„ C ' e s t le triomphe de la liberté, lorsque les lois criminelles tirent chaque peine de la nature particulière du crime. Tout l'arbitraire cesse, la peine ne descend point du caprice du législateur, mais de la nature de la chose; et ce n'est point l'homme qui fait violence à l ' h o m m e . " 6 7

In der angeführten .Bemerkung' hält Kant die zum Rechtsausgleich notwendigen stationes morales für untauglich, ein Strafrecht zu begründen. Vielmehr muß die Strafe selbst im Sinne von Montesquieus „nature de la chose" in unmittelbarem Zusammenhang mit der Handlung gesehen werden. Sucht man nun für diese unmittelbare Verknüpfung einen Grund im Standpunkt der .Bemerkungen', dann dürfte dieser im damaligen Rechtsbegriff zu finden sein, darin - nämlich, daß die Verletzung der von naturalistischer Freiheit bestimmten Rechtssphäre des Opfers eine unmittelbare Rückwirkung auf die Rechtssphäre des Täters haben muß. Liefert Kant keine bessere Begründung der objektiven Straftheorie Montesquieus, von der er nicht abrückt?

6 4 a . a . O . , S. 176ff. 6 5 Logik Blomberg; Logik Philippi A 24, 1, 495, 1 4 - 1 8 6,1 Coccejis, a . a . O . , 10, 15b: „Poena autem definitur privatio alicuius boni ob malum

actionis; eiusque norma est talio, i. e. ut delinquens tantundem mali patiatur, quantum agendo commisi t . "

6 7 12, 4, a . a . O . , S. 198

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96 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre präzisiert Kant seine Gedanken in der Ausein-andersetzung mit der subjektiven Straftheorie Cesare Beccarias.68 Dieser macht das Strafrecht von der Zustimmung des einzelnen zum Gesellschaftsvertrag abhängig, der Strafen im Sinne einer Generalprävention vorsieht. Aufgrund dieser Voraussetzung muß Beccaria die Todesstrafe ausschließen, da man selbst in seinen Tod nicht ein-willigen kann und die Todesstrafe weniger als lebenslange Unfreiheit abschrecke.69

Der Meinung, daß Strafe auf Vertrag beruhen könnte, entgegnet Kant:

„Auch ist es absurd, daß jemand sich verbindlich mache, gestraft zu werden. Ein jeder kann nur ein Recht gründen, sofern er sich selbst von aller künftigen Verletzung anderer für unver-dächtig halten zu lassen fordern kann. Er stimmt immer zur Bestrafung anderer, und da alle nach seinem Vorgange es auch tun, so ist er durch das Recht anderer ohne seine Einwilligung der Strafe unterworfen. Sonst müßte man sagen, er sei verbunden, sich freiwillig zwingen zu lassen. Da alsdenn das Übel, was ihm begegnete, gar kein Zwang und also auch keine Strafe wäre, sondern wie etwa reuigte Sünder ihre Schuld bezahlen wollen und sich dem Richter selber offerieren." (A 19, 552, 2 9 - 5 5 3 , 6, R 7916, 1 7 7 6 - 89)

Da nun die Strafe nicht von der subjektiven Einwilligung des Täters abhängen soll und eine unmittelbare Beziehung zwischen Tat und Strafe in einer Art mechanischen Ausgleichs mit der Kritik am Rechtsbegriff der ,Bemerkungen' hinfällig ist, schließt Kant von der Möglichkeit der Freiheit des Täters auf das Recht diesen zu strafen, weil er die Handlungsnorm hat kennen und befolgen können:

„Die praktischen Bedingungen der Imputation sind diejenigen, wodurch eine Handlung nach Gesetzen der Freiheit möglich ist. Vorherwissen können. Gar Bewegungsgründe des Vorher-bekanntmachens. Vermögen des Verstandes und der Kräfte." (A 19, 254, 1 8 - 2 1 , R 7129, 1 7 7 6 - 7 8 )

Damit ist der Täter strafwürdig, selbst wenn er sich im Augenblick der Handlung deren selbst nicht bewußt war:

„Der etwas auch nur mit Gefahr schlimmer Folgen wagte (e. g. Trunk, Lustbarkeit, Un-zucht), muß sie alle verantworten oder Rechenschaft geben. Er muß das Gesetz wissen un-mittelbar oder indirecte (daß es solche Gesetze gebe); wenn er es nicht weiß, ob es zwar physisch möglich war, es zu wissen, wenn er zwar nicht durch Schuldigkeit bewegt, sondern aus Neugier es gesucht hätte, so kann es ihm imputiert werden." (A 19, 259, 27, 260, 4, R 7159, 1776 -78 )

Daß damit nur die Legalität der Handlung, aber nicht deren Moralität juridisch beurteilt wird, braucht kaum erwähnt zu werden. Kants kritische Strafrechtstheorie besteht demnach darin, daß die Handlung in Beziehung gesetzt wird zur objektiven Norm des menschlichen Zusammenlebens, mit Kants Worten:

„Die imputatio practica ist die Subsumtion unter die Gesetze der Freiheit überhaupt." (A 19, 260, 1 9 - 2 0 , R 7160, 1776-78)

6 8 A 19, 551, 30, R 7914, 1776-1789; vgl. A 19, 551, 31: Es verwundert, daß „Beccaria" nicht als Teil der Reflexion erscheint. Vgl. Rechtslehre, Staatsrecht E, A 6, 322ff., Natur-recht Feyerabend, wo Kant ebenso gegen Rousseau polemisiert, S. 126ff.

6 9 Cesare Beccaria, Von Verbrechen und Strafen, Ubers. K. F. Hommel 1778, Hrsg. John Lekschas, W. Griebe, Berlin 1966, bes. Kap. 12 u. 29; zur Argumentation siehe auch Ebbinghaus, a . a . O . , S. 91 ff.

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Montesquieu gegen Beccaria: Rechtszwang und Strafwürdigkeit 97

Mit diesem Bezug der Strafe auf die Freiheitsfähigkeit des Täters ist noch nichts über das Strafmaß ausgesagt. Um dieses zu bestimmen, formuliert Kant zwei ein-grenzende Sätze gegen jede zweckorientierte Straftheorie, sei sie an Abschreckung oder Besserung orientiert: Bestraft man ein geringfügiges Vergehen zu hoch, mit der Absicht, andere von ähnlichen Handlungen abzuhalten, dann betrachtet man den Täter nicht als Subjekt der Handlung, sondern als ein Mittel der Justizpolitik. Bestraft man ein Verbrechen zu gering, z. B. weil man die Reue des Täters für erwiesen und beständig hält, bleibt die Strafwürdigkeit ohne entsprechende Strafe und verliert ihren Wert:

„ O b er dazu so harte Mittel brauchen kann, als er will, e. g. auf den kleinsten Diebstahl den Tod. Der Mensch ist nicht als ein Mittel zu anderer Bestem aufzuopfern." (A 19, 493, 5 - 7 , R 7698, 1772 - 75?)™

„Denn eine jede andere Strafe als die Todesstrafe ist gerade dem Werte, den jeder in ein Objekt setzt, angemessen und die einzige gerechte, weil aus Gefängnis einer mehr als aus dem Tode, der andere weniger macht." (A 19, 553, 1 3 - 1 6 , R 7917, 1 7 7 6 - 7 8 ? )

Angesichts dieser beiden Sätze, daß der Mensch nicht Mittel, sondern Subjekt der Gesellschaft ist, daß aber andrerseits Freiheit und Recht als Bedingung der Gesell-schaft ihren Wert behalten müssen, bleibt als Maß der Strafe nur die Vergeltung: d. h. ein Strafmaß, das der Abweichung von der Norm entspricht:

„Das principium der legum poenalium nach dem iure talionis." (A 19, 493, R 7699, 1 7 6 9 - 1 7 7 5 )

Der Punkt, an dem Kant, wie zitiert, das Prinzip der Vergeltung diskutiert, ist die Todesstrafe. Diese muß über den Mörder ausgesprochen werden, da die höchste Übertretung der Norm die ist, einen Träger dieser Norm, einen freiheitsfähigen Menschen, und damit eine Ausprägung der Norm selbst zerstört zu haben. Der Mörder hebt mit der Verneinung der Norm als der Bedingung des Zusammenlebens seine eigene Möglichkeit, mit Menschen zu leben, auf:

„Ein Mensch, der keine Obligation mehr kennt, (dergleichen der Mörder, weil er als einer angesehen wird, welcher die obligantes vertilgt) muß vertilgt werden. Er kann aufhören zu sein, aber nicht leben und aufhören ein Mensch zu sein, weil er ohne Verbindlichkeit kein Recht und ohne Recht kein Mensch, aber doch frei, mithin ein allgemein Hindernis der Freiheit nach Regeln sein würde." (A 19, 547, 2 3 - 2 8 , R 7895, 1 7 7 6 - 7 8 ? ) 7 1

Eine solche objektive Strafrechtstheorie richtet sich sowohl gegen Thomasius, der eine rein materialistische Straftheorie in Analogie zur Tierwelt vertritt,72 als auch gegen die Wolffs und Achenwalls, nach denen ähnlich wie bei Beccaria das Maß der Strafe durch das eigne Sicherheitsbedürfnis bestimmt und dadurch unbegrenzt ist.73

7 0 Ebenso A 27, 1, 150, 3 0 - 3 3 , Prakt. Phil. Powalski 7 1 Vgl. auch die Reflexionen der 80er Jahre A 19, 585 f f . , R 8024ff . 72 S. o. S. 4 1 " 7 3 W o l f f , I .N., 1, 1059: „In eum, qui te laesit, tandundem tibi licet, quantum ad avertendum

periculum laesionis futurae sive ab eodem tibi atque aliis sive ab aliis eius exemplum secutis tibi metuendae sufficit." — Gegen die Vergeltungstheorie vertritt Wolf f eine reine Abschreckungstheorie. I .N., 8, 640, Schol.: „Equidem fuerunt longe plurimi, qui talionem aequissimam iudicarunt; hi tarnen non satis perpenderunt, quomodo poena a vindicta

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98 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Dennoch ist Wolffs Argument gegen die Vergeltung nicht von der Hand zu weisen:

„Talio dicitur par vindicta, qua tantum quis patitur mali, quantum fecit. E. gr. Talio erit, si cui manus amputatur, qui eam amputavit alteri; si oculus effoditur, quia effodit alteri: si occiditur, quia occidit alteram."74

D . h. Christian Wolff kritisiert, daß ein derart gegenständlich angewandtes Ver-geltungsprinzip zu sinnlosen Verstümmelungen führen würde. Kant hält dem ent-gegen, daß in der Strafe nicht ein sächliches Verhältnis zur Tat hergestellt wird, wie es in den ,Bemerkungen' anklingt, sondern daß die Abweichung von der N o r m , die Schuld, ein Gleichmaß in der Strafe finden muß. Daß damit die Strafart grundsätzlich unabhängig von der Tatart ist, weist auf die Weite von Kants Vergeltungsprinzip hin. Allerdings wendet sich Kant gegen die Umwandlung aller Strafen in Geldstrafen, die in keinem Verhältnis zur Tat stehen:

„Auch muß die Strafe spezifisch einerlei sein mit dem, was Täter ausgeübt hat, wo nicht der Beleidigte einwilligt: Beschimpfung mit Beschimpfung, Beraubung mit Beraubung. . . . Geld-strafe ist ebensoviel, als ob der Beleidigte sich sein Recht zu klagen hätte abkaufen lassen." (A 19, 552, 1 4 - 1 6 , 1 9 - 2 0 , R 7915, 1776-89)

Andrerseits aber beruht die Strafe auf der widerrechtlichen Einschränkung der Freiheit eines andern und wird daher mit der Einschränkung der Freiheit des Täters vergolten bis zu dem Maß, an dem der Täter durch eigene Schuld alle Rechte verliert und Sklave wird:

„Die Leibeigenschaft ist der Tod der Person, aber das Leben des Tiers. Es geht an bei einem Todesverbrechen. Aber es kann nicht auf Kontrakt gegründet werden, denn der muß alles iuridischen Zutrauens und aller Obligation unfähig sein, der keine Rechte behalten kann." (A 19, 545, R 7886, 1773-79) 7 5

N u n weiß Kant sehr wohl, daß das Maß der Einschränkung der Freiheit als Strafe, wenn eine sachliche Vergeltung nicht möglich ist, vom Urteil der Gesellschaft über den W e r t der Rechtsverletzung abhängt:

„Der summus imperans kann nicht eine Strafe vor die andere setzen, sondern muß hierbei das Urteil des Ganzen zu Rate ziehen. Er muß strafen nach dem Maße, als die Untertanen selbst den Wert worin setzen. Nun hat bei ihnen das Leben den größten Wert." (A 19, 589, 7 - 1 0 , R 8040. 1773 — 89)76

Ebensowohl sieht Kant, daß die Strafe neben ihrem Vergeltungscharakter je nach Fall bessern oder abschrecken muß. Die unerläßliche Bedingung der Strafe ist aber die Gerechtigkeit im Sinne der talio, so daß alle andern Strafzwecke nur subsidiär sein können. So formuliert er gegen Achenwall:

différât. Vindicta nimirum hoc intenditur, ut taedium creetur alteri, qui taedio nos affecit, seu malum malo referatur: hic autem finis poenae non est, sed ut a delinquendo deterreantur, qui animum delinquendi habent." Achenwall, Prol. 133ff.; I .N., 2, 195. Zu Gundling, Ritter, S. 177

7 4 I .N . , 8, 639 7 5 Ebenso A 19, 545, R 7884; vgl. die Reflexionen der 80er Jahre A 19, 557ff„ R 7925,

7927, 7929, 7931 7 6 Vgl. die Einschätzung der Todesstrafe A 15, 625/6, R 1431, 1776-78

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 99

„Ob nicht Strafen außer der Warnung noch um der Achtung der öffentlichen Gerechtigkeit willen nötig sein, damit jedem geschehe, was recht ist. Das wären unmittelbare Gerechtigkeits-strafen." (A 19, 486, 19-21, R 7679, 1772 - 77)"

Diese Vergeltungsstrafen der Gerechtigkeit, ob sie nun zusätzlich bessern oder

abschrecken, werden über das schuldige freiheitsfähige Wesen ausgesprochen, ohne

daß gefragt wird, ob der strafwürdige Mensch die Strafe anerkennt oder nicht, allein

aufgrund der Norm. Wer aber den Täter nach dem Maße seiner Schuld strafen soll, ist

schon eine Frage des Staatsrechts.

5.5. Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit

5 . 5 . 1 . D i e A u f g a b e des k r i t i s c h e n S t a a t s r e c h t s aus de r K r i t i k an H o b b e s

Das Staatsrecht nach 1772 ist gekennzeichnet von einer Kritik an Thomas Hobbes:

„Hobbes sah alle Gesetze, selbst die moralischen, als despotisch an, d. i. solche, wozu unsre wenigstens vernünftige Einwilligung oder Beistimmung gar nicht erfordert wird. Denn er glaubte, die Gewalt möge hinkommen, wo sie wollte, so mache sie das Recht. Imgleichen unterschied er nicht das Unrecht, was der Usurpator begeht, von dem, was er den Untertanen tut." (A 19, 483, R 7667, 1772-1777)

Wie ist diese Kritik zu verstehen, da nichts Kant von der Erkenntnis der 2. Phase

abbringen kann, daß alle Beziehungen der Menschen außerhalb einer unwidersteh-

lichen Gewalt der Rechtswirkung entbehren?

„Das ganze Recht der Natur ist ohne bürgerliche Ordnung eine bloße Tugendlehre und hat den Namen eines Rechts bloß als ein Plan zu äußeren möglichen Zwangsgesetzen, mithin der bürgerlichen Ordnung." (A 19, 245, 17-19, R 7084, 1776-78)

Es liegt nahe zu versuchen, diese Kritik des Hobbesianers Kant ebenfalls mit der

kritischen Philosophie zu verbinden, d. h. mit der Erkenntnis der absoluten Frei-

heitsfähigkeit des Menschen. Nun haben die beiden im Freiheitsbegriff aufgelösten

antinomischen Sätze tatsächlich einen unmittelbaren Bezug zum Staatsrecht, der darin

liegt, daß der Mensch als Naturwesen der Unregelmäßigkeit der Sinne unterworfen ist

und daher zur Verträglichkeit gezwungen werden muß, daß er sich aber andererseits

— und das unterscheidet ihn von allen anderen Wesen — aus Autonomie nach den

vernünftigen Regeln des Zusammenlebens, das sind die des Rechts, bestimmen kann:

„Daß die Menschen von Natur böse sein, erhellet daraus*, daß sie von selbst niemals mit ihrer Idee des Guten zusammenstimmen und daß sie müssen gezwungen werden, imgleichen daß sie sich wechselweise durch einander von einem zwingen lassen. Imgleichen muß der Mensch diszipliniert werden und die Wildheit weggenommen werden. Das Wohlverhalten der Menschen ist also was Erzwungenes, und die Natur desselben ist demselben nicht gemäß. Es ist ein Grundsatz der bürgerlichen sowohl als Staatsklugheit: jedermann ist von Natur böse

77 Ausformuliert in den 80er Jahren A 19, 587/8, R 8035. Straftaten und Strafzwecke A 19, 485/6, R 7675, 1772-1775. Die teilweise zitierte R 7679 lehnt schon medizinische Versuche an Verbrechern ab.

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Page 31: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

100 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

und nur sofern gut, als er unter einer Gewalt steht, die ihn nötigt, gut zu sein. . . (8auch daraus, daß sie, in einem Staatskörper vereinigt, jederzeit gewalttätig, eigennützig und unver-tragsam sind.)" (A 19, 202, 5 -14 , 19-20, R 6906, 1776- 78?)

Daher geht aus dem Freiheitsbegriff schon selbst hervor, daß eine Lösung des

Staatsrechts, die dem Wesen des Menschen angemessen ist, weder in einer konstitu-

tiven Einsicht, wie sie Kant 1770 in Analogie zur göttlichen Herrschaft konstruiert,

noch in einer bedingungslos unterwerfenden, d. h. freiheitvernichtenden Staatsgewalt

bestehen darf.

Im Jahr 1789 formuliert Kant die Aufgabe der Staatsrechtstheorie in einem Brief an

Jung Stilling einmal folgendermaßen:

„Das allgemeine Problem der bürgerlichen Vereinigung aber ist: Freiheit mit einem Zwange zu verbinden, welcher doch mit der allgemeinen Freiheit und zur Erhaltung derselben zu-sammenstimmen kann." (A 23, 495)

Schließt man von dieser Problemstellung auf die der 2. Phase zurück, daß das

Wesen des Rechts Sicherheit in concreto sein müsse, dann ist Kants Kritik an Hobbes

wiederum Selbstkritik.

5 . 5 . 2 . D i e B e d i n g u n g e n d e r F r e i h e i t de r R e c h t s p e r s o n :

D a s R e c h t d e r f r e i e n M e i n u n g s ä u ß e r u n g und d ie U n m ö g l i c h k e i t

d e r L e i b e i g e n s c h a f t

Noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Brief an Marcus Herz von 1772

formuliert Kant:

„Administratio interna. Militärische Regierung ist nicht diejenige, in welcher die Kräfte des Staats vorzüglich auf die Erhaltung desselben zum Kriegsstande verwandt werden: denn das kommt auf die besondere Lage des Staats an, sondern in welcher diejenigen, welche das Regi-ment führen, gar nicht räsonnieren dürfen wie in einer Armee, der diejenige entgegengesetzt wird, in welcher die Verwaltung des gemeinen Besten von einer publiquen Person (nicht blo-ßem Instrument des Souverains) so geführt wird, daß sie den Staat nach dem besser einge-sehenen Willen des Souverains, wie er nämlich sein sollte, geführt wird, da also immer Gegen-vorstellungen erlaubt sind, welches bei einer Armee nicht geschehen darf. Ein solcher Mann, er mag auch in einem niedrigen Range sein, wird vermißt, wenn er abgeht, bloße Instrumente werden nicht vermißt." (A 19, 484, R 7672)

Nun spricht diese Reflexion von der Kritik innerhalb der Staatsverwaltung selbst,

von der jede Verbesserung des Staates zum Recht hin abhängt. Dieses Recht der

Gegenvorstellungen ist aber nicht nur eine Sache der Staatsfunktionäre in allen

Ebenen, sondern eine Grundforderung für jeden Bürger überhaupt, da die Möglich-

keit, seine Meinung frei zu äußern, Grundbedingung des Vernunftgebrauchs über-

haupt ist und daher zum Recht ebenso wie zur Logik gehört. In der Logik Blomberg

heißt es:

„Der menschliche Verstand, da er ein natürliches Gesetz hat, seine Erkenntnisse soviel nur immer möglich zu erweitern, so müssen ihm auch nicht die Mittel verboten werden, durch welche er doch allein das Wahre vom Falschen zu unterscheiden und seine Erkenntnisse nicht allein zu bereichern, sondern auch zu berichtigen im Stande ist. Man muß also der Bekannt-'

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Page 32: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 101

machung der Urteile, das ist die Aussetzung derselbigen, denen Einsichten aller keine Hinder-nisse entgegensetzen. Das ist ja das allgemeine Recht eines jeden Menschen und der einzige sichere Weg zur Wahrheit zu gelangen." (A 24, 1, 93, 8—16)7S

F ü r die Zeit unmittelbar nach der Erkenntnis von 1772 überliefert die Logik Philippi:

„Das gehört zu den ewigen Gesetzen, daß der Mensch die Sätze, wovon er spekuliert, andern bekannt zu machen Freiheit habe." (A 24, 1, 391, 2—3)79

Kant schränkt diese Freiheit des Vernunftgebrauchs ausdrücklich nicht auf die Freiheit des Denkens ein; im Gegenteil vernichtet gerade das Verbot der freien Kommunikation diese Freiheit zu denken, da mir mit dem Urteil anderer auch die Möglichkeit, meine eigenen Urteile zu überprüfen, genommen wird, wie es im Aufsatz „ W a s heißt: Sich im Denken orientieren?" von 1786 heißt:

„Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Ge-danken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrigbleibt und wo-durch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann." (A 8, 144, 2 2 - 2 7 )

In diesem Punkt ist der Mensch logisch mit der Gesellschaft verknüpft, und dies ist u m so bemerkenswerter festzustellen, als Kant die Gesellschaft angesichts der offensichtlichen Mängel dieses Zustandes nach dem Urteil Rousseaus nicht vom materiellen Zweck her konstruiert. Vielmehr sind es zwei intellektuelle Gesetze, die dem Menschen die Gesellschaft notwendig machen: einmal das Rechtsgesetz, nicht in eigener Sache kompetent richten zu können, d. h. des Rechtszwanges zu bedürfen, z u m andern als logischer Egoist keinen richtigen Gebrauch seiner Vernunft machen zu können. Beide Gesetze sind in dem Sinne abhängig voneinander, daß ich bei Miß-achtung eines jeden von beiden meine Eigenschaft als Mensch verliere, einmal als Macht , die nicht Unrecht tun kann, weil sie sich rechtlich nicht verantwortet, zum andern als notwendig falsch urteilendes Wesen.

Ebenso widerspricht es der Brauchbarkeit der Vernunft, einem Menschen als Sklaven die Fähigkeit, Rechte zu haben, abzusprechen:

„Ein Mensch kann in Ansehung des andern weder absoluter Herr noch absoluter Untertan sein, weil der erste gar kein Unrecht, der zweite gar kein Recht hat. Ein jedes Recht setzt von der andern Seite Verbindlichkeit voraus. Die Verbindlichkeit aber ist nur eine Einschränkung

7 8 Ebenso A 24, 1, 151, 6 - 1 2 : „Die Beraubung der Freiheit, ungezwungen zu denken und diese seine Gedanken ans Licht zu bringen, ist wirklich eine Beraubung der ersten Rechte, der größten Vorzüge des menschlichen Geschlechtes und besonders des menschlichen Ver-standes. — Die Menschen sind gleichsam dazu berufen, ihre Vernunft gemeinschaftlich zu ge-brauchen und sich ihrer zu bedienen. Eben also die zeitlichen Güter dieses Lebens."

7 9 Die Logik Philippi setzt im Gegensatz zur Logik Blomberg die Entdeckung der reinen Ver-standesbegriffe voraus, muß also nach 1772 aufgezeichnet sein; A 24, 1, 452, vgl. Logik Blomberg s . o . S. 60; Lehmann, A 24, 2, 978f. Vgl. Anthropologienachlaß A 15, 672, 11 — 13, 1773—77: „Prüfung der Wahrheit durch andrer Beifall. Daher alte Lehrer des Rechts. Daher Freiheit der Feder." — Vgl. Anthropologie in pragm. Hinsicht 1798, A 7, 128, 3 1 - 1 2 9 , 3

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102 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

des Rechts einer Person, aber nur unter Bedingungen des Rechts eines andern. Das Recht eines Menschen in Ansehung des andern ist durch diesen jederzeit eingeschränkt." (A 19, 548, R 7897, 1776-79)

Diese Fähigkeit des Menschen aus dem Freiheitsbegriff, aufgrund seines Mensch-seins von anderen die Anerkennung seiner Rechte fordern zu können, die Persön-lichkeit, ist unveräußerlich:

„Die servitus absoluta besteht darin, daß servus gar nicht selbst befugt ist, seine obligationes selbst zu bestimmen; also hat er oboedientiam caecam und kein eigenes arbitrium; est res non persona. Personalitas non est alienabilis." (A 19, 545, 7-10, R 7884, 1776-78?)80

Daher ist ebensowenig der freiwillige Verzicht auf die Freiheit — ζ. B. aus Bequem-lichkeit — möglich, denn es „kann kein Mensch sich selbst aller Pflicht der Verant-wortung begeben" (A 19, 548, 8, R 7896).

Weder eine Niederlage im Krieg kann die Sklaverei begründen, wie Achenwall meint 8 1 aufgrund der Rechtmäßigkeit erzwungener Verträge:

„Es gibt unter freien Staaten keinen Krieg, der als ein Verbrechen, das Strafe verdiene, könne angesehen werden, weil jeder iudex putative competens ist; viel weniger kann der Soldat Verbrecher sein. Das Recht zu töten kommt nur von der Sicherheit wegen künftiger Belei-digungen her; folglich kann die Knechtschaft nicht länger dauern, bis diese Sicherheit da ist. Ein Verbrechen kann auch nicht erben; folglich könnte auch die Knechtschaft nicht erblich sein", (A 19, 546, R 7892, 1772-8)

noch kann Leibeigenschaft aufgrund der Lasten der Erziehung erblich fortgeführt werden:

„Educatione . . . nemo debitum contrahit. Ad eam nempe cuilibet competit ius a natura. Die Kinder können durch das delictum der Eltern des Rechts erzogen zu werden nicht beraubt werden; . . . wer jenen das Vermögen dazu nimmt, unterwirft sich selbst der Obligation." (A 19, 497, 2 - 4 , 7 - 8 , R 7707, 1773 - 75?)

Unterworfen ist der Mensch nur der einzig rechtmäßigen Gewalt, der des Staates: „Das Recht auf Erbuntertänigkeit kann allein dem Souverain zukommen. Denn weil über ihm keine Gewalt ist, so muß man alles von seiner Gnade erwarten. Aber daß man von der Gnade eines Untertans was alles erwarten müsse, ist ungereimt; gegen den muß ich auf mein Recht mich fußen können." (A 19, 520, R 7800, 1773 - 79)

Einen Verzicht auf den sinnvollen logischen Vernunftgebrauch und die Fähigkeit, Rechte auszuüben, stellt das Klostergelübde dar:

8 0 Vgl. A 19, 536, 7—12, R 7857, 1776-78: „Leges societatis iuridicae non sunt conventio-nales — Der subditus domesticus ist Famulus non servus (qui animam debet) — der Famulus kann den Gebrauch seiner Kräfte wohl einem anderen konzedieren, aber ihn nicht alienie-ren — personalitas non est alienabilis — die Schuld durch ein Verbrechen kann nicht an-erben. Ein pactum, seine Rechte aufzugeben, ist kontradiktorisch." Die Ak. Ausgb. liest in Zeile 7 aus S. J . „Societas Jesu"; diese Auflösung dürfte gänzlich ausscheiden. Vgl. A 19, 334, E 7327: „Societas vel ethica vel iuridica." Vgl. auch A 19, 536, 18, R 7858: „Unio iuridica." — Die Seitenangaben am Schluß der R 7857 beziehen sich auf die 5. Auflage des 1. Teils des „Ius Naturae" Achenwals, im Gegensatz zu A 19, 343, E 7357, die sich auf die 6. Auflage bezieht (Hinweis von Klaus Reich).

8 1 I .N. , 2, 72 (A 19, 358-60)

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 103

„Es scheinen auch alle Klostergelübde null und nichtig zu sein, weil der Mensch auf die Freiheit renunziiert, sein Glück jemals nach veränderten Einsichten zu machen." (A 19, 547, 8 - 1 0 , R 7894, 1776 - 79?)

Diese für die Nachfahren Kants an sich selbstverständlichen Grundrechte des freien Meinungsaustausches und der persönlichen Freiheit gewinnen ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund der Zweckargumentation Christian Wolffs. Dieser rechtfertigt und fordert dem damaligen Gebrauch entsprechend die grenzenlose Zensur unter dem Maßstab des erzieherischen Wohlfahrtsstaates82 und versucht die erbliche Leibeigen-schaft seiner Definition als ,ohne Härte' zu verteidigen.83 Man begibt sich nach Wolff in Knechtschaft, wenn man nichts als seine Arbeitskraft besitzt, um den Lebens-unterhalt zu verdienen, man verkauft seine Freiheit um einen Preis und kann es ebenso mit seinen Kindern tun. Daher ist ebenfalls die Zinsknechtschaft rechtlich möglich. Gleichfalls ist der Knecht selbst verkäuflich. Dieser unterwirft sich mit dem Verzicht auf seine Freiheit der Gerichtsbarkeit seines Herrn und verpflichtet sich, alle Arbeiten auszuführen, so daß aus dem Verhältnis des Herrn zum Knecht das des Herrschers zum Untertanen wird: Imperium — subiectus. Allerdings ist der Herr verbunden, dem Knecht gegenüber die Menschenpflichten zu üben, d. h. diesen zu lieben und zu schätzen wie sich selbst. Die Erblichkeit der Leibeigenschaft aber begründet Wolff damit, daß die unfreien Eltern, die im Gegensatz zum Römischen Recht eine rechtsgültige Ehe geschlossen haben,84 aber nicht über die Mittel verfügen, um den Herrn für den Arbeitsausfall während der Schwangerschaft und Geburt zu entschädigen und die Kinder zu erziehen oder erziehen zu lassen, sich ihrer Ver-pflichtung nur dadurch entledigen können, daß sie dem Herrn das Kind als Knecht wiederum überlassen.

Mit dieser Argumentation zeichnet Wolff die immer wiederkehrende Kette einer rechtlich materialen Beherrschung, die auf der Verwendbarkeit des Menschen als Ware beruht: Da der Knecht nichts besitzt, muß er sich verkaufen, da er sich verkauft hat, kann er nichts erwerben, um sich und seine Kinder zurückzukaufen. Daß der Gesellschaft mit der öffentlichen Zensur alle Mittel gegeben sind, um diesen Zirkel der Unterdrückung aufrechtzuerhalten, geht aus der Abhängigkeit dieser Zensur vom Zweck des Staates hervor:

„Fines civitatis sunt vitae sufficientia, tranquillitas et securitas."85

Diese grenzenlose Herrschaftstheorie versucht Kant mit den unmittelbaren Folge-rungen aus der Eigenart des Vernunftgebrauchs zu durchbrechen dadurch, daß die

8 2 I . N . , 8, 476: „Et quoniam in civitate nil admittendum, quod fini eiusdem repugnet, consequenter nec permittendum, ut disseminentur opiniones fini civitatis adversae, ea de causa nec permittendum erit, ut imprimantur libri vel alibi impressi vendantur, qui continent opiniones fini civitatis seu statui publico adversas."

8 3 I. Ν . , 7, 1087 Schol.: „Si servitus intra términos naturales subsistât quo definitio continet, nihil ea acerbitatis habet." — Zum folgenden 7, 1080—1120; vgl. Achenwall, I .N. , 2, 6 5 - 7 7 (A 19, 3 5 6 - 6 1 )

8 4 I . Ν . , 7, 1129 8 5 I . Ν . , 8, 13

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104 Seit 1772 : Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

vernünftige Urteilsfindung an sich schon sozial ist und daher frei sein muß und daß mit dem praktischen Vernunftgebrauch schon selbst unverlierbare äußere Rechte verbunden sind.

Nun kann man einwenden, daß die Begründung dieser Grundrechte in die Zeit vor 1772 zurückreicht und daher mit kritischer Philosophie nicht notwendig zu verbinden ist. Tatsächlich formuliert Kant die Gesellschaftlichkeit des Vernunftgebrauchs in der Logik Blomberg vor 1772 und auch die Erkenntnis, daß sich der Mensch mit dem Verzicht auf sein eigenes Urteil rechtlich an eine vernunftlose Macht ausliefert, geht in die 2. Phase der Rechtsphilosophie zurück. In dieser Begründung kann demnach nicht das Wesen der kritischen Rechtsphilosophie liegen, sondern nur darin, daß Kant 1772 erkennt, daß der Gebrauch der Vernunft als Selbstschöpfer von Rechten die einzige und sowohl der eigenen Sinnlichkeit gegenüber als auch im sozialen Bezug objektive Instanz ist, auf die sich der Mensch berufen kann und muß.8 6

Wie sehr Kant den Vernunftgebrauch nach 1772 den Eingriffen des Staates entzieht, zeigt ein Vergleich der Nachschriften Herders und Powalskis. Zwar weiß Kant schon in der Herdernachschrift, daß keine staatliche Instanz das „Selbstdenken" nehmen kann (A 27, 1, 75, 38), daß das Verhältnis zu Gott staatliche Regelungen nicht berührt (A 27, 1, 79, 3—4) und daß durch Intoleranz „jedes Falsche befestigt" wird (A 27, 1, 78, 34—35), dennoch ist seine Toleranzforderung so eng in die Kulturkritik eingebunden, daß er die Möglichkeit der Toleranz auf den Menschen des Naturzu-standes und den diesen wieder herstellenden Philosophen einschränkt (A 27, 1, 74, 3 ff. ; 75, 1—3). Die Verderbnis des Kulturzustandes erfordert im Gegenteil Zwangs-mittel des Wohlfahrtsstaates:

„Eine allgemeine Toleranz ist möglich, aber bloß alsdenn, wenn wir wieder zurückkehren zum ersten Zustand; alsdenn sind wir auch ohne Gott moralisch gut; warum soll ich nicht von Religion meine Meinung sagen: In Ansehung dieser Welt ist das Urteil der Toleranz bloß eine Sache der Obrigkeit; aber keines andern." (A 27, 1, 76, 8—13)87

Damit redet Kant einer erzieherischen staatlichen Intoleranz das Wort. Typisch für diesen Standpunkt ist die Einordnung Pierre Bayles als eines religionslosen d. h. Erziehung verhindernden Philosophen:

„Bayle war großmütig . . ., aber ohne Religion." (A 27, 1, 79, 8-9) Rechtsphilosophisch entspricht eine solche Lehre z. B. der Wolffs und Achenwalls,

die zwar Religionssätze als Gewissensdinge von Zwangsgesetzen ausnehmen, diese aber dennoch einschränkungslos dem Glücks- und Sicherheitsbedürfnis des Staates unterwerfen.88

8 6 Von der verschiedenartigen Argumentation her läßt sich ein Versuch unternehmen, die Re-flexionen zum Herrenrecht, die in der Akademie-Ausgabe der Phase κ zugeteilt sind (A 19, 471 -476 ) , genauer zu datieren. So möchte ich die Reflexionen 7628/7635/7637 nach κ setzen, die Mehrzahl aber, wenn die Reflexionen ihrer Aussagekraft nach überhaupt zu datieren sind, in die späteren Phasen.

8 7 Vgl. „Eine Religionsrevolution ist Staatsrevolution." A 27, 1, 78, 29—30 8 8 Vgl. Wolff, der das Eingriffsrecht gleich einformuliert, I .N. , 8, 948: „Ius circa sacra, qua-

tenus originarie in populo est, extendi nequit ad ea, quae ad cultum divinum internum spectant et indivulso nexu cum eodem in externo cohaerent, nisi quatenus provisionaliter

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 105

Ganz anders die Nachschrift Powalski. Dort definiert Kant den Orthodoxen als den, „der einen Zwang auf die Gewissen legen will, dieser Orthodoxe macht Ketzer" (A 27 , 1, 187, 19—21). Den Ketzer aber definiert er folgendermaßen:

„Um das Mannigfaltige des Äußern der Religion kann also kein Mensch verketzert werden. Wir können deswegen nur den einen Ketzer nennen, der einen Grundsatz hat, der den mora-lischen Gesinnungen widerstreitet." (A 27, 1, 186, 13 — 16)

D . h. der wahre Ketzer erweist sich also nicht im Verhältnis zu einzelnen statu-arischen Religionssätzen, sondern in seinem Verhältnis zu seiner eigenen Freiheit, ob er nämlich deren Gesetze anerkennt oder nicht. Daraus aber folgt, daß ein Mensch zum Ketzer nicht aufgrund vom Staat gesetzter Kriterien wird, sondern aufgrund seiner eigenen Handhabung der Vernunft. Diesem Vernunftstandpunkt in Religions-sachen entspricht die Reflexion 7795 aus der Mitte der 70er Jahre:

„Selbst das Volk kann sogar nicht einstimmig in Ansehung der Religion positive Zwangs-gesetze machen. Denn man kann nicht von Menschen zu dem gezwungen werden, was nur Gott angeht, und sie können sich zu nichts anheischig machen, was, sobald sich ihre Meinung davon ändert, auch es über alle Menschen Furcht zu ändern nötigt. Noch weniger kann dieses durch der meisten Urteil geschehen." (A 19, 519, 10 -15 , R 7795)

Der kritische Freiheitsbegriff und die Lektüre von Bayles ,Commentaire philosophique' müssen das Urteil über Autor und Gegenstand zurechtgerückt haben.

Dennoch muß Kant diese Aufrichtung des Vernunftgebrauchs als Festpunkt ange-sichts der Allmacht des Staates gegen einen anderen Vernunft- und freiheitsvernich-tenden Einwurf verteidigen, daß nämlich die große Zahl der Menschen die Vernunft in einem so geringen Grade gebrauche, daß man mit deren rechtlicher und intellek-tueller Wirksamkeit nicht argumentieren könne: im Gegenteil ist seine Lehre, daß das vernünftige Wesen niemals „völlig passiv" ist und daher auch niemals alle Rechte — es sei denn durch aktive Selbstvernichtung aller Verbindlichkeit durch Mord — durch Herrschaft verlieren kann:

„Die absolute Subjektion (oder Leibeigenschaft) findet nur statt unter einem völlig guten Willen, der niemals unrecht sein kann, dem also der unsrige völlig passiv unterworfen sei (aller andrer Wille ist restringiert); aber auch da müssen wir überlegen, ob der Wille auch ein völlig gerechter Wille ist, mithin ist die Verbindlichkeit niemals eine blinde Unterwürfig-keit, die völlig passiv ist." (A 19, 547, 33 -548 , 4, R 7896, 1776-79?)

Die Aufgabe aber bleibt, von der Theorie der absoluten Rechtsfähigkeit auf deren Möglichkeit in concreto zu schließen.

5 . 5 . 3 . D i e R e c h t s b e d i n g u n g e n der S t a a t s g e w a l t

5 .5 .3 .1 . Die Trennung von Staatserrichtung und Staatsverwaltung

Wie aber soll diese unveräußerliche Rechtsfähigkeit wirksam werden, wenn das erste Rechtsgebot lautet, sich einer unwiderstehlichen Gewalt zu unterwerfen, einer

controversia in ecclesia orta decidenda aut de ea certi quid constituendum." Achenwall, I .N . , 2, 134, 137 (A 19, 390-91)

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106 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

M a c h t , d i e s o s t a r k se in m u ß , daß mi t der Mög l i chke i t , R e c h t z u scha f fen , ebenfa l l s

a l le F r e i h e i t vernichtet w e r d e n k a n n ? D a s P r o b l e m erscheint u n l ö s b a r :

„ W a s jemand gegen sich selbst, mithin der Staat in Ansehung seiner Glieder will, ist Recht. Es ist also absurd, daß eine Befugnis, kein Unrecht tun zu können, jemandem erteilt werde, oder daß es rechtskräftig sei, wenn Menschen sich ihres Rechts überhaupt begeben. Hier steckt die ganze Schwierigkeit, so wie in der Metaphysik vom absoluten necessario, wie ein oberster Wille, der da bestimmt, was Recht sei, möglich ist, und eine irresistible Gewalt doch selbst rechtmäßig sei, obgleich sie durch nichts Äußeres eingeschränkt wird, auch nicht durch das Recht anderer, denn alsdenn würde eine noch höhere Gewalt erfordert werden." (A 19, 563, 1 3 - 2 1 , R 7953, 1776-89) 8 9

K a n t gel ingt a l lerdings ein neuer A n s a t z der L ö s u n g d a m i t , d a ß er d ie Staatser-

r i c h t u n g , d i e n a c h d e m genannten ersten R e c h t s g e b o t geschieht , v o n den A k t i o n s -

f o r m e n d ie se r unwider s t eh l i chen G e w a l t t rennt :

„ D e r Sozialkontrakt ist nicht das principium der Staatserrichtung, sondern der Staatsver-waltung und enthält das Ideal der Gesetzgebung, Regierung und öffentlichen Gerechtigkeit. — Fragt man nun, welches ist das principium obiectivum der Staatserrichtung, so antworte ich: in einer Vereinigung frei handelnder Wesen, die doch alle als den Zwangsgesetzen unter-worfen betrachtet werden sollen, ist die zwingende Gewalt notwendig außer ihnen, und es ist kein principium obiectivum der Staatserrichtung möglich. Vor jedem Zwangsgesetze geht die Gewalt vorher. Die Gewalt, wo sie nicht natürlicherweise dem beirechnet, der auch das Recht der Gesetzgebung hat, so kann sie gar nicht rechtlich errichtet werden. Denn weil seine Ge-walt an die Bedingung gebunden ist, daß sein Wille Recht sei und ihm auch nur nach Regeln des Rechts solche zuteil werden soll, wer zwingt ihn darnach zu verfahren. Uberdem, wer ein an sich zufälliges Recht wozu hat, muß nach einem Zwangsgesetze verbunden werden können, damit er nur durchs Recht und nicht durch Willkür seine Gewalt habe. N u n ist aber denn keine Gewalt mehr, die ihn zwingen könne." (A 19, 503, 6—22, R 7734, 1773 — 77?)

D i e s e z w i n g e n d e G e w a l t m u ß v o r j e d e m einzelnen G e s e t z l iegen, u n d sei es n o c h

s o g r u n d l e g e n d , wei l eine u n g e z w u n g e n e , a m o r p h e u n d daher recht lose M a s s e

ü b e r h a u p t ke inen B e s c h l u ß f a s s e n k a n n :

„ D a s Volk kann noch kein Recht erteilen, indem es einen Souverain konstituiert, sonst müßte es selbst schon eine souveraineté gehabt haben. Es tritt allererst vermittelst eines Souverains in den statum iustitiae externae." (A 19, 534, R 7849, 1772-77) „ D e r actus, da die Menge durch ihre Vereinigung ein Volk macht, konstituiert schon eine souveraine Gewalt, welche sie durch ein Gesetz auf irgendeinen übertragen. Denn die pacta sind Gesetze und supponieren schon eine gesetzgebende Gewalt. — Wenn ein Volk jemand die Souverainetät aufträgt, so kann es solche nicht einschränken, denn alsdenn ist es nicht Souve-rainetät. Alle Einschränkung setzt voraus, daß das Volk die oberste Gewalt behält." (A 19, 511, R 7769, 1769- 75)»°

A n g e s i c h t s d ie se r T a t s a c h e , daß v o r einer G e w a l t , die f ü r d ie äußeren B e d i n g u n g e n

e iner V e r h a n d l u n g u n d d e s V e r f a h r e n s nach R e g e l n sorg t , gar kein Be sch luß m ö g l i c h

i s t , e r s che in t d e r G e d a n k e , d e n Ri t ter a l lerdings f ü r „ m e r k w ü r d i g " h ä l t , 9 1 gar nicht

s o a b w e g i g , d a ß d ie H e r r s c h a f t eine herrenlose Sache ist , d ie o k k u p i e r t w e r d e n m u ß :

8 9 Vgl. Naturrecht Feyerabend S. 116 9 0 Ebenso A 19, 564, 8 - 9 , R 7954 9 1 a . a . O . , S. 298. Die Parallele zum Herrscher als Obereigentümer kann ich nicht erkennen,

a . a . O . , S. 298 1 3 7 ; s. u. S. 154f.

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 107

„Der Souverain ist nicht mandatarius, sondern cessionarius oder vielleicht prior occupans, aber nicht von mehr Rechten, als das Volk hatte, mithin nur von der allgemeinen Gesetz-gebung. Wenn das Volk sich nicht selbst regieren kann. So ist die Regierung res nullius und muß okkupiert werden. Von dem, was man nicht selbst besitzt, kann man keine Zession machen." (A 19, 484, 1 2 - 1 7 , R 7671, 1769 - 72)

Dieser Gedanke der rechtsverbindlichen Okkupation, die nur die Staatsgewalt und

Staatserrichtung betri f f t , geht in die vorkritischen Phasen des Staatsrechts zurück:

„Summum imperium transferri non potest, sed si occupetur, obligat." (A 19, 449, 11,

R 7538, 1766-1769) 9 2

Die Trennung in Staatserrichtung und Staatsverwaltung, die erst eine Verfassung

nach Regeln der Freiheit möglich machen soll, geschieht wegen der unabdinglichen

Staatsgewalt nur in A n a l o g i e zum Unterwerfungs- und Herrschaftsvertrag, 9 3 denn

ein Vert rag über die Staatserrichtung kann überhaupt nicht geschlossen werden, die

U n t e r w e r f u n g unter den äußeren Rechtszustand wi rd vielmehr nur als ein solcher

gedacht:

„ O b das pactum subiectionis nicht als quasi contractus originarius könne angesehen werden. Al le Menschen wollen notwendigerweise Recht und müssen alsdenn sich auch gefallen lassen, anderer Recht Einfluß zu verstatten. Sie sind aber an sich selbst in Ansehung dessen passiv und können sich nicht vereinigen. Der so es übernimmt, handelt ex quasi contractu." (A 19, 534/5, R 7851, 1772 -77 )

G e w o n n e n ist methodisch mit der Unterscheidung, daß der Gewaltcharakter des

Staates in der Staatserrichtung betrachtet wird und in der Reflexion auf diesen be-

schränkt bleibt, daß andrerseits die Staatsverwaltung den Blick — unabhängig von der

G e w a l t — freigibt für die Form des Staates, die allein der Freiheitsfähigkeit der

Individuen entspricht. In den 80er Jahren faßt Kant diese methodische Unterschei-

dung unter folgenden Begri f fen:

„Contractus originarius non est principium fiendi (Errichtungsgrund), sed cognoscendi (Ver-waltungsgrund) des Staats, leges, decreta, sententiae)." (A 19, 564, R 7956)

D . h. die Erkenntnis des Gesellschaftsvertrages als Vertrag über die Staatsver-

wal tung und Erkenntnisprinzip 9 4 läßt hoffen, daß sich unwiderstehliche Gewalt

mittels der Staatsverwaltung unter den Bedingungen des Rechts wirklich mit der

Freiheit der Bürger verbinden läßt:

„Die quaestio iuris ist diese: wie ist der Zustand beschaffen, so daß eines jeden Menschen Eigennutz nach einer solchen Regel geschehe, die auch vor den Eigennutz anderer gilt und also gerecht sei? Ist die Staatserrichtung bloß willkürlich, oder ist eine Staatserrichtung ( s iur i -

9 2 Ebenso A 19, 564, 8 - 9 , R 7954, 1780-1784; vgl. Anhang zur Rechisi. A 6, 372 9 3 Vgl . Achenwall I .N. , 2, 98 u. 109; Grotius, a . a . O . , 1, 3, 8 u. 1, 3, 13ff. 9 4 Diese Trennung macht auch verständlich, daß Kant von der ursprünglich geforderten Ein-

stimmigkeit bei ersten Gesetzen abrückt (vgl. Rousseau, C. S., 1, 5/6): „Unanimi consensu muß beschlossen werden, ob und was consensu plurium könne beschlossen werden; d. i. leges constitutivae können nur unanimiter beschlossen werden, die leges executivae per ma iora ." A 19, 453, R 7552, ebenso R 7551, beide 1769-75 . Dagegen: „Ob die Konstitu-tion unanimia erfordere. In der Idee guter Menschen, ja. Aber so wie sie sind, so viel, daß andere können gezwungen werden. Nach dem principio exeundum e statu naturali ." A 19, 565, R 7961, 1785-1789 ; vgl. A 19, 448, R 7531

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108 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

dice) notwendig; imgleichen welche Verfassung des Staats ist allein rechtmäßig. Also ist ein Grund des Rechts, der die Staatserrichtung notwendig macht und ist ein Grund des Rechts, der nur eine einzige Staatsverfassung rechtmäßig macht." (A 19, 497, 12-19, R 7708, 1769-75)

5.5.3.2. Der patriotische Staat unter der repräsentativen und dauerhaften

Staatsverwaltung

Den Staat, der vom Recht der einzelnen Bürger ausgeht, nennt Kant den patrio-

tischen:

„Ohne Patriotismus der Regierung ist kein Patriotismus des Untertans, (ëdenn dieser besteht darin, daß er sich als ein Glied, nicht als ein Eigentum des Staats ansieht). Zu den Rechten eines Untertanen eines patriotischen Staats gehöret, daß er unter der Gleichheit der Ver-dienste, zu denen er sich erheben kann, er auch mit jedem andern zu gleicher Würde gelange. Also muß er selbst nicht zum patrimonio anderer gehören und kein Erbuntertan eines Privat-mannes sein. Als Mittel die Freiheit der Feder." (A 19, 511, R 7771, 1772 - 75)

Die Herkunft dieses Begriffs deckt die Reflexion 7686 auf:

„Der Monarch, welcher despotisch ist, hält den Staat als sein Erbgut (patrimonium), der patriotisch ist, als sein Vaterland. Das Land selbst ist eine Verbrüderung aus einem gemein-schaftlichen Vater. Es ist die Herrschaft des Ältesten. Alsdenn haben Untertanen auch i<ji Staat ein Vaterland. Weil sie wissen, was sie von Vätern bekommen haben und als Väter hin-terlassen können." (A 19, 490, R 7686, 1769-75)

Diesen Begriff des Tyrannen bildet Darjes im Discours:

„Wenn nun ein Regent das imperium civile verwandeln will in ein imperium herile, oder wie Grotius sagt: Wenn er ex civitate familiam maiorem macht, so ist er ein Tyrann, da disponieret er de civibus non in commodum civitatis, sondern in suum commodum."95

Für den Begriff des Vaterlandes als des Landes, in dem der Sozialvertrag einge-

halten wird, d. h. das Recht der einzelnen gewahrt wird, steht Rousseau mit dem 5.

Buch des „Emile", weshalb es wenig verwundert, daß der Begriff schon in den

Bemerkungen' auftaucht:

„Der Krieg kann nur Tugenden hervorbringen, wenn er patriotisch ist, d. i. wenn er nicht dazu dient, sich Geld und Unterhalt zu erwerben, sondern sich zu erhalten, und wenn der Soldat wieder Bürger wird." (A 20, 76, 6 - 8 ) ,,Si je te parlais des devoirs du citoyen, tu me demanderais peut-être où est la patrie, et tu croirais m'avoir confondu. Tu te tromperais pourtant, cher Emile: car qui n'a pas une patrie a du moins un pays. Il y a toujours un gouvernement et des simulacres de lois sous lesquels il a vécu tranquille. Que le contrat social n'ait point été observé, qu'importe, si l'intérêt particulier l'a protégé comme aurait fait la volonté générale . . . et si nos institutions mêmes lui ont fait connaître et haïr leurs propres iniquités?"96

Ebenso besteht für Kant der patriotische Staat in der Rechtlichkeit seiner Hand-

lungen:

95 Disc. S. 1013 ad § 703 96 a .a .O. , 858. Vgl.: „C'est par le fil de ces recherches que nous parviendrons à savoir quels

sont les devoirs et les droits des citoyens, et si l'on peut séparer les uns des autres? Ce que c'est que la partrie, en quoi précisément elle consiste, et à quoi chacun peut connaître s'il a une patrie ou s'il n'en a point?" a .a .O. , 847f.

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 109

„Die Frage ist nicht, ob der Monarch dieses oder jenes mit Recht gebiete, sondern ob seinem allgemeinen Gesetze gemäß dieser oder jener mit Recht hie- oder dazu gezwungen werden könne, wenn andre davon frei sein. Im patriotischen Staat gibt es Vornehme und Geringe, aber nicht Mächtige und Ohnmächtige. Jeder ist durch sein Recht ebenso mächtig als der andere. Genugtuung vor Beleidigung kann auch in einer Monarchie gegeben werden. Bascha und Nabobs." (A 19, 512, 8 - 1 4 , R 7772, 1772 - 75)

Ein solcher Rechtsstaat beruht in der Anerkennung und Sicherung der Rechte seiner Bürger und ist daher ein „automaton", das seine Bewegung aus den eigen-ständigen, durch den Staat nur gesicherten Rechtshandlungen der einzelnen schöpft:

„Der Staat ist ein automaton. Das ist eine heilige Pflicht, die ihm die Achtung vor das menschliche Geschlecht und die wesentliche Bedingung seiner Wohlfahrt auferlegt, diese Kunsteinrichtung nicht zu stören. Wehe dem Prinzen, der die Triebfeder oder das Schwung-rad wegnimmt, welches alles in Ordnung hält und sich unternimmt, mit kühner Hand selbst alles zu regieren. Und wenn er Engelweisheit besäße, so ist er vor all das Unglück, was den Staat durch innere Treulosigkeit seiner Diener und durch Unfähigkeit seines Nachfolgers trifft, Verantwortung schuldig."97 (A 19, 513/4, R 7778, 1772 - 75)

Dieses Leben des Staates aus den Rechten seiner Bürger ist der Sinn des Staates als

„Organismus", wie Kant ihn einmal nennt:

„Der Staat enthält in der Monarchie den Organismus, der ein Leben im Staatskörper voraus-setzt; die despotische Regierung verändert sie in den Mechanismus, der immer von fremder Hand abhängt." (A 19, 491, R 7688, 1769-75)

Damit bezieht sich dieser Begriff nicht, wie Ritter meint, auf das Bild eines

tierischen Organismus, einen Vergleich, den Kant als Falschvorstellung ausdrücklich

ablehnt . 9 8

Da der Rechtsstaat nichts mit einer väterlichen Regierung gemeinsam hat, kann der Bürger nicht persönlich beherrscht werden, sondern nur im Auftrag der Rechts-sicherung, deren Repräsentant — nicht persönlicher Eigentümer — der Herrscher ist:

„Die Regierung hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit der väterlichen Autorität, welche die alleruneingeschränkteste unter allen ist. Der Vater muß das Kind ernähren und an seiner Statt Brot verdienen. Beim Regenten ist es umgekehrt. Jeder Untertan mag sein Interesse selbst besorgen, aber nur was wechselseitige Rechte betrifft, ist das Volk unmündig, imgleichen in Ansehung der Staatsverhältnisse. Da ist der Regent aber nicht Vater, sondern Repräsentant." (A 19, 506/7, R 7749, 1 7 6 9 - 7 8 ) "

9 7 Ebenso A 19, 399, 7 - 9 , E 7476, 1776-89: „Der Despotismus besteht darin, wenn der Untertan, aber auch der Minister nicht einmal Erlaubnis hat, Vorstellungen zu tun, sondern alles bloß passiv ist und kein Automaton."

9 8 In der Reihe der Fehlvorstellungen vom Staat heißt es: „Einige haben die Staatsverfassung ver-glichen . . . Noch andre mit einem Tier, was durch einen lebendigen Geist regiert wird, der vor alle Glieder sorgt; aber diese Vergleichung ist zu metaphysisch, und es ist auch eine dergleichen innigliche Vereinigung der wechselseitigen Abhängigkeit unter Menschen nicht möglich, überdem empfinden die Glieder gar nicht, sondern nur der Geist, und es ist also kein geteiltes und widerstreitendes Interesse." (A 19, 514, 9, 16-21 , R 7779, 1772 - 75) Ritter interpretiert das als vorsichtigen, aber positiven Vergleich, a . a .O . , S. 301.

9 9 Ebenso A 19, 549, R 7902, 1769- 78: „Das Ansehen des Oberherrn muß mehr von dem Ansehen des Ältesten als dem Väterlichen abgeleitet werden. Das letzte ist despotisch, die Untertanen sind unmündig. Es ist auch unnatürlich. Denn es dauert nicht in die erwachsenen Jahre ."

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110 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Mit dieser Überpersönlichkeit der Beherrschung verbindet sich das Kriterium der Dauerhaftigkeit der Handlungen des Herrschers als rechtsgemäße:

„Die Souverainetät wird durch nichts eingeschränkt, aber wohl gemäßigt, und zwar durch den Willen, daß der Staat in sich selbst einen Grund der Fortdauer habe ohne Unterschied der Prinzen." (A 19, 506, 2 - 5 , R 7745, 1769-78) „Der Monarch muß verhüten, daß der Staat nicht bloß auf seiner Person beruhe, ob es zwar brillant ist. Die unberühmteste, aber verdienteste Ehre ist, ihn so einzurichten, daß er nach ihm im Flor ist, selbst unter schwachen Regenten." (A 19, 506, R 7746, 1769-78) 1 0 0

D e n n das Obers te im Rechtsstaat ist nicht persönliche Machtfülle, sondern muß als ein Gedankending angesehen werden, unter dem die Rechtssicherung durch den H e r r s c h e r verwirklicht wird:

„Der Wille des Souverains wird nicht durch den des Volks eingeschränkt. Es ist nur ein einiger Wille. Sondern weil ein Teil des Volks den andern zum allgemeingültigen Willen einschränkt, so fühlt der Souverain nur dadurch, daß die tutores des Volks (denn es ist unmündig) ihren Dienst nicht ausüben können, den Mangel der Einheit, und der Souverain schränkt seinen (Stemporairen) Willen selbst ein, damit er ein ewiger Wille sei. Die Souve-rainetät ist eine Idee." (A 19, 534, 8 - 1 4 , R 7848, 1772-77)

W e n d e n wir uns der F o r m dieser Souveränität zu.

5 . 5 . 4 . M o n t e s q u i e u g e g e n R o u s s e a u :

D i e G e w a l t e n t e i l u n g a u s d e r I d e e d e r S o u v e r ä n i t ä t

Kant zeigt sich schon in der 2 . Phase, d. h. mit den ersten Überlegungen zur abso-

luten Notwendigkeit der unwiderstehlichen Staatsgewalt als Anhänger der Gewalten-

teilung:

„Die Gesetzgebung, Regierung und Gerichtshof. Gesetzgeber, Regent und Richter; potestas legislatoria, rectoría et iudicaria." (A 19, 449, 1 9 - 2 1 , R 7538)

E s ist nach dem außerordentlichen L o b von „ D e l'esprit des lois" wenig ver-w u n d e r l i c h , 1 0 1 daß diese unmittelbar Montesquieu folgt, wie ein Vergleich mit der Reflexion 7653 der 3 . Phase deutlich macht :

„1. Der Gesetzgeber muß nicht Richter sein, denn der Richter muß unter dem Gesetze stehen, damit sein Urteil mit dem Gesetze übereinstimme, also kann er nicht selbst der Gesetzgeber sein, außerdem ist der Souverain nur immer das Ganze und der Richter ein Teil ." (A 19, 477, 2 5 - 2 8 ) „II n'y a point encore de liberté si la puissance de juger n'est pas séparée de la puissance législative et de l'exécutrice. Si elle était jointe à la puissance législative, le pouvoir sur la vie et la liberté des citoyens serait arbitraire: car le juge serait législateur. Si elle était jointe à la puissance exécutrice, le juge pourrait avoir la force d'un oppresseur."102

K a n t reflektiert über diese notwendige Trennung der Gewalten ausführlich seit

1 7 7 2 :

1 0 0 Ebenso A 19, 510, 1 1 - 1 4 , R 7764, 1 7 7 3 - 7 8 : „Soll sie" (die Staatsverwaltung) „dauerhaft sein, so müssen die Regeln derselben eine Beständigkeit haben. — Der Souverain, der noch selbst seine Hand in die Staatsverwaltung mengt, ist Despot."

1 0 1 S. o. S. 95 1 0 2 11, 6, a . a . O . , S. 164

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 111

„Der Souverain muß urteilen, was und wie eine Verfassung dem Willen des Ganzen gemäß sei. Der Regent, was den besonderen Zwecken aller besonders gemäß sei, mithin sich unter einen allgemeinen Willen dem Zwecke nach subsumieren läßt, und der muß selbst eine Macht haben und nicht wiederum angewiesen werden zu urteilen. Endlich der Richter, welcher, ob die Subsumtion des Zwecks des einzelnen unter dem Gesetz der Freiheit aller Recht sei oder nicht. Es ist also 1. Macht und Freiheit 2. Vermögen und Zweck 3. Zweck unter dem Ge-setz der Freiheit." (A 19, 485, R 7673, 1772)

Die Parallele zu Montesquieu geht dabei bis zu der konkreten Auffassung des Richteramtes, daß die Mitglieder des Volkes über sich selbst richten müssen:

„Der Souverain gibt Gesetze, regiert (nicht administriert) und inspiziert die Gerechtigkeit. Er muß nicht administrieren, denn das ist ein actus singularis, der unter dem Gesetze steht, welcher Unrecht sein kann und wider welchen ein Schutz im Staate sein muß. Sein Wille gehet nicht auf einen actum singularem, da ein Fall unter dem Gesetze subsumiert wird (in dieser Subsumtion kann allein das Unrecht bestehen, aber nicht in der Sanktion der Gesetze, weil die allein das Recht bestimmen); dergleichen das Direktorium, das Gouvernement und Magisträte tun, denen der Souverain durch den Minister seinen Willen kundtut. Ob er aber gleich nicht administriert, so regiert er doch, indem er das Gouvernement einsetzt, absetzt und so weiter. Er ist Oberrichter (Inspektor). Er spricht kein Urteil im besondem Falle, sondern setzt andere Richter ein oder auch ein außerordentlich Gericht, weil dieses widerum eine allgemeine Hand-lung ist, da er aus dem Volk selbst die Hilfe vor ihr Recht nimmt und sich also das Volk selbst Recht spricht. Auf ihm haftet also kein Tadel, er ist heilig und irreprehensibel. Wenn er aber seine Hand an die Rechte einzelner legt, so hat er ein ius controversum, nicht sanctum. — Alles Richten muß öffentlich sein. Die Glieder des Gerichts müssen von den magistratus, die das publicum vorstellen, ernannt werden." (A 19, 515/6, R 7781, 1772-75) 1 0 3

Christian Ritter, der diese Abhängigkeit von Montesquieu durchaus feststellt, hält Kant nun zwei Dinge vor, einmal daß ihm „der politische Blick eines Montesquieu oder L o c k e " fehle, „für die der Gedanke der Gewaltengliederung sich als Instrument für das rechtspolitische Ziel der Eindämmung der absoluten Staatsmacht der zeitge-nössischen Monarchen darstell te" , 1 0 4 zweitens daß Kant sich „offenbar unter dem Eindruck der günstigen Verhältnisse im Preußen Friedrichs des Großen und mit Hin-blick auf das — auch von Montesquieu, Locke und Rousseau anerkannte — englische Sys tem" bemühe, „die monarchische Verfassung als Muster eines rechten Staates hinzustel len." 1 0 5

E s läßt sich leicht nachweisen, daß diese Vorhaltungen eines politisch beengten Blickwinkels der Fragestellung Kants nicht im geringsten entsprechen. Vielmehr sieht sich Kant einem skeptischen Satzpaar der wissenschaftlichen Politik gegenüber, dessen Widerspruch es zu lösen gilt, nämlich daß es nach Montesquieu ohne Gewal-tenteilung keine bürgerliche Freiheit gibt und daß nach Rousseau die Teilung der Souveränität ein Unding ist.

1 0 3 Ebenso A 19, 518, R 7791; vgl. A 19, 517, 17ff„ R 7787; „M.d.S." Rechtslehre § 49, A 6, 317f. Montesquieu, 11, 6, a .a .O. , S. 165: „La puissance de juger ne doit pas être donnée à un sénat permanent, mais exercée par des personnes tirées du corps du peuple, dans certains temps de l'année, de la manière prescrite par la loi, pour former un tribunal qui ne dure qu'autant que la nécessité le requiert."

1 0 4 a . a . O . , S. 251 1 0 5 a . a . O . , S. 295

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112 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Nach Montesquieu bilden die drei Staatsgewalten aufeinander angewiesene, sich

empirisch ausgleichende gesellschaftliche Kräfte, die unter dem Gesichtspunkt der

gegenseitigen faktischen Kontrolle der „faculté d'arrêter" zusammenwirken. Die-

jenigen, die an sich ein stabiles Gleichgewicht bilden könnten, werden bewegt vom

politischen Sachzwang:

„Ces trois puissances devraient former un repos ou une inaction. Mais comme, par le mouve-ment nécessaire des choses, elles sont contraintes d'aller, elles seront forcées d'aller de concert."106

Demgegenüber kritisiert Rousseau im Contrat social vernichtend die empirische

Zerstückelung der Staatsgewalt. Der Härte dieser Kritik wegen sei ein Abschnitt

hierher gesetzt:

„Mais nos politiques, ne pouvant diviser la souveraineté dans son principe, la divisent dans son objet: il la divisent en force et en volonté, en puissance législative et en puissance exécutrice, en droits d'impôt, de justice et de guerre; en administration intérieure et en pouvoir de traiter avec l'étranger: tantôt ils confondent toutes ces parties, et tantôt ils les séparent. Ils font du souverain un être fantastique et formé de pièces rapportées; c'est comme s'ils composaient l'homme de plusieurs corps, dont l'un aurait des yeux, l'autre des bras, l'autre des pieds, et rien de plus. . . . après avoir démenbrè le corps social par un prestige digne de la foire, ils rassemblent les pièces on ne sait comment."107

Trotz der Übernahme der Gewaltenteilung ist Kant seit den ersten Überlegungen zum rationalen Staatsrecht klar, daß Recht nur unter einer unwiderstehlichen, ab-soluten, damit auch einigen Gewalt wirklich werden kann. Diese Einheit bezeichnet Kant damit, daß er die einzelnen Gewalten nur Teile der Souveränität nennt:

„Der Regent hat nicht die höchste Gewalt, sondern den Teil derselben, den ihm der Souverain verwilligt."108 (A 19, 449, 17-18, R 7538)

Trifft ihn aber mit dieser Lösung einer einfachen Teilung nicht ebenso wie Montesquieu und die Naturrechtslehrer mit ihrer Ansammlung der iura maiestatica109

der Vorwurf Rousseaus, daß die Stücke des Staates, man weiß nicht wie, wieder zusammengeflickt werden?

Mitte der 70er Jahre betont Kant die absolute Einheit: „In dem Staat ist der Souverain die einzige Macht." (A 19, 508, 5, R 7754) „Er muß einig sein, Er muß voluntas communis sein." (A 19, 508, 16, R 7756)

Trotzdem aber kann kein Teil die Funktion des anderen wahrnehmen, ohne Unrecht

zu tun; alle drei Einzelgewalten — „potestas legislatioria, auctoritas iudicatoria,

potentia rectoría" — sind sogar für sich absolut und einig:

„Necesse est, ut sint summa, unica. Ideoque Imo irreprehensibilis 2do inappellabilis 3 — irressistibilis." (A 19, 501, 24-26, R 7728, 1772 - 78)

Obwohl diese Teile selbst absolut sind, können sie sich trotzdem nicht wider-

streiten:

106 11, 6, a .a .O. , S. 172 107 2 , 2, a .a .O. , 3, S. 369f. 108 Zum Zusammenhang der Reflexion s. o. S. 110 109 Z.B. Wolff, I.N., 8, 809ff.; Achenwall I.N., 2, 113ff.

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 113

„Kein Teil der souverainen Gewalt kann dem andern widerstreiten, weil sonst keine obere Gewalt sein würde, die darüber entschiede. Aller Widerstreit betrifft nur die Regierung und das Gouvernement." (A 19, 511, R 7770, 1769-75)

Faßt man das Problem in einem Satz zusammen, dann geht es darum, wie eine

absolute Einheit in notwendige Teile zerlegt werden kann. Al le weiteren Aussagen

folgen aus diesem Problem, nämlich daß notwendige Teile sich nicht gegenseitig

ersetzen, wie sie ebensowenig im Widerspruch zueinander stehen können. Widerum

ergibt sich aus dem Problem selbst, daß eine Auflösung nur dann möglich ist, wenn es

sich bei der zu teilenden Einheit um ein Gedankending handelt: d. h. Kant erkennt,

daß die Antithesen Montesquieus und Rousseaus nur dadurch zu lösen sind, daß man

die souveräne Gewalt als eine Idee begreift:

„Die Souverainetät ist eine Idee." (A 19, 534, 14, R 7847)110

Solche obersten Begriffe der Vernunft lassen sich allerdings durch weitere reine

Begriffe auflösen, wie die Deduktion der Kategorien zeigt, in deren Analogie die

Souveränität zerlegt wi rd :

„Die potestas executoria (das Staatsoberhaupt als Regierer) ist das Recht desselben, daß nach den Gesetzen ein Staat bestehe, folglich der den Staat seiner Einrichtung nach den Gesetzen konform macht, d. i. die Verfassung oder den Zustand desselben so einrichtet, daß den Gesetzen gemäß einem jeden (ëauch dem Staat selbst) das Seine bestimmt und erhalten werden könne, oder welcher Macht hat, den Zustand des gemeinen Wesens (den Staat) so einzu-richten und zu erhalten, als notwendig ist, damit die Gesetze darinnen ihre Wirkung haben. — Potestas iudiciaria ist die Macht, welche den Gesetzen gemäßen Effekt in (^Ansehung der Glieder des gemeinen Wesens gegeneinander bestimmt) vorkommenden einzelnen Fällen be-stimmt. Also 1. die Substanz des Staats in den Gesetzen, 2. dieser ihre Kausalität, 3. die Gemein-schaft ." (A 19, 573, R 7986, 1772 - 89)

Die Rechtslehre schließlich stellt den „allgemein vereinigten Willen in dreifacher

Person (trias politica)" vor

„gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist." (A 6, 313, 17—18, 23—27, § 45)

Eine solche Zerlegung reiner Begriffe aber ist erst seit der Wendung zur kritischen

Philosophie möglich und wird auch als solche in Bezug auf die Souveränität noch

1772 erkannt und formuliert :

„Es ist also 1. Macht und Freiheit 2. Vermögen und Zweck 3. Zweck unter dem Gesetz der Freiheit ."1 1 1 (A 19, 485, 8 - 9 , R 7673)

Denn eine solche Einheit, wie die Souveränität sie darstellt, kann nur dann

notwendig geteilt werden, wenn man einen in der Realität korrespondierenden

Gegenstand gar nicht erst sucht, sondern sie allein als notwendige Denkvoraussetzung

no [ ) ¡ e ganze Reflexion s. o. S. 110. Peter Burg, Kant und die Französische Revolution, Berlin 1974, S. 263, entdeckt, Schmucker und Ritter folgend, „drei unterschiedliche Souveränitäts-konzeptionen und eine divergierende Gewaltenlehre von Anfang an in Kants Schrifttum". In der Idee liegt die Lösung.

1 1 1 Gesamte Reflexion s. o. S. 111

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114 Sek 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

für die Rechtswirklichkeit betrachtet. Daß ein solches Gedankending aber objektive

Bedeutung für unser Handeln besitzt, beweist nicht nur die politische Erfahrung eines

Montesquieu.

Im Anthropologienachlaß führt Kant den Nachweis, daß das Oberste im Staat eine

Idee sein muß, aus der Unmöglichkeit der Beherrschung von Menschen durch

Menschen. Der Grund für diese Unmöglichkeit liegt darin, daß der oberste reale

Herrscher eben nicht in rechtlich notwendige Gewalten teilbar ist. Sucht man dagegen

eine Personifizierung dieser Idee, dann kann diese nur Gott sein, in dem die drei

Gewalten allein vereinbar sind, 1 1 2 der damit hier wie in den oben herangezogenen

Reflexionen 1 1 3 das Urbild eines Rechtswillens ist:

„Der Mensch ist ein Geschöpf, was einen Herrn nötig hat. Selbst diejenigen unter den Menschen, welche Herren vorstellen, haben ebensowohl einen nötig und sind, da doch endlich ein Mensch der letzte Herr sein muß, dieser Herrschaft wenig fähig sich gut zu bedienen, wo sie sich nicht dem Gebote desjenigen Herren unterworfen fühlen, der ohne Ausnahme Herr über alles ist. Der wahre Oberherr des Staats ist die Idee der ganzen Gesellschaft und der, so ihm Gewalt gibt: Gott, d. i. derjenige, welcher diese Idee realisiert oder personifiziert. Denn der Staat ist sein eigner Herr und also über jedes Glied: dominus originarius." (A 15, 609/10, R 1398, 1772-73)

Aus dieser Erkenntnis des Obersten im Staat als Idee gehen nun drei Dinge hervor.

Erstens ist es ein Unding zu behaupten, Kant komme bei der Souveränität „alles

darauf an, daß sie ungeteilt übergeht"; 1 14 denn keine reale Person kann diese Idee

darstellen. Vielmehr kann ein Mensch in der Funktion einer Staatsgewalt diese als

unter einer Idee handelnd nur repräsentieren. Wiederum im Anthropologienachlaß

formuliert Kant:

„Der Statthalter Gottes auf Erden ist immer der allgemeine Mensch (maximus homo). Nur der Staat ist absoluter Herr; der Souverain ist dessen Repräsentant, und, da er wegen seiner Ein-stimmung mit dem Willen des Staats keinem Menschen verantwortlich ist und gleichwohl doch verantwortlich sein muß, so muß er dem einigen absoluten Herrn der ganzen Natur ver-antwortlich sein. Ein Souverain muß also in seiner Funktion des höchsten Repräsentanten wohl unterwiesen und von Gesinnungen der Religion erfüllet sein." (A 15, 610, R 1399, 1772 — 73)115

Daß diese innere Bindung an die Rechtsidee, was Kant hier immer unter dem

Souverän konkret versteht, ebenfalls von einem souveränen, demokratisch gewählten

Parlament, das ja auch das Recht auf Verfassungsänderung besitzt, gefordert werden

muß, zeigt sowohl der Begriff als geschichtliche Erfahrung.

Zweitens: Wenn es, wie Kant fordert, eine ,allein rechtmäßige'116 Verfassung geben

muß, dann ist es diejenige, die die Gewaltenteilung wirklich durchführt.

1 , 2 „Non sunt adunabiles praeter in deo." (A 19, 501, 27, R 7728) Vorhergehender Text s. o. S. 112. Ebenso A 19, 567, 23-25 , R 7971

113 S. o. S. 75 114 Ritter, a . a .O. , S. 296 115 „Hae potestates vel competunt singulis vel universis vel enti summo: status naturalis,

respublica, theocratica, repraesentativa." (A 19, 501, 28—30, R 7728) Zusammenhang s. o. S. 112 u. Anm. 112

116 S. o. S. 108, R 7708

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Page 46: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 115

D a drittens das Staatsrecht auf einer Idee der Souveränität beruht, muß die ganze Lehre des Staatsrechts einen ideellen und einen empirischen Teil haben, der die Idee des Rechts im Staat unter den Bedingungen der Erfahrung behandelt:

„Es ist sehr schädlich, in der Methode die Mittel der Ausführung mit den Bestimmungen der Idee zu vermengen. Ob ein gewisser Religionsvortrag leicht zu lehren sei, sich leicht ein-drücken läßt, ob wir viel oder wenig Vermögen haben, ob eine Regel des Rechts sehr gemiß-braucht werden könne. Ob Fürsten werden Neigung haben, sich demjenigen zu bequemen, was das Recht der Staaten ausmacht: davon ist hernach die Frage, wenn nur erst die Regel errichtet ist. Diese zu vereiteln ist der Hochverrat gegen die menschliche Vernunft." (A 19, 199/200, R 6897, 1776- 79)

Das eigentliche Staatsrecht, das auf Prinzipien a priori beruht, wie wir gesehen haben, muß von Staatsklugheit ergänzt werden:

„Staatsklugheit ist bloß (Sauf) empirische Prinzipien gegründet, Staatsrecht auf rationale. Man vermengt die Bedingungen der ersten bei dem Begriffe einer Staatsverfassung überhaupt mit dem letzteren." (A 19, 180/1, R 6855, 1776-89)

Deshalb müssen Ritters Einwände gegen die politische Urteilsfähigkeit Kants dort geprüft werden, w o Kant seine als rational erkannten Prinzipien mit der historischen Wirklichkeit konfrontiert, eben im Empirischen, w o sie ihn wirklich treffen könnten.

5 . 5 . 5 . D i e M e t h o d e d e r p o l i t i s c h e n U n t e r s u c h u n g n a c h M o n t e s q u i e u : D a s R e p r ä s e n t a t i v e in d e r w i r k l i c h e n V e r f a s s u n g

E s ist wenig verwunderlich, daß sich Kant in den 70er Jahren bei seinen ver-fassungspolitischen Erwägungen vor allem mit den ihn umgebenden Monarchien beschäftigt. So heißt es zum Beispiel:

„Der Monarch ist summus imperans: 1. weil er keinem bürgerlichen Zwange unterworfen ist. 2. Weil andere seiner Gewalt unterworfen sind. Die Monarchie ist entweder absolut oder limitiert. Im letzteren Falle ist seine Gewalt durch Gesetze restringiert, also muß seiner Ge-walt eine Gewalt des Volks entgegengesetzt sein. Nicht ihn zu zwingen oder zu richten, sondern bloß sich seiner Gewalt entgegenzusetzen, indem man die Werkzeuge seines Willens angreift. — In der Demokratie führt die Regierung der Senat. - In der Monarchie führt der Senat die Administration. — Despotisch ist der Monarch, der nicht die oberste Gewalt in Ansehung seiner Nachkommen unter eine Regel bringt." (A 19, 521, 14 -24 , R 7804, 1773 - 77)

D . h. Kant erklärt eine monarchische Verfassung nicht eo ipso zum Unding, sondern untersucht diese auf die Rechtlichkeit ihrer Institutionen, um eine klare Trennungslinie zwischen rechtlicher Herrschaft und Despotismus ziehen zu können. Eine solche Analyse der Rechtlichkeit liefert Kant ebenfalls für die preußische Verfassung:

„Der Souverain regiert durch den Minister und gibt durch sich selbst Gesetze. Das Direktorium ist eine Art Parlament, durch welches alle Edikte gehen müssen, ehe sie Gesetze werden. Edikte sind besonders begünstigende oder drückende Verordnungen, die einen Teil zum Vorteil anderer belästigen. E. g. Auflagen auf Äcker. Das Direktorium muß als Reprä-sentant des Volks in Pflicht genommen sein, aber vom Souverain ernannt werden. Es kann nur weigern zu registrieren und muß Abschied nehmen, dadurch wird der Wille des Souverains dahin limitiert, daß es ein souverainer Wille des Staats und dauerhaft vor die künftige Zeit sein

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116 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

kann. Der Souverain gibt also aus eigner Gewalt (obzwar mit fremder Beihilfe) Gesetz, regiert durch den Minister (Verordnungen gehören zur Regierung) und läßt durch eine andre Person den Gesetzen gemäß richten. Er richtet nicht durch andre, weil er sonst selbst Part und Richter sein würde." (A 19, 509, R 7760, 1773-78)

Nun mag es dem heutigen Leser abwegig erscheinen, noch in den Verwaltungs-instanzen Friedrich Wilhelms I., des Soldatenkönigs und Urhebers des General-direktoriums als oberster Verwaltungsbehörde, Elemente der Gewaltenteilung zu suchen und darin noch selbst das Rudiment einer Volksvertretung sehen zu wollen. Kant aber hatte für eine solche Verfassungsinterpretation zwei Gründe, einmal wiederum das Vorbild Montesquieus und zweitens die Eigenart der Gewaltenteilung aus der Idee der Souveränität.

Montesquieu richtet zwar sein Bild der englischen Verfassung als Modell einer freiheitlichen Verfassung überhaupt auf, merkt aber sehr wohl an, daß unter diesem Vorbild die verschiedensten Grade der Gewaltenteilung und Freiheitssicherung in den einzelnen Monarchien aufzufinden sind, indem er die englische Verfassung zu diesen folgendermaßen in Beziehung setzt:

„Les trois pouvoirs n'y" (in den übrigen bekannten Monarchien) „sont point distribués et fondus sur le modèle de la constitution dont nous avons parlé. Ils ont chacun une distribution particulière, selon laquelle ils approchent plus ou moins de la liberté politique; et s'ils n'en approchaient pas, la monarchie dégénérait en despotisme."117

Eben diesen G r a d e n der Rechtmäßigkeit in Abgrenzung zum Despotismus gilt Kants Beurteilung. Denn das Direktorium wird „eine Art Parlament" genannt, ebenso wie es nicht selbst Volksvertretung ist, sondern als selbständige Verfassungs-instanz nur in dem Maße gerechtfertigt werden kann, als es aus seiner Verwaltungs-praxis heraus die Bedürfnisse und die Kritik des Volks dem Monarchen gegenüber vorzutragen verpflichtet ist.118

Der zweite Grund solcher Analysen liegt darin, daß die Verfassung nicht in origi-nären Zwangsrechten des Volks, ζ. B. der rechtlichen Erzwingbarkeit einer direkten Volksvertretung, liegt, sondern auf der Idee eines unwiderstehlichen Obersten im Staat, ohne das ein Mitglied überhaupt kein wirkliches Recht besitzen kann.

So wie „zwischen dem imperante und den Gliedern der Sozietät kein pactum" ist (A 19, 509, R 7759), kann die Rechtmäßigkeit der Verfassung auf nichts anderes als die gedanklich zwingende Selbstzerlegung der Souveränität selbst zurückgehen. Diese Selbstzerlegung der Souveränität geschieht nun so, daß der Souverän seine Funk-tionen an andere Personen oder Behörden delegiert, damit die Handlungen dieser „Werkzeuge"1 1 9 gerichtlich überprüft werden und zugleich den Bürgerwillen wider-spiegeln können. Gerichtlich nicht überprüfbar darf nur die gesetzgebende Gewalt als Oberstes der Souveränität sein:

„Die Maiestät kommt dem zu, der gar nicht subordiniert ist; die Hoheit dem, der unter allen Subordinierten der Oberste ist. Die Regierung ist unter dem Gesetze, also hat sie keine

1 1 7 11, 7, a . a .O . , S. 174f. 1 1 8 Ebenso A 19, 518, R 7790 1 1 9 S. o. S. 115, R 7804

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 117

Majestät. Sie ist nicht heilig, denn sie kann mit Recht getadelt werden. Der Souverain kann nicht regieren, denn der Regent steht unter dem Gesetze, ist verbunden, darnach zu regieren, und kann getadelt werden. Dagegen ist das Gesetz (ex volúntate communi) untadelhaft, heilig. Die dignitas legislatoria ist also maiestas, er ist untadelhaft. Er erniedrigt sich, wenn er regiert. Er inspiziert nur den Regenten. (Das Volk kann sich selbst nicht regieren). Der Regent und noch weniger der Souverain kann richten. Aber der Richter kann auch urteilen über die Regierung, aber nicht valide, und der Souverain hat potestatem inspectoriam in Ansehung beider." (A 19, 500, R 7725, 1769-75)

Daß der Richter über die Regierung letztlich nicht rechtskräftig urteilen kann, liegt darin begründet, daß die Judikative die Staatsgewalt selbst nicht aufheben darf.

Diese Delegation aus den Funktionen der Souveränität setzt sich in Zweigen bis in die unteren Ämter fort. Zwar ist

„das richterliche Amt . . . jederzeit ein Geschäfte des subditi, denn der Richter ist genötigt, dem Gesetz gemäß zu urteilen und kann Unrecht tun, daher muß er auch dem Zwang unter-worfen werden" (A 19, 518, 14-16, R 7791, 1773 - 79),120

dennoch „setzt" der Souverän „andere Richter ein oder auch ein außerordentlich Gericht" oder läßt die „Glieder des Gerichts . . . von den magistratus, die das publicum vorstellen", ernennen (A 19, 515, 30-31 , 516, 3 - 4 , R 7781).121

Zwar richtet der Souverän selbst nicht „durch andere", weil er sonst „Part und Richter sein würde", aber trotzdem ist er, der sogar Richter nicht absetzen kann (A 19, 387, E 7463),122 es, der „eine andre Person gemäß den Gesetzen richten" „läßt" (A 19, 509, 2 0 - 2 1 , R 7760).123 D. h. die Bürger sprechen sich nicht Recht kraft eigener souveräner Rechte, sondern in der Delegation der obersten richterlichen Gewalt.

Ebenso verhält es sich mit den einzelnen Stufen der Verwaltung. Der Magistrat, der als Bindeglied zur Öffentlichkeit Richter ernennen kann, ist zwar, „der die Rechte der Bürger gegen sich administriert" (A 19, 549, R 7904), steht aber ganz eindeutig in der Abhängigkeit der hierarchischen Staatsverwaltung:

„Die Regierung besteht in der Einsetzung des ministerii, des Gouvernements und der Magistrate und der Inspektion auf dieselbe." (A 19, 550, R 7907, 1773 - 79)

Daß Kant bei der Erläuterung staatlicher Verwaltung die genannten Begriffe Prinz, Minister, Regent, Senat, Direktorium, Gouvernement, Magistrat, in wechselndem Zusammenhang teils in Anlehnung an die preußische Praxis, teils nach staatsrecht-licher Begriffsbildung124 benutzt, weist nur auf die mögliche empirische Vielfalt

120 Der folgende ^-Zusatz: „und dieweil er dies nicht kann, so entspringt die Ungereimtheit, daß man jemand Unrecht tun kann, ohne daß es erlaubt ist, ihm zu widerstehen" (A 19, 518, 16—18), betrifft die letzte Instanz, wo immerhin noch eine Begnadigung stattfinden kann.

121 Ganze Reflexion S. 111 122 Zu Achenwall, I .N. , 2, 128, Majestätsrecht constituendi iudices: „non abrogandi nisi coram

iudicio comitiali." 123 Ganze Reflexion S. 115f. 124 Ygi J j e Verwendung von magistrat bei Montesquieu, 11, 6. Es ist daher allein aus recht-

lichen Überlegungen heraus nicht zulässig, in diesem Magistrat, für den über Montesquieu hinaus der Königsberger Magistrat Vorbild gewesen sein dürfte, die Instanz irgendeiner

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118 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

der Delegation aus der Souveränität hin. 1 2 5 Eines aber haben alle genannten exeku-tiven wie judikativen Instanzen gemeinsam, daß sie alle ihre Aufgaben der Rechts-verwaltung nicht aus einem unmittelbaren Recht des Volkes, sondern aus der Souveränität selbst ziehen, dafür nach Kants Vorstellung aber so angelegt sind, daß sie sich unmittelbar an den Rechten und dem Rechtsverständnis der Bürger orien-tieren können.

Sieht damit aber Kant mit der Delegation aller Verwaltungsrechte aus der Souverä-nität den monarchischen Staat als Ideal des Rechtsstaates an? Das keineswegs. Denn das Gegenstück zur Interpretation des preußischen Direktoriums bildet folgende Ref lexion:

„Der souverainen Macht eines einzigen fehlt es an der gesetzgebrischen Gerechtigkeit (denn regieren kann er durch magistratum gerecht). Der republikanischen an einer gerechten Re-gierung. Der Demokratie an einer Gewalt, wie sie sich in Parteien trennen. Es fehlt jeder-zeit etwas." (A 19, 499, R 7720, 1769-75)

Daraus geht nämlich hervor, daß das Direktorium mit seinen Gegenvorstellungen den Mangel der monarchischen Gesetzgebung kaum mildern, geschweige den be-heben kann:

„Die Gesetzgebung muß ex volúntate communi hergenommen sein und nicht ex arbitrio quodam privato et in favorem." (A 19, 573 , 25 -26 , R 7987)126

Eine einzige Person aber dürfte kaum in der Lage sein, ein Gesetz auf seine wirk-liche konkrete Allgemeinverträglichkeit zu prüfen.

Dieser Förderung einer breit delegierten Gesetzgebung entspricht das englische Vorbi ld :

„Es gibt dreierlei Staatsverfassung (wo ein Wille ist, den kein anderer einschränkt), wo jedes einzelnen Wille, aber nicht von allen, sondern nur von einigen eingeschränkt wird (wo jedes Wille durch jedes andern eingeschränkt wird) und drei Regierungsarten bei eben derselben Staatsverfassung. E. g. England ist Demokratie als Staatsverfassung und Monarchie der Regie-rungsart nach. Es gibt keine gemischte Staatsverfassung, weil das summum imperium einig und unteilbar ist, aber wohl vermischte Regierungsart, wo England das Muster ist: 1. Staats-oberhaupt, 2. Untertanen, unter diesen aber: a. derjenige Teil, der ein Recht hat, des andern decreta zu beurteilen und zu verwerfen, b. der nur das Recht hat zu stimmen. Der erstere, nämlich der Adel, erhält also die Regierung den Gesetzen gemäß und hat potestatem inspectoriam." (A 19, 522, R 7807, 1773-75)'2 7

Allerdings meint Kant über das Beispiel der englischen Verfassung hinaus ebenfalls in der Nachfolge von Montesquieu noch in den 70er Jahren, daß, um die delegierte Gesetzgebung im Gleichgewicht zu halten, Stände überhaupt nötig seien:

Bürgervertretung oder kommunalen Selbstverwaltung zu sehen, die Kant weder staatsrecht-lich im Auge hatte noch der damalige Königsberger Magistrat erfüllte. Gegen Ritter, a .a .O. , S. 257

1 2 5 So weisen ζ. Β. A 19, 507/8, R 7753, 562, R 7949, 563, R 7951 auf keinen bestimmten Gebrauch hin, obwohl das Direktorium und Magistrate als untere Verwaltungsbehörden mit Selbstergänzung auf Kants unmittelbare Erfahrung zurückgehen.

1 2 6 S. o. S. 53 1 2 7 Vgl. Naturrecht Feyerabend S. 117, S. 125

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 119

„Es gibt eine einfache Statsverfassung, wenn nämlich jeder sich das Gesetz in Gemeinschaft mit andern gäbe und jeder sich selbst danach regierte. Soll aber außer der Gesetzgebung eine Gewalt dasein, jeden zu zwingen, danach zu handeln, und zugleich eine Macht der Erhaltung des Staats, so kann die Einrichtung nicht einfach sein, man mag einen einzigen Menschen oder einen Senat oder das ganze Volk zum Oberhaupt machen. Die alleinige Gewalt kann nicht einem einzigen zukommen. Es müssen immer drei Stände sein. Das Ansehen, die Würde, die Majestät, welche einander das Gleichgewicht halten. 1. Ein Oberhaupt 2. Das Volk, welches das größte Eigentum hat. 3. Ein Körper der Vornehmen, welche das größte corps reicher Leute ist, welche vereinigt sind und beiden vorigen das Gegengewicht halten. Dieses wird durch Ehre, das Volk durch Vorteil regiert." (A 19, 535, R 7853, 1775-79)1 2 8

Daß Kant diesen Gedanken in der zweiten Hälfte der 80er Jahre aufgibt, gehört zu einem anderen Wesenszug des kantischen Rechtsdenkens, der noch erwähnt werden muß. 1 2 9

Obwohl Kant seiner Lehre der Souveränität entsprechend alle öffentlichen Funk-tionen aus dieser ableitet, dürfte nach dem Gesagten weder zutreffen, daß Kant die Gewaltenteilung nicht als Mittel der Herrschaftskritik benutzt, noch daß ihm der Blick für politische Verhältnisse fehle. Der Grund für den Anschein des letzteren liegt vielmehr darin, daß die konkrete Delegation der Institutionen, die sich allerdings in der Realität, um dem Schutz des Rechts zu genügen, ein Gleichgewicht der Rechts-sicherung halten müssen, eine Sache der Empirie ist, der es aufgegeben ist, sich an der notwendigen Teilung der Souveränität zu prüfen. Diese Erfahrungslehre der wirk-lichen Institutionen gehört zur Rechtserfahrenheit und nicht zur Theorie des Staats-rechts selbst; daß Kant sich den rechtlichen Voraussetzungen der staatlichen Organe zuwendet und sich nicht in der Analyse von Erfahrungen erschöpft, ist keine Sache des politischen Blicks, den er in den Begründungen Montesquieus durchaus zu schätzen weiß, sondern eine notwendige Ergänzung von dessen empirischer Lehre des Staats rechts.

Die Reflexionen Kants lassen keinen Zweifel daran, daß die Gewaltenteilung, die in der Idee notwendig ist, in concreto vollständig durchgeführt werden muß: Beispiel ist die gerichtliche Oberprüfbarkeit aller Regierungs- und Verwaltungsakte, deutlichstes Beispiel aber die Unabhängigkeit der Richter, die weit entfernt von der obersten Staatsgewalt unter den Bürgern selbst bestimmt werden. Diese konkrete persönliche Entflechtung geht dem Souverän gegenüber so weit, daß in den Institutionen „seiner Gewalt eine Gewalt des Volks entgegengesetzt sein" muß (A 19, 521, 17—18, R 7804).130

128 Vgl. Montesquieu, 11, 6, a . a .O . , S. 167/8: „II y a toujours dans un état des gens distingués par la naissance, les richesses ou les honneurs; mais s'ils étaient confondus parmi le peuple, et s'ils n'y avaient qu'une voix comme les autres, la liberté commune serait leur esclavage, et ils n'auraient aucun intérêt à la défendre, parce que la plupart des résolutions seraient contre eux. La part qu'ils ont à la législation doit donc être proportionnée aux autres avantages qu'ils ont dans l'état: ce qui arrivera s'ils forment un corps qui ait droit d'arrêter les entre-prises du peuple, comme le peuple a droit d'arrêter les leurs." Ebenso A 19, 491, R 7691, vgl. A 15, 631, R 1446

129 Zuerst A 19, 568, R 7974; s. u. S. 171 130 Der Zusammenhang der Reflexion s. o. S. 115

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120 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Dennoch erklärt Kant, wie wir gesehen haben, nicht jeden Staat, der den absoluten Rechtsbedingungen nicht völlig entspricht, zur Unform, da die erfahrbare Selbst-zerlegung der Souveränität ein Prozeß in der Geschichte ist:

„Der Satz, daß die Regierung eines Despoten, wenn er selbst weise, d. i. geschickt und zu-gleich gut ist, die beste sei, hat darin einen Widerspruch, weil, wenn er das wäre, so würde er eine so unbillige Herrschaft nur so lange führen, bis er eine gesetzmäßige, da der Staat sich selbst regiert, eingeführt hätte. Aber die Regierungsart oder Staatsverfassung ist gewiß schlecht eben darum, daß die Bonität der Regierung auf den Willen des einzigen ankommt, ob er gut sei oder nicht." (A 19, 490, R 7687, 1769-75)

Die Vernunftgründe des Rechts müssen die Einsicht bewirken, daß ein Staat nicht von einer Person abhängen kann, rechtlich schon gar nicht von einer, die alle Gewalten der Souveränität in sich vereinigt. Die Einsicht in das Wesen des Rechts muß den Staat in Institutionen zerlegen, die nach Rechtsgesetzen selbständig — als automaton — das Leben des Staates ausmachen. Solche Rechtsinstitutionen aber können vorhanden sein in der Monarchie, in der ein einzelner gegen die Regeln des Rechts die Gesetze gibt, wenn dieser der Art nach so regiert, daß jeder Bürger nach Gewaltenteilung sein Recht finden kann, wie auch Montesquieu den meisten europä-ischen Monarchen bescheinigt, daß sie die Rechtsprechung von den anderen Gewalten trennen.131 Der Monarch wählt sich somit in der Regierungsart solche „Mittel",1 3 2

die dem Rechtsgesetz der Gewaltenteilung entsprechen, selbst wenn die Verfassung nicht mit diesem übereinstimmt. D. h. der Herrscher läßt wenigstens einen Teil der Funktionen der Souveränität von verschiedenen Personen repräsentieren.133

Kants Methode besteht nun darin, das Repräsentative in einer vorhandenen Ver-fassung gleichsam als Keim einer gedanklich notwendigen weiteren Entwicklung aufzuspüren. Daß es sich dabei um eine legitime Methode politischer Wissenschaft handelt, nämlich Institutionen auf ihre Rechtsgemäßheit zu prüfen und darin den Ansatz weiterer Rechtsentwicklung zu suchen, dürfte unbestritten sein.

5 . 5 . 6 . Das Staatsrecht zwischen Pos i t iv i smus und Idea l i smus : Wahl der R e p r ä s e n t a n t e n der S o u v e r ä n i t ä t durch das V o l k

Kant löst das Problem des Staatsrechts über einer Paradoxie. Während er das Problem des Rechtszwanges mit dem Hobbesianismus einer unwiderstehlichen Ge-walt löst, fügt er vielleicht noch in den 70er Jahren in eine Reflexion zu Rechts-bereichen, „worüber selbst der Privatwille nicht disponieren kann", ein: „Contra

1 3 1 11, 6, a . a .O . , S. 164: „Dans la plupart des royaumes de l'europe, le gouvernement est modéré, parce que le prince, qui a les deux premiers pouvoirs, laisse à ses sujets l'exercice du troisième."

1 3 2 A 19, 480, 5—6, R 7660: „ O b dieses eine Einteilung der Staatsverfassung oder der Regie-rungsart sei. Die letzte betrifft nur die Mittel und ist also akzidental." — Ich möchte diese Reflexion im Vergleich mit R 7807 (S. o. S. 118) nach 1772-75 datieren.

1 3 3 Vgl. Zum ewigen Frieden, 1. Def. Art., A 8, 351 ff.

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 121

H o b b e s " ( 19, 569 , 7 - 8 , R 7 9 7 5 ) , 1 3 4 ein Programm, in das er auch die Abhandlung „ V o m Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht" von 1793 stellt. Wie soll beides zusammenpassen?

Daß es eine Macht geben muß, die selbst über allen Rechtszwang erhaben ist, entzieht sich nach Kant als Ursprung des Staatsrechts jeder weiteren rationalen Auf-lösung:

„Der bürgerliche Zustand ist die Unterwerfung unter die Gesetze als Untertan. Der Oberste, dem die übrigen unterworfen sind, ist nicht Untertan, mithin außer dem bürgerlichen Zu-stande. Mithin ist seine rechtliche Verbindlichkeit und Beobachtung frei. Hier läßt sich das erste ebensowenig begreifen als in der Ontologie." (A 19, 499, R 7719, 1773-89)

Diese absolute Staatsmacht kann aber nur der ebenso absoluten Rechtsfähigkeit des Menschen entsprechend rechtlich verfahren, wenn sie selbst unter der Idee des Rechts begriffen und als menschliche Institution nach dieser bestimmt wird:

„Wehe dem, der das Gesetz oder die Idee der Vollkommenheit, die zum Muster dient, ver-fälscht, vor chimärisch ausgibt und seine Regel schon den Übeln akkomodiert, die er vor sich findet. — Menschen können durch gerechte Regierung immer besser werden, also können durch eine gute Regel die Hindernisse ihrer Exekutionen immer weniger werden; aber ist die Regel lächerlich gemacht oder verfälscht, so ist der Keim des Guten ausgerottet." (A 19, 499/ 500, R 7721, 1769-75)

D e r Grund für die Rechtmäßigkeit der Staatsgewalt selbst und dafür, daß diese nur an den Regeln des Rechts überhaupt gemessen werden kann, liegt darin, daß die Souveränität in der I d e e beim Volk selbst bleibt:

„Die bürgerliche Verfassung ist nicht willkürlich, sondern nach Gründen des Rechts um der Sicherheit des andern notwendig. Die Gesellschaft ist auch nicht die Ursache dieses Zu-standes, sondern die Wirkung. Der praktische souveräne Grund des Rechts macht eine Gesell-schaft, aber weil dieser Grund von aller Wille gegen einen andern, obzwar nicht von seinem eigenen sich unterwerfenden Willen hergenommen ist, so werden die Gesetze so angesehen als von allen gegeben." (A 19, 533, 2 5 - 3 1 , R 7847, 1775-78)

Wesentliches Kriterium der Rechtmäßigkeit der Staatsgewalt aus der Vorstellung der Souveränität des Volks ist, wie gezeigt, die notwendige Gewaltenteilung:

„Das Recht der Gesetzgebung ist beim Volk originarie, aber beim Monarchen derivative. Das der Regierung kann nur Derivation sein, weil die Exekution zwei opponierte Personen voraussetzt, da keiner in Ansehung des andern ius originarium hat." (A 19, 503, 23 —26, R 7734, 1773-77?)

Oder , wie es in der zweiten Hälfte der 80er Jahre heißt:

„Originario ist imperium beim Volk und bleibt auch bei ihm in der Idee. Regimen summum ist auch bei ihm, aber Magistrat nicht." (A 19, 567, R 7969)

D . h. der rechtlichen Notwendigkeit der faktischen Staatsgewalt steht ebenso die notwendige Vorstellung gegenüber, daß diese Gewalt nur um des wiederum absoluten

1 3 4 Der entsprechende Teil der Reflexion lautet: „NB. Dem summo imperanti (Beherrscher, Oberherr) steht nichts frei, worüber selbst der Privatwille nicht disponieren kann: (Arbi-trium), z. E. Moralität. Religion zu wählen. Sich selbst verkaufen (scontra Hobbes). Aber es steht ihm alles frei, wo jeder über sein Recht disponieren kann, e. g. Auflagen, Strafge-setze, Krieg, Frieden." (A 19, 569, 6 - 1 0 )

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Rechts der Bürger wegen errichtet ist und damit sowohl ein objektives Maß ihrer eigenen F o r m — der Gewaltenteilung — als auch der aus ihr hervorgehenden Gesetze und Maßnahmen besitzt.

D a ß zwischen diesen beiden Polen des Staatsrechts kein Raum für ein Recht zum Widerstand gegen die Staatsgewalt bleibt, ist eine einfache Folgerung daraus, daß es ohne Staatsgewalt kein Recht gibt, also die Vernichtung der Gewalt auch das Recht mitvernichtet, und andrerseits daraus, daß das Maß des Rechts für die Form und die Akte der Staatsgewalt nur eine Idee ist. Ebensowenig wie es aus der Idee des Rechts eine Rechtsgrundlage für die Tyrannis gibt, läßt das Wesen des Zwangsrechts ein Recht zum Widerstand zu, selbst wenn das Repräsentative in der Verfassung aufgehoben ist:

„Die Selbstverteidigung im statu naturali ist der einzige casus necessitatis ad agendum (per-missionis), aber in statu civili ist er niemals wozu anders als ad patiendum. Die höchste Obligation ist gegen das corpus civile. Wenn der Monarch in seinen Handlungen dasselbe nicht mehr repräsentiert, so hat das Volk ein Recht gegen ihn, wenn es ein corpus civile ohne ihn ausmachte. Da in einer souverainen Regierung dieses nicht ist, so hat die multitudo gar kein Recht und jeder einzelne tut dem Volke Unrecht, den Grund der unionis civilis anzu-fechten. Daher hat zwar der Souverain als einzelne Person kein Recht, einen Tyrannen vorzu-stellen, die Untertanen aber haben gegen ihn auch kein Zwangsrecht und werden von ihm im Falle einer Empörung oder eines Komplotts vermöge des Rechts als Oberhaupt des Staats oder als Regent gestraft." (A 19, 523, R 7810, 1773 - 75)

Selbst die faktische Unterwerfung unter eine Tyrannis unterliegt wie jede Handlung des Menschen den Regeln der sociabilitas, d. i. der Rechtssicherung und Wahr-haftigkeit :

„Dem Tyrannen geschieht kein Unrecht vom empörten Volk, aber der Regierung überhaupt und dem menschlichen Geschlechte, sofern es ein Mittel bedarf, sich zu regieren. — Wenn jemand durch Betrug das Seinige vindiziert oder vielmehr rekuperiert, so hat er Unrecht getan. Zuerst stellete man sich seiner Gewalt untertänig, nachher wirft man sie ab. Alles, was nicht aus freimütiger Deklaration geschehen kann, ist Unrecht, und selbst der Unterdrücker erwirbt ein Recht zu bestrafen durch die schändliche Treulosigkeit derer, die sich zum Scheine seiner Macht unterworfen haben." (A 19, 523, R 7811, 1772 - 75)

V o m diesem Verbot des Widerstandes rückt Kant an keiner Stelle ab . 1 3 5

Allerdings „darf sich widersetzen", „der das Staatsopfer werden sol l " (A 19, 551, 10—11, R 7911) , 1 3 6 weil es kein Recht sein kann, ein freiheitsfähiges Wesen als Mittel aufzuopfern. Dieses Recht betrifft aber nur das Opfer als Individuum selbst; ein

135 D i e t e r Henrich, Einleitung zu „Kant, Gentz, Rehberg - Über Theorie und Praxis", Frank-furt 1967, S. 27, irrt, wenn er eine Änderung in Kants Standpunkt für die 80er Jahre annimmt (A 19, 591-94, R 8043/4, R 8046, R 8061). Henrich mißversteht Kants Theorie der Gewaltenteilung und Repräsentation.

136 Di e ganze Reflexion lautet: „Das ist nicht ein Recht, dem andern sich zu widersetzen befugt sein. Einer von 1000 im Volk hat gegen die übrigen 999 ebenso viel Recht als diese gegen ihn. Die Menge gibt kein größeres Recht. Nicht der Staat, sondern ein Teil wird durch die Auf-opferung des andern erhalten. Wenn die übrigen dieses tun, so ist kein Mittel dawider, also keine Strafe derselben möglich, also coram foro humano ist es zulässig. Aber der das Staatsopfer werden soll, darf sich widersetzen; mithin beweiset dieses, daß die übrigen kein Recht hatten." (1776-89)

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 123

allgemeines Recht aber zur Aufhebung der Staatsgewalt kann „durch ein Gesetz . . . nicht eingeführt werden" (A 19, 523, 33, R 7812) und ist daher nach dem Inhalt des kategorischen Imperativs rechtlich unmöglich.137

Danach bleibt angesichts der Allmacht der Staatsgewalt als realer Übergang von der bloßen Gewalt zur Rechtmäßigkeit der Form dieser Gewalt wie schon in der 2. Phase der Rechtsphilosophie nur die Möglichkeit der Besserung: „in melius mutabilis":138

„Ein schon errichtetes gemeines Wesen kann wohl verbessert, aber nicht zerrissen werden." (A 19, 533, 31 -32 , R 7847)"»

Das unabdingliche Mittel dieser möglichen Besserung des Staates, d. h. die An-näherung der Staatsgewalt an die Rechtsform, ist das Recht der freien Meinungs-äußerung:

„Man muß darum beim Fürsten nicht alles Recht heißen, weil der Untertan gehorchen muß." (A 19, 533, 22 -23 , R 7846, 1772 - 77)

Nun erhebt sich allerdings die Frage, ob dieses Grundrecht der freien Meinungs-äußerung mit der Rechtsperson real existiert und verteidigt werden darf, zumal der Vernunftgebrauch selbst sozial abhängig ist,140 oder ob selbst dieses Recht erst vom Staat gewährt werden muß. In der Schrift „Was ist Aufklärung?" von 1784 und in der schon mehrfach erwähnten Schrift über ,Theorie und Praxis im Staatsrecht' von 1793 beantwortet Kant die Frage eindeutig dahingehend, daß selbst das Recht der freien Meinungsäußerung als Rechtsausübung anders als das Selbstdenken zwar von der „Vergünstigung des Oberherrn selbst" abhängt (A 8, 304, 9—10), aber daß der Oberherr dieses Recht als unverlierbar ohne Schaden für die öffentliche Sicherheit gewähren kann und als Bedingung des Rechtsstaates gewähren muß. Diese Lösung geht ebenfalls schon auf die zweite Hälfte der 70er Jahre zurück. Daß ein Volk rechtlich selbst nicht darüber bestimmen kann, was die Bedingungen des Vernunft-gebrauchs selbst betrifft, ist oben gezeigt worden.141 Es bleibt danach für Kant nur der Nachweis zu führen, unter welchen politischen Bedingungen am ehesten die freie Meinungsäußerung gewährt werden kann und warum sie tatsächlich keinem rechtlich

137 Widerstand gegen die Staatsgewalt ist formales Unrecht, A 19, 486/7, R 7680, 1772 - 77: „Der summus imperans tut Unrecht und könnte mit Gewalt gezwungen werden. Die Unter-tanen"' haben Recht, aber keine erlaubte Gewalt, und bedienen sie sich ihrer eignen, so tun sie nicht dem imperanti Unrecht, sondern es ist formaliter Unrecht. Sie handeln wider die Form des gemeinen Wesens und ihren Vertrag. Der Widerstand der Untertanen wider-spricht sich selbst und der geduldige Gehorsam ihrer Glückseligkeit, jenes entscheidet, "'('sie können sich niemals widersetzen, aber doch widerstehen, d. i. weigern, das an sich moralisch Unmögliche zu tun, und darüber alles erdulden. Die Ursache hiervon ist, weil der Mensch ein Tier ist, was nur unter dem Zwange gut ist, und da er zwingen soll, selbst Mensch ist. Es geschieht dem auch hierin kein Unrecht, der jederzeit die Bande des Rechts zerreißen will.)" Vgl. A 19, 509, R 7762; Theorie und Praxis im Staatsrecht, A 8, 303f., Naturrecht Feyerabend S. 127ff.

138 S. o. S. 52 139 Vorhergehender Text s. S. 121 140 S. o. S. lOOf. 141 S. o. S. 105

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124 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

schadet. Das Paradox, das Kant am Ende der Abhandlung von 1784 aufzeigt (A 8, 41, 23f f . ) , findet im Anthropologienachlaß folgende Form:

„ I n uneingeschränkter Regierung kann die Freiheit der Presse, die auf allgemeine Anord-nungen geht, (bei guter militärischer Subordination) erlaubt werden. Es sind Vorstellungen, welche die Gewalt gar nicht einschränken. Empörung ist dabei ein Hirngespinst." (A 15, 626, 4 - 7 , R 1432, 1776- 78)

Die Aussage der beiden letzten Sätze erläutert Kant im Nachlaß zur Rechtsphiloso-phie:

„ D e r Untertan kann nur Schutz gegen die Gewalt fordern; aber die Meinungen anderer sind keine Gewalt, sondern sogar die einzige Bedingung, seine eigne zu berichtigen." (A 19, 569, 2 6 - 2 8 , R 7975, 1778-1789)

Wie aber die Bürger untereinander sich durch Meinungen keine Gewalt antun, so tut es ebensowenig die Meinung des Bürgers dem Staat gegenüber. Wenn auch Kant die Verbesserung der staatlichen Verhältnisse auf den freien Gebrauch der Vernunft baut, so liegt die Möglichkeit dieser Rechtsausübung selbst in diesem entscheidenden Punkt wiederum darin begründet, daß die souveräne Gewalt im Staat als Repräsentant der Rechtsidee mit dieser selbst in Widerspruch gerät, wenn sie dieses Recht der Vernunftausübung nicht gewährt. D . h. allein der Überzeugungszwang in den Trägern der Staatsgewalt selbst, nicht ein im Bürger liegender Rechtszwang kann dieses Recht auf freie Meinungsäußerung wirklich machen. Daß sich aber staatlicher Rechtszwang und freie Meinungsäußerung keineswegs widersprechen, sondern sich im Gegenteil bedingen, beinhaltet das genannte Paradox.

Typisch für diesen Standpunkt Kants einer absoluten Staatsgewalt und eines eben-so notwendigen Rechts auf freie Meinungsäußerung ist die Verbindung von Hobbes Theorie mit eben diesem Recht in der Methodenlehre der K.d.r .V. :

„ A u c h nötigen die endlosen Streitigkeiten einer bloß dogmatischen Vernunft, endlich in irgendeiner Kritik dieser Vernunft selbst, und in einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen; so wie Hobbes behauptet: der Stand der Natur sei ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit und man müsse ihn notwendig verlassen, um sich dem gesetzlichen Zwange zu unterwerfen, der allein unsere Freiheit dahin einschränkt, daß sie mit jedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne. Zu dieser Freiheit gehört denn auch die, seine Gedanken, seine Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhi-gen und gefährlichen Bürger verschrien zu werden. Dies liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat; und, da von dieser alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muß, so ist ein solches Recht heilig und darf nicht geschmälert werden." (B 780)

Diese Polarisierung der Theorie des Staatsrechts zwischen Positivismus und Idealis-mus liegt im kritischen Freiheitsbegriff begründet:

„Würden die Menschen vollkommen einig im Willen sein, so wäre kein Gesetz nötig. Wären sie im Urteil über einen Fall einig, so wäre kein Richter nötig. Würden sie das Gute alles gern tun, so wäre kein Zwang nötig ." (A 19, 497, R 7710, 1769-75)

D . h. eine Gemeinschaft von Göttern hätte weder einen Staat noch Gewaltenteilung nötig; daß diese Aussage auf Tiere ebenso im umgekehrten Sinne zutrifft, ist aus sich

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Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 125

selbst klar. Daher muß die dem Menschen angemessene Lösung der Gesellschaft zwischen widerspruchsloser Gemeinschaft und reiner Zwangsform angesiedelt sein:

„Man verliert keine rechtmäßige Freiheit des status naturalis als nur die Gesetzlosigkeit, indem das Zwangsgesetz die Freiheit auf die Bedingungen der allgemeinen Sicherheit restrin-giert. Der Mensch muß unter Zwangsgesetzen stehen; dieses ist ein Beweis, daß er von Natur böse sei. Das Gute an ihm im gesitteten Zustande ist selbst die Wirkung des Zwanges, der unvermerkt ihm die Wildheit nimmt und die moralischen Beweggründe durch die Zurück-haltung der eigenliebigen entwickelt." (A 19, 510, R 7765, 1772 - 78)

Der Mensch, der sich gemäß seiner Freiheitsfähigkeit nach vernünftigen Friedens-regeln richten kann, muß, wenn dieser mögliche Friede sicher sein soll, dazu gezwungen werden können. Andrerseits aber darf die friedensgarantierende Macht die Freiheit, deren Ergänzungsstück sie bildet, nicht vernichten; d. h. sie muß wiederum nach Regeln verfahren, die aus der Freiheitsfähigkeit des Menschen selbst hervor-gehen, d. h. nach Rechtsregeln. Mit anderen Worten: die Staatsgewalt muß so zwingen, wie sich der freie Mensch selber zwingen könnte. So entspricht der mensch-lichen Freiheitsfähigkeit weder Freiheit ohne Zwang, da die Freiheit nur eine Möglichkeit ist, noch Zwang ohne Freiheit. Es bleibt daher dem Staatsrecht nur ein doppelter Weg, der des Positivismus und parallel dazu der des Idealismus, beide verbunden dadurch, daß der Positivismus den Frieden garantieren muß, und zwar in der Realität, der Idealismus als formales Gegenstück diesen aber auf seine Freiheits-und Rechtsmäßigkeit hin zu bestimmen, zu prüfen und zu diskutieren gezwungen ist. Das reale Ergebnis aus beidem ist ein Zwischenzustand, dem der Weg zum Besseren offensteht:

„Daß wir nicht ein Recht haben zu verlangen, nach der Idee von der vollkommenen Ge-rechtigkeit regiert zu werden, weil wir selbst immer müssen gezwungen werden." (A 19, 500, R 7723, 1 7 6 9 - 7 5 ) 1 4 2

Wiederum ist die Frage offen, ob Kant zwischen Staatsgewalt und Rechtsanspruch der Bürger über das allgemeine Recht freier Kommunikation hinaus nicht ein insti-tutionelles Band zwischen Herrscher und Beherrschtem vorsieht. Ein solches wird sichtbar in Kants Parteinahme für die Vereinigten Staaten von Amerika in deren Auseinandersetzung mit England. Wohl wenig nach der Unabhängigkeitserklärung notiert Kant:

„In der Geschichte Englands jetziger Zeit bringt ihre Unterwerfung von Amerika das kosmo-politische Andenken derselben weit zurück. Sie wollen: jene sollen Untertanen von Unter-tanen werden und auf sich die Last der andern abwälzen lassen. — Es kommt nicht auf gute Regierung, sondern Regierungsart an." (A 15, 630, R 1444)143

Kant wirft den Engländern vor, gegen die Gleichheit als Rechtsbedingung zu verstoßen, indem sie den Amerikanern keine Vertretung im Parlament zubilligen. Das Recht, Abgeordnete zu entsenden ist so wichtig, weil „die Verteilung" der Steuern „eine Sache der Untertanen" ist, „darüber sie streiten müssen." (A 19, 518, 7—8,

1 4 2 Vgl. R 6715 zitiert oben S. 77 ι « Vgl. den anekdotischen Bericht bei Reinhold Bernhard Jachmann, I. K. , geschildert in

Briefen an einen Freund, in I. K. , sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Darmstadt 1968, S. 153 f.

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126 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

R 7790, 1773—79). Angesichts dieser Vorstellung von bürgerlicher Selbstverwal-tung ist es wenig erstaunlich, zur gleichen Zeit die Forderung nach Wahl der eigenen Beherrscher als Vervollkommnung des formalen Rechtsstaates formuliert zu finden:

„Das Wesen aller Regierung besteht darin, daß ein jeder seine Glückseligkeit selbst besorge und ein jeder die Freiheit habe, in dieser Absicht mit jedem anderen in Verkehr zu treten. Das Amt der Regierung ist nicht: die Sorge den Privatpersonen abzunehmen, sondern nur: die Harmonie derselben zu bewirken, und zwar ohne Prädilektion, nach dem Gesetze der Gleich-heit. Das Mittel ist, daß von Harmonie der Teile zur Einheit des Ganzen geschritten wird und die Häupter also durch die Glieder bestimmt werden, welche sie nachher regieren sollen. In einem Stück ist eine Person nötig, die das Ganze vorstellt, ohne durch die Teile bestimmt zu sein, d. i. in Ansehung der äußeren Erhaltung." (A 15, 631/2, R 1447, 1776—78)144

In dieser Wahl der eigenen Beherrschung in Analogie zur Richterwahl145 ist dem

Untertanen ein direktes Mittel der Rechtsverwirklichung gegeben, indem dieser nur

die Person wählt, die er als Vertreter des Rechtsstandpunktes oder als Repräsentanten

der Rechtsidee anerkennen kann. Da nun die Souveränität ursprünglich beim Volk

selbst liegt, bestimmt der Bürger durch Wahl den Repräsentanten seines eigenen

Rechts willens.146 Die Selbstwahl der Beherrschung wird damit zum Bindeglied

zwischen Rechtspositivismus und Rechtsidealismus.

A n diesem Punkt wird der Geist von Kants Rechtsphilosophie deutlich.

Dieser besteht nun ganz eindeutig darin, das Rechtsbewußtsein gegen jede Form

der Unrechtsherrschaft in Bewegung zu setzen. In dieser Aktivierung des rechtlichen

Gleichheitsbewußtseins spricht sich Kant Originalität zu:

„Einige haben die Staatsverfassung verglichen mit einer Herde und dem Hirten. Der Fürst hält sein Volk wie das liebe Vieh, er schiert ihm die Wolle knapp ab, läßt sie nicht nach ihrem, sondern seinem Sinn weiden, und davor, daß er sie durch seine Hunde wider den Wolf bewacht, speiset er sie auf; andre mit einer Familie und dem Hausvater. Der Oberherr trak-tiert die Untertanen wie rotzige Jungen, läßt ihnen keinen Verstand als zum Gehorchen und ist der allgemeine Eigentümer: Jesuiten in Paraguay. . . . Keiner hat sie verglichen mit der Ver-bindung der Nachbarn und ihren Ältesten." (A 19, 514, 9 -16 , 21-22, R 7779)147

Was Kant unter den Ältesten versteht, zeigt die Reflexion 7618:

„Der Vater verändert sich aus dem Gebieter in den Ältesten, wenn die Kinder mündig sind, und hat nicht mehr Recht als über seine jüngeren Geschwister." (A 19, 471, 4—6)

D. h. Kant fordert für den Staat die Herrschaft der erfahrenen Gleichen über die

mündigen Gleichen. Mit dieser Forderung der Herrschaft durch Gleiche verbindet er

herbe Kritik an den zeitgenössischen Verhältnissen, wenn er fortsetzt:

„Wir können die jetzige mit einem Bienenstock vergleichen, welchen jemand nur darum gegen Witterung und Raubbienen schützt, damit er ihm etwas von dem Honig nehme, den sie vor sich gesammelt haben. Sie nehmen jetzt nicht mehr den Oberfluß, sondern die Notdurft. Der Stock schwärmt nicht mehr, die Bienen verzehren ihren Rest und sterben in Faulheit." (A 19, 514, 21-27 , R 7779)

144 Kant mag mit letztgenannter Person den englischen König im Auge gehabt haben; der Begriff selbst aber trifft auf jedes Staatsoberhaupt zu.

145 S. o. S. 111 146 Vgl. Rechtslehre § 52 147 Der hier ausgelassene Teil der Reflexion s. S. 109"

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Das kritische Privatrecht 127

Diese Kritik läßt sich umkehren: Da aus dem Begriff des Rechtsstaates materielle Gleichheit aller Staatsglieder nicht zu den Prinzipien des Staates gehören kann, muß der materielle Ausgleich, die Sicherung des Lebensunterhalts und die Erweiterung der materiellen Basis des Lebens der einzelnen durch Abbau staatlicher Schranken und durch gleichen Rechtsbesitz verwirklicht werden. Dieser Rechtsbesitz, der sich im Ansehen der Gerichte, „der Friedensrichter, worunter alles Militär steht, und alle erdenklichen remedia iuris", widerspiegelt, „ist das wahre Mittel, den echten Stolz, den arbeitsamen Eifer, den Patriotismus, die Verdienste emporzubringen." (A 19, 517, 2 - 5 , R 7786, 1769-75)

Das Ziel der Kritik einzelner Rechtszustände148 und der Mobilisierung des Rechts-bewußtseins der Bürger ist, diese in den Stand zu setzen, daß „der Volkswille" im Zuge der Selbstzerlegung der Souveränität in der Gesetzgebung der Staatsgewalt „widerstehen" kann, wie es in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einmal heißt (A 19, 573, 8—9, R 7985). Damit wählt der Bürger nicht die Beherrschung selbst, denn dieser ist er immer unterworfen, sondern in den Repräsentanten der Souveränität die A r t seiner Beherrschung, nämlich daß sie nach Rechtsgrundsätzen geschieht.

Angesichts dieser Verteidigung des Rechts kann nicht im entferntesten die Rede davon sein, „die Gewalt . . . mache . . . das Recht", sie „möge hinkommen, wo sie wollte" (A 19, 483, 17-18 , R 7667).149

5.6 Das kritische Privatrecht

Der formale Rechtsstaat ist nach Kant die Form des Rechts der einzelnen Bürger; d. h. es kann kein Staatsrecht geben ohne Privatrecht, bzw. stellt ein Staat, in dem jede privatrechtliche Überlegung zur Vergeblichkeit verurteilt wäre, eine grenzenlose Tyrannis ohne jede Hoffnung auf Besserung dar.

5 .6 .1 . D i e Ehe a ls R e c h t s g e m e i n s c h a f t

Eine einheitliche Theoriebildung, die Naturzweck und Rechtsbegriff unmittelbar verbindet, ist nach 1772 nicht mehr möglich, da der kritische Freiheitsbegriff gerade darin besteht, daß der Mensch, wenn er eine freie Rechtsperson sein will, einen Standpunkt gänzlich außerhalb der Naturordnung einnimmt.

Die Eigenschaft des Menschen, sich selbst frei zu bestimmen und nicht naturkausal bestimmt zu werden, ist die Persönlichkeit, deren Gegenbegriff die Sache, über die disponiert wird. Nun ist das Besondere im Gebrauch der Geschlechtsteile, daß die Geschlechtspartner gegenseitig Objekte werden, so daß folgendes Satzpaar entsteht:

148 Monopole A 19, 511, R 7768; Rekrutierungspraxis in Preußen A 19, 516, 19-27, R 7786; Zinsen A 19, 550, R 7908

149 S. o. S. 99

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128 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Der Mensch ist nach dem Zweck der Freiheit Persönlichkeit und nicht Sache; der Mensch ist nach dem Zweck der Natur Sache; — oder nach der Nachschrift Powalski:

„Diese Neigung gründet sich auf die innigste Vereinigung, die unter den Menschen aufgerich-tet werden soll, weil diese Personen alsdann gegenseitige Objekte werden. Dies war der Zweck der Natur." (A 27, 1, 215, 3 4 - 3 6 )

Das Problem, das sich Kant nach 1772 stellt, ist daher, wie eine Rechtsform gefunden werden kann, in der der Mensch sowohl Sache als auch Nicht-Sache sein kann.

Allein aus dieser Fragestellung ergeben sich zwei Argumentationsbereiche, einmal nämlich die Analyse des Sachcharakters im Gebrauch der Geschlechtsteile, zum andern die Klärung des Verhältnisses der Person zu sich selbst als Sache.

Wenn Kant den Sachcharakter des Gebrauchs der Geschlechtseigenschaften be-hauptet, muß er nachweisen, daß der Geschlechtsverkehr keine Gefälligkeit ist, die nichts kostet und in der man selber nichts verliert — wie etwa in einem Geschäft, in dem der Aufwand durch den Gewinn ausgeglichen wird —, keine Dienstleistung, über die ich einen Vertrag abschließen kann, sondern ein unmittelbarer Appetit und Genuß wie der von Nahrungsmitteln, dessen Wesen wiederum der Verbrauch ist:

„Denn dieses ist nicht ein Dienst, den uns der andere tut, sondern ein wirklicher Genuß." (A 27, 1, 215 , 23—24) 1 5 0

„ W i r haben nur zweierlei Genuß eines Menschen von dem andern (des Fleisches): der kannibalische oder der wollüstige Genuß. Der letztere läßt die Person übrig." 1 5 1 (A 19, 481 , 1 1 - 1 3 , R 7662, 1772 - 77) „Der Gebrauch seines Geschlechtsvermögens ist auch ein V e r b r a u c h (abusus) desselben. Daher ist in diesen Handlungen immer etwas, was die Menschheit abwürdigt." (A 19, 540, R 7865, 1 7 6 9 - 7 8 )

Im Anhang zur Rechtslehre erläutert Kant diesen Verbrauch am Mann mit Hilfe der Vorstellung, daß das Geschlechtsvermögen durch „Erschöpfungen aufgezehrt wird" (A 6, 360, 2), eine Lehrmeinung, die er u. a. Darjes' Discours entnehmen konnte:

„Ex rationibus physicis kann man die Sache noch besser beurteilen. Die Säfte, die wir zum Samen brauchen, sind die reinesten. Mißbrauchen wir diese, so bringen wir uns um unsere Stärke, um unsere Gesundheit." 1 5 2

Den Verbrauch an der Frau macht Kant an der gesundheitlichen Gefährdung deutlich, die mit der Schwangerschaft bis hin zur Möglichkeit einer ,tödlichen Niederkunft' verbunden ist (A 6, 359, 36).

Daß aber diese Abnutzung im Gebrauch der Geschlechtseigenschaften keinen Rechtsgrund für die Notwendigkeit der Einehe darstellt, geht daraus hervor, wie Kant in der Nachschrift Collins die Lehrmeinungen seiner Vorläufer beurteilt:

1 5 0 Vgl. u. S. 146. Ebenso A 19, 543, R 7879. In der Nachschrift Collins vergleicht Kant Appetit und Genuß in der Geschlechterneigung mit dem Auspressen und Wegwerfen einer Zitrone (A 27, 1, 384, 3 1 - 3 3 ) und dem Stillen des Hungers mit Hilfe eines Schweine-bratens (A 27, 1, 386, 2 9 - 3 6 ) .

1 5 1 Ebenso Rechtslehre Anhang A 6, 359, 3 3 - 3 4 1 5 2 Disc. S. 809 ad § 569

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Das kritische Privatrecht 129

„Alle Philosophen setzen dieser" (Geschlechter-) „Neigung nur die Schädlichkeit und die Zerrüttung teils seines Körpers, teils des gemeinen Wesens entgegen und glauben, daß in der Handlung an sich nichts Verächtliches wäre." (A 27, 1, 386, 3—6)

D . h. eine Einschränkung der Abnutzung, die aus dem Umgang mit vielen Geschlechtspartnern entstünde, durch Monogamie ist nicht mehr als eine Maßnahme der Zweckmäßigkeit , aber noch lange keine Handlung des Rechts.

Die R e c h t s l ö s u n g entsteht vielmehr aus dem Verhältnis der Rechtspersönlichkeit zu ihrem Körper . In den Bemerkungen ' hatte Kant dieses Verhältnis mit Hilfe des naturalistischen Selbstbesitzes erklärt .1 5 3 Diese These weist er jetzt eindeutig zurück:

„Alle Gliedmaßen, alle Vermögen sind unsrer Willkür unterworfen und gehören uns gleich-sam an. Wären sie durch uns selbst notwendig da, so würde unsere Freiheit mit ihrem geziemenden Gebrauch jederzeit übereinstimmen. Nun sind sie akquiriert oder deriviert auf uns, und es muß also ein Titel sein, unter dem wir sie besitzen und eine Einschränkung der Befugnis, uns derselben zu bedienen. Die Rechte eines zufälligen Wesens gründen sich auf seine Verbindlichkeiten." (A 19, 539, 32-540, 6, R 7864)154

Faktisch hat der Mensch die Möglichkeit, seine eigenen Gliedmaßen zu veräußern oder die anderer zu rauben; so nennt Kant als Beispiel einen Zahn und einen Finger (A 27, 1, 215, 1 8 - 2 0 ; A 27, 1, 346, 2 6 - 2 9 ; 386, 2 9 - 3 0 ) . Der Rechtsgrund aber für den Besitz liegt in der Anerkennung der „Uberlieferungen der Menschheit in unsre Vorsorge" (A 19, 539, 21 — 11, R 7864), d. h. wir erwerben unsere eigenen Körper nu r gemäß der Vorstellung gemeinsamer natürlicher Eigenschaften des Menschen:

„Ich akquiriere alles dieses nur conformiter mit der Idee der Menschheit." (A 19, 538, 27-28, R 7862, 1776-89)

Die Erwerbung selbst besteht darin, daß ich mich verbindlich mache, den „Ge-b rauch" „unsrer natürlichen Absichten" „unter eine beständige Regel" zu „bringen, damit wi r nicht nach Instinkt über die Menschheit disponieren" (A 19, 539, 27—31, R 7864). D . h. der Mensch hat nur insofern ein Recht an seinem Körper, als er diesen unter dem Gebrauch seiner vernünftigen Freiheitsfähigkeit betrachtet, da er im anderen Falle teilbar ist wie jeder andere Gegenstand auch. Damit geht das Rechts-verhältnis des Menschen zu seinem Körper unmittelbar auf den kritischen Freiheits-begriff als Möglichkeit eines Standpunktes außerhalb der Naturordnung zurück, nämlich „nach dem Rechte der Menschheit, daß . . . seiner freien Willkür das übrige (Tierische) untergeben w o r d e n " (A 19, 538, 1 2 - 1 3 , R 7861, 1776-89) .

Wenn ein Mensch nun sich selbst und einen anderen Menschen zum Gegenstand machen will, wie es im Gebrauch der Geschlechtseigenschaften Zweck der Natur ist, dann ist das nur unter der Bedingung möglich, daß er den Körper und damit die Person des Geschlechtspartners unter Regeln des Freiheitsgebrauchs ebenso erwirbt, wie er seinen eigenen Körper erworben hat:

„Ich kann nicht aus der Person des andern einen Gegenstand meines Appetits machen und darüber disponieren, ohne mich selbst zu erniedrigen und auch den andern. Damit diese Unterwerfung aufgehoben werde, muß ein jeder Teil mit seinen Geschlechtseigenschaften zur Proprietät des andern gehören und umgekehrt, also zur Proprietät der Gemeinschaft,

153 S. o. S. 28 154 Datierung handschriftlich 1769?? 1776-78?; 1769 scheidet durch R 6801 aus. S. o. S. 78

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130 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

und dieses Recht ist nicht transmissibel noch mit andern zu teilen möglich."155 (A 19, 543, 1 9 - 2 5 , R 7879)

Daß dieser Erwerb für das ganze Leben gelten muß, geht aus dem Begriff des

wechselseitigen Selbsterwerbs hervor. Die entstehende Gemeinschaft ist „permutatio

iurium stricte dicta" (A 19, 542, 13—14, R 7874) und „communio voluntatis ac

iur ium" (A 19, 543, 3 3 - 3 4 , R 7880): Rechtsgemeinschaft. Daß in dieser Rechts-

gemeinschaft der Begriff einer Lebens- und Schicksalsgemeinschaft analytisch ent-

halten ist, braucht kaum erwähnt zu werden. 1 5 6

In dieser Ehetheorie steckt ebenso die grundsätzliche Gleichheit der Ehepartner:

„Die coniunctio ist nicht subordinationis, sondern consociationis, also unio voluntatum, also

nicht subiectio" (A 19, 542, 14 -15 , R 7874, 1776-78),

wenn Kant auch ein Prärogativ dem Mann in der Disposition der äußeren Geschäfts-

verhältnisse zuspricht, dem die Frau sich nicht zu unterwerfen, sondern trotz der

grundsätzlichen Gleichheit unterzuordnen (subordinare) hat (A 19, 542, 15—19,

R 7874) ; denn:

„Das Recht des Mannes zur Herrschaft im Hause gründet sich auf die Verbindlichkeit desselben, es zu erhalten." (A 15, 563, 3 - 4 , R 1278, 1772 - 78)157

Ebenso ist mit dem Erwerb einer Person, nicht der einer bestimmten Leistung, das

Verhältnis der Ehe zum Naturzweck geklärt:

„Der Grund der Rechtmäßigkeit der Ehen nach der ehelichen Gemeinschaft ist nicht procreatio sobolis, sondern usus facultatum sexualium; daher deren Mangel die Ehe im Anfang trennt. Jenes kann auch nicht versprochen werden. Sterilität. . . . Man verspricht sich nur die Geschlechtsgemeinschaft." (A 19, 465, R 7597, 1769- 89) „Die Ehe mit einer alten Frau ist erlaubt; denn ihre Unfähigkeit, Alters wegen nicht zu ge-bären, ist der Natur zuzuschreiben, der Instinkt zu kohabitieren aber auch." (A 19, 542, R 7852, 1776-89) . 1 5 8

N u n hebt Christian Ritter die anthropologischen Analysen zur Ehe in den

,Beobachtungen' und .Bemerkungen' positiv vom ,schalen Genußvertragsverhältnis'

ab, „wie es die M.d.S . erkennen zu lassen" scheint. 1 5 9 Es dürfte klar geworden sein,

155 Vgl . A 19, 543, 2 7 - 3 4 , R 7880 156 Vg¡ a 27, 1, 388, 3 5 - 3 7 Collins. - Von dieser Interpretation her ergibt sich die Da-

tierung der Reflexionen zum Eherecht, die die Akademie-Ausgabe der Phase κ zuordnet. Wir sind vom Selbsterwerb der Person ausgegangen, gemäß den Reflexionen 7861/62, 1776— 1778. Der gleichen Zeit ordnen wir des Inhalts wegen die Reflexion 7864 zu. Vom gegen-seitigen Erwerb handeln ebenfalls die Reflexionen 7600 (A 19, 466) und 7605 (A 19, 467). Daß „niemand . . . sein eigen Eigentum" ist (A 19, 458, 25), zeigt die Reflexion 7572. „Man lädiert die Menschheit, wenn man wider die Mittel ihrer wesentlichen Zwecke handelt, aber nicht, wenn man solche nicht befördert" (A 19, 458, 13-15 , R 7571), stellt ebenso wie die Reflexion 7594 (A 19, 464/5) den Bezug zur Reflexion 6801 (s.o. S. 78) her und darüber hinaus zum Rechtstitel des Selbsterwerbs. Die Reflexion 7580, die den Gebrauch der Ge-schlechtsgliedmaßen nach dem dominium directum und dem dominum utile, Achenwall folgend (I.N.\ 1, 162), betrachtet, ist datiert durch Reflexion 7661 (A 19, 481, 1772), der sinngemäß A 19, 460, 21 ff., R 7580 anzufügen wäre.

157 Ebenso A 19, 463, R 7587; 465, R 7595; vgl. Rechtslehre § 26, A 6, 279, 1 6 - 2 6 158 Ebenso A 19, 461, 14 -22 , R 7580 159 a . a . O . , S. 60

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D a s kritische Privatrecht 131

daß dieses Urteil Ritters die Fragestellung Kants bis zur Umkehrung mißversteht. Daß aber die Ehe trotz des wechselseitigen Erwerbs nicht auf Vertrag beruht, hat die Diskussion des Rechtszwanges in der Ehe zum Ergebnis. Das Problem formuliert Kant folgendermaßen:

„ M a n m u ß beweisen, daß ein W e i b , wenn sie sich auch willkürlich dem Manne zum Gebrauch überlassen hat, dennoch facto ein Recht b e k o m m e n hat, ihn zu einer Ehe zu zwin-gen ( factum Obligatorium), und dieses entweder um der Pflicht der Menschheit willen oder u m des Kindes willen. Jenes ist natür l ich . " (A 19, 460 , R 7579, 1 7 6 9 - 7 8 )

Zumindest bis in die Phase ρ scheint Kant in der Lösung geschwankt zu haben. Einmal widerspricht er dem Satz Ulpians: „Nuptias non concubitus, sed consensus f a c i t , " 1 6 0 dann wieder folgt er ihm:

„ D a s c o m m e r c i u m sexuale ist unter keiner andern Kondi t ion als des matrimonii erlaubt. W e r von beiden Tei len dem andern dieses ausschlägt, hat sozusagen der conditioni tacitae des actus entgegengehandelt , oder vielmehr der dadurch leidet, kann den andern zur Ehe zwingen, weil aus einer natürlich unerlaubten Handlung man alle entspringenden Schäden reparieren und alles wieder der N a t u r gemäß einrichten m u ß . " (A 19, 459 , 4 - 9 , R 7 5 7 2 ) 1 6 1

Daß eine Ehe aber gerade nicht tacite geschlossen und dann erzwungen werden könne, sagt folgende Reflexion:

„ E s fragt s ich, o b das pactum matrimoniale vor dem usu mutuo sexuali vorausgehe oder da-durch tacite anfange. A n t w o r t : weil alsdenn praesumiert werden kann, die Frau sowohl als der Mann habe die Absicht utendi, fruendi re sua, so ist dadurch das dominium utile nicht tradiert, sondern vielmehr ein G r u n d , kein solches pactum einzugehen. W e m gehöret aber das K i n d ? " ( A 19, 4 6 2 , R 7 5 8 5 , 1 7 6 9 - 7 5 ) 1 «

Die Begründung für die These, daß ein Zwangsrecht nicht stattfindet, wird in der 2. Hälfte der 70er Jahre aus dem möglichen Selbsterwerb geliefert, der nicht auf einem Zwangsrecht beruht, sondern auf einer Verbindlichkeit aus dem Freiheitsbegriff selbst:

„ M a n kann nicht durch Zwang gehindert werden, sich selbst in Ansehung des commerci i sexualis wegzuwerfen , aber man hat ein Recht , ein solches pactum zu zerreißen, und ist n icht gebunden. — Pactum naturaliter illicitum ist auch iur idice . " (A 19, 540, . 26—29, R 7 8 6 6 ) 1 6 3

Dem steht aber dennoch Kants durch den notwendigen wechselseitigen Erwerb begründete These gegenüber, daß die Geschlechtsgemeinschaft selbst schon die Ehe mit allen Rechtsfolgen notwendig macht, d. h. daß die Eigenart der Geschlechts-gemeinschaft überhaupt eine solche lebenslange Gemeinschaft, die z. B. als Hilfsge-meinschaft unter Freunden unbegründet wäre, erfordert, so daß ein Satzpaar entsteht, daß nämlich die Ehe als Rechtsfolge einerseits tacite mit dem bloßen Genuß beginne und daher erzwungen werden kann, andrerseits aber nur mit dem Vertrag, der nichts

1 6 0 D i g . 5 0 , 17 , 3 0 1 6 1 E b e n s o A 19, 4 6 0 , 2 9 - 4 6 Ì , 2 , R 7580 1 6 2 Se lbst wenn die Ref lexion nach κ—λ zu datieren sein sollte, widerspricht sie immer noch

A 19, 4 5 7 , 15, R 7567 ; s. o . S. 67 1 6 3 D e m entspricht : „ N o t z ü c h t i g u n g ist kriminell , nicht s t u p n i m . " A 19, 536 , 11, R 7856 ,

1 7 7 5 - 7 7

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1 3 2 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

anderes sagt, als daß die Geschlechtspartner sich gegenseitig mit allen Rechten und Pflichten erwerben wollen.

Die Lösung dieses Satzpaares im § 27 der Rechtslehre, daß „die Erwerbung einer Gattin oder eines Gatten . . . also nicht facto (durch die Beiwohnung) ohne vorhergehenden Vertrag, auch nicht pacto (durch den bloßen ehelichen Vertrag ohne nachfolgende Beiwohnung), sondern nur lege" geschieht (A 6, 280, 1—4),

findet sich allerdings zuerst in der Argumentation zum Elternrecht in die 70er Jahre datiert;164 es sei dahingestellt, ob die inhaltliche Parallele der Reflexion 7870, die sowohl in die zweite Hälfte der 70er als auch in die 80er Jahre gehören kann, die frühe Datierung sichert:

„Die erste Sozietät entsteht durch Instinkt (die Ordnung nach Gesetzen), die zweite aus Pflicht, die dritte aus Gemächlichkeit." (A 19, 541, 1 7 - 1 8 )

(Kant mein hier in der Reihenfolge von Achenwalls § 41 die eheliche, elterliche und die hausherrliche Gesellschaft.) Nicht der Instinkt selbst ist der Grund der Ehe, im Gegenteil zwingt der Naturzweck den Menschen, den Gebrauch des Instinkts dem Gesetz seiner vernünftigen Anwendung gemäß zu ordnen.

5 .6 .2 . Das E l t e r n r e c h t : G ib t es e in Z w a n g s r e c h t des K indes ?

In den ,Bemerkungen' begründet Kant das Recht zwischen Eltern und Kindern unter Anwendung des Satzes vom Widerspruch mit Hilfe seiner naturalistischen Willenstheorie:

„Der Gehorsam des Kindes gegen die Eltern gründet sich nicht 1. auf Dankbarkeit, 2. nicht darauf, daß sie sich nicht selbst erhalten können, denn das wäre auf den Nutzen gegründet, sondern weil sie keinen eignen kompletten Willen haben und es gut ist, durch den Willen anderer dirigiert zu werden. Da sie aber sofern eine Sache der Eltern sein, weil sie nur durch ihre Wil lkür leben, so ist es moralisch gut, von ihnen regiert zu werden. Können sie sich selbst ernähren, so hört der Gehorsam auf." (A 20, 67, 11 — 17)

Die Argumentation, die sich aus dem Zusammenhang ergibt, in der der Text steht, ist folgende: Wie es ein Widerspruch ist, wenn sich ein mit einem freien Willen be-gabtes Wesen — also ein Erwachsener — von einem fremden Willen lenken läßt und damit auf seinen freien Willen verzichtet, so ist es ein Widerspruch, wenn ein Wesen, das keinen freien Willen besitzt, ein Kind, nicht von einem freien geleitet wird. Dieses Verhältnis eines unvollständigen zu einem „kompletten" Willen läßt sich ebenso auf die Beziehung des menschlichen Willens zum göttlichen übertragen:

„ W i r gehören gleichsam zu den göttlichen Sachen und sind durch ihn und seinen Willen. Es kann manches dem Willen Gottes gemäß sein, was aus inneren Bewegungsgründen gar nicht gut wäre, e. g. seinen Sohn zu schlachten. Die Bonität des Gehorsams beruht nun darauf. Mein Wille nach seiner Bestimmung ist jederzeit dem Willen Gottes unterworfen, er stimmt also mit sich selbst am besten zusammen, wenn er mit dem göttlichen zusammenstimmt, und es ist unmöglich, daß es böse sei, dem göttlichen Willen gemäß zu sein." (A 20, 68, 1—8)

1 6 4 S. u. S. 137

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Das kritische Privatrecht 133

Nun schließt Kant aus dem unvollständigen Willen des Kindes in Bezug auf die Eltern und des Menschen auf Gott, daß die ersteren „eine Sache der Eltern" sind und „wir . . . gleichsam zu den göttlichen Sachen" gehören. Dieser Sachcharakter liegt einerseits in der Abhängigkeit als Produkt „durch ihre Willkür" bzw. „durch ihn und seinen Willen", andrerseits in der Unvollständigkeit des Wesens selbst begründet, wie Kant in ähnlichem Zusammenhang das Tier vom Menschen eben durch die mangelnde Vollständigkeit unterscheidet:

„Ein Tier ist noch nicht ein komplettes Wesen, weil es sich seiner selbst nicht bewußt ist . . ., und es weiß nicht von seinem eignen Dasein." (A 20, 93, 16—17, 20)165

Aus dieser Argumentation eine Grenze zwischen einem Kind und einem Tier zu ziehen, dürfte schwer fallen.

Eben dieses Problem des Kindes als eines unvollständigen Wesens und einer Sache greift Kant in der Frage zu Achenwall wohl um 1770 auf:

„Warum Kindermord nicht erlaubt sei?" (A 19, 468, R 7609)

Kants Autor nämlich ist es, der das Elternrecht aus dem Recht an der eigenen Produktion ableitet:

„Si quis iuste efficit, ut aliquid existât, eo animo, ut sit suum, id, cuius existentiam efficit, seu id, quod producit, adquirit. Eatenus quidquid facto meo iusto produco, illud fit meum."1 6 6

Der Rechtsschutz des Kindes beruht demgegenüber einerseits auf dem göttlichen Recht der Selbsterhaltung, das dem Kind als Mensch zukommt, andrerseits auf dem Inhalt des Ehevertrages, der die Erzeugung und Erziehung von Kindern vorsieht. Die Eltern und das Kind bilden demnach auch ohne Vertrag, „citra pactum"167 eine Gesellschaft. Allerdings kommt dem Kind entsprechend der Unterscheidung des ius perfectum und des ius strictum168 kein Zwangsrecht auf Erziehung zu, es hat diese vielmehr als eine reine Wohltat anzuerkennen.169

An dieser Begründung Achenwalls aus dem Recht an der Produktion setzt Kant an: „Die Eltern akquirieren das Kind iure rei suae, h. e. iure ventris; daher insofern das Kind nicht als persona angesehen wird, daher es nicht sui iuris sein kann, also ad suum alterius ent-weder gehöret oder ist nullius et cedit occupanti. — Der status parentalis vel est internus oder externus; das ius status parentalis interni parentis respectu liberorum in nativitate est reale et sensim fit personale. Aber das ius status parentalis externum ist." (A 19, 467/8, R 7606, 1766-71) „Die Eltern haben ipso iure ein ius possidendi liberos non vero proprietatem; ferner so haben sie in den ersten Zeiten kein ius personale, weil diese noch nicht Personen sind, aber auch kein reale, d. i. ius in re, nec propria nec aliena." (A 19, 469, R 7611, 1769—71)

165 Zur Willenstheorie der ,Bemerkungen' s. o. S. 26. Vgl. Brandt. Eigentumstheorien, S. 170, der neben der Unvollständigkeit des Willens den Aspekt des Eigentums an der eigenen Pro-duktion sehr stark betont.

166 I . N . , 2, 53; siehe im folgenden 2, 54 -59 (A 19, 251 ff.) 167 I .N . , 2, 59; zu Achenwalls Eherecht s. o. S. 64ff. 168 S. o. S. 47f. 169 I .N . , 2, 57 in fine

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134 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Indem Kant ein ius ventris annimmt, das sich in Analogie zu Achenwall, nach dem im Kind „sensim" eine Verbindlichkeit erzeugt wird,170 sensim vom dinglichen zum persönlichen Recht wandelt, entzieht Kant das Elternrecht sowohl dem dinglichen als auch dem persönlichen Recht.

Demnach sind die Kinder weder Eigentum, noch können sie im Zuge des persön-lichen Rechts ihre Erziehung erzwingen:

„Das Recht, was die Eltern über die Kinder haben, ist nicht ein ius personale, weil sie nicht können ad praestationem obligiert werden." (A 19, 469, R 7612, 1769?) „Wenn der Eltern Schuldigkeit, die Kinder zu erziehen, eine solche wäre, die den Kindern ein Recht gebe, so würden sie dadurch, daß sie die Kinder erziehen, sie nicht obligieren; aber die Erzeugung ist als eine Donation anzusehen; da donans Unrecht tun würde, wenn er den donatarius dieser Donation oder deren Wertes beraubte, obzwar donatarius kein ius cogendi hat." (A 19, 470, R 7613 , 1769?)

Die Verbindlichkeit der Eltern beruht vielmehr, wie nach 1764 erkannt, darauf, daß die Erzeugung und deren Folgen unter dem Satz des Widerspruchs beurteilt werden können, wenn die Eltern nämlich einem Wesen das Leben schenkten und es dessen gleichzeitig beraubten, indem sie es umkommen ließen.171 Aus diesem Argumen-tationszusammenhang heraus sind daher folgende Reflexionen in die Zeit um 1770 zu datieren:

„ . . . Die Verbindlichkeit der Eltern gegen die Kinder rührt nicht daher, weil sie Menschen sein, sondern weil die Eltern Ursache sein, daß sie dasein." (A 19, 470, R 7616) 1 7 2

„Hier ist ein Exempel einer Schuldigkeit, welche nicht aus dem Recht eines andern ent-springt, wie bei der Donation." (A 19, 353, E 7388) 1 7 3

Christian Ritter hält Kant nun vor, daß dessen Reflexionen zum Elternrecht „eine Unsicherheit" anzeigen, „wie sie sonst im kantischen Rechtsdenken kein Gegenstück hat ."1 7 4

Ein solches Schwanken scheint tatsächlich vorzuliegen, wenn man die Reflexionen 7702 und 7704 (A 19, 495/6) nebeneinanderhält, deren erstere ein Zwangsrecht der Kinder verneint, deren andere aber dasselbe einräumt, die beide allerdings der Haupt-datierung nach der Phase ρ zugeordnet werden. Beim näheren Hinsehen aber liegt es nahe, diesen Widerspruch auf ein Datierungsproblem zurückzuführen, da die Re-flexion 7702 ebenso nach 1769 wie in die Jahre 1773 — 75 datiert werden kann, die andere aber frühestens nach 1773. Dafür, die Reflexion 7702 wirklich in die 3. Phase der Kantischen Rechtsphilosophie zu setzen, spricht, daß Kant, wie eben festgestellt, um 1770 ein Zwangsrecht der Kinder verneint, dieses aber bis in die Rechtslehre in der kritischen Phase annimmt:

„Die Kinder als Personen haben hiermit zugleich ein ursprünglich-angebornes (nicht angeerb-

tes) Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern, bis sie vermögend sind, sich selbst zu erhal-

ten.': (A 6, 280, 1 8 - 2 0 )

1 7 0 I .N. , 2 , 58: „Uti vero suboles usu intellectus sensim instruitur: ita et ipsius sensim progeneratur obligatio ad actiones suas ad parentum voluntatem componendas."

1 7 1 S. o . S. 24 1 7 2 Die andere mögliche Datierung ist 1773 — 75 1 7 3 Handschriftliche Datierung 1769? 1773 - 75? 1 7 4 a . a . O . , S. 332

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Das kritische Privatrecht 135

Diese Zuordnung der Reflexion 7702 wird unterstützt durch die Eigenheiten der Argumentation selbst:

„Die Zwangspflichten der Eltern gegen die Kinder leiten sich lediglich aus den natürlichen Prinzipien des bürgerlichen Rechts ab. Weil der Staat ewig sein muß, wenigstens soviel natür-licher Zuwachs ist, nicht muß zerstört werden. An sich selbst haben Kinder gegen Eltern kein Zwangsrecht; sie können also von jenen ausgestoßen werden, und obgleich den Eltern um der göttlichen Ordnung willen die größte Pflicht obliegt, so sind sie doch den Kindern nicht ver-bunden."

Die göttliche Ordnung will die Erziehung der Kinder; den Mangel an strengem Recht in der Eltern —Kind-Beziehung gleicht das Staatsrecht als Abbild des Got-tesstaates aus. Demnach läßt sich Kants Standpunkt um 1770 im Elternrecht folgen-dermaßen umreißen: Verbindlich sind die Eltern den Kindern gegenüber aufgrund der Zeugung selbst, sie gewinnen aber weder ein dingliches noch persönliches Recht, da sich das Recht den Kindern gegenüber durch seine verschiedenen Aspekte unter keiner dieser Rechtsarten fassen läßt. Der eigentliche Rechtscharakter wird allein über ein dem Naturzweck entsprechendes ius ventris durch die göttliche Ordnung des Staates garantiert.

Diese Lösung wird illusorisch, wenn alles Recht der Freiheitsfähigkeit des Men-schen entspringt. Die Erkenntnis, daß das vernünftige Wesen seinen absoluten Wert in sich selbst hat und damit weder Produkt noch Sache ist, bringt eine neue Kritik an Achenwalls Satz, daß das Kind zwar keine Sache, aber doch das Produkt der Eltern ist:

„Die Ausnahme gilt nicht bei jenem angenommenen Grunde." (A 19, 352, E 7383, 1776— 79, zu I .N. 2, 54)

Vielmehr beruht das Elternrecht am Kind wie jedes Recht am Kind auf Erwerbung, die nur unter Anerkennung der Verbindlichkeit geschehen kann, da anders ein rechtliches Verhältnis zum Kind überhaupt nicht stattfindet:

„Ich acquiriere ein Kind und alle Rechte, über das Kind ("auch wider seinen Willen) zu disponieren oder alles zu verfügen, sofern es zu seiner Glückseligkeit beiträgt; hier gründet sich das Recht auf Obligation." (A 19, 495, R 7703)175

D e m Recht der Eltern am Kind korrespondiert ein Zwangsrecht des Kindes: „Die Kinder haben ein Zwangsrecht in Ansehung der Eltern, aber nicht weiter als auf ihre Nutrition, Ernährung, Konservation, Pflege und Defensión. Aber sie haben keine Befugnis vorzuschreiben, wie. Sie können nichts verlangen, als was die äußerste Notdurft der Natur er-fordert. Demnach da keine Befugnis in der Art, wie sie erzogen werden sollen, zu zwingen möglich ist, und sie, wenn nur das geschehe, was aus Zwang geopfert werden kann, gewiß umkommen würden, so können sie operam parentum als gratuitam ansehen und sind ver-bunden, und zwar aus quasi contractu zur Oboedienz." (A 19, 496, R 7704)

Dieses Zwangsrecht beruht nun darauf, daß das Kind nicht Produkt, sondern als Teil der Menschheit als entstehende Persönlichkeit aufgefaßt werden muß:

„Kinder sind kein Produkt, sondern progeniti; sie machen sie nicht, sondern bekommen sie." (A 19, 470, 1 9 - 2 0 , R 7617)176

1 7 5 Vgl. A 19, 351, E 7381; 352, E 7382, beide 1776-79 1 7 6 Datierung 1969-75 ; der Schluß der Reflexion entspricht ganz R 7704.

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136 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

„Ac tu generandi, qui, quoniam non est actus opificis, sed protractio ( sevocatio), in lucem absque consensu alterius efficit, ut voluntatem sit mutua dependentia moralis. Cum vero personalitas adhuc sit in potentia, quaeritur, quomodo actu illam laedere possit, e. g. wie ich einen Menschen laediere, den ich im Schlafe beraube." (A 19, 468, 31-469 , 5, R 7610)1 7 7

D a d u r c h daß s ich K a n t d e r P o s i t i o n L o c k e s anschließt, daß die M e n s c h e n verpf l i ch-

tet s i n d , ihre K i n d e r z u erz iehen , u n d z w a r

„ n o t as their own workmanship, but the workmanship of their own maker, the almighty, to whom they were to be accountable for them," 1 7 8

ist d a s K i n d an s ich s c h o n T r ä g e r v o n R e c h t e n , a l lerdings in d e m Sinne, d a ß die

E l t e r n d e m K i n d nicht pe r sön l i ch verpf l ichtet s ind , denn es k a n n als P e r s o n se lbst

w e d e r v e r p f l i c h t e n , n o c h verpf l i chte t w e r d e n , 1 7 9 s o n d e r n :

„ D i e Eltern sind dem Kinde nicht verbunden, sondern der Menschheit überhaupt in An-sehung des Kindes . " (A 19, 353, E 7390, 1772- 77)

D a m i t a b e r be s i t z t d a s K i n d als Te i l der Menschhe i t ü b e r h a u p t ein wirk l iches u n d

d a m i t e r z w i n g b a r e s R e c h t auf E r h a l t u n g u n d E r z i e h u n g , d a d ie Fre ihe i t s fähigkei t des

M e n s c h e n se lb s t ü b e r ihr G e s e t z der sociabi l i tas d ie E n t f a l t u n g s m ö g l i c h k e i t anderer

Fre ihei ten z u m G e g e n s t a n d ha t :

„ D e r Eltern Pflicht gegen Kinder qua infantes (die sich selbst nicht ernähren können) ist Zwangspflicht, diese sind von jenen in die Welt gesetzt, und ihr Zustand muß nicht Elend sein. Aber es ist doch eine Pflicht, die eine Erkenntlichkeit verdient, weil die Erziehungsart nicht kann erzwungen werden, man aber dem ungezwungenen Willen ebenso als dem wohl-tätigen verbunden i s t . " (A 19, 470, 2 2 - 2 7 , R 7617)1 8 0

Z u m a l d ie se P f l i chten der E l te rn nicht v o m K i n d selbst e r z w u n g e n w e r d e n k ö n n e n ,

m e i n t K a n t n o c h in den 70er J a h r e n , da s Verhäl tnis zwi schen E l te rn u n d K i n d e r n mit

e i n e m Q u a s i - K o n t r a k t , d e r bei W o l f f d ie G r u n d l a g e des El ternrechts b i l d e t , 1 8 1

s i c h e r n z u m ü s s e n :

„ D i e s e Obligation kann nur kontrahiert werden, indem parentes zugleich iura akquirieren und so umgekehrt. Diese iura gründen sich auf den quasi-Kontrakt. (Swo kein expressus Kontrakt gemacht ist, da wird Synallagmus praesumiert, d. i. permutano iurium.)" (A 19, 469, 6—9, R 7610) 1 8 2

1 7 7 Vgl. A 19, 470, R 7614, Naturrecht Feyerabend S. 112 1 7 8 a . a . O . , 2 , 56 in fine; ebenso 1, 87; vgl. Brandt, Eigentumstheorien, a . a . O . , S. 81 f. 1 7 9 Hierher dürfte der Satz gehören: „Proles nihil extorquere potest, quoniam nihil acquisivit

nisi grat is . " A 19, 353, E 7389, 1776-78 . 1 8 0 Zur Datierung s. o. S. 135 1 8 1 I . N . , 7, 634: „Societas paterna est quasi pactum." S. o. S. 135 R 7704 in fine; auch A 19,

469, 1 5 - 2 2 , R 7610 182 £ ) e n vorhergehenden Text s. o. — Zu permutatio iurium vgl. o . S. 130, A 19, 542,

13 — 14, R 7874. — Hinter dem Begriff des Synallagmus verbirgt sich in der Naturrechts-diskussion ein Einteilungsproblem zurückgehend auf das Römische Recht: „Ulpianus . . . définit quaedam ,agantur', quaedam ,gerantur', quaedam ,contrahantur': et actum quidem generale verbum esse, sive verbis sive re quid agatur, ut in stipulatione vel numeratione: contractum autem ultro citroque obligationem, quod Graeci συνάλλαγμα vocant, veluti emptionem venditionem, locationem conductionem, societatem: gestum rem significare sine verbis factam." Dig. 50, 16, 19; vgl. Dig. 2, 14, 7, 2. In Zedlers Universallexikon von 1744 schlägt sich das folgendermaßen nieder: „ S y n a l l a g m a bedeutet in den Rechten soviel als eine

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Das kritische Privatrecht 137

Diese Stütze wird überflüssig mit der Erkenntnis, daß das Kind sowohl als auch die Eltern in einem solchen Kontrakt gar kein Recht erhalten, das sie nicht schon gehabt hätten, so daß das Band zwischen Eltern und Kindern nicht unter Vertragsformen zu verstehen ist, deren Inhalt der Willkür der Vertragspartner, in diesem Fall allein den Eltern, überlassen bliebe, sondern nur als ein Verhältnis, das die ohnehin naturge-gebenen Bedingungen unter Rechten und Pflichten faßt. Kant erläutert in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zu Achenwalls § 59:

„Lege non pacto obligantur, proles non acquirit ius."183 (A 19, 354, 5, E 7392), ein Rechtsverhältnis angesichts natürlicher Bedingungen des Menschseins, das eben-falls auf das Eherecht zutrifft.

5 . 6 . 3 . D i e h ä u s l i c h e G e s e l l s c h a f t und das G e s i n d e r e c h t

Die Rechtslehre der „M.d.S . " zeigt, daß Kant Achenwalls Rechtsbegriff der häus-lichen Gesellschaft übernimmt, und es gibt auch in den Reflexionen keine Andeutung dafür, daß Kant jemals an der Berechtigung einer solchen Zusammenfassung des Ehe-, Eltern- und Gesinderechts gezweifelt hätte.

Der § 95 der Prolegomena Achenwalls faßt die Familie oder das Haus (familia seu domus) unter dem Begriff eines „Ius . . . societatum domesticarum (oeconomicum) universale". Was darunter zu verstehen ist, erläutert § 80 des 2. Teils des Natur-rechts, nämlich daß die einzelnen Teilgesellschaften der Familie oder des Hauses, Ehepartner, Eltern und Kinder, Herr und Knecht, den Zweck haben, das gegenseitige wirtschaftliche Wohl zu befördern:

„Finis societatis oeconomicae est ex fine societatis coniugalis, parentalis atque herilis compo-situs: ideoque in eo consistit, ut obtentio finis singulae cuiusvis societatis, ex quibus composita est domus, per singulam quamque alteram earundem promoveatur: ergo ut salus cuiuslibet per reliquas adaugeatur; consequenter ut altera sit alteri adiumento et remedio, multo magis, ut ne altera alteri sit impedimento. Itaque et salus domestica in societatis coniugalis, parentalis atque herilis salute iuncta atque hinc invicem aucta vertitur."

Von hier aus ist die Aussage des § 78 zu verstehen, daß eine häusliche Gesellschaft aus nur zwei Teilgesellschaften — so z. B. Ehepartner und Kinder — als unvollkommene (imperfecta), die um das Gesinde vermehrte aber als vollkommene (perfecta) bezeich-net wird.

Im Gegensatz zu Achenwall bildet bei Christian Wolff das Haus nicht von vorn-herein den Oberbegriff zu den genannten Teilgesellschaften, sondern ist diesen —

Verrichtung, wodurch nicht allein ich, sondern auch zugleich der andere, mit welchem ich zu tun habe, zu etwas verbunden wird; jedoch daß eben kein förmlicher Kontrakt, sondern einiger Vergleich oder Ubereinstimmung vorhergegangen ist, und kommet also dieselbe fast denen sonst so betitelten ungenannten Kontrakten bei." Vgl. die Diskussion bei Grotius, a . a . O . , 2, 12, 3, zu den actus permutatorii.

1 8 3 Die Akademie-Ausgabe setzt das Komma gegen den Sinn; vgl. Naturrecht Feyerabend S. 109

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138 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

ebenso wie bei Achenwall als vollkommene und unvollkommene — nachgeordnet.184

Dafür gibt es zwei Gründe; einmal gebraucht Wolff den Begriff der Familie rein

verwandtschaftlich,185 zum andern behandelt er die Ökonomie schon unter dem

Eherecht. 186 Darjes kann häusliche Gesellschaft und die Familie gleichsetzen, da er

Kinder und Gesinde im Sinne des Römischen Rechts der ehelichen Gemeinschaft

unterordnet. 1 8 7 Bei den Coccejis, die die häusliche Gesellschaft zu den natürlichen

Rechten zählen, umfaßt die Erläuterung nur das Eherecht:

„Societas domestica constituitur coniunctione utriusque sexus prolis procreandae causa, et cum ex instinctu satis innotescat, facultatem hanc hominibus concessam esse, ultro sequitur ius inde oriri."188

Bei Heinrich Köhler liegt der Begriff dagegen wie bei Achenwall vor: „Societates simplices, quas hactenus sigillatim contemplati sumus, diversimode inter se copu-lan possunt. Sic societas coniugalis cum paterna, paterna cum herili, coniugalis cum herili, coniugalis cum paterna et herili connecti potest. Societas composita ex duabus vel tribus societatibus eiusmodi simplicibus usus quotidiani gratia dicitur domus, societas domestica vel familia."189

Köhler seinerseits verweist auf Thomasius' Anmerkungen zu Hubers ,,Ius civita-

tis", in denen sich dieser gegen die scholastischen Spitzfindigkeiten in der Definition

Hubers: „Coetus plurium personarum, quae unius potestate, natura aut iure, quoti-

diani usus causa, sociatae sunt", wendet. Thomasius hält entgegen: „Familiam esse

societaten compositam ex coniugali, paterna et herili quotidiani usus gratia."190

Diesem Begriff des Thomasius, den Achenwall wohl von Köhler übernimmt,

schließt sich wie gesagt Kant an. Allerdings zeigt sich folgende Schwierigkeit:

Achenwall zählt zum Gesinde sowohl die Sklaven oder Knechte (servi) als auch

andere Arbeitskräfte im Haus wie Diener und Tagelöhner (famuli).191 Einen Haus-

sklaven oder Knecht (servus domesticus), dessen Herr Despot ist und von dem

unbegrenzt alle Leistungen gefordert werden können,192 schließt, wie schon zu den

184 Wolffs Einteilung des privaten Gesellschaftsrechts ist: I. De imperio ac societate in genere, II. De societate coniugali seu matromonio, III. De cognationibus et affinitatbus, IV. De societate paterna, V. De testamentis et successione ab intestato seu iure haereditario, VI. De Servitute et societate herili, VII. De domo. Die Definition des letzteren lautet (I.N., 7, 1147): „Domus dicitur societas composita ex coniugali, paterna et herili, vel saltem ex binis. Illa perfecta est, haec vero imperfecta."

185 I.N., 7, 585: „Hinc qui a patre meo descendunt, faciunt familiam patris mei, qui ab avo, familiam avi, qui a proavo, familiam proavi et ita porro."

186 I.N., 7, 422: „Rerum domesticarum nomine nobis veniunt res omnes, quibus utimur ad vitae necessitatem, utilitatem ac iucunditatem. Et rerum domesticarum administratio oeconomia dicitur."

187 Disc. S. 875 ad § 610 188 a . a .O. , 10, 8 w 189 Spec. 393 190 Ulrich Huber, De iure civitatis, ed. quarta cum novis adnotationibus in usum auditorii

Thomasiani, Frankfurt u. Leipzig 1708, 2, 1, 2m. Kant besaß das Buch in der Auflage von 1735, Warda, a .a .O. , 8, 4

191 I.N., 2, 79 (A 19, 361/2) 192 I .N., 2, 70f. (A 19, 357f.)

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Das kritische Privatrecht 139

Bedingungen des Staatsrechts behandelt, Kants Erläuterung aufgrund seines Begriffs

der Rechtsperson aus:

„Es widerspricht sich für ein Subjekt, sui iuris zu sein und doch einem andern ein Recht in sich zu konstituieren in den völlig unbestimmten usum virium suarum. Er ist alsdenn bloß Werkzeug und nicht Person. Ein solches pactum ist null und nichtig. Doch schlossen die Römer aus der Idee des servi consequent." (A 19, 357/8, E 7400, 1773 - 78)

Dieser Begriff der unveräußerlichen Rechtsfähigkeit des Menschen widerspricht

allerdings nicht einem Vertrag nach dem do ut facias zwischen Hausherrn und einer

anderen freien Person, worin sich der Arbeiter oder Diener für begrenzte oder

unbegrenzte Zeit um den Gegenwert des Lebensunterhalts, in welcher Form er auch

immer erstattet wird, verpflichtet, Arbeiten für die häusliche Gesellschaft als deren

Mitglied zu verrichten:193

„Famulus debet operam, servus - personam." (A 19, 471, R 7620, 1769-77) „ Q u i operas indeterminate locavit, est famulus. Cuius non opera, sed status est in arbitrio alterius collocatus est servus." (A 19, 545, R 7883, 1769-78) „Der famulatus erstreckt sich auf die Grenze, daß das pactum zwischen beiden kann ge-trennet werden, wenn der eine Teil seine Verbindlichkeit nicht erfüllet, mithin muß es durch conditiones restringiert sein. Der absolute famulatus ist Knechtschaft. Oder wenn meine subiectio immer bleibt, der andere mag tun, was er wil l , so habe ich ein pactum gemacht, was nicht kann zertrennet werden. Nun ist aber ein jedes pactum auf die natürliche Kondition restringiert, seinen Zustand nicht anderer Willkür anzuvertrauen, und auf diese Kondition kann ich nicht renunziieren, also muß es können zertrennt werden." (A 19, 545, R 7885, 1 7 7 6 - 7 9 )

Wie sehr Kant vom Verhältnis freier Personen zueinander in der häuslichen Gesell-schaft ausgeht, zeigt die Stellung der erwachsenen Söhne und Töchter zum Gesinde, die sich später in der Rechtslehre gegenseitig ersetzen.194 Darauf dürfte schon die Verschreibung der folgenden Erläuterung hinweisen, die einerseits zwischen Ange-hörigen und Gliedern (socii — membra) zu trennen scheint, andrerseits aber in der Zuordnung der Kinder schwankt:

„Die Glieder (alliierten) und Angehörige der Familie. Aus einem Kinde wird ein (Angehö) Glied (oder) der Famil ie ." (A 19, 361, E 7407, 1773 - 75)195

Noch aber ist die Frage offen, worin Kant den Grund dafür sieht, daß die häusliche Gesellschaft ebenfalls das Gesinde oder mündige Kinder einschließt, auch wenn dort augenscheinlich eine andere Art von Notwendigkeit als im Ehe- oder Elternrecht vor-liegt. Der Grund ist wiederum kein anderer als der wirtschaftliche Achenwalls. Kant reflektiert zur Entstehung der drei häuslichen Gesellschaften in der Reihenfolge Achenwalls und der Rechtslehre, wie schon angeführt:

„Die erste Sozietät entsteht durch Instinkt (die Ordnung nach Gesetzen), die zweite aus Pfl icht, die dritte aus Gemächlichkeit. . . . 1. Haus 2. Familie (in statu naturali), alle iura reciproce; ius in persona est vel in disponendum vel in curam vel in fructionem. (Die Art, wie

193 I .N . , 2, 6 7 - 7 0 (ebd.) 194 S. u . S. 148 195 Zu I .N. , 2, 79: „Familiae membra seu socii sunt . . . " Vgl. A 19, 471, 2 - 3 , R 7618: „Die

Angehörige sind entweder Glieder einer Familie. — — — Untergebene. Kinder." Diese Gleichsetzung von Gliedern und Angehörigen entspricht ganz Achenwall.

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140 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

ein Mensch akquiriert wird, als Frau und Kind oder Leibeigener.)" (A 19, 541, 17—18, 2 1 - 2 4 , R 7870) 1 9 6

Damit dürfte zumindest vor der Rechtslehre, wenn nicht nach der frühesten Datierung in die zweite Hälfte der 70er Jahre oder gar nach Achenwall seit 1766, Kants Frage in der Abhandlung zum Verhältnis von Theorie und Praxis im Staatsrecht im wesentlichen beantwortet sein, wie es denn „mit Recht" habe zugehen können,

„daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst benutzen konnte" (A 8, 296, 2 - 4 ) , 1 9 7

nämlich damit, daß der Hausherr die einzelnen — mit Ausnahme der unmündigen Kinder — freiwilligen Mitglieder der häuslichen Gesellschaft für seinen Besitz, aber zum gemeinsamen Nutzen, zur gemeinsamen „Gemächlichkeit" arbeiten läßt.

5 .6 .4 . A n n ä h e r u n g und V o r g r i f f : Das auf dingl iche Art persönl iche R e c h t

Es liegt offen zutage, daß Kant diese Theorie der häuslichen Gesellschaft in der Rechtslehre zumindest für ergänzungsbedürftig hielt, eben durch den Begriff des auf dingliche Art persönlichen Rechts als Rechtsform dieser Gesellschaft. Daß diese Umformung erst spät geschah, zeigt die Reflexion 7924 der 80er Jahre, die ein Sachenrecht an Geschlechtseigenschaften gerade als widerrechtlich ausschließt und daher das ganze Eherecht für allein persönlich hält:

„Homini ius in alium non competit nisi in actiones alterius, h. e. personale, ergo ius reale in facultates et membra sexualia alterius partis locum non habet. Tale pactum, e. g. concubinatus, est illicitus." (A 19, 556, 7—9)

In der Rechtslehre heißt es dann: „Einteilung der Erwerbung des äußeren Mein und Dein. 1. Der Materie (dem Objekte) nach erwerbe ich entweder eine körperliche Sache (Substanz) oder die Leistung (Kausalität) eines andern oder diese andere Person selbst, d. i. den Zustand derselben, sofern ich ein Recht erlange, über denselben zu verfügen (das Kommerzium mit derselben). 2. Der Form (Er-werbungsart) nach ist es entweder ein Sachenrecht (ius reale) oder persönliches Recht (ius per-sonale) oder ein dinglich-persönliches Recht (ius realiter personale) des Besitzes (obzwar nicht des Gebrauchs) einer andern Person als einer Sache. 3. . . . " (A 6, 259, 29—260, 4, § 10)

Die beiden Fragen müssen daher lauten, was Kant veranlaßte, seine bisherige Theorie als unvollständig zu betrachten und woher er die Anregung zur Bildung dieses eigentümlichen Rechts bekam. Die zweite Frage läßt sich recht eindeutig beant-worten. Klaus Reich wies als erster aufgrund einer Bemerkung in Darjes „Weg zur Wahrheit", Frankfurt/Oder 1776, auf dessen Ausführungen über das Vindikations-recht an entlaufenen Dienstboten hin.

1 9 6 S. o. S. 132. Vgl. A 19, 472, 6 - 7 , R 7625, 1 7 6 9 - 7 5 : „Ein Bedienter ist, der die persön-lichen Bequemlichkeiten eines andern auf seinen Befehl besorgt."

1 9 7 Zu dieser Frage siehe Brandt, Eigentumstheorien, a . a .O . , 199f.

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Das kritische Privatrecht 141

Dar jes ist schon in den „Institutiones" im Gegensatz zur allgemeinen Meinung der

Rechtsgelehrten der Meinung, daß nicht nur Sklaven oder Leibeigene, sondern auch

Dienstboten vindiziert werden können:

„Vires servorum perfectorum atque obnoxiorum eorumque effectus pertinent ad tò suum domini . Ideoque tarn servi, qui vires suas ad domini utilitatem dirigere non volunt, quam ii, qui impediunt, ut vires suas ad domini utilitatem dirigere possint, dominum laedunt, atque ideo domino dant justam causam belli, et mala inde orta sunt mala ." 1 9 8

„Ex quibus facile intellegimus, servos fugitivos rebus amissis posse aequiparari, ideoque domino restituendos esse. Qua ex ratione dicitur servos fugitivos requirendos, custodiendos, non vero occultandos esse ." 1 9 9

In seiner Vorlesung erläutert er dazu:

„Quaer i tur : ob das ius servum fugitivum vindicandi entspringe ex idea servi oder ob es einem servum statu talem supponiere? Das letzte ist communis doctorum sententia; aber es ist falsch. Dieses ius fließet wirklich ex idea servi in genere considerati. Denn was eine Folge aus dem, daß die vires servi ad tò suum domini gehören, das muß ex idea servi folgen, sive sit statu talis sive statu über. Das ius vincicandi servum fugitivum ist eine Folge aus diesem, weil die vires servi, qua talis, ad tò suum domini gehören."2 0 0

Im Schol ion dehnt Darjes dieses Vindikationsrecht, wiederum in beiden Werken,

auf fahnenflüchtige Soldaten aus.

Z u r Begründung dieser seiner These läßt Darjes nun seinen Schüler Ernst Friedrich

Scherer 1764 eine Dissertation beinhaltend „Nonnul las de iure vindicandi servos

fugi t ivos posit iones" ver fassen. 2 0 1

Darjes geht davon aus, daß die Entgegensetzung Sklave — Diener in Bezug auf das

Besitzrecht falsch sei , 2 0 2 vielmehr sei dem Begriff sowohl des Sklaven als auch des

Dieners der des Handwerkers entgegenzusetzen. Der entscheidende Punkt ist der,

daß im einen Fall eine Leistung, im andern Fall aber ein Zustand, aus dem dann die

Leistung hervorgeht , e rworben wi rd :

„Haec enim est differentia specifica, qua homines operarli a servis atque famulis distinguun-tur. Operarli enim ex contractu solum obligantur, famuli vero atque servi, qui contractu se obligarunt, eo contractu statum constitueront, per quem post haec obligati ."2 0 3

Das aus dem Erwerb des Zustandes fließende Besitzrecht bezieht sich nun nicht nur

auf die K r ä f t e des Sklaven oder Dieners, sondern auch auf die Substanz, d. h. die

ganze Person, woraus dann wiederum das Vindikationsrecht fließt:

„Si usus, ad quem percipiendum habemus ius, sine substantiae possessione percipi nequeat, usuario competet ius ipsam rei substantiam possidendi. Manifestum itaque est, domino, qua tali, competere ius servum, qua talem, possidendi."204

198 a . a . O . , 600 199 a . a . O . , 601 Corollarium 2 2 0 0 Disc. S. 861 ad § 601 Cor. II 2 0 1 Ernst Friedrich Scherer, praeside Darjes, Dissertano continens nonnullas de iure vindicandi

servos fugitivos positiones, Frankfurt/Oder 1764; vorhanden noch in Halle 2 0 2 a . a . O . , 9 2 0 3 a . a . O . , 5 2 0 4 a . a . O . , 11

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142 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Dieses dingliche Recht an freien Personen zu behaupten gelingt Darjes dadurch, daß er zwischen dem Erwerb des Zustandes aus persönlichem Recht — ζ. B. aus einem Vertrag — und dem Besitz des Zustandes als dinglichem Recht unterscheidet:

„Sed distinguo inter contractum de Servitute constituenda et servitutem constitutam. . . . Quare, cum per traditionem tranferatur ius reale, si quis id tradat, ad quod tradendum ex contractu obligatus est, consequens est, ut ius, quod domino in servum etiam conductitium, qua talem, Servitute constituta usque ad tempus contractu definitum competit, sit ius reale."2 0 5

Uber die Rechtsprechung hinaus beruft sich Darjes auf das von Wolfgang Adam Lauterbach behauptete Vindikationsrecht an Ehegatten206 und verweist auf weitere Folgerungen, die aus der Behauptung eines dinglichen Rechts an Personen für Rechts-beziehungen zwischen Personen überhaupt zu ziehen sind:

„ Q u o ex principio permulta, quae de iure domini in vasallo, abbatis in monacho et quae sunt reliqua, dicuntur, possunt inferri."2 0 7

Das Grundanliegen Darjes' steckt wie im Discours in der Frage, wie man „gutes Gesinde" 2 0 8 bekommt, weshalb eine ganz konkrete Folgerung aus dem realen Besitz an Personen in der Ablehnung des Auswanderungsrechts im Reichsrecht der Gol-denen Bulle, daß Luft frei mache, besteht, weil wirklicher Besitz überall vindiziert werden könne. 2 0 9

Diese an sich bekannte Ausdehnung des Vindikationsrechts auf die Dienstboten stieß auf die entschiedene Ablehnung des Rezensenten der „Hallischen Gelehrten Zeitungen" vom 3. Juli 1766, mit der Begründung, daß „nach den Grundsätzen der Rechtsgelahrtheit" einem Dienstboten gegenüber nur die persönliche Klage möglich sei . 2 1 0

Diese Rezension — wohl auch die Ankündigung am Schluß des zitierten § 24 — ist für Darjes der Grund, in einer weiteren Dissertation „de iure reali in personis" 1767 Johannes Friedrich Schoening diese seine Rechtsauffassung mit Hilfe einer Deduktion aus Rechtsbegriffen theoretisch untermauern zu lassen.211 Die Möglichkeit, ein Sachenrecht auf Personen überhaupt auszudehnen, wird dadurch eröffnet, daß die Definition des ius reale als „ius alteram ab usu rei excludendi" um die Bestimmung „seu ab usu determinati obiecti" ergänzt wird,2 1 2 eine Abweichung vom durch den Gegensatz freier Mensch—Sache bestimmten römischen Begriff, die ebenderselbe Rezensent wiederum in den „Hallischen Gelehrten Zeitungen" tadelnd hervorhebt.213

2 0 5 a . a . O . , 18 2 0 6 a . a . O . , 23; s. u. S. 143f. 2 0 7 a . a . O . , 24 2 0 8 Disc. S. 860 ad § 600 Cor. II 2 0 9 a . a . O . , 26; Diener a . a . O . , 29, Soldaten a .a .O. , 30 2 1 0 Hallische Gelehrte Zeitungen, Halle 1766, S. 431/2 2 , 1 Johann Friedrich Schoening, praeside Darjes, dissertatio de iure reali in personis, Frankfurt/

Oder 1767; vorhanden noch in Dresden; verzeichnet im Katalog der Bibl. Nat. Paris 2 1 2 a . a . O . , 2 2 1 3 18. Juli 1768, S. 4 5 0 - 4 5 5 ; hier S. 451/2. Der Rezensent bezieht den § 8 auf seine vorherige

Rezension, S. 553

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Das kritische Privatrecht 143

Nach der Exposition des Besitzbegriffs, der .zwar beschrieben, aber nicht definiert werden kann', als „usum seu actum habere",214 geht es Darjes darum, aus Begriffen zu zeigen, wie ein solcher faktischer Besitz erworben wird, um dann schließen zu können, daß die Erwerbsarten auch auf den Besitz des Status freier Menschen zutreffen. Daher wird als Angelpunkt die Unterscheidung der 1. Dissertation von Erwerb und Besitz weiter differenziert:

„Cum id, quod ad essentiam nostram non pertinet, nostrum non fiat nisi per adquisitionem, cuius ratione adquisitionem iuris adquirendi ab adquisitione possessionis distinguimus, sequi-tur, ut in statum, per quem homini in hominem competunt iura, inquisiturus, fontem ex quo fluit ius adquirendi statum, ab eo qui dat status adquisitionem debeat distinguere."215

Diese weitere Unterscheidung in Erwerb des Besitzanspruchs und Erwerb des Besitzes selbst ermöglicht es, ausführlich zu beweisen, daß aus Vertrag oder durch Rechtsverletzung (turbatio), d. h. aus persönlichem Recht ein Besitzanspruch erwor-ben* wird, der durch traditio oder occupatio zum wirklichen dinglichen Besitz führt.216 Das Ergebnis läßt Darjes am Eltern- und Eherecht folgendermaßen erläu-tern:

„Ex fine essentiae nostrae iuris expletione nobis competit ius sobolem procreandi, ideoque generatione, quae naturam occupationis habet, adquirendi statum, per quem sumus parentes. . . . Inde iura parentum usum virium, quas procreati et per generationem et per educationem adquisiverunt, habendi, id est ius liberos possidendi, ius vindicandi liberos fugitivos aliosque ab eiusmodi virium usu excludendi."217

„Virgo enim pacto se obligavit ad alteri concedendum statum, quo sit maritus. Hoc ex pacto oritur ius statum eum adquirendi, quod est ius personale. Perficit virgo sponsalia, ideoque statum promissum sponso tradit seu concedit. Hoc facto adquisivit statum, ad quem adqui-rendum ius habuit. Adquisivit statum, per quem iura in uxorem habet, inde ius alios ab usu uxoris excludendi, quod est ius reale, ius usum uxoris habendi, quod est ius possidendi, ideoque et ius uxorem fugitivam vindicandi."218

Daß sich diese Argumentation dem Vertragsgegenstand entsprechend auf alle Arten von Bediensteten übertragen läßt, ist klar.

Nun entlarvt die 2. Dissertation die Ausdehnung des dinglichen Rechts an Personen auf gesellschaftliche Abhängigkeiten, wie sie am Schluß des § 24 der 1. Dissertation angekündigt wird, als Zitat aus Wolfgang Adam Lauterbachs „Collegium theoretico practicum"; dieser räumt das Vindikationsrecht des Ehemanns, wie schon im § 23 der 1. Dissertation herangezogen, zwar eindeutig ein:

„Et vi huius potestatis maritus etiam coniugem vindicare et ad exhibendam uxorem agere potest utili interdicto de liberis exhibendis,"21 '

drückt sich aber in Bezug auf ein dingliches Recht an Personen in der uns vorlie-genden 3. Auflage bei weitem vorsichtiger — zudem beiläufig im Kapitel „De liberis

2 1 4 a . a . O . , 5 215 a . a . O . , 24 2 1 6 a . a . O . , 12-24 217 a.a.O., 26 2 1 8 a . a . O . , 29 2 1 9 Adam Wolfgang Lauterbach, Collegium theoretico practicum, 3. Aufl., Tübingen 1723 —26,

23, 2, 84

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144 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

exhibendis item ducendis" — aus, als Darjes zitiert. Lauterbach räumt ein Vindi-kationsrecht außerhalb der Ehe nämlich nur da ein, wo ein Dienstherr auf ein g e -wisses dingliches Recht' Anspruch erhebt. Von einem wirklichen dinglichen Besitz kann nicht die Rede sein:

„Datur marito de uxore, quae invita ab alio, etiam patre, detinetur, exhibenda et ducenda. Si uxor sua sponte sit apud alium, tum nobile iudicis officium implorari potest, ut uxor iterum ad maritum veniat et cum ipso habitet. Imo maritus vindicare potest uxorem. . . . Sin uxor ob nimiam mariti saevitiam se subdixisset, non est cogenda, ut redeat, nisi maritus praestiterit cautionem de non sic crudeliter eam tractando. Porro ad similitudinem, ubi quis praetendit, se habere aliquod ius reale in persona detenta, ut dominus in vasallo, abbas in monacho, domi-nus in adscriptitio."2 2 0

Darjes dagegen vereinfacht die Argumentation Lauterbachs zu einer klaren Behaup-tung eines dinglichen Rechts an Personen überhaupt:

„de quo Lauterbach verbis, quae sequuntur, loquitur: „datur ius reale in personis v. gr. ius mariti in uxore, domino in vasallo abbatis in monacho, domini in adscriptitio.""2 2 1

Das Besondere der Darjesischen Konzeption ist damit nicht die Erkenntnis eines dinglichen Aspekts im Recht an Personen, sondern daß ein dingliches Recht an freien Personen konstituiert und dann zur Eigenart des Gesellschaftsrechts überhaupt erhoben wird:

„Ius sociale, quod socio in socium per societatem, qua talem, competit, est ius reale."2 2 2

Damit ist allerdings für Darjes keine neue Rechtsart zwischen dinglichem und persönlichem Recht konstituiert, auch keine neue Einteilung erzeugt, im Gegenteil schließt Darjes ein drittes Recht aus. Was gesucht wird, ist die Zusammensetzung des dinglichen und persönlichen Rechts im Rechtsverhältnis zwischen freien Personen:

„Sequitur, notionem iuris personarum et notiones iuris realis atque personalis esse species iuris homogeneas, quae componi possunt, ideoque ius personarum, cuius notio aut obiecti aut fontis determinatione formatur, esse aut ius reale aut ius personale."223

Daß diese Theorie des Gesellschaftsrechts damals einmalig war und Lauterbach für die Eigenart und Ausdehnung dieser Theorie nicht als Garant gelten konnte, bestätigt der erwähnte Rezensent zur 2. Dissertation, wenn er „gesteht, daß er viel Uner-wartetes und Unbegreifliches darinnen angetroffen hat ." 2 2 4 Das Unerwarte mochte für den Rezensenten der hohe theoretische Anspruch der Darjesischen Rechts-konstruktion sein, das Unbegreifliche aber ist für ihn, daß ein Jurist von den eigent-lichen Begriffen des Römischen Rechts abweicht, da man „die römische Denkungsart und die eigentlichen Begriffe des Römischen Rechts . . . vielmehr aus der Geschichte

2 2 0 a . a . O . , 43, 30, 8 2 2 1 a . a . O . , 1; vgl. o. S. 142 2 2 2 a . a . O . , 32 2 2 3 a . a . O . , 4. Darjes beschäftigte sich überhaupt mit Systematisierungsproblemen, wie eine

Dissertation De rerum divisione, rezensiert ebenfalls in den Hallischen Gelehrten Zeitungen vom 27. April 1767, S. 2 6 2 - 2 6 4 , zeigt.

2 2 4 a . a . O . , S. 450. — Brandt, Eigentumstheorien, a . a .O . , S. 25 9 2 9 , nennt Wilhelm Traugott Krug und Carl v. Rotteck, die nach Kant ein auf dingliche Art persönliches Recht ver-treten haben.

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Page 76: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Das kritische Privatrecht 145

und der Verfassung der Römer und also aus den Altertümern" „lernt", anstatt aus einem philosophischen System.225 Dieser Abweichung ist sich Darjes sehr wohl bewußt, denn ausdrücklich schließt er seine Rechtskonstruktion mit einer Bemerkung zu ihrer Interpretation von überlieferten Rechtsbegriffen, indem er sich auf Cicero beruft:

„Non a praetoris edicto ñeque XII tabulis, sed penitus ex intima philosophia iuris disciplina haurienda est . " 2 2 6

Kant wußte aus dem Discours,227 daß Darjes ein Vindikationsrecht, das dinglich verstanden werden mußte, an Dienstboten „statu liber" behauptete, d. h. ein dingliches Recht an freien Personen. Wenn nicht diese Kenntnis schon genügt, um die Anregung zu Kants eigener Rechtskonstruktion zu erklären, dann läßt sich darüber hinaus als wahrscheinlich annehmen, daß Studenten — so z. B. Friedrich Gentz, der von Frankfurt an der Oder nach Königsberg wechselte, weil er mit dem dortigen Unterricht nicht zufrieden war2 2 8 — Kant von den Rechtstheorien des Kollegen der Nachbaruniversität berichteten.

Mußte aber nicht gerade Darjes' Abweichung vom Römischen Recht angesichts des ausdrücklichen Lobs 2 2 9 Kant davon abhalten, sich mit dieser neuen Theorie zu be-schäftigen? Im Gegenteil, denn hier liegt ein der Bibelauslegung analoges Interpre-tationsproblem vor, und Kant entscheidet sich ebenfalls wie in der Begründung des Kirchenglaubens im Recht mit Darjes gegen eine historisch-dogmatische Buchstaben-auslegung überlieferter Rechtstexte für eine Interpretation mit Hilfe eigenständiger rationaler Prinzipien:

„Eingeschränkt oder borniert ist der, dessen Vernunft am Gelerneten festhängt. Der erwei-terte Begriff ist die Vernunft, die das Gelernete selbst einer höheren Prüfung unterwirft. E. g. immer am Corpus iuris hängen." (A 15, 820, 2 9 - 8 2 1 , 1, R 1508, 1780-84)

Was aber ließ Kant an der Vollständigkeit seiner Theorie der häuslichen Gesell-schaft noch der 80er Jahre zweifeln? Am leichtesten ist der Ubergang zum auf dingliche Art persönlichen Recht wiederum im Elternrecht einsichtig. Da Kant um 1770 das Elternrecht sowohl dem dinglichen als auch dem persönlichen Recht entzieht,2 3 0 ein Quasi-Kontrakt kaum eine Lösung im Verhältnis zu einem willen-losen Wesen wie einem Säugling darstellt, ein Kind als „persona in potentia próxima" (A 19, 468, 27, R 7610)2 3 1 aber sowohl Person als auch willenloser Gegenstand ist, bleibt die Stelle offen, in die das Elternrecht eingeordnet werden kann. Der Schluß liegt in diesem Fall in Umkehrung der Theorie von 1770 nicht weit entfernt, daß dieses

2 2 5 a . a . O . , S. 454 2 2 6 a . a . O . , 34; Cicero, De leg. 1, 17 2 2 7 S. o. S. 141 2 2 8 Friedrich Gentz, Briefe, Hrsg. Friedrich Carl Wittichen, München/Berlin 1909, 1, S. 140,

Brief an Garve vom 8. 10. 1784; vgl. Brief vom 16. April 1783 von Johann Friedrich Gentz an Kant, A 10, 314/5

2 2 9 S. o. S. 67 2 3 0 S. o. S. 134f. 2 3 1 S. o. S. 136

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Page 77: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

146 Seit 1772 : Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Rechtsverhältnis mit allen Rechtsfolgen bis zur Anerkennung der Vollständigkeit des Wil lens und der Person sowohl dinglich als auch persönlich ist.

Im Eherecht aber liegt der Grund für die Annahme des neuen Rechts in der Eigenart der Lösung Kants durch den wechselseitigen Besitz der Personen selbst. Kant wägt w o h l noch um 1770 angesichts des Gleichheitsgrundsatzes das persönliche gegen das dingliche Recht ab:

„Per pactum coniugale constituitur cuilibet sexui servitus in re sexuali alterius, et haec servitus est reciproca et personalis. Maris potissimum ius potest comparari servituti ipsi in femina constitutae, feminae autem ius potius est personale, quia maribus operam praestare tenetur, uxor autem pati obligatur, ut alter re ipsius utatur; igitur iura sexus non plane aequalia." (A 19, 463, 17-22 , R 7590)

In der kritischen Phase betont er aber, daß im wechselseitigen Aufeinander-angewiesensein der Geschlechtspartner keine Leistung im Sinne des persönlichen Rechts vorliegt:

„Dieses dominium utile kann vom iure utendi nicht getrennet werden. Es ist nicht divisibel, auch nicht alienabel. Es ist ius in re. Denn es ist ius in membra, non praestationem operae. Es gibt sonst kein ius in re ad alterius personam pertinente. ('Wäre es ein ius personale ad praestandam operam, so könnte dieses Recht andere nicht ausschließen ab eadem opera praestanda.)" (A 19, 460, 23 -29 , R 7580)232

„Der Gebrauch der Geschlechtseigenschaften ist ein Genuß derselben, mithin keine opera praestanda, also macht der Mensch sich dadurch zur Sache (oder gar sich selbst)." (A 19, 539, 4 - 6 , R 7863)233

Andrerseits aber m u ß der gegenseitige Gebrauch der Personen ihrer Freiheit wegen im Gebrauch einer Leistung bestehen, die wiederum wie in der eingangs zitierten Ref lex ion 7924 2 3 4 ausschließlich auf ein persönliches Recht verweist:

„Wir können zwar den usum der Sachen, aber nicht der Personen akquirieren. In Ansehung dieses kann nur usus operae stattfinden, weil von ihr nichts als Handlungen der Freiheit gefordert werden können, indem sie selbst nicht über sich als Sachen disponieren und so ihren Gebrauch konzedieren können." (A 19, 544, 1 - 5 , R 7880)235

Die Einsicht, daß das dingliche und persönliche Element im Eherecht miteinander verbunden sein müssen, treibt Kant in den 80er Jahren zu folgenden Zusätzen:

„( sEin ius reale in der Person eines andern kann nicht auf einen Teil gehen, denn diese Person ist ein unteilbares Ganzes. Es wird aus zweien eine moralische Person) — (sEs soll ein ius in re und doch zugleich ius personale sein, d. i. der Person allein und ihrem Willen anhängen. Es muß also nicht ein auf eine Person bloß in Ansehung eines bestimmten Gebrauchs, sondern auf den ganzen Willen der Person sich erstreckendes Recht sein, d. i. die Person selbst muß akquiriert werden." (A 19, 544, 6 - 1 3 , R 7880)

N o c h deutlicher aber zeigt sich Kants Suchen in skeptischen, d. h. antinomischen Formulierungen in Reflexionen der gleichen Seite des Handexemplars und gleicher Schriftart,2 3 6 in denen ein ausschließlich persönliches einem ausschließlich dinglichen Gesellschaftsrecht entgegengestellt wird:

2 3 2 Zur Datierung s. o. S. 130156

233 Vgl. den Argumentationszusammenhang o. S. 128 234 S. 140 2 3 5 Einen vorhergehenden Teil der Reflexion s. o. S. 130 2 3 6 1 776-1789

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Das kritische Privatrecht 147

„Es gibt eine dreifache Verbindung, die aus der Natur der Menschheit fließt: 1. da der Mensch ein anderes Geschlecht nötig hat. 2. Da er Eltern bedarf. 3. Da er zuletzt einen Herrn nötig hat. Alle drei zu seiner Erhaltung. In allen dreien ist die juridische Würde der Menschheit, welche dieser Verbindung Schranken der Subordination setzt. Diese dignitas iuridica ist die personalitas. Nach derselben ist nicht die bloße Subjektion, sondern Sozietät notwendig, d.i . kein ius reale in den Menschen, sondern ius personale." (A 19, 544, 15—22, R 7881) „Die drei Arten, wie ein Mensch andere nach der Beschaffenheit seiner Natur bedarf: 1. durch Instinkt; 2. zu Erhaltung des Lebens; 3. zu Erhaltung und Bestimmung seiner Rechte. Die Sozietät ist hier ein Besitz aber der Person, und einer hat den andern in seiner Gewalt und kann über seine Substanz oder seine Handlungen oder Leiden nach Belieben disponieren." (A 19, 544, R 7882)237

D. h. Kant stellt die konventionelle, vom Rechtsgegenstand bestimmte These der des Darjes gegenüber, daß gerade das dingliche Element die Eigenart des Gesell-schaftsrechts sei, wobei Kants Ausdehnung des Besitzes der Person auf das Staatsrecht zu beachten ist! Auf das Eherecht hin formuliert lauten beide Thesen, daß die Ehe nach persönlichem Recht in eine Reihe von Einzelleistungen aufgelöst wird, wobei v o m beständigen Austausch der Rechte nicht mehr gesprochen werden kann, andrer-seits nach dinglichem Recht wechselseitige, allerdings beständige Unterwerfung entsteht. Die Lösung wird Kant wie Darjes im Erwerb des Zustandes eines Menschen sehen, in dem sowohl die Rechtspersönlichkeit als auch deren beständige Rechts-beziehung enthalten sind.

Zudem ist Kant der Meinung, daß mit der Darjesischen Lösung eines dinglichen Aspekts im Eherecht das Problem des Zwangsrechts in der Ehe gelöst ist, dadurch daß es dem Ehepartner innerhalb der Ehe — über das Ehefolgerecht ζ. B. der Unter-haltsleistung hinaus — nicht selbst überlassen ist, sich gegen die Bestimmungen der Ehe selbst wegzuwerfen oder sich diesen zu entziehen, sondern daß der Ehepartner in die ehelichen Pflichten, solange er sich nicht scheiden läßt, wozu er das Recht haben m u ß , 2 3 8 mit Gewalt zurückgeholt werden kann.

Die Unterordnung ebenfalls des Gesinderechts unter das auf dingliche Art persön-liche Recht beurteilt Christian Ritter folgendermaßen:

„Diese wohl einerseits aus bloß systematischen Gründen, andererseits auch aus Rücksicht auf das geltende Recht in Preußen erfolgte Annäherung an die konservativen Lehren über das Gesinderecht erscheint angesichts des Geistes der Reflexionen dieser Zeit" (der 70er Jahre) „als Rückschritt."2 3 9

D e m ist entgegenzuhalten, daß Kant gerade schon in den 70er Jahren den Standpunkt von Darjes vertritt, daß der Herr einen Status, ein kontinuierliches Recht an den Kräften des Gesindes erwirbt:

„Locator operae gibt einem andern nur das Recht zu den Produkten seiner Handlungen und Freiheit und bleibt also in Ansehung seines Zustandes frei, seine Verbindlichkeit ist kein Gehorsam und des andern Forderung kein Befehl. Locator status sui gibt dem andern ein

2 3 7 Hierher gehören die vorsichtigen Formulierungen zum Recht auf Auswanderung im Natur-recht Feyerabend, S. 120; vgl. M.d.S. Rechtslehre § 50

2 3 8 A 19, 541, R 7867; 547, 7894; vgl. A 19, 467, R 7603f. 2 3 9 a . a .O . , S. 337

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Recht auf seine Kräfte in Ansehung einer Ar t Handlungen überhaupt. Famulus et servus sind beide subiecti, der letzte aber absque facúltate de obligatione sua valide iudicandi." (A 19, 356, R 7398, 1 7 6 9 - 7 5 ) 2 4 0

Zwar verteidigt Kant das Vindikationsrecht am Gesinde nicht vor der „M.d.S.", hielt es aber auch nicht als mögliches Element der Unfreiheit einer Polemik für wert.

Das Problem stellt sich vielmehr anders, was nämlich Kant bewog, auch das Gesinderecht mit dem starken' Band einer besonderen Rechtsart und dem damit ver-bundenen natürlichen Erlaubnisgesetz, auf das noch hinzuweisen sein wird,2 4 1 abzu-sichern:

„Die Erwerbungsart dieses Zustandes und in demselben geschieht weder durch eigenmächtige Tat (facto) noch durch bloßen Vertrag (pacto), sondern durchs Gesetz (lege), welches, weil es kein Recht in einer Sache, auch nicht ein bloßes Recht gegen eine Person, sondern auch ein Besitz derselben zugleich ist, ein über alles Sachen- und persönliche hinaus liegendes Recht, nämlich das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person sein muß, welches ein natürliches Erlaubnisgesetz zur Folge hat, durch dessen Gunst uns eine solche Erwerbung möglich ist." (A 6, 276, 2 6 - 3 4 , § 22)

Trifft Ritters Behauptung zu, daß hier das Recht der Menschheit als „materiales Fundament", „immer kryptischer" werdend, „als systematischer Grundbegriff" plötzlich, als Kant vernünftige Begründungen fehlen, zum Hilfsmittel und Ausweg in dieser unbegründbaren Situation gemacht wird?242

Einerseits liegt die Frage vor, wie ich einen Zustand und nicht nur eine Folge von Leistungen nach persönlichem Recht erwerben kann, andrerseits aber liegt dem gesamten Recht der häuslichen Gesellschaft ein gemeinsames sachliches Anliegen zugrunde.

Wie erwähnt sagt Kant im § 30 der Rechtslehre, daß Eltern und mündige Kinder die Hausgemeinschaft erhalten „können", und sieht Gesinde nur vor, „wenn die Familie keine Kinder hat" (A 6, 282, 33, 283, 5—6). Diese Austauschbarkeit von Kindern und Gesinde hat einen doppelten Aspekt: Ebenso wie die Kinder im eigenen Interesse den Zeitpunkt der Selbständigkeit hinausschieben können, kann sich eine freie Person durch einen rechtlichen Willensakt von einem Hausherrn abhängig machen, d. h. „allenfalls nur auf unbestimmte Zeit" (A 6, 283, 27—28) auf die eigene Selbständigkeit verzichten. Daß der Knecht mit diesem Verzicht auf Selbständigkeit — sei es in einer Notlage, aus Bequemlichkeit oder zur Vorbereitung der eigenen Selbständigkeit — seine eigene „Gemächlichkeit"243 aufgrund der beständigen Für-sorge des Hausherrn einhandelt, ist die Kehrseite des Rechtsgeschäfts. Andrerseits macht die „Gemächlichkeit" des Hausherrn selbst den beständigen Besitz von Kindern oder Gesinde notwendig, weil anders das Hauswesen in seinen vielfältigen und notwendigen Versorgungsfunktionen überhaupt nicht erhalten werden kann. Der extremste Beweisfall ist der, daß die Hausherren ohne Kinder und Gesinde bei Alter oder Krankheit gezwungen sind, das Haus selbst und damit den Besitz, die

2 4 0 Ebenso A 19, 473, R 7629; s. o. S. 139 2 4 1 S. u. S. 156 2 4 2 a . a . O . , S. 261 2 4 3 S. o. S. 139f .

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Das kritische Privatrecht 149

Grundlage ihrer Selbständigkeit,244 aufzulösen, oder daß sie ohne beständige Pflege bei Verfall der Wirtschaft inmitten ihrer Rechte hilflos umkommen. In Analogie zum Satz des Römischen Rechts: „Servus rei publicae causa abesse non potest",2 4 5

formuliert damit das Gesinderecht ebenfalls wie das Ehe- und Elternrecht ein natürliches wechselseitiges Angewiesensein des Menschen auf Fähigkeiten seiner Rechtspartner, woraus die systematische Einheit des Rechts der häuslichen Gesell-schaft von selbst erhellt.

Wenn aber Kant den Erwerb von Personen vom „Recht der Menschheit in unserer eigenen Person" abhängen läßt, dann meint er damit die Freiheit, die mit der Idee eines vernünftigen Naturwesens verbunden ist, einen Ehegatten, Kinder, aber auch freie Hilfskräfte beständig als seine Rechtspartner zu besitzen, ohne die eine dauerhafte Koexistenz solcher vernünftiger Naturwesen gar nicht möglich ist.

In der Verteidigung des auf dingliche Art persönlichen Rechts gegen den Rezen-senten der Göttinger Anzeigen im Anhang der Rechtslehre schreibt Kant einerseits, daß die Rechtslehrer „bisher nun zwei Gemeinplätze . . .: den des dinglichen und den des persönlichen Rechts" besetzt hätten (A 6, 357, 24—25), andrerseits behauptet er, daß der neue Rechtstitel „doch stillschweigend immer im Gebrauch gewesen" sei (A 6, 361, 11 — 12). Stimmt das mit dem Standpunkt von Darjes überein? Zweifelsohne, denn Darjes hatte nur die Zusammensetzung der üblichen Rechtsarten festgestellt; Kant selbst erst bleibt es überlassen, den stillschweigenden Gebrauch bei Darjes und Lauterbach zum wirklichen zu machen, indem er zwischen den beiden Rechtsarten eine dritte selbständige annimmt.

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre heißt es zum Eherecht: „Ius partim personale, partim reale" (A 19, 348, 3, R 7376). Dies ist die Lösung des Darjes, von der man aufgrund der aufgezeigten Quellenlage vermuten darf, daß Kant sie längere Zeit vor seiner eigenen Konstruktion einer dritten Rechtsart kannte. Das Problem in der Wiederbeschäftigung ist demnach nicht mehr, was ihn ein dingliches und ein persön-liches Element im Recht der häuslichen Gesellschaft schaffen ließ, sondern was ihn veranlaßte, beide Elemente zu einer neuen Rechtsart zusammenzufassen. Einerseits dürfte die Einheit der Rechtspersönlichkeit, wie die Reflexion 7881 sie fordert,246 ein Grund gewesen sein, die ,allerpersönlichsten' (A 6, 277, 5—6, § 23)2 4 7 Rechtsbe-ziehungen zwischen Menschen nicht in dingliche und persönliche auseinanderzulegen, andrerseits liegt hier ein ,metaphysisches' Einteilungsproblem vor (A 6, 358, 1), das

2 4 4 Von hieraus, nämlich der Aufgabe oder Erhaltung seiner selbständigen Rechte, wäre eine Beziehung zum Grundrecht der Selbständigkeit zu ziehen; siehe A 8, 294f. , A 6, 314f. -Es ist darauf hinzuweisen, daß Kant eine staatliche Alters- und Krankheitsvorsorge fremd ist. Gerade der starken Absicherung des Rechts an Personen wegen ist interessant festzustellen, daß heute der Staat selbst die Fortdauer der Hilfsdienste garantiert.

2 4 5 Dig. 50, 17, 211; vgl. die lobende Erwähnung des römischen Sklavenrechts im Naturrecht Feyerabend, S. 37/38: „Die Römer sahen auch die Knechte als Sachen an. Aber es ist dabei sehr schön, daß ihr Recht so sehr zusammenhängt. Sie nahmen die Sklaven als Sachen an, und so konnte er nie Unrecht tun."

2 4 6 S. o. S. 147 2 4 7 Vgl. Achenwall I .N. , 1, 243

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die Systematik der Rechtslehre, die aus dieser selbst und deren unmittelbaren Vor-arbeiten aufgedeckt werden müßte, überhaupt berührt.

Am 28. Oktober 1794 teilt Schiller mit, welche Schwierigkeiten Kant mit der Ableitung des Eigentumsrechts hat.2 4 8 Im Umkreis dieser Überlegungen zur Art des Besitzes und des Erwerbs von Personen innerhalb des Eigentumsrechts überhaupt ist der Grund für die Einteilung einer neuen Rechtsart zu suchen.

5.7. Privatrecht und Staatsrecht: Notrecht und Eigentum

Ein Stück Vorlesung zum Ubergang vom Privatrecht zum Staatsrecht ist uns in der Reflexion 7727 erhalten:

„Bis dahin haben wir die Gründe des natürlichen Rechts erwogen, aber ohne Rechtspflege (iustitia administrans), die Gründe der Dijudikation, aber nicht der Aktuation (principia essendi non fiendi). Eine bloße Idee, in welcher der status iuridicus nur potential ist und welche den Grund enthält, nach welchem die iustitia externa soll angeordnet werden. ( sDie Möglichkeit eines status iustitiae externae oder distributivae.) - Weil niemand von einem andern etwas fordern kann, außer sofern er ihm dagegen Sicherheit gibt, daß er nach den-selben Gesetzen auch gegen ihn sein Recht erlangt, so muß ein principium sein, welches von Dem Privatwillen eines jeden unterschieden ist und sowohl das Gesetz als die Anwendung und Ausführung desselben enthält." (A 19, 501, 1773-78)

Dieser Auffassung vom Privatrecht als einer bloßen Idee, die erst im Staat wirklichen Rechtscharakter erhält, entspricht folgende Reflexion derselben Seite in Kants Handexemplar:

„Die Regeln der Rechtmäßigkeit enthalten die Bedingungen, unter welchen jedermann ein Recht konstituiert werden kann. — Aber die Gründe, wodurch das Recht überhaupt konsti-tuiert wird, sind von der äußem Gerechtigkeit." (A 19, 502, R 7729, 1773 - 75)

Zwar ist es eine einleuchtende Erkenntnis Kants noch der zweiten Hälfte der 60er Jahre, daß jede Handlung, die andern gegenüber durchgesetzt wird, in eigener Sache, d. h. ohne unwiderstehlichen Richter und Staat, nur Machtausübung und nicht Rechtsverwirklichung sein kann, aber das Problem stellt sich doch, ob nicht mit dieser Erkenntnis alles eigentliche Recht bloßes auf den Bürger delegiertes Staatsrecht ist. Es drängt sich nämlich der Zweifel auf, ob Kants bisher aufgedeckter Rechts-philosophie nicht ein Widerspruch zugrundeliegt, indem dieser nämlich zugleich behauptet, daß der Staat einerseits keine andere Aufgabe besitzt, als das Recht der Bürger selbst zu sichern, diese aber andrerseits ohne den Staat überhaupt kein Recht besitzen, so daß der Staat, der selbst nur die Form der Rechtssicherung darstellen soll, ein Nichtvorhandenes zu sichern hätte, oder anders gesagt, daß die rechts-sichernde Macht ein Nichts am Bürger bzw. nur sich selbst als einzige Rechts-wirklichkeit zum Gegenstand hätte.

Dieses Problem der Geltung des Privatrechts überhaupt stellt sich mit der Begründung des Eigentums:

2 4 8 Karl Vorländer, Einleitung zu I .K. „Metaphysik der Sitten", Phil. Bibl. Meiner Bd. 42, Hamburg 1922, S. XI I

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Privatrecht und Staatsrecht: Notrecht und Eigentum 151

„Es ist kein Recht oder Eigentum ohne Gesetz. Aber ebendasselbe Gesetz, welches mir ver-bietet, etwas, was ein andrer in gewisser Form und Qualität besitzet, nicht anzutasten, muß mir auch Sicherheit leisten, daß ich bei dem, was mir zusteht, auch werde geschützt werden. Ich kann nur verbindlich sein bis zum Zwange, sofern ich ebensowohl andere zwingen kann. Demnach ist kein Recht ohne unwiderstehliche Gewalt. Aber es gibt wohl Gründe des Rechts und der Gesetze, ehe diese Gewalt errichtet ist, und darauf müssen sich auch die Gesetze gründen. Diese Gründe des Rechts sind aber so der gemeinschaftliche Wille in potentia so wie von den Staatsgesetzen der gemeinschaftliche Wille in actu. Also fängt alles Eigentumsrecht nur in bürgerlicher Gesellschaft an. Dasjenige, was vor ihr vorhergeht, ist das ius necessitatis, d. i. der Nothilfe; d. i. das Recht der Selbsterhaltung, welches die Tiere haben und auf jedes Sicherheit beruht, die man nicht stören kann, ohne sich in Gefahr zu setzen und wo jeder seiner Neigung folgt." (A 19, 482, 17—31, R 7665, 1772-1777)

Kant nimmt in dieser Reflexion eindeutig Gründe des Rechts vor jeder Staatsgewalt an, begründet das Privatrecht vor jedem Staatsrecht, interessant aber ist, daß er diese Rechtsgründe, die als eigentliches Recht bisher kaum greifbar sind, mit dem „Recht der Nothilfe" als einem Begriff der Rechtswirklichkeit verbindet. Nun ist aber nicht erst aus der Rechtslehre249, sondern schon aus einer Erläuterung wohl zur Zeit der eben zitierten Reflexion klar, daß Kant ein eigentliches N o t r e c h t nicht anerkennt:

„Die Souverainetät ist das oberste principium der öffentlichen Gerechtigkeit; alles daher ist äußerlich Recht, ohne welches das erste principium der öffentlichen Gerechtigkeit nicht kann erlangt werden. Daher alles Privatrecht, weil es ohnedem ohne jenes nicht kann ausgeführt werden, nur unter jener Hypothesi möglich ist und ihm weichen muß. — Der casus necessita-tis ist kein Recht, sondern eine physische (^subjektiv praktische) Unmöglichkeit, nach der Regel des Rechts zu verfahren, weil man dadurch ganz unglücklich werden würde. — Es ist aber unmöglich anzuzeigen, worin das gänzliche Unglück bestehen könne. Der Tod ist es nicht." (A 19, 396/7, R 7473, 1769-75)

Welcher Argumentation sich Kant mit dieser Ablehnung eines Notrechts anschließt,

zeigt ein kurzer Blick auf die damalige Diskussion.

Christian Wolff widmet der Verteidigung der These des Grotius, daß im Notrecht

die ursprüngliche Gütergemeinschaft wieder auflebe,250 ein ganzes Kapitel im 6. Teil

des Naturrechts unter dem Titel „De iure ex communione primaeva residuo et iure

necessitatis in genere."251 Darjes lehnt zwar den Rückgriff auf die communio

primaeva bonorum ab, da man sich bei dieser Begründung gegen eine Nothandlung

nicht wehren dürfte, was allerdings einzuräumen sei, folgt aber Wolff darin, daß das

Notrecht geringere Verbindlichkeiten aufhebe und unvollkommenes Recht — z. B.

Bitte um Nahrung — zu einem vollkommenen Recht, d. h. Zwangsrecht um-

wandle.252 Dieser Meinung, daß im Notfall ein wirkliches Recht entstehe, steht die

der Coccejis und Heinrich Köhlers entgegen.

Samuel Cocceji folgert knapp, daß, da die ursprüngliche Gütergemeinschaft eine

falsche Vorstellung sei, ein Notfall, der als Rechtsgrund Recht aufhebe, nicht

stattfinden könne:

249 Siehe Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre, A 6, 235f.. 250 a . a .O. , 2, 2, 6ff. 251 a . a .O. , 561 ff. 252 Disc. S. 406ff. ad § 267

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„Verum ibidem probavimus res terrae natura non fuisse communes, sed nullius: unde sponte corruit ius illud necessitatis et innoxiae utilitatis. Sane necessitas nullum mihi ius tribuit in rem alienam, quae tota domini est, et ab eius arbitrio dependet. Nedum ius, semel naturali ratione quaesitum, aufferri mihi potest ex innoxia utilitate, i. e. sub praetextu rem mihi non nocere et alii prodesse. Res enim mea est, non quia utilis est, sed quia earn occupavi animo mihi habendi; hoc ius ex volúntate creatoris mihi quaesitum alius auferre non potest ." 2 5 3

Diese Begründung geht auf den 2 . Satz der 5. Positio Heinrich Coccejis zurück:

„Hinc a natura concessa et constitua sunt, . . . 2. humano generi ius plenum in hanc terram, eiusque res, fructus feras, etc, quin et in homines ipsos: singulis vero aequale ius occupandi id quod nullius es t . " 2 5 4

Gegenstand der Polemik ist wiederum die communio primaeva bonorum des Grot ius , der die Rechtskraft der Okkupation entgegengesetzt wird. Gott , der nichts umsonst zu tun scheine, hätte die Welt umsonst geschaffen, wenn die Menschen sie nicht benutzen k ö n n t e n , 2 5 5 den Besitz eines Gegenstandes durch zwei oder mehrere Personen schließe aber sowohl das Römische Recht aus 2 5 6 als die daraus entstehende Unmöglichkeit , den Gegenstand sinnvoll zu nutzen:

„ H o c ergo est ius occupandi res huius terrae quae nullius sunt et quod omnibus hominibus ex aequo competit, eaque paritas est, ne ullus hominum ab ea facúltate occupandi eius quod ab alio nondum occupatum est, excludatur . . . Hinc iam apparet, naturam non res ipsas fecisse communes, quia alias communi consensu ad occupationem illius rei opus esset; immo communi dissensu impediri illa facultas posset, cum tarnen usus rerum moram non ferat et ius utendi rebus fieret impossibile."257

D a m i t wenden sich die Coccejis ebenfalls gegen Hobbes, der nicht recht habe, w e n n er vor dem Staat ein Recht aller auf alles annehme. Die Erde sei nicht einem, sondern allen gleich zur rechtlichen Nutzung gegeben:

„Terra enim non uni homini data est, sed toti humano generi. Natura non est data facultas ut quisque omnia possit, sed ut omnes pariter possint et sic ut alter alteram non impediat; quod igitur universo concessum est et omnibus simul competit, id singuli auferre non possunt."2 5 8

D . h. die Coccejis lehnen sowohl eine ursprüngliche Gütergemeinschaft als auch einen Krieg aller gegen alle — ob Recht schaffend oder nicht — ab, indem sie die unaufhebbare Rechtskraft der Okkupation auch vor jeder staatlichen Gewalt be-haupten.

Dieser These, daß N o t unmöglich Recht aufheben könne, schließt sich Heinrich K ö h l e r an. E r räumt zwar ein, daß es Fälle gebe, in denen es nicht möglich sei, alle Rechtspflichten zu erfüllen, aber die Unmöglichkeit schaffe kein neues Recht :

„Libertas haec répugnât iuri naturali stricte dicto, quod ex demonstratione, qua illa nititur, patet. Eadem itaque libertas dici non mereretur ius necessitatis, das Notrecht. Quae causa

2 5 3 a . a . O . , 12, 3 1 9 - 3 2 1 2 5 4 a . a . O . , 10, 8 2 5 5 a . a . O . , 10, 8 h : „Denique et id sequitur ex natura sanctissimi creatoris, qui nihil frustra

fecisse videtur, frustra autem condidisset mundum, si homines uti eo non possent." 2 5 6 a . a . O . , 10, 8 o ; als Belegstellen sind genannt: Dig. 41, 2, 3, 5; 13, 6, 5, 15; 39, 2, 15;

18; 7, 2 , 3 2 5 7 ebd. 2 5 8 a . a . O . , 10, 8 m

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videtur esse, cur alii eandem libertatem mahierint appellare favorem necessitatis. Henricus Cocceius eandem sententiam fovit in coroll. 3. Disp. 62, vol. 1, cuius verba haec sunt: Extrema nécessitas numquam ius in alienas res indulget."259

Die Handlung im Notfall sei keine Verteidigung, damit auch keine Notwehr (ius/moderamen inculpatae tutelae),260 sondern stets Rechtsverletzung,261 allerdings sei zwischen dem Unrecht der Handlung und dem der Person zu unterscheiden.262

Ebenso kann nach Köhler nur ein Vertrag und nicht der Notstand unvollkommenes Recht in Zwangsrecht verwandeln;263 im Gegenteil befreit der Notstand nicht von Verbindlichkeiten, die im Gegenteil in ewiger Wechselbeziehung zu Rechten stehen:

„Sunt qui existimant dari ius in statu extremae necessitatis, quod alicui ad summas angustias redacto competer«, sed cui non responderet obligatio in altero, quippe qui alio iure frueretur in contrarium. Scholion: Cur abeam ab hac sententia, ex scholion § 1218 patebit. Et si homini eiusmodi, nullum ius tribuendum sit, hic casus tamquam instantia contra correla-tionem iuris et obligationis perpetuam allegali non potest." 2 6 4

Dieser Auffassung folgt Achenwall.265 Eindeutig entscheidet sich Kant mit diesem für die These der Coccejis und Köhlers, daß die Rechtsverbindlichkeiten keine Ausnahme, auch nicht im Fall der Not, verstatten.

Ganz in diesem Sinne entscheidet er das Paradebeispiel der Notrechtsdiskussion — ein Brett kann zwei Schiffbrüchige nicht tragen —, zu dem, von Grotius aus Lactanz zitiert2 6 6 , Gundling, Thomasius,2 6 7 Wolf f 2 6 8 und Gunnerus2 6 9 den Mord recht-fertigen, Kant aber folgendermaßen in der zweiten Hälfte der 70er Jahre formuliert:

„Die Juristen haben recht, wenn sie behaupten, man könne einen andern umbringen, um sein Leben zu erhalten. Nämlich man kann nicht gezwungen werden, dies zu unterlassen, weil die Strafe, vor die man sich scheuen soll, nicht größer sein kann als das, was zu entfliehen er die Handlung tut und das letztere nahe ist. Auch ist nur die Erhaltung des Lebens die Bedingung von casu necessitatis, weil die große Kraft des Strafgesetzes in der Lebenstrafe besteht. Doch sollte ein solcher Mensch, weil er ein Leben erhält, dessen er nicht wert ist, als ein solcher durch aller Verachtung behandelt werden." (A 19, 268, R 7192)270

Kant kann sich noch nicht einmal Köhlers Unterscheidung zwischen Unrecht der Handlung und der Person anschließen, da der kategorische Imperativ als Gesetz aller Handlungen und Gesinnungen keinen Spielraum läßt, sondern nur feststellen, daß an einem solchen Beispiel die Regeln der äußeren Rechtsprechung versagen, nicht aber die Gesetze von Recht und Moral überhaupt:

2 5 9 Exerc. 1218 Scholion 2 6 0 Exerc. 1229 2 6 1 Exerc. 1231 2 6 2 Exerc. 1232 2 6 3 Exerc. 1237 2 6 4 Exerc. 1235 2 6 5 Prol. 149, vgl. die Polemik gegen die communio primaeva, I .N. , 1, 116, Anm. 2 6 6 Grotius, a . a . O . , 2 , 2, 8; Lactanz, Inst. Div. 5, 17, 27 2 6 7 S. u. S. 156 2 6 8 I . N . , 1, 1017 2 6 9 a . a . O . , 4, S. 5 f f „ S. 83ff. 2 7 0 ebenso A, 8, 300 Anm.; A 6, 235, 26ff.

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154 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

„Coram foro humano hat die Moralität nicht so großen Effekt als der Nutzen. Weil nun in casu necessitatis die Erlaubnis, sich selbst zu versorgen, jedem vorteilhafter zu sein schien, so sieht man einander in der Regel nach. Bei Gott ist die Moralität viel bedeutender als aller Nutzen." (A 19, 263, R 7172, 1776 - 78)271

Demgegenüber ist es kein Widerspruch, daß Kant die Notwehr, die er wie Köhler noch in der Rechtslehre vom Notrecht abgehoben sehen will,272 als „heiligstes Recht" der Menschen bezeichnet:

„Die Notwehr ist der einzige casus necessitatis gegen den Beleidiger. Obrigkeiten, welche die Selbstverteidigung mit großer Beschädigung des andern verbieten, müssen wissen, daß sie dem Menschen sein heiligstes Recht nehmen, um dasselbe zu verwalten und als dépositaire des-selben" (bricht ab) (A 19, 269, R 7195, 1776-79)273

Verbindet man diese strikte Ablehnung eines Notrechts nun damit, daß Kant zur Eigentumssicherung vor dem Staat in der Reflexion 7665 ein „Recht der Nothilfe" annimmt, erscheint der Charakter dieses Rechts völlig rätselhaft, da das Recht der Selbstverteidigung nicht jeden Besitz an Sachen betreffen kann. Dafür, daß Kant mit dem Begriff der Nothilfe kein Recht meint, spricht, daß er diesen in Analogie zu den Tieren sieht, eine Auffassung, die der Gundlings entspräche, der im Notfall nur die Wirkung des Instinkts fordert.274 Dennoch ist der Mensch aber vor dem Staat ein vernünftiges Wesen, das zumindest „nach dem gemeinschaftlichen Willen in poten-tia", nach dem Begriff des Rechts handeln können muß; ist aber dieser Mensch außerhalb des Staates, der zwar nicht verurteilt werden kann, zu verachten, nur weil er, ohne ein wirkliches Recht zu besitzen, zur unumgänglichen Eigentumssicherung und Selbsterhaltung tödliche Gewalt ausübt, falls es ihm nicht gelingt, den andern zur Gesellschaft zu zwingen? Daß angesichts dieser Fragen Kant in der Reflexion 7665 nicht ein Versehen unterlief, sondern daß er sich tatsächlich mit einem Notrecht der Eigentumssicherung vor dem Staat beschäftigte, zeigt eine parallele Formulierung:

„Wenn ich nicht länger als ein ehrlicher Mann leben kann, so kann ich nicht länger leben. Casus necessitatis (eigentlich gilt er nur von der Selbsthilfe des Rechts in statu naturali). Das Leben ist an sich nicht ein Gut, sondern sofern man dessen würdig ist." (A 19, 268, 13—16, R 7191, 1776 - 79)

Diese Reflexion läßt den Schluß zu, daß Kant in den 70er Jahren nach Gründung der Gesellschaft zwar ein Notrecht ablehnt, eben dieses aber vor der allgemeinen Rechtssicherung als Rechtsform einräumt.

Damit aber steht immer noch die Frage offen da, ob dieses eingeräumte Notrecht überhaupt mit rechtlichem Eigentum zu verbinden ist oder ob dieses allererst mit dem Staat selbst, weil es vor diesem gar kein eigentliches Rcht gibt, anhebt. Dieser offenen Lage der Begründung des Eigentums innerhalb des Privatrechts entspricht ganz Kants Schwanken in der Frage des Staatseigentums. Einerseits geht Kant eben zur Zeit der

271 ebenso A 19, 263, R 7172; 265, R 7177 272 A 6, 235, 18—22; daß diese Unterscheidung nicht immer selbstverständlich war, zeigt neben

Köhler die Diskussion bei Gunnerus, a.a.O., 4, S. 94ff. 273 Ebenso mehrfach Naturrecht Feyerabend, S. 103, S. 122, S. 128: vgl. Achenwall, I.N., 1,

276 mit Verweis auf Prol. 143 274 Referiert bei Gunnerus, a.a.O., 4, S. 79

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Privatrecht und Staatsrecht: Notrecht und Eigentum 155

Reflexion 7 6 6 5 so weit, daß er die persönliche Herrschaft des Staates aus dessen ding-licher Herrschaft am Boden, dessen rechtlichen Besitz dieser allererst geschaffen hat, begründet :

„Weil man kein ausschließend Recht worauf haben kann, als daß vorher das Recht des Bodens bestimmt sei, so kann niemand die Oberherrschaft über ein Volk führen, ohne der Eigentümer des Bodens zu sein, denn sonst wird er nur geduldet. Also ist das Eigentum des Bodens die Bedingung all seiner andern Rechte. Ein Fremder steht unter seinen Gesetzen bloß, weil er auf seinem Boden ist. Das ius reale ist das fundamentum des personalis. Die Kinder sind den Gesetzen unterworfen, nicht weil sie an die Verbindlichkeit der Eltern verbunden sind, son-dern weil sie aus demselben Boden erwachsen, über welchen der Souverain Herr ist. Also ist er Beherrscher, weil er Landesherr ist. Daher die Bestimmung der Regalien. Sie müssen in dem bestehen, was der Boden nicht durch Kultur hervorbringt, sondern origetinus in sich enthält und zu seiner Substanz gehört. Metalle, See und Quellstellen, davon muß nämlich der Gebrauch ins Allgemeine gehen, weil die Substanz eine allgemeine Brauchbarkeit hat." (A 19, 481/2, R 7663, 1772-77) 2 7 5

Demgegenüber steht die Erkenntnis ebenfalls aus der Mitte der 70er Jahre, daß eben dieses der Staatsherrschaft zugrunde gelegte dingliche Recht eine Fiktion ist und im Gegenteil auf dem persönlichen Recht beruht:

„Die ganze Lehre vom iure reali gründet sich auf eine philosophische Fiktion von der Ver-bindlichkeit der Sachen gegen Menschen. Und diese ist das Mittel der (^gemeingültigen) Rechts Verschaffung; allein die Begriffe von der Verbindlichkeit der Person und dem iure personali sind die Gründe der Rechtsbeurteilung, die bloß spekulativ ist. In der Gesetzgebung sieht man auf das erste, in der Gewissenslehre auf das letztere. Die Sache ist von Natur frei, sie wird obligiert durch den Willen des andern und ausschließungsweise, nämlich sie weigert sich andern durch Zeichen von dem Zwange, darin sie unter dem andern steht." (A 19, 495, 2 - 1 0 , R 7701, 1769— 75)2 7 6

Die Konsequenz zugunsten der ausschließlich persönlichen Herrschaft, über die dann Rechte am Territorium für den Staat abgeleitet werden, ziehen möglicherweise schon die späten 70er Jahre :

„Dem Souverain gehört das Territorium (aber nur universorum, nicht singulorum). Denn dem gesamten Volk gehört es. Aber so wie das ganze Volk nicht über eines einzelnen Territorium disponieren kann, was es nicht zugleich sich selbst auferlegt, so auch nicht der Monarch einzeln darüber, ohne zugleich aufs Ganze zu repartieren, disponieren. Es fragt sich, ob aus dem iure territorii alle iura in rem des Souverains müssen abgeleitet werden. Nein, denn das Territorium kann ursprünglich nicht von der Sozietät, sondern nur von den einzelnen okku-piert sein. Also war das Eigentum vor der Sozietät und also auch dem imperio civili. Vielmehr gründen darauf die coloni als subditi (oder umgekehrt) ihre Rechte gegen den Souverain. Nur auswärts kann es nicht verkauft werden." (A 19, 570, R 7976, 1776 — 89) E b e n das Ergebnis der zitierten Reflexion formuliert die Rechtslehre in folgendem

Satzpaar : „Von einem Landesherrn kann man sagen: er besitzt nichts (zueigen), außer sich selbst; denn wenn er neben einem anderen im Staat etwas zueigen hätte, so würde mit diesem ein Streit möglich sein, zu dessen Schlichtung kein Richter wäre. Aber man kann auch sagen: er besitzt alles; weil er das Befehlshaberrecht über das Volk hat (jedem das Seine zuteil kommen zu lassen), dem alle äußeren Sachen (divisim) zugehören." (A 6, 324, 1 4 - 2 0 )

2 7 5 Vgl. Locke a . a . O . , 2, 119-121 , der die Herrschaft mittels des Bodens und die persönliche Herrschaft nebeneinander stellt.

2 7 6 Der genannten spekulativen Rechtsbeurteilung wegen schließe ich 1769 aus.

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156 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Aber selbst wenn Kants Diskussion vom Staatseigentum her noch einmal ganz eindeutig bestätigt, daß Eigentum vor dem Staat stattfinden muß, weil der Staat unmittelbar dinglich nichts besitzen kann, dann ist wiederum nicht beantwortet, unter welcher Rechtsform, wenn nicht nach einem Notrecht, Eigentum vor dem Staat möglich sein soll.

Nun macht Gunnerus auf das Gewicht eines weiteren Diskussionspunktes inner-halb des Notrechts aufmerksam, nämlich auf die von Köhler behauptete ewige Wechselbeziehung zwischen Recht und Verbindlichkeit. Vertreter derjenigen Partei, die diese unauflösliche Wechselbeziehung leugnet, sind Thomasius und Gundling:

„At quemadmodum iam ostendimus, dari obligationem internarci, cui ius non respondeat: ita datur etiam irreguläre ius, cui non respondeat obligatio, ut illud est, quod supra diximus competere in casu periculi praesentis ad vitam servandam, si tabula in naufragio duos servare nequeat, ubi uterque habet ius alteram depellendi, sine correspondente obligatione. Eadem est ratio, si claudus vel alius me fugientem pediat."2 7 7

„Ubi obligatio, ibi ab altera parte ius est: non autem ubi ius, ibi semper obligatio."278

Gunnerus erläutert, daß Gundling die letztgenannte These ebenfalls wie Thomasius auf das Brettbeispiel des Lactanz anwendet.279 Daß Kant dieses Element der bloßen Erlaubnis im Notfall sah, zeigt der Anfang der schon angeführten Reflexion 78 1 0 2 8 0

zum Recht des Souveräns, die das eigentliche Notrecht allerdings nicht vom ius inculpatae tutelae trennt, aber nicht auf diesen Fall eingeschränkt sein muß:

„Die Selbstverteidigung im statu naturali ist der einzige casus necessitatis ad agendum (permissionis), aber in statu civili ist er niemals wozu anders als ad patiendum." (A 19, 523, 2 - 4 )

Es ist bekannt, daß Kant im ,Ewigen Frieden' von 1795 Erlaubnisgesetze als Neuigkeit anmerkt281 und daß er dann in der Rechtslehre eben das aufgeworfene Problem des rechtlichen Besitzes vor dem Staat mit Hilfe eines Erlaubnisgesetzes der praktischen Vernunft löst:

„Man kann dieses Postulat ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugnis gibt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten: nämlich allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben. Die Vernunft will, daß dieses als Grundsatz gelte, und das zwar als praktische Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a priori er-weitert." (A 6, 247, 1 - 8 , § 2) 2 8 2

Wenn wir hier von der Antinomie im Besitzrecht, da diese kein Problem der 70er Jahre darstellt, ganz absehen, dann bedeutet dieses Erlaubnisgesetz auf die Ausein-andersetzung der Naturrechtslehrer bezogen, daß Kant das Notrecht zwar als untaug-lich zur Begründung des Eigentums vor dem Staat erkennt — da Not grundsätzlich

2 7 7 Thomasius, a . a . O . , 3, 7, 14 2 7 8 Gundling, a . a . O . , 1, 56 2 7 9 a . a . O . , 4, S. 5f . 2 8 0 S. o. S. 122 2 8 1 A 8, 347/8 Anm. 2 8 2 Zum späteren Besitzrecht der Rechtslehre, das hier genetisch angeknüpft wird, siehe die

immanente Interpretation von Brandt, Eigentumstheorien, a .a .O. , bes. S. 186ff.

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Privatrecht und Staatsrecht: Notrecht und Eigentum 157

keinen Rechtsgrund liefern kann —, daß er aber das Element der bloßen Erlaubnis im Notfall, einem Zustand, auf den keine äußere Rechtsprechung zutrifft, zum Grund-stein der Eigenständigkeit des Privatrechts macht.

Nicht zu verwechseln ist dieses Erlaubnisgesetz mit der Erlaubnis, die mit jedem Recht verbunden ist:

„Das Recht besteht in dem Grunde der Einschränkung der Freiheit eines jeden durch die Bedingungen der Allgemeingültigkeit vor eines jeden Willkür. — Das Recht ist entweder permissivum oder obligans." (A 19, 229, R 7026, 1770-78)283

Denn diese Reflexion zeigt nichts anderes als den Handlungsspielraum, den nicht zu verletzen der andere verbunden ist —, das Neue eines Erlaubnisgesetzes ist vielmehr ganz im Sinne Gundlings und Thomasius' gegen die ewige Korrelation Köhlers, daß eine Handlung strengen Rechtscharakter besitzt, selbst wenn keine andere Instanz äußerlich rechtlich verbunden ist, diese von sich aus rechtlich anzuerkennen, anders gesagt, daß diese Handlung unter dem Erlaubnisgesetz von sich aus Zwangsrecht setzt.284

Es gibt eine weitere Argumentationsreihe neben der des Notrechts, die den Weg zu einem Erlaubnisgesetz vorbereitet, nämlich die zum Erwerb und zum Gebrauch des eigenen Körpers. In der schon herangezogenen Reflexion 78 6 4285 gründet Kant das Recht, die Unversehrtheit des eigenen Körpers zu verteidigen, auf den Rechtstitel der acquisitionis a natura, auf die „Uberlieferungen der Menschheit in unsre Vorsorge" (A 19, 539, 21—22), d. h. Kant gründet das Zwangsrecht der Verteidigung des eigenen Körpers und damit das Recht auf dessen ungehinderte Benutzung auf eine Instanz, die den Rechtsbegriff, der nur die Idee des friedlichen Nebeneinanders aufgrund von Verbindlichkeit der freiheitsfähigen Wesen enthält, überschreitet. Weiterhin aber führt dieses Recht, seinen Körper gemäß den Überlieferungen der Menschheit zu benutzen, in Bezug auf die Geschlechtsteile zum Besitz eines Weibes und eines Kindes, in Bezug auf die Erhaltung des Menschen als vernünftigen Sinnenwesens überhaupt zum Besitz von Gesinde, die alle gemäß der Rechtslehre unter einem .natürlichen Erlaubnisgesetz' (A 6, 276, 32—33) erworben werden.286

An diesem Beispiel wird ein anderer Wesenszug eines Erlaubnisgesetzes deutlich : Die Unversehrtheit meines Körpers, dessen Gebrauch sowie der Erwerb eines Weibes, hängen, wie gerade im letzten Punkt einleuchtet, nicht von der äußeren Verbindlichkeit eines anderen ab, uns in der Ausübung unseres Rechts nicht zu behindern, sondern nur von uns selbst als Rechtsperson angesichts unserer natür-lichen Funktionen. Allerdings sind wir als Rechtsperson unserer Vernunft als Ur-sprung aller sociabilitas gegenüber, aber nur dieser, nicht einem anderen Rechts-

283 Vgl. A 19, 229, R 7025 2 8 4 Daß für Wolff und Darjes dieses Problem gar nicht auftaucht, liegt daran, daß diese inneres

Recht nicht systematisch vom Zwangsrecht trennen; es genügt ihnen, wenn dem Recht der Selbsterhaltung die göttliche, natürliche, aber innere Verbindlichkeit, deren Folgen nur äußerlich sind, entspricht.

285 S. o. S. 129 286 S. o. S. 148

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partner, verbunden, „diesen Gebrauch unter eine beständige Regel" zu „bringen, damit wir nicht nach Instinkt über die Menschheit disponieren" (A 19, 539, 29—31, R 7864). Dieser Verbindlichkeit, in der Erlaubnis nicht regellos zu handeln, ent-spricht dann im Besitzrecht der Rechtslehre die Rechtspflicht, „gegen andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgendjemandem werden könne" (A 6, 252, 14—15, § 6), d .h . mit der Verteidigung des okkupierten Gegenstandes auch die Okkupation eines anderen anzuerkennen.

Diese Ausdehnung der natürlichen Befugnis, unter Regeln seinen Körper und den Geschlechtspartner zu erwerben, auf das Besitzrecht im Umfange, wie es § 4 der Rechtslehre zeigt, und das unter dem Begriff eines Erlaubnisgesetzes, läßt sich weder in den 70er noch in den 80er Jahren nachweisen, ebensowenig wie in diesen Jahrzehnten eine Antinomie im Besitzrecht zu entdecken ist.

Mit dem Fehlen dieses Erlaubnisgesetzes, einen Gegenstand als meinen Besitz mit dem ganzen Umfange des Zwangsrechts zu verteidigen, unter der Bedingung, daß ich selbst die Rechtspflicht wahre, bleibt allerdings auch in den 70er und 80er Jahren die Frage des Rechts vor dem Staate, die Geltungsart des Privatrechts offen.287

Selbst wenn Kant später in der Rechtslehre ein wirkliches Recht vor dem Staat behauptet, hebt dieses nicht die rechtliche Notwendigkeit des Staates auf gemäß der Erkenntnis der 2. Phase der Rechtsphilosophie. Denn der § 9 der Rechtslehre wird zeigen, daß im Naturzustand ein wirkliches, aber nur „provisorisches äußeres Mein und Dein" stattfinden kann, im Staat aber erst ein „peremtorisches" (A 6, 256f.). Diese Lösung Kants wird deutlich im Vergleich zu derjenigen der Coccejis,288 die wie Kant die unmittelbare Rechtlichkeit einer ersten Inbesitznahme behaupten. Diese be-gründen sowohl das ius concessivum als auch das ius praeceptivum, die beide durch die Erlaubnis der Handlung und das Verbot, dieselbe Erlaubnis anderer zu ver-nichten, in der ersten Okkupation gegeben sind, mit der Delegation aus göttlichem Recht:

„ Q u i a naturae autor concessit facultatem agendi, adeoque homo iure permittente agit. . . . Quia deus restringendo facultatem naturalem praecipit, ut praecise aliquid fiat vel non fiat; quo praecepto facultas illa naturalis desinit esse legitima et fit illicita."289

Damit braucht der Staat der Handlung gar keine neue Rechtswirksamkeit hinzuzu-fügen, sondern als Stellvertreter Gottes290 das schon im einzelnen vollständig vorhandene Recht nur zu verstärken.

Anders Kant: Auch „vor dem Eintritt in diesen Zustand, zu dem das Subjekt bereit ist, widersteht er denen mit Recht, die dazu sich nicht bequemen und ihn in seinem einstweiligen Besitz stören wollen", aber der im Naturzustand mit Recht verteidigte Besitz ist in der Form eingeschränkt, daß er nur „in der Erwartung komparativ für einen rechtlichen" „gilt" (A 6, 257, 6 - 8 , 18-19, § 9).

2 8 7 Die offene Situation im Eigentumsrecht wird im Naturrecht Feyerabend bestätigt, S. 47ff., bes. S. 52, S. 61.

2 8 8 S. o. S. 152; zur Okkupation ebenso Achenwall, I .N. , 1, llOff. 2 8 9 a . a . O . , 10, 5, e, h 2 9 0 S. o. S. 4016

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Privatrecht und Staatsrecht: Notrecht und Eigentum 159

Daß aber darüber hinaus der bürgerliche Zustand selbst, auf den hin alles Recht im Naturzustand gerichtet ist, ohne die Wirklichkeit des Rechts auch vor dem Staat gar nicht möglich wäre, daß jedes Staatsrecht gerade ein eigenständiges Recht vor seiner rechtssichernden Gewalt voraussetzt, formuliert Kant ausdrücklich im § 44 der Rechtslehre:

„Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen Zustand gar keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch für rechtlich erkennen, so würde jener selbst unmöglich sein. Denn der Form nach enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande eben-dasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, sofem dieser bloß nach reinen Vernunft-begriffen gedacht wird: nur daß im letzteren die Bedingungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen. - Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechtspflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen." (A 6, 312, 34-313, 8)

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre hieß es noch: „Das ganze Recht der Natur ist ohne bürgerliche Ordnung eine bloße Tugendlehre und hat den Namen eines Rechts bloß als ein Plan zu äußeren möglichen Zwangsgesetzen, mithin der bürgerlichen Ordnung" (A 19, 245, 17-19, R 7084);291 dieser Satz aber kann nach dem Ergebnis der Rechtslehre später nicht mehr zutreffen. Zwar stimmt noch die Aussage der Reflexion, daß das Recht vor dem Staat nur auf diesen gesicherten Rechtszustand hin gilt, aber eben dieses Recht gilt eben nicht nur als „Plan", ist nicht nur „Tugenlehre", sondern auch schon im Naturzustande aufgrund des Erlaubnisgesetzes der prak-tischen Vernunft als wirkliches Zwangsrecht gültig.

Diese Erkenntnis wirft ebenfalls ein neues Licht auf den Rechtsbegriff selbst. Zwar entsteht dieser reine Begriff aus der Möglichkeit der Menschen, sich nach den Gesetzen des friedlichen Nebeneinanders vernünftiger Wesen zu richten, aber zu dieser Idee des Rechts aus der Freiheitsfähigkeit muß zur Entstehung eines Rechts an äußeren Gegenständen eine Befugnis treten, „die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten" (A 6, 247, 2—3).292 Diesen Schritt vom Rechtsbegriff zum Recht an äußeren Gegenständen und damit zur Einschrän-kung und auch Erweiterung dieses Rechtsbegriffs selbst in allen seinen Bedingungen aufzuhellen, bedürfte es eines neuen Ansatzes, der von den Vorarbeiten zur Rechts-lehre im 23. Band der Akademieausgabe auszugehen hätte.

Ziel Kants bleibt allerdings seit dem Umbruch zur kritischen Philosophie stets gleichermaßen, das Privatrecht, so wie Hobbes die natürlichen Gesetze vom Staats-recht trennte, vom Staatsrecht abzuheben und dieses im Gegensatz zu Hobbes dem Machtanspruch des Staates gegenüber zu sichern:

„Die Neuern haben in einigen Wissenschaften keinen Vorzug vor den Alten, ζ. E. in der Logik, Metaphysik und Moral, obgleich ihre Bearbeitungen darin höher zu schätzen sind als das Produkt, so sie wirklich geliefert. - In der Naturkunde und Rechtswissenschaft haben die Neuern einen wirklichen Vorzug. Die Alten vermengten Moral und Recht der Natur mitein-ander, jetzt hat man beide nicht nur unterschieden, sondern sie auch noch vom Staatsrecht abgesondert." (A 24, 1, 334, 5 - 1 2 , Logik Philippi)

2 9 1 S. o. S. 99 292 S. o. S. 156

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160 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Darauf aber, wie schwer es Kant fiel, das Privatrecht als wirkliches Recht gegenüber der Rechtsnotwendigkeit einer unwiderstehlichen Gewalt zu konstituieren, macht die Tatsache aufmerksam, daß die M.d.S. der Rechtslehre wegen, deren bei weitem größten Teil wiederum das Privatrecht ausmacht, trotz der Ankündigungen293

mehr als 20 Jahre nach der Entdeckung des kritischen Freiheitsbegriffs, des daraus entspringenden Rechtsbegriffs und des kategorischen Imperativs als Grundlagen des kritischen Rechts fertiggestellt war.

5.8. Das kritische Völkerrecht aus der verbindlichen Vorstellung des Rechtszustandes

Kants Gedanken zum Völkerrecht haben aufgrund der kleinen populären Schriften von 1784, 1793 und schließlich der Schrift „Zum ewigen Frieden" von 1795 die weiteste Verbreitung gefunden. Daß die kritischen Grundzüge dieses Teils der Rechtsphilosophie ebenfalls auf die Mitte der 70er Jahre zurückgehen, soll die folgende Interpretation der Reflexionen, die vor allem zum Kriegsvölkerrecht vor-liegen, zeigen.

Eine ausschließlich in die kritische Phase der 70er Jahre, 1773—79, datierte Reflexion lautet folgendermaßen:

„Wilde Völker sind die, deren innere Streitigkeiten durch kein Recht entschieden werden, barbarische, deren Krieg kein öffentlich erklärtes Recht und Rechtfertigung vor andern Völkern voraussetzt. Demnach ist das Gleichgewicht im Recht das Merkmal zivilisierter Nationen. Gewalt ohne deklariert Recht ist Gewalttätigkeit. Andre Völker sind die natür-lichen arbitri. Weil es schon in der menschlichen Natur liegt, sich seiner Übermacht zu miß-brauchen, so kommt der Vorwurf der barbarischen Völker denen zu, welche nicht gnugsam einig werden können, die Anmaßungen eines Eroberers zurückzuhalten." (A 19, 527, R 7825)

Kant liefert in dieser Reflexion die Definition eines barbarischen Staates. Diese Definition bildet eine klare Absage an die damals weit diskutierte Auffassung des Grotius, die dieser in der Aufzählung der Gründe eines Strafkrieges aufzeigt. Grotius erlaubt einen Strafkrieg auch gegen die Völker, ,die gegen die Natur sündigen', d. h. die in den Augen ihrer Nachbarn als sittenlos gelten.294 Einen solchen Strafkrieg fordert Darjes z. B. im Namen der Pflicht der Vervollkommnung,295 die Coccejis,296

Gunnerus,297 Wolff,298 Achenwall299 und Eméric de Vattel300 aber lehnen einen

2 9 3 Siehe Karl Vorländer, a . a . O . , S. IX f f . 2 9 4 a . a . O . , 2, 20, 40—43; hier 40, 4: „ E t eatenus sententiam sequimur Innocentii et aliorum

qui bello aiunt peti posse eos qui in naturam delinquunt." 2 9 5 Disc . S. 503 ad § 361 2 9 6 a . a . O . , 12, 722 2 9 7 a . a . O . , 5, S. 419f. 2 9 8 Christian Wolff , lus Gentium, Halle 1749, Repr. Nachdr. Hildesheim/New York 1972 , 637 2 9 9 I . N . , 2, 264 (A 19, 436) 3 0 0 Eméric de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite

et aux affaires des nations et des souverains, London 1758, Repr. Nachdr. Washington 1916, 2 , 1, 7

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Das kritische Völkerrecht aus der Vorstellung des Rechtszustandes 161

solchen Kriegsgrund ab. Kant dagegen stellt die Diskussion auf eine ganz neue Grundlage, indem er nämlich die Barbarei im Rechtsverhältnis der Völker zueinander annimmt. Dementsprechend bildet nicht die Sittenhaftigkeit den Gegensatz zur Barbarei eines Volkes, sondern sein Verhalten angesichts des ,Gleichgewichts im Rechte'. Dieser Begriff des Gleichgewichts im Rechte legt nun seinerseits nahe, zum Verständnis Rousseaus „Extrait du projekt de paix perpétuelle de Monsieur l'abbé de Saint-Pierre", Amsterdam 1761, heranzuziehen, dessen Vorschlag eines Völkerbundes Kant seit 1766 wiederholt erwähnt.301

Rousseau/St. Pierre geht es nun nicht etwa nur um ein faktisches Gleichgewicht, das allerdings aufgrund der stets wechselnden Machtverbindungen und der darum geführten Kriege in Europa wirklich als vorhanden angenommen wird,302 sondern um ein gesichertes rationales Recht für große und kleine Staaten. Dies wird dadurch erreicht, daß dieses faktische Gleichgewicht der europäischen Staatengesellschaft, „commencé par la fortune, peut être achevé par la raison",303 indem die wichtigsten Staaten, vereint in einem ständigen politischen und richterlichen Kongreß, sich gegenseitig Recht und Macht zu dessen Verwirklichung zusichern.304

Wenn Kant auch die engen historischen Bedingungen dieses Vorschlags für unphilosophisch hält,305 so teilt er doch Rousseau/St. Pierres Kritik an der Hoffnung auf ein empirisch selbsttätiges Gleichgewicht der Staaten:

„denn ein dauernder allgemeiner Friede durch die sogenannte Balance der Mächte in Europa ist, wie Swifts Haus, welches von einem Baumeister so vollkommen nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbaut war, daß, als sich ein Sperling darauf setzte, es sofort einfiel, ein bloßes Hirngespinst" (A 8 , 312 , 29 - 33),306

und ordnet mit diesen alle Außenpolitik dem Ziel eines solchen rechtlichen Völker-bundes unter, durch den das an sich nur ,provisorische' Mein und Dein zwischen den Völkern erst ,peremtorisch' werden kann.307 Erreicht Kant demnach überhaupt Rousseau/St. Pierre gegenüber einen Fortschritt, wenn man die Reinigung von historischen Bedingungen, die man leicht als Erläuterung gelten lassen kann, als unerheblich abtut?

301 A 19, 99,, 28-29 , R 6593 (vgl. o. S. 56): „7. Der Völkerbund: das Ideal des Völkerrechts, als die Vollendung der Gesellschaften in Ansehung äußerer Verhältnisse." Weitere Belege im Text genannt.

302 Projet, a. a. O . , S. 24: „Mais qu'on y songe ou non, cet équilibre subsiste et n'a besoin que de lui-même pour se conserver, sans que personne s'en mêle; et quand il se romprait un moment d'un côté, il se rétablirait bientôt d'un autre."

3 0 3 a . a . O . , S. 31 3 0 4 Rousseau/St. Pierre nennt 5 Artikel: 1. Bildung eines Kongresses, 2. Verteilung der Sitze und

Regelung der Einkünfte, 3. Garantie des Besitzstandes und der inneren Verhältnisse eines Staates, 4. gegenseitiger Beistand, 5. Gesetzgebung, a . a .O . , S. 33ff.

305 j j e e z u e i n e r allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7. Satz, A 8, 24, 28—31: „So schwärmerisch diese Idee auch zu sein scheint und als eine solche an einem Abbé von St. Pierre oder Rousseau verlacht worden (vielleicht, weil sie solche in der Ausführung zu nahe glaubten): so ist es doch der unvermeidliche Ausgang der Not . . ."

306 Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht 3 0 7 Rechtslehre § 61, A 6, 350, 8 - 1 2

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162 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Rousseau formuliert das Programm des Völkerrechts im „Emile" folgendermaßen: „Nous rechercherons comment on peut établir une bonne association fédérative, ce qui peut la rendre durable, et jusqu'à quel point on peut étendre le droit de la confédération, sans nuire à celui de la souveraineté."308

Wie Rousseau sich den Endzustand vorstellt, haben wir gesehen, aber hat er selbst

die Frage klären können, w i e man zu diesem Zustand gelangt? Zwar will auch

Rousseau im Völkerrecht nicht die Moral strapazieren, sondern setzt nur die Einsicht

in den eigenen Nutzen voraus und „assez de courage pour faire leur propre

bonheur",3 0 9 aber scheint es nicht gerade von größerem Nutzen zu sein, den

Eroberer zu spielen, oder macht nicht gerade die Tatsache, „que les hommes sont

insensés",310 jeden Friedenszustand unter Völkern hoffnungslos unmöglich?

Nun möchte Kant nach den Worten des .Ewigen Friedens' (A 8, 355) gerade nicht

den ,leidigen Tröster' im Völkerrecht abgeben, wie es seiner Meinung nach Grotius,

Pufendorf und Vattel sind, ein Vorwurf der Rechtsphantasie, der sich recht gut am

letztgenannten Autor zeigen läßt, dessen Werk Kant in Übersetzung besaß.311 Vattel

verteidigt die absolute Unabhängigkeit eines jeden Staates gegen die civitas maxima

Christian Wolffs, einer fiktiven Konstruktion,312 gerade damit, daß die Völker

aufgrund ihres natürlichen rechtlichen Verhältnisses des stärkeren Bandes einer

Gesetzgebung, in welcher Form auch immer, gar nicht bedürfen:

„Les états se conduisent autrement que des particuliers. Ce n'est point d'ordinaire le caprice ou l'aveugle impétuosité d'un seul, qui en forme les résolution, qui détermine les démarches publiques: On y apporte plus de conseil, plus de lenteur et de circonspection: Et dans les occasions épineuses ou importantes, on s'arrange, on se met en règle par le moyen des traités."313

Ganz im Gegensatz dazu aber teilt Kant das vernichtende Urteil Rousseaus/St.

Pierres über den gegenwärtigen angeblich rechtlichen Zustand der Völker unterein-

ander:

„D'ailleurs, le droit public de l'Europe n'étant point établi ou autorisé de concert, n'ayant aucuns principes généraux, et variant incessamment selon les temps et les lieus, il est plein de règles contradictoires qui ne se peuvent concilier que par le droit du plus fort; de sorte que la raison sans guide assuré, se pliant toujours vers l'intérêt personnel dans les choses douteuses, la guerre serait encore inévitable, quand même chacun voudrait être juste. Tout ce qu'on peut faire avec de bonnes intentions, c'est de décider ces sortes d'affaires par la voie

308 a . a .O. , S. 848 309 a . a .O. , S. 58 aio ebd. 311 „Völkerrecht; oder: gründliche Anweisung wie die Grundsätze des natürlichen Rechts auf

das Betragen und die Angelegenheiten der Nationen und Souveräne angewendet werden müssen . . . Aus dem Französischen übersetzt von Johann Philip Schulin. Drei Teile. Frank-furt und Leipzig 1760", Warda, a .a .O. , 8, 16

312 I.G., 21: „Fingi potest rector civitatis maximae, qui ductum naturae secutus recto rationis usu définit, quaenam gentes inter se pro iure habere debeant, etsi gentium iuri naturali non per omnia serviat nec in totum ab eo recedat." Schol.: „Fictiones non inutiliter admittuntur in omni scientiarum genere cum ad veritates eruendas, tum demonstrandas."

3 , 3 a .a .O. , Préface, S. XIX

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Das kritische Völkerrecht aus der Vorstellung des Rechtszustandes 163

des armes ou de les assoupir par des traités passagers; mais bientôt aux occasions qui raniment les mêmes querelles, il s'en joint d'autres qui les modifient; tout s'embrouille, tout se complique; on ne voit plus au fond des choses; l'usurpation passe pour droit; la faiblaisse pour injustice; et parmi ce désordre continuel, chacun se trouve insensiblement si fort déplacé, que si l'on pouvait remonter au droit solide et primitif, il y aurait peu de souverains en Europe qui ne dussent rendre tout ce qu'ils ont."3 1 4

Da gegen einen solchen Zustand der Barbarei im Völkerrecht nach Kant keine Tröstungen helfen, der Endzustand eines Völkerbundes aber weit in der Ferne liegt, zieht sich das ganze Problem des Völkerrechts zwischen Utopie und leerer Behaup-tung darin zusammen, wie im gesetzlosen Zustand der Völker untereinander über-haupt der Ansatz eines wirklichen Rechts zu konstituieren ist, dem die Nichtigkeit nicht auf den ersten Blick nachgewiesen wird.

Barbarisch nennt Kant die Völker, „deren Krieg kein öffentlich erklärtes Recht und Rechtfertigung vor andern Völkern voraussetzt" (A 19, 527, 24-25, R 7825);31S d. h. in der Kriegsführung selbst steckt nach Kant das Kriterium der Rechtsbarbarei, bzw. der Rechtszivilisation der Völker. Eben weil der Krieg als „medium necessitatis ius suum persequendi" (A 19, 529, 31, R 7833)316 im Naturzustand der Völker unterein-ander stets als Möglichkeit vorhanden sein muß, kann der Grund des Übergangs zu einem wirklichen Frieden nur in der Kriegführung selbst liegen, d. h. im Kriegs-völkerrecht. Zwar fand Kant zu diesem Bereich des Völkerrechts zahlreiche Streit-punkte und noch mehr Antworten vor, trotzdem konnte er keinen der Lösungs-versuche akzeptieren, wie eine kurze Übersicht zeigt.

Eine Vorfrage bildet die des Strafkrieges, dessen Unmöglichkeit Kant u. a. mit Pufendorf,317 Thomasius,318 Gundling,319 Köhler,320 und Achenwall321 gegen Grotius,322 die Coccejis,323 Wolff,324 Darjes,325 Gunnerus326 und Vattel327 seit der 2. Phase der Rechtsphilosophie328 annimmt:

„ Es gibt unter freien Staaten keinen Krieg, der als ein Verbrechen, das Strafe verdiene, könne angesehen werden, weil jeder iudex putative competens ist; viel weniger kann der Soldat Verbrecher sein." (A 19, 546, 23-25 , R 7892, 1 7 7 2 - 7 8 ) " '

3 1 4 a . a . O . , S. 21/2 3 1 5 S. o. S. 160 3 1 6 S. u. S. 168 3 1 7 I .N .G . , a . a . O . , 8, 3, 7 3 1 8 a . a . O . , 3, 7, 12 3 1 9 a . a . O . , 8, 16; vgl. 35, 105 3 2 0 Spec. 7, 1620 3 2 1 I .N . , 2, 219 (A 19, 422) 322 a . a . O . , 2, 1, 2, 2 3 2 3 a . a . O . , 12, 719 324 I .G . , 616 325 Disc. S. 502 ad § 365 3 2 6 a . a . O . , 5, S. 416ff.; dieser nennt noch weitere Autoren. 3 2 7 a . a . O . , 3, 3, 41 3 2 8 S. o. S. 34; A 19, 415, 9, E 7498, 1766-71: „Nullum bellum est punitivum." 3 2 9 S. o. S. 102

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164 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Das eigentliche Problem aber muß für Kant, wie auch immer der Krieg begründet sei, darin bestehen, wie, d. h. nach welchen Regeln, die Völker sich im Gebrauch ihrer Notmittel verhalten. Dieses Wie aber ist in der damaligen Diskussion die Frage der erlaubten und unerlaubten Waffen.

Ausgangspunkt der Diskussion ist wiederum Grotius, der ein uneingeschränktes Tötungsrecht einräumt,330 als Waffe allerdings das Gift ausschließt331 und aufruft, nach Möglichkeit Nichtkombattanten, vor allem Kinder und alte Leute zu scho-nen.3 3 2 Den extremsten Standpunkt in der aus diesen Thesen entstandenen Kontro-verse nimmt Gundling ein. Er meint, gegen Feinde sei jedes Mittel erlaubt, jede Waffe und jede Kampfform:

„ E s t enim hostis, quem terrere et occidere licite possumus, unde a quo occidatur et terreatur, vix re fer t . " 3 3 3

Wer nämlich anders verfahre, behandle Feinde nicht als solche, sondern als Freunde.334 Alle anderen Autoren schränken diesen äußersten Standpunkt mehr oder weniger ein. So erlaubt Heinrich Köhler zwar alle Mittel im Krieg, solange kein Vertrag darüber geschlossen ist, unterwirft diese Mittel im Sinne des moderamen inculpatae tutelae dem Gesetz der Verhältnismäßigkeit.335 Diesem Standpunkt schließt sich Achenwall an.3 3 6 Gunnerus zeigt sich in seiner Polemik gegen Darjes als Anhänger Gundlings für den Fall, daß alle gemäßigten Mittel versagen.337

Darjes macht nämlich grundsätzlich die Schonung der Nichtkombattanten zum Krite-rium der erlaubten Waffen, weshalb er auch Gift verbieten will.338 Er nähert sich damit der Meinung der Coccejis, die zwar alle Waffen und Repressalien zulassen, allerdings Kinder grundsätzlich ausnehmen.339 Den gemäßigsten Standpunkt nimmt Vattel ein, der sich darüber empört, daß Wolff gegen Grotius sogar das Gift er-laubt,3 4 0 indem er mit beredten Worten die Erhaltung des Vertrauens unter den kriegführenden Parteien zum Maß der Mittel erhebt:

„ C e serait une erreur également funeste et grossière de s'imaginer, que tout devoir cesse, que tout lien d'humanité soit rompu, entre deux nations qui se font la guerre. . . . La guerre

3 3 0 a . a . O . , 3, 4, 6 f f . 3 3 1 a . a . O . , 3, 4, 15f. 3 3 2 a . a . O . , 3, 11, 8f. 3 3 3 a . a . O . , 8, 42 3 3 4 a . a . O . , 8, 43 3 3 5 Spec. 1936 ff. 3 3 6 I. Ν . , 2, 268; 270; 272 ; 278 (A 19, 437ff .) 3 3 7 a . a . O . , 5, S. 360f. ad § 349 3 3 8 Disc. S. 487ff . ad § 351 3 3 9 a . a . O . , 10, 17c; 12, 740ff. 3 4 0 Wolff, I . G . , 877f. ; Vattel, a . a . O . , 3, 8, 155; Pref. S. X V I f . - Daß dieser Standpunkt Kant

am nächsten kam, bestätigt auch das Naturrecht Feyerabend, das innerhalb des Völkerrechts nur auf das Kriegsrecht eingeht: Obwohl das Völkerrecht noch nicht auf allgemeine Prinzi-pien gebracht sei, sei Vattel „das beste Buch hievon nachzulesen." Kant nennt besonders das hier herangezogene Kapitel 3,8: „ D u droit des nations dans la guerre et 1. de ce qu'on est en droit de faire et de ce qui est permis, dans une guerre juste, contre la personne de l 'ennemi"; Naturrecht Feyerabend S. 129, vgl. o. S. 162

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Das kritische Völkerrecht aus der Vorstellung des Rechtszustandes 165

dégénérerait dans une licence effrénée et cruelle; ses maux n'auraient plus de bornes. Et comment pourrait-on la terminer enfin et rétablir la paix? S'il n'y a plus de foi entre ennemis, la guerre ni finira avec quelque sûreté, que par la destruction entière de l'un des partis."341

Sucht man in der Vielfalt der angenommenen Kriterien das Gemeinsame, dann liegt es nicht im Bezug auf den Gebrauch der Waffen selbst Menschen gegenüber, sondern im Ziel des Krieges, das allen Autoren gemeinsam ist. Das wird am deutlichsten bei Vattel. Selbst wenn sich dessen Verknüpfung des gegenseitigen Vertrauens mit der Möglichkeit des Friedens bei Kant wiederfinden wird, so sind doch alle Maßnahmen im Krieg vom Kriegsziel abhängig, das folgendermaßen lautet:

„Ce droit d'user de force ou de faire la guerre n'appartient aux nations que pour leur défense et pour le maintien de leurs droits. . . . Nous déduirons encore du même principe le but ou la fin légitime de toute guerre, qui est de venger ou de prévenir l'injure. . . . Nous pouvons donc marquer distinctement cette triple fin de la guerre légitime: 1°. Nous faire rendre ce qui nous appartient, ou ce qui nous est dû. 2°. Pourvoir à notre sûreté pour la suite, en punissant l'agresseur ou l'offenseur. 3°. Nous défendre ou nous garantir d'injure, en repoussant une injuste violence."342

D . h. das Ziel des Krieges, das eigene behauptete Recht, die eigene Machtausübung ist das Maß jeder Kriegführung und weist an Kriterien nicht darüber hinaus. Man kann behaupten, daß dieser Konzeption des Krieges, die alle genannten Autoren vertreten, eine solipsistische Auffassung vom Kriege und damit vom Recht zugrunde liegt, wie auch der Friede gerade dadurch definiert wird, daß das angenommene eigene Recht durchgesetzt ist, bzw. zeitweilig ohne Krieg behauptet werden kann. Typisch für d ¡ e s e Definition des Friedens als Nicht-Krieg ist die Christian Wolffs:

„Pax dicitur status, in quo nobis cum nemine bellum est. . . . In pace consequendi vel tuendi iuris nostri causa cum nemine per vim certandum, consequenter iure nostro quiete fruimur."3 4 3

Uberspitzt formuliert stellt für Kants Vorgänger der Krieg das Maß des Friedens dar.

F ü r Kant soll nun, wovon wir ausgegangen sind, „öffentlich erklärtes Recht und Rechtfertigung vor andern Völkern" (A 19, 527, 2 4 - 2 5 , R 7 8 2 5 ) 3 4 4 Kriterium der Barbarei und Zivilisation sein. Worin aber soll wiederum der Maßstab dieses öffentlich erklärten Rechts liegen, wenn es gerade nicht blinde Selbstbehauptung sein soll? Von Notwendigkeit und Inhalt öffentlicher Erklärungen 3 4 5 im Völkerrecht handelt die Reflexion 7818 :

„In einer Sache, die ich vor gerecht halten kann, öffentlich die Maxime zu äußern, daß ich öffentliche Gewalt brauchen wolle, ist der Natur der Sache gemäß. Dagegen Angriffe ohne Kriegsankündigung (dazu gehören nicht die Kapereien), Giftmischen, Meuchelmord, ange-stiftete Verräterei, Bestechen der Diener des andern, falsch Geld münzen, auf Maximen sich

3 4 1 a . a . O . , 3, 10, 174 3 4 2 a . a . O . , 3, 3, 26 u. 28; vgl. Wolff, I .G. , 617; Achenwall, I .N., 2, 259; auch die angegebenen

Stellen zum Strafkrieg. 3 4 3 I .G. , 960 u. 959 3 4 4 S. o. S. 160 3 4 5 Zur Öffentlichkeit der Maxime in früheren Phasen siehe oben S. 874 5 . Zur folgenden Re-

flexion s. o. S. 87f.

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166 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

gründen, die man sich nicht äußern kann. Der Verlust vergeblich. Wenn der Nachteil, der mir aus der Bekanntmachung meiner Maxime zuwachsen würde, größer wäre, als der Verlust meiner Absicht sein kann, so ists unmöglich, sie als bekannt anzunehmen. N u n sind alle tückischen Handlungen von der Art. — Handlungen, deren Maxime notwendig dissimuliert werden muß, sind unrecht. Die Maxime aller rechtmäßigen Handlungen muß öffentlich sein und von der Art, daß sie von jedem wenigstens angenommen werden kann." (A 19, 526, 24— 527, 3)

Auf welches Ziel sich nun wiederum diese Öffentlichkeit der Maxime bezieht, zeigt die Reflexion 7833:

„ E s ist kein Recht des Krieges (in demselben), wenn man sich nicht versprechen kann, daß der andere Teil ebenso verfahren werde und daß alle in gewissen Grundsätzen einig sein. Diese Grundsätze sind solche, ohne welche gar keine Sicherheit und also Frieden sein würde. Also gründet sich das Recht des Krieges auf den quasi contractum gentium. Es sind aber die Grund-sätze, daß man zwar seine Absichten geheim, aber die Regel derselben öffentlich annehmen müsse. Daß alle Völker natürliche mediatores jedes Streites sein, daß eine amicabile Kompo-sition tentiert werde . " (A 19, 529, 1 9 - 2 6 , R 7833, 1769-79)

Handeln nach gemeinsamen Grundsätzen ist überhaupt nur möglich, wenn diese gegenseitig öffentlich bekannt sind: diese Kenntnis voneinander stellt zwischen den Völkern einen vertragsähnlichen Zustand her.3 4 6 Ohne diese gegenseitige Kenntnis, d. h. bei völliger, nach außen erscheinender Regellosigkeit des Gegenübers ist ein Frieden gar nicht erst zu erhoffen. Als Beispiel solcher mangelnder Einschätzbarkeit des Gegners nennt Kant immer wieder das Gift, dessen Gebrauch im Krieg zum formalen Unrecht gehört, „ o b es zwar nicht dem Recht der Feinde widerstreitet", einem ,viel größeren* Unrecht als dem materialen. (A 19, 241, 14-16 , R 7067)3 4 7

Es ist gerade das Wesen des formalen Unrechts, daß es das Recht, das auf der Form der Freiheit beruht, und damit jeden Friedenszustand überhaupt unmöglich macht.

Kehrt man von der Tatsache, daß Gebrauch von Gift jede Rechtsverwirklichung unmöglich macht, zu Kants Definition der Barbarei im Völkerrecht zurück, dann besteht diese in nichts anderem, als daß ein Barbar im Völkerrecht sich nicht am Frieden, sondern am permanenten Krieg orientiert.

Mit dieser Umkehrung des Kriegsvölkerrechts bekommt der Krieg bei Kant eine seinen Vorgängern völlig entgegengesetzte Bedeutung:

„ D e r Satz: exeundum est e statu naturali, bedeutet: Man kann jeden zwingen, mit uns oder unserer Republik in statum civilem zu treten. Daher der Krieg in dieser Absicht allein gerecht i s t . " (A 19, 503, R 7735, 1773 - 77?)

D a es im Völkerrecht nicht um Souveränität über Personen oder Staaten schlecht-hin geht, sondern nur um gesichertes und geregeltes Nebeneinander, kann der Sinn eines Völkerkrieges nichts anderes als die Ermöglichung eines gesetzmäßigen Zu-standes in der Form eines Völkerbundes sein:

„Wenn Völkerschaften unter sich ein Gesetz und gemeinschaftliche Gewalt gründen, so er-richtet sich äußere Sicherheit. Völkerbund: St. Pierre." (A 15, 790, 1 8 - 2 0 , R 1501, 1775-89)

3 4 6 Diesen Begriff des Quasi-Kontrakts gebraucht ebenfalls Wolff zur Begründung seiner civitas maxima. I . G . , 12 Schol.

3 4 7 Vgl. o . S. 90 5 1

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Das kritische Völkerrecht aus der Vorstellung des Rechtszustandes 167

Damit aber ist das Bindeglied zwischen dem chaotischen Zustand des gegen-wärtigen Völkerrechts und der Utopie des Völkerbundes als Antwort auf Rousseau/ St. Pierre gegeben, indem dieser selbst als gesicherter Friedenszustand unter Völkern notwendig zum Maßstab aller Außenpolitik wird, wie eine Verschreibung Kants in der Reflexion 8070 es kurz formuliert: „Pacem parare bello" (A 19, 601, 6) . 3 4 8

Nun spricht Kant ebenfalls vom „Gleichgewicht im Rechte" als Merkmal zivili-sierter Nationen in der Reflexion, von der wir ausgegangen sind.349 Dieses Gleich-gewicht muß zumindest als Maßstab der Außenpolitik schon vor einem Völkerbund stattfinden. Wie soll das möglich sein? Ziel eines jeden Krieges kann, wie eben gezeigt, nur ein Friede sein, der nicht in einer zeitweiligen Aufhebung des Krieges, sondern in einem Zustand besteht, zu dem sich beide Parteien das Ende aller gegen-wärtigen Konflikte vertraglich zugesichert haben. Im Anschluß an den § 282 Achenwalls formuliert Kant, daß ein solcher echter Friede nur dadurch entstehen kann, daß er „als ewige Aufhebung alles Rechtsstreits aus Gründen, die gegenwärtig existieren, angesehen" wird (A 19, 530, 17—18, R 7837): Dann heißt es:

„Mithin macht der Friede einen neuen Abschnitt zwischen zwei Staaten, über den hinaus zurück nichts hervorgesucht werden darf, was nicht als abgemacht betrachtet würde." (A 19, 530, 2 3 - 2 6 , R 7837, 1773-89)

Dieser vertragsgemäße Zustand nach vereinbartem Abschluß eines Streits wird aber erst dadurch vollkommen, daß vertragliche Möglichkeiten zur vertraglichen Regelung neu entstehender Konflikte im Sinne von Rousseaus/St. Pierres Völkerbund vorge-sehen werden, d. h. ein wenn nicht gesetzlicher, so doch positiv vertraglicher Zustand unter Staaten, der durch vertragliche Zusicherung der gegenseitigen Hilfe als gemein-samer Macht regellosen Krieg als Mittel der Politik ausschließt. So wie der Krieg nur in Hinsicht auf den bürgerlichen Zustand gerecht sein kann, so bildet der Völkerbund als allein gerechtes Ziel eines Krieges unter Völkern eine ,Analogie' oder ein ,Surrogat' des Staatsrechts, wie Kant es später nennt.350

Die kriegführenden Politiker müssen ihre Entscheidung demnach stets davon abhängig machen, ob die Maßnahme einen positiven vertraglichen Zustand ermöglicht oder nicht, d. h. in Analogie zum Staatsrecht, ob die Regel, die hinter der außen-politischen Maßnahme steckt, ein Gesetz bzw. im Völkerbund ein durch gemeinsame Hilfe gesicherter Bündnisartikel sein könnte. Nichts anderes aber als die Vorstellung einer positiven allgemeinen Gesetzgebung beinhaltet der kategorische Imperativ. Dieser enthält nun sowohl das Kriterium der Öffentlichkeit, das jedem Gesetz überhaupt anhaften muß, als auch die Bedingung, daß die Maxime wie ein positives Gesetz „von der Art" ist, „daß sie von jedem wenigstens angenommen werden kann" (A 19, 526, 3, R 781 8) . 3 5 1 Weiterhin gebietet der kategorische Imperativ gerade Soli-

3 4 8 1 776 - 89 3 4 9 S. o. S. 160 3 5 0 Th. u. Pr. im Völkerrecht, A 8, 312, 2 7 - 2 8 ; Ew. Friede, 2. Def. Art, A 8, 357, 15;

Rechtslehre § 61, A 6, 350, 11 3 5 1 S. o. S. 165 f.

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168 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

darität unter den Staaten, da nur diese den Mangel an souveräner Macht, auf die jedes friedliche Nebeneinander der Menschen und Staaten angewiesen ist, ersetzen kann:

„Die allgemeine Gewalt wird als irresistibel angesehen. Weil aber jedermann, der an das Recht gebunden ist, sich auf sein Recht muß verlassen können, so folgt daraus eine Verbindlichkeit des Völkerrechts jedem, dem eine offenbare Gewalt geschieht, beizustehen." (A 19, 525, 16-19 , R 7818)352

Nach der Reflexion 7825 aber sind barbarische Völker aber gerade die, die sich dieser Pflicht der Solidarität entziehen.

Fragt man nun wiederum nach der Möglichkeit des Gleichgewichts im Rechte als „Merkmal zivilisierter Nationen", dann muß dieses in der Anwendung des kate-gorischen Imperativs begründet liegen, indem nämlich die verantwortlichen Politiker jeden anderen Staat, und sei er noch so schwach, als einen solchen betrachten, mit dem sie in einem positiven Völkerbunde zusammenzuarbeiten willens sind. So erweist sich der kategorische Imperativ ebenso als oberste Regel der sociabilitas unter Staaten, die den gesetzmäßigen Frieden gebietet und alle Mittel verbietet, die ein gesichertes, friedliches Nebeneinander von Staaten wie von Menschen unmöglich machen würden.

Gewaltanwendung selbst kann zwischen Staaten nicht verboten werden, da keine andere Macht an die Stelle der eigenen treten könnte. Aber der Krieg selbst gewinnt unter dem kategorischem Imperativ als Friedensregel ein anderes Gesicht: Er dient nicht der solipsistischen Rechtfertigung der eigenen Macht- und Rechtsposition, sondern der bedauerlichen Austragung eines kontroversen Rechts, die in Analogie zum Zivilprozeß — da ein Strafprozeß zwischen Völkern grundsätzlich nicht möglich ist — der Regeln bedarf, um zu einem Ende zu führen:

„Der Krieg ist bloß ein Gebrauch der Gewalt in Ermangelung der Rechtspflege in statu naturali. Es ist also der Feind kein Beleidiger, sondern der Gegenpart in der Behauptung eines zweifelhaften Rechts. Also muß es weder Haß noch Rache darin geben. Das Übel des Krieges kann nur den Gebrauch der Waffen betreffen und das Recht der Menschen unangetastet lassen." (A 19, 527, R 7824, 1773 - 79)353

Selbst Reparationen werden demgemäß Teil dieser Art Prozesse im Naturzustand: „Die Verlangung der Kriegskosten ist nur eine Deklaration gegen andre Mächte, daß man durch den Krieg nicht habe akquirieren wollen." (A 19, 528, 19-21, R 7829, 1772 - 78)

Angesichts dieser notwendigen Regelhaftigkeit selbst eines Krieges kann die Reflexion 7623 nicht, wie Ritter es tut354, zur Interpretation des kritischen Völker-rechts herangezogen werden:

„ D a der victor ein Recht hat, die Eltern zu töten oder in Knechtschaft zu bringen, so hat er auch ein Recht, sie der Kinder zu berauben." (A 19, 471, R 7623, 1769-75),

zumal dieser eine andere vielleicht noch aus der 2. Hälfte der 70er Jahre widerspricht: „Wer ist hostis: der Bewaffnete oder Unbewaffnete des feindseligen Staats? Der Bürger, der gänzlich passiv ist und bereit, jedem zu gehorchen, der Gewalt über ihn hat, ohne feindselig zu handeln, ist der Gegenstand des Streits, wer ihn beherrschen soll, und man kann ihm nichts nehmen, außer wenn man ihn zugleich sich unterwirft und so gegen jedermann schützt. —

3 5 2 Zum Zusammenhang der Reflexion s. o. S. 87 und S. 165f. 353 Vg] Naturrecht Feyerabend S. 100 3 5 4 a . a .O . , S. 316/7

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Das kritische Völkerrecht aus der Vorstellung des Rechtszustandes 169

Er kann nur seinen Herrn verändern, denn der Krieg wird gegen den Staat und nicht gegen einzelne, folglich nur gegen den Souverain als solchen, geführt." (A 19, 601, R 8073, 1776—89)

Es liegt nahe, den Widerspruch der Reflexionen wiederum als Datierungsproblem

zu erklären, da nach 1772 noch nicht einmal ein Strafkrieg gegen Soldaten erlaubt

ist3SS . Die Überlegung, daß die Reflexion 7623 nach κ zu datieren ist, wird dadurch

gestützt, daß der Sieger den Staat als den Garanten des Elternrechts um 1770 zerstört

und sich damit die Kinder gewissermaßen als res nullius aneignen kann.3 5 6 Im kriti-

schen Völkerrecht jedenfalls hat selbst der Sieger die natürlichen Rechtsbindungen zu

respektieren und zu sichern.357

Aus dem absoluten Friedensgebot des kategorischen Imperativs ergibt sich eine

weitere Konsequenz, nämlich daß Friedensschlüsse diktiert werden können:

„Eine Einwilligung zu Handlungen, zu welchen ich jemand zwingen kann, bedarf ich nicht. Und bei einer Einwilligung, die ich erzwungen habe, ist mein Recht nicht aus der Einwilligung, sondern auf der Rechtmäßigkeit meiner Forderung gegründet." (A 19, 527/8, R 7876)35e

Diese Ableitung bildet ganz im Sinne der Reflexion 7824 eine Antwort auf § 304

des 1. Teils von Achenwalls Naturrecht, der vom Krieg zweifelhaften Rechts, welche

Eigenschaft nach Kant eben auf alle Kriege zutrifft, handelt:

„Pactum bello iusto, cui et aequipollet bellum super causa dubia, hosti extortum, nequit dici iniustum; eatenus datur pactum vi (iusta nimirum) extortum, quod est validum et quo propterea etiam Iis de iure dubio terminatur."

Nur läßt Achenwall aus Gewalt selbst einen Vertrag entstehen, an den der Unter-

worfene gebunden ist, während Kant die Argumentation umkehrt und allein vom

Recht des Zwingenden ausgeht. Christian Ritter hat recht, wenn er dazu auf das

Herrenrecht verweist,3 5 9 in dem nach Achenwall erzwungene Verträge möglich

sind, 3 6 0 zu denen Kant aber notiert:

„Ius vi obligandi non datur, sed ius obligationis praestationem vi extorquendi." (A 19, 475, 18 -19 , R 7639, 1769-75)

D. h. der Rechtszwang des Siegers hängt keineswegs von der Verbindlichkeit des

Unterworfenen ab, sich der Macht zu beugen, sondern in Analogie zum Strafrecht

von der Geltung der objektiven Norm, hier der absoluten Pflicht zum Frieden.361

355 S. o. S. 163, R 7892 3 5 6 S. o. S. 134 f. 3 5 7 Selbst das unbegrenzte Verteidigungsmodell, das das Naturrecht Feyerabend entwirft, führt

zur Forderung der absoluten Regelhaftigkeit in der konkreten Anwendung, S. 100ff. ; vgl. S. 108. Vgl. M.d.S. Rechtslehre § 60, 1. Satz

358 Diese Reflexion - 1769-78 - wird datiert durch A 19, 528, R 7830, 1773-79: „Durch den Sieg bekommt er die Gewalt, den andern zur Untertänigkeit zu zwingen, durch die Laesion des andern hat er ein Recht dazu. Die Einstimmung des andern ist überflüssig darum, weil sie nicht willkürlich ist. Das eine ist nötig, daß ihm nur angekündigt werde, daß er zu gehorchen habe. Es scheint hier nur zu fehlen, daß der andre Teil wisse, daß er Untertan sein solle. Ein Versprechen ist nur nötig, wo ein praestandum nicht erzwun-gen werden kann." — Zur Sache ebenso Naturrecht Feyerabend S. 108

3 5 9 a . a .O . , S. 317 3 6 0 I .Ν., 2, 72 (A 19, 358ff.) 361 In dieser Lösung Kants steckt ein Aspekt der Diskussion um die erzwungenen Eide zwischen

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Page 101: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1762-1780) || 5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

170 Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie

Gerade aufgrund der Entdeckung der Geltung dieser absoluten N o r m entgeht Kant dem Vorwurf des .leidigen Trösters' , indem der kategorische Imperativ selbst als Regel des gesetzmäßigen Friedens wirkliche gesetzmäßige Macht unter den verbün-deten Staaten fordert. Welchen Stellenwert Kant daher dem Völkerrecht für das Schicksal der Menschheit einräumt, geht aus dem hervor, was Kant heilig nennt:

„Alles ist heilig, was das letzte und oberste Mittel ist, das Recht der Menschen zu erhalten. Also ist das Gut eines andern, das Versprechen, was ich einem Mitbürger tue, nicht heilig, aber Verträge unter Völkern, Friedensschlüsse, vornehmlich die obere Gewalt des Souverains, voraus aber der göttliche Wille ist heilig, weil über dem gar kein Mittel ist, das Recht zu bestimmen und zu sichern." (A 19, 529, R 7832, 1772-78)

D e r Inhalt dieses göttlichen Willens, der als „Urbild des vollkommensten Willens" nicht „der Auktor des moralischen Gesetzes, sondern . . . das moralische Gesetz" selbst ist (A 19, 247 , 9 - 1 1 , R 7092, 1772 - 7 8 ) , 3 6 2 eben das absolute Friedensgebot des kategorischen Imperativs, d. h. allein die Heiligkeit der Verbindlichkeit, die Regelhaftigkeit eines positiven vorgestellten Rechtszustandes zum Maßstab der Hand-lung zu machen, kann den Frieden der Staaten untereinander der Wirklichkeit ein Stück näher bringen.

Daß diese Möglichkeit eines wirklichen Friedenszustandes aber wiederum vom Gebrauch der Freiheitsfähigkeit des Menschen als Politiker und dessen Wahl des Rechtsstandpunktes abhängt, formuliert Kant im Anthropologienachlaß:

„Es ist noch immer etwas Barbarisches an den Staaten, daß sie sich in Ansehung ihrer Nach-barn keinem Zwange eines Gesetzes unterwerfen wollen. Erleuchtetere Begriffe, wozu Philo-sophen und Geistliche beitragen müssen, können dieses allein bewirken. Die Erziehungs-kunst, Begriffe der Sitten und Religion liegen noch in ihrer Kindheit. Man hat keinen Monar-chen, der etwas zum Besten des menschlichen Geschlechts tun will, auch nicht einmal zum Besten des Volks, sondern nur vor das Ansehen des Staats, also auch nur vor das äußere." (A 15, 617, R 1416, 1 7 7 2 - 7 8 ) 3 "

O b aber eine Aussicht darauf besteht, daß einmal Politiker vom .äußeren' Macht-zustand der Staaten zum inneren der Rechtsverhältnisse nach der Idee des Rechts übergehen, kann nicht die Rechtsphilosophie, die allein die Bedingungen des Rechts dazu aufzeigen kann, behandeln, sondern nur der Teil der Philosophie, der sich mit berechtigten Hoffnungen an die Geschichte beschäftigt.

Grotius, a . a .O . , 3, 13, 14f., und Pufendorf, a .a .O. , 4, 2, 5, deren ersterer deren Geltung verteidigt, deren zweiter ebendieselbe ablehnt. Nach Gunnerus, a .a .O. , 6, S. 119-143, Schloß sich bei weitem die Mehrzahl der Naturrechtslehrer Pufendorf an, so u. a. Thomasius, Gundling, Köhler, Rüdiger, Wolff und Darjes. Das Paradebeispiel des zwingenden Straßen-räubers wird von Kant in Analogie zum vermeintlichen Menschenrecht zu lügen' aus dem Gesetz der sociabilitas gelöst. S. o. S. 32, Naturrecht Feyerabend S. 68. Vgl. Hobbes, o. S. 52, der wie Grotius Völkerrecht und Privatrecht, Rechtszwang und Rechtspflicht unge-trennt nebeneinanderstellt.

3 6 2 S. o. S. 75 3 6 3 A 15, 610/1, R 1400

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