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Die Erfolgsgeschichte eines Spaltprodu kts Jens Simon und Tasso Springer Seine Wellennatur macht das Neutron fur Streuexperimente der Festkorper- und Materialforschung, der Chemie und der Biologie zu einer unersetzlichen Sonde fur die Anordnung und Bewegung der Atome in kondensierter Materie. s dauerte eine Zeitlang, bis die Wissen- E schaft das Neutron - und infolgedessen auch sein quantenmechanisches Doppelleben als Welle und Teilchen - aufgespiirt hatte. Er- nest Rutherford hatte bereits im Jahr 1920 uber die mogliche Existenz eincs bis dahin unentdeckren neutralen Teilchens spekuliert. Im Jahre 1930 erzcugten Bothe und Becker bei Kernreaktionen von Beryllium mit a-Teil- chcn zwar Neutronen, interpretierten diese aber als y-Strahlung. James Chadwick wieder- holte 1932 das Beryllium-Experiment und fand die korrekte Interpretation [I]. Es mug- ten Teilchen sein, welche die Beryllium-Kerne aussandten - nur so Lei3 sich die Riickstof3- energie von Protonen und Stickstoffatomen erklaren, die die bis dahin unbekannte Strah- lung aus verschiedenen Materialien heraus- schlug. Insbesondere mufiten es neutrule Teil- chen sein - nur so Lei3 sich erklaren, daf3 sie tief in Materie eindringen konnten. Chadwick hatte somit das Neutron als ungeladenes Teil- chen experimentell gefunden. Es dauerte aber noch mehr als ein Jahrzehnt bis die Vielfalt des Neutrons als Sonde, urn atomare Struktur und Dynamik kondensier- ter Materie zu erforschen, offensichtlich wur- de. Zwei Physiker, die daran entscheidenden Anted hatten, Clifford G. Shuil und Bertram N. Brockhouse, sind 1994 fur ihre Pionier- arbeiten auf dem Gebiet der Neutronenstreu- ung mit dem Nobelpreis fur Physik ausgc- zeichnet worden (Abbildung 1). ,,Laue" mit Neutronen Die Quantenmechanik, die jedem Teilchen in gewissen Versuchsanordnungen auch Wellen- natur zugesteht, lafit dies auch dem Neutron Ein NaC1-Kristall im Neutronenstrahl des Oak Ridge Reaktors; Laue-Aufnahme mit Neutronen aus dem Jahre 1948 [2], vergleiche auch Abb. 2. billig sein. Ahnlich wie Rontgenstrahlen am Kristallgitter eines Festkorpers gebeugt wer- den, sollte es auch moglich sein, mit Neutro- nen Beugungsbilder von kristallinen Atoman- ordnungen zu erzeugen. In der ,,klassischen" Laue-Anordnung (Max von Laue erhiclt fur seine Entdeckungen 1912 den Nobelpreis) trifft dabei ein feiner Rontgenstrahl auf einen Kristall und wird durch die regelmafiige Atomanordnung in verschiedene und genau definierte Richtungen gcbeugt. Auf einem Film aufgefangen, erzeugen die gebeugten Strahlen ein fur den Kristall charakteristisches Beugungsrnuster: eine regelmafiige Anord- nung von Punkten, aus deren Lagen die Kristallstruktur ruckgerechnet werden kann. Clifford Shull, der sich 1946 der Gruppe von Ernest Wollan am Graphitreaktor in Oak Ridge, Tennessee, USA, angeschlossen hatte, wiederholte das Laue-Experiment [2]: Statt Rontgenlicht verwendete er jedoch einen fei- nen Neutronenstrahl und anstelle eines Ront- genfilms eine Indium-Folie. Indium wird in

Die Erfolgsgeschichte eines Spaltprodukts

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Die Erfolgsgeschichte eines Spaltprodu kts

Jens Simon und Tasso Springer

Seine Wellennatur macht das Neutron fur Streuexperimente der Festkorper- und Materialforschung, der Chemie und der Biologie zu einer unersetzlichen Sonde fur die

Anordnung und Bewegung der Atome in kondensierter Materie.

s dauerte eine Zeitlang, bis die Wissen- E schaft das Neutron - und infolgedessen auch sein quantenmechanisches Doppelleben als Welle und Teilchen - aufgespiirt hatte. Er- nest Rutherford hatte bereits im Jahr 1920 uber die mogliche Existenz eincs bis dahin unentdeckren neutralen Teilchens spekuliert. Im Jahre 1930 erzcugten Bothe und Becker bei Kernreaktionen von Beryllium mit a-Teil- chcn zwar Neutronen, interpretierten diese aber als y-Strahlung. James Chadwick wieder- holte 1932 das Beryllium-Experiment und fand die korrekte Interpretation [I]. Es mug- ten Teilchen sein, welche die Beryllium-Kerne aussandten - nur so Lei3 sich die Riickstof3- energie von Protonen und Stickstoffatomen erklaren, die die bis dahin unbekannte Strah- lung aus verschiedenen Materialien heraus- schlug. Insbesondere mufiten es neutrule Teil- chen sein - nur so Lei3 sich erklaren, daf3 sie tief in Materie eindringen konnten. Chadwick hatte somit das Neutron als ungeladenes Teil- chen experimentell gefunden.

Es dauerte aber noch mehr als ein Jahrzehnt bis die Vielfalt des Neutrons als Sonde, urn atomare Struktur und Dynamik kondensier- ter Materie zu erforschen, offensichtlich wur- de. Zwei Physiker, die daran entscheidenden Anted hatten, Clifford G. Shuil und Bertram N. Brockhouse, sind 1994 fur ihre Pionier- arbeiten auf dem Gebiet der Neutronenstreu- ung mit dem Nobelpreis fur Physik ausgc- zeichnet worden (Abbildung 1).

,,Laue" mit Neutronen

Die Quantenmechanik, die jedem Teilchen in gewissen Versuchsanordnungen auch Wellen- natur zugesteht, lafit dies auch dem Neutron

Ein NaC1-Kristall im Neutronenstrahl des Oak Ridge Reaktors; Laue-Aufnahme mit Neutronen aus dem Jahre 1948 [2], vergleiche auch Abb. 2.

billig sein. Ahnlich wie Rontgenstrahlen am Kristallgitter eines Festkorpers gebeugt wer- den, sollte es auch moglich sein, mit Neutro- nen Beugungsbilder von kristallinen Atoman- ordnungen zu erzeugen. In der ,,klassischen" Laue-Anordnung (Max von Laue erhiclt fur seine Entdeckungen 1912 den Nobelpreis) trifft dabei ein feiner Rontgenstrahl auf einen Kristall und wird durch die regelmafiige Atomanordnung in verschiedene und genau definierte Richtungen gcbeugt. Auf einem Film aufgefangen, erzeugen die gebeugten

Strahlen ein fur den Kristall charakteristisches Beugungsrnuster: eine regelmafiige Anord- nung von Punkten, aus deren Lagen die Kristallstruktur ruckgerechnet werden kann.

Clifford Shull, der sich 1946 der Gruppe von Ernest Wollan am Graphitreaktor in Oak Ridge, Tennessee, USA, angeschlossen hatte, wiederholte das Laue-Experiment [2] : Statt Rontgenlicht verwendete er jedoch einen fei- nen Neutronenstrahl und anstelle eines Ront- genfilms eine Indium-Folie. Indium wird in

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den Laue-Punkten durch die auftreffenden Neutronen zu einem radioaktiven P-Strahler. Die Indium-Folic wird auf eine Fotoplatte gelegt, wodurch das radioaktive Muster di- rekt abgebildet und sichtbar gemacht wird. Eine Laue-Aufnahme mit Neutronen statt Rontgenstrahlen ist unmittelbarer Ausdruck der Wellennatur des Neutrons (Abbildung 2).

Shull konnte bei seinem Beugungsexperiment den starken Neutronenflufl eines Reaktors benutzen. Doch bereits 12 Jahre zuvor, also vier Jahre nach Chadwicks Beryllium-Experi- menten, war es Dana I? Mitchell und P. N. Powers und unabhangig davon Hans von Halban und Peter Preiswerk gelungen, die Wellennatur des Neutrons nachzuweisen [3, 41. Sie benutzten die damals ublichen Ra- dium-Beryllium-Quellen. In der Versuchsan- ordnung von Mitchell und Powers fallen die Neutronenstrahlcn aus einer solchen Quelle unter Variation des Einfallswinkels auf grofle Kristalle aus Magnesiumoxid. Bei gewissen Winkeln beobachteten sie eine besonders star- ke Intensitat der gestreuten Neutronen. Diese Versuche waren die historisch ersten, die das Neutron als Welle experimentell verifiziert.

Vide Kernreaktoren wurden seitdem einzig zu dem Zweck gebaut, Neutronenstrahlen in moglichst grofier Intensitat zu produzieren. Die ersten Neutronenquellen dieser Art ent- standen vor rund 50 Jahren. Und damit be- gann die Erfolgsgeschichte des Neutrons fur die Grundlagen- und Materialforschung.

Abb. 1. Oktober 1994: Das Bulletin der Schwedischen Akademie der Wissenschaften zur Verleihung des Nobelpreises fur Physik an Bertram Brockhouse und Clifford Shull.

Erste Quellen und moderne Forschungsrea ktoren

Der Graphitreaktor in Oak Ridge [5] war be- reits ein Forschungsreaktor mit einem Neu- tronenflufl, der milliardenfach grofler war als der einer Radium-Bcryllium-Quelle. Letztere besitzt einen Flui3 von etwa lo4 Neutronen pro Sekunde und Quadratzentimeter. Radi- um-Beryllium-Quellen - sie bestehen aus ei- nem Gemisch beider Elemente - blieben ie-

Abb. 2. ,,Laue-Aufnahme" an einem NaC1-Kristall mit Neutronen [2].

doch zunachst die bevorzugte Methode, Neutronen zu produzieren. Radium liefert dabei a-Teilchen, die bei seinem radioaktiven Zerfall freigesetzt werden. Diese treffen auf die Beryllium-Atome und losen in diesen eine Kernreaktion aus, bei der Neutronen emit- tiert werden. Die so erzielbaren thermalisier- ten Neutronenfliisse genugten fur die dama- ligen Fragestellungen der Kernphysik.

Doch um Festkorper zu untersuchen, sind weit hohere Neutronenflusse notig. Die Re-

aktortechnik sorgte fur den entscheidenden Durchbruch. Diese Technik hat in den letzten 50 Jahren ganz wesentlich zum Fortschritt im atomaren Verstandnis von kondensierter Ma- terie beigetragen. Die Neutronen kommen dabei aus Forschungsreaktoren wie sie zur Zeit in Deutschland am Hahn-Meitner-Insti- tut in Berlin, im Forschungszentrum Jiilich, im Forschungszentrum Geesthacht und am Europaischen Forschungszentrum Institut Laue-Langevin in Grenoble betrieben und

jahrlich von Tausenden von Wissenschaftlern genutzt werden.

Die in Kernreaktoren produzierten ,,heifien" Neutroncn besitzen Energien von mehreren Millionen Elektronenvolt. Sie sind noch keine brauchbaren Sonden, um in kondcnsierte Materie ,,hineinzusehen". Erst mussen sie ,,thermalisiert" werden. Durch Zusammcn- stofie mit Atomkernen des den Reaktorkern umgebenden Moderators - zum Beispiel Gra-

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phit oder Wasser - werden sie abgebremst. Die Wellenlangen betragen dann zwischen 0,1 und 1 Nanometer - Langen, die von der Grofienordnung der interatomaren Abstande in einem Festkorper sind. In diesem Wellen- langenbereich hat das Neutron als Teilchen Geschwindigkeiten zwischen 4000 und 400 Metern pro Sekunde. Je kurzer die Wellenlan- ge, umso schneller ist es. Die typischen Ener- gien der Neutronen liegen etwa in einem Be- reich von 100 bis 1 Millielektronenvolt.

Solche Energien ,,passen" nun gerade wieder zu typischen Energien von Phononen, Schwingungen der Atome, die sich in fester Materie ausbreiten. Mit dem Neutron als Sonde lassen sich daher sowohl die struktu- rellen Eigenschaften der Atomanordnungen ausmessen, als auch die kollektiven Atombe- wegungen. Da das Neutron keinc Ladung tragt, spurt es nicht die Elektronenhullen der Atome und dringt im Gegensatz zu Elektro- nenstrahlen, die bereits in einer dunnen Ober- flachenschicht absorbiert werden, tief in Ma- terie ein. Mit Neutronen konnen daher die Volumeneigenschaften kondensierter Materie untersucht werden.

Antiferrornag netismus

Da das Neutron, obwohl es neutral ist, auf- grund seines Eigendrehimpulses - des Spins - ein magnetisches Moment besitzt, konnen niit seiner Hilfe magnetische Strukturen abgeta- stet werden.

Die Aufklarung der magnetischen Struktur gewisser metallischer Verbindungen gehorte daher auch zu den ersten physikalischen Pro- blemen, die Cliff Shull seinerzeit mittels Neu- tronenbeugung in Angriff nahm. Dazu be- nutzte er ein ,,Diffraktometer" (Abbildung 3), das Wollan und er im Zusammenhang mit dem Neutronen-Laue-Experiment gebaut hatten [6]. Die Intensitat der gebeugten Neu- tronen wird dabei nicht auf einem Film aufge- zeichnet, sondern mit einem Detektor, bei- spielsweise einem Bor-Zahlrohr, nachgc- wiesen. Es wird dabei um die Probe herumgefiihrt. Auf diese Weisc konnten die ersten Beugungsdiagramme, also die Neutro- nenintensitat abhangig vom Winkel, be- stimmt werden.

Makroskopischer Magnetismus ist ein kollck- tives Phinomen: Die atomaren magnetischen Dipole bestimmter Stoffe sind miteinandcr korreliert. In einem Stuck Eisen etwa sind fast alle Dipolmomente der Eisenatome parallel

Abb. 3. Typisches Diffraktometer der fruhen Jahre. Ein feiner Neutronenstrahl wird aus dem Reaktormoderator gefiihrt und trifft auf eine Probe. Mit einem Detek- tor wird die Intensitatsverteilung u m die Probe herum gemessen [6].

gerichtet - das Kennzeichen des Ferromagne- tismus. Bei hoheren Temperaturen dagegen sind die Dipole auf den Gitterplatzen des Ei- sens regellos orientiert, so dai3 sich ihre ma- gnetischen Wirkungen kompensiercn und der Stoff makroskopisch unmagnetisch ist. Die Umkehrung der Aussage gilt jedoch nicht.

Im Jahre 1948 hattc Niel[7] vorhergesagt, dai3 bestimmte Stoffe, beispielsweise Manganoxid, MnO, zwar atomare magnetische Ordnung besitzen sollten, ohne jedoch makroskopisch magnetisch zu sein. Diescr Ordnungszustand sollte sich unterhalb einer bestimmten Tempe- ratur, die heutc N@el-Temperatur T, genannt wird, einstellen. Die atomaren Dipole ordnen sich dabci paarweise antiparallel an, so dafl sich ihre Wirkungen paarweise aufheben. Oberhalb der Ntel-Temperatur zerstort die Warmcbewegung der Atome diese sogenann- te antiferromagnetische Ordnung, und die Dipole sind wieder statistisch uber das Gittei- verteil t.

Uber magnetische Neutronenstreuung sollte sich ein solcher atomarer Ordnungszustand

experimentell erkennen lassen. In einer rich- tungsweisenden Arbeit hatte Halpern dies schon im Jahr 1938 theoretisch im Detail be- rechnet und vorhergesagt, dafi das Neutron aufgrund seines eigenen magnetischen Dipol- moments mit den magnetischen Dipolen der Ionen oder Atome im Kristall in Wechselwir- kung tritt: Dies fuhrt zur magnetischen Beu- gung (Abbildung 4). Bei grofien Temperatu- ren sieht man ein Maximum der Intensitat, ei- nen Peak, der von der Anordnung der Mangan-Ionen bestimmt ist. Unterhalb der NCel-Temperatur jedoch erscheint eine zu- satzliche Struktur, deren Intensitat mit abneh- mender Temperatur gleichmafiig zunimmt. Dies folgt aus den alternierend ausgerichteten magnetischen Momenten. In bezug auf seine magnetische Orientierung isc ein Mangan-Ion im Kristallgitter nicht seinem nachsten, son- dern erst seinem ubernachsten Nachbarn gleichwertig, wodurch der atomaren Gitter- struktur ein magnetisches Gitter mit verdop- pelter Periodenlange uberlagert ist. Dies er- gibt das zusatzliche Beugungsmaximum. Shulls Mefidaten, dic mit der Theorie Hal- perm interpretiert wurden, waren ein klarer Hinweis auf die von NCel vorhergesagte anti- ferromagnetische Ordnung.

Polarisierte Neutronen

Aus der Theorie wufite Shull, dafi die Infor- mationen aus der magnetischen Neutronen- streuung noch erheblich vcrfeinert werden konnen, wenn die Neutronen magnetisch aus- gerichtet sind. Eine Vorzugsrichtung der ma- gnetischen Dipole 1ai3t sich bei bestimmten Reflexen an einem magnetisierten Einkristall erreichen; in diesen reflektierten Strahlen do- miniert jeweils einc definierte Dipolorientie- rung der Neutronen. Wird d a m noch die Spin- orientierung der Neutronen nach der Beu- gung an der zu untersuchenden Probe gemessen, lassen sich Informationen uber die detaillierte raumliche Verteilung des Magne- tismus gewinnen. In magnetischen Metallen beispielsweise sind die magnetischen Momen- te in komplizierter Weise raumlich verteilt und nicht nur am Or t eines magnetischen Atoms oder Ions lokalisiert. Abbildung 5 zeigt eine Dichtekarte der magnetischen Elek- tronen fur Eisen [9]. Neben der Lokalisierung im Eisenion ist auch eine raumliche Vertei- lung der Ausrichtungcn in dessen Umgebung zu erkennen. Heute ist die Neutronen-Struk- turanalyse ein Standardverfahren, urn magne- tische Strukturen aufzuklarcn, wie sie zum Beispiel in Materialien in magnetischen Spei- chern oder in Hartmagneten vorkommen.

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Neutronenstreuung 53

Abb. 4. Neutronenbeugung an einem Manganoxid-Kristall. Die zusatzlichen Beugungs- maxima bei 80 K (oberes Bild) riihren von der antiferromagnetischen Ordnung her. [8]

wachst die Streustarke proportional mit der Kernladungszahl 2 an, so dai3 leichte Atom- kerne, vor allem der Wasserstoff, fast unsicht- bar sind. Die Streustarke fur Neutronen ist dagegen mit 2 nicht korreliert und etwa fur Deuterium so groi3 wie fur Sauerstoff.

Abb. 5. Strukturanalyse rnit Neutronen lie- fert die raumliche Verteilung der magneti- schen Elektronen in Eisen. Der Atomkern sitzt in der linken oberen Ecke. Die Hohen- linien sind die Orte konstanter Elektronen- dichte [9].

Neutronen ,,auf Eis"

Neutronen verhalten sich im Gegensatz zu Rontgenstrahlen unsystematisch bei der Streuung an Atomkernen: Die Starke der Wechselwirkung zwischen einem Neutron und einem Atomkern andert sich von Nuklid zu Nuklid, von Isotop zu Isotop sprunghaft. Insbesondere sind Wasserstoff und sein schweres Isotop Deuterium mit Neutronen unterscheidbar. Fur Rontgenstrahlen dagegen

Den Vorteil, rnit Neutronen auch Wasserstoff- kerne ,,sehen" zu konnen, nutzte Shull aus, um ein altes und ungelostes Problem anzuge- hen [lo]: die Struktur von Eis. Erstmalig konnten hier bei einer Strukturanalyse mit Neutronen Protonen oder Wasserstoffatome lokalisiert werden, was mit Rontgenstrahlen aus den genannten Griinden nicht gelingt. Die Anordnung der Sauerstoffatome im Eis als regelmaiges sechszahliges Gitter war zwar bekannt. Uneinig war man sich jedoch iiber die Anordnung des Wasserstoffs. Vier verschiedene Modelle konkurrierten mitein- ander (Abbildung 6). Die Neutronenbeugung erkannte eindeutig das Model1 Paulings als richtige Vorstellung iiber die Wasserstoffver- teilung an. Die zum Beugungsreflex beitra- genden Neutronen mitteln iiber Milliarden von Molekiilen des Eiskristalls. Das Beu- gungsbild fiir Eis lai3t sich dann so interpre- tieren, als ob sich auf jeder 0-0 Briicke zwei halbe Protonen befanden. Dies entsprach Paulings Vorstellung, nach der je zwei Wasser- stoffatome einem Sauerstoffatom zugeordnet sind (und somit die Individualitat des Wasser- molekiils H,O erhalten bleibt), andererseits aber auf jeder 0-0-Briicke nur jeweils ein Wasserstoffatom sitzen darf.

Shull hatte erkannt, dai3 mit Neutronen zwi- schen Wasserstoff- und Deuteriumatomen unterschieden werden kann. Besonders bei der Untersuchung von Kunststoffen und bio- logischer Materie wird diese Eigenschaft heu- te ausgenutzt: Wird an einer bestimmten Stelle einer Verbindung Wasserstoff durch Deuteri- um substituiert, so erhalten die markierten oder ,,angefarbten" Stellen einen anderen Kontrast bei der Neutronenstreuung. Einzel- ne Bereiche einer Verbindung konnen so ge- zielt untersucht werden. Vor allem in der Po- lymerforschung spielt dieses Verfahren heute eine wichtige Rolle. Auch gewisse strukturel- le Fragen der Biologie sind nur aufgrund die- ses Effekts durchfuhrbar.

Spektroskopie rnit Neutronen

Ebenso wie der Name Clifford Shull rnit dem Begriff ,,Neutronendiffraktometrie", also der Beugung von Neutronen unter Energieerhal- tung verknupft ist, so Bertram Brockhouse mit ,,Neutronenspektroskopie". Mit der Neutronenspektroskopie wird die Bewegung der Atome in kondensierter Materie, etwa in Metallen, Halbleitern oder organischen Kri- stallen, untersucht. Dabei werden die Neu- tronen inelastisch, das heii3t unter Anderung der Energie gestreut. Dam mui3 die Energie der Neutronen vor dem Streuprozei3 festge- legt und nach dem Streuprozei3 analysiert werden. Inelastische Streuexperimente mit Neutronen benotigen eine hohe Strahlinten- sitat. Der hochste Neutronenflui3 wurde in den Anfangsjahren dieser Forschung vom Reaktor in den Chalk River Nuclear Labora- tories, Kanada, geliefert. Dort fand Brock- house Experimentiermoglichkeiten und ,,sein" Forschungsgebiet: die inelastische Neutro- nenstreuung.

Atome in einem Festkorper bewegen sich nicht frei wie Atome in einem Gas, sondern schwingen um ihre Gleichgewichtslage. War- me, also thermische Energie, findet sich bei Festkorpern in elastischen Wellen, den Pho- nonen, die den Kristall durchlaufen. Die Wel- lenlangen sind bei den Phononen durch die interatomaren Abstande in der GroQenord- nung einiger 0,l nm begrenzt; im Grenzfall sehr groi3er Wellenlangen sind Phononen einfach Schallwellen im Festkorper. Ihre Frequenzen liegen bei Zimmertemperatur in einem breiten Spektrum, das bis zu vielen 1000 GHz reicht. Die Uberlagerung dieser Phononen fiihrt zu einer unregelmafligen Be- wegung der Atome um ihre Ruhelage, die mit wachsender Temperatur zunimmt.

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Abb. 6. Die Struktur von Eis rnit Neutronenstreuung. Aus vier konkurrierenden Modellen erwies sich Variante C (links unten) als rich- tig. Rechts: Blaue Kugeln: Sauerstoffatome; weii3e Kugeln: Wasserstoffatome. Auf jeder 0-0-Briicke sitzt n u r ein Wasserstoffatom [lo].

Phononen lassen sich mit Neutronen ,,ver- messen": Aus der Encrgieanderung der Neu- tronen beim Streuprozeii ermittelt man die Frequenz der Phononen, aus der Anderung des Streuwinkels deren Wellenlange und Aus- breitungsrichtung. Dcr Streuprozefi ist dem Stoi3 zwischen zwei Teilchen mit den Erhal- tungsgrofien Energie und Impuls ahnlich. Aus dem Zusammenhang zwischen Frequenz und Wellenlange der Phononen, der Phono- nendispersion, laat sich dann auf die Krafte zwischen den Atomen schliefien.

Bertram Brockhouse war der Pionier auf dem Gebiet der Phononspektroskopie. Anfang 1952 baute er sein erstes Dreiachsenspektro- meter, mit dem es durch eine trickreiche Steuerung der Spektrometerachsen auf ele- gante Weise moglich war, Phononen be- stimmter Wellenlange und Ausbreitungsrich- tung systematisch aus der Vielzahl der im Kristall moglichen auszusortieren. Die Rela- tion zwischen Frequenz und Wellenlange oder zwischen Energie und Impuls der Pho- nonen, die Dispersionsbeziehung, lafit sich so fur definierte Richtungen im Kristall bestim- men [l 11 (Abbildung 7). Die verschiedenen, ,,Zweige" genannten Kurven beschreiben un- terschiedliche Bewegungstypen der Kristall- atome. Die Steigung der Kurven bei kleinen Wellenzahlen entspricht dcr Schallgeschwin- digkeit; der weitere Verlauf bei groi3en Wel- lenzahlen hangt im allgemeinen mit den ionischen interatomaren Kraften zusammen.

Brockhouse selbst, seine Mitarbeitcr und die nachfolgende Generation von Wissenschaft-

lern haben an allcn nur denkbaren Stoffen solche Messungen durchgefuhrt und damit die atomaren Bindungskrafte untersucht: elektronisch vermittelte Krafte zwischcn Me- tallatomen, Coulomb-Krafte zwischen den elektrisch geladenen Ionen in Salzen oder chemische Bindungskrafte, wie sie in organi- schen Kristallen oder in Kunststoffen vor- kommen. Phononen im Detail zu kcnnen hat dazu beigetragen, vielc inakroskopische Ei- genschaften der Stoffe aufzuklaren: von der Schallausbreitung und der Warmeleitung, uber Phasenumwandlungen von Gitterstruk- turen, bis zu dielektrischen und optoelektro- nischcn Eigenschaften. Diese Eigenschaften zu kennen ist Voraussetzung, uni beispiels- weise Werkstoffe mit gezielten Eigenschaften herzustellen.

Auch auf die Untersuchung magnetischer Anregungen, Magnonen, lafit sich die Metho- de anwenden. In Analogic zu Phononen sind Magnonen Wellen von atomaren magneti- schen Momenten. Auch Magnonen werden durch Frequenzen, Wellenlangen und deren Zusammenhang charakterisiert. Hieraus lafit sich die magnetische Wechselwirkung berech- nen, von der die magnetischcn Eigenschaften der Stoffe abhangen. Eines der ersten Unter- suchungsobjekte war die Verbindung Fe304. Die ferrimagnetische Ordnung in dieser Sub- stanz war zuvor von Shull entdeckt worden.

Neben den zahlreichen Messungen von Phononen- und Magnoneiidispersioiien hat Brockhouse seinc spektroskopischen Unter- suchungsmethoden auch auf die Bewegung

von Atomen und Molekiilen in Flussigkeiten ausgedehnt. In Flussigkeiten laufen die Ato- me einerseits ahnlich wie in einem Gas regel- 10s durch den Raum. Dabei fuhrcn sie aber gedampftc Schwingungen um die frei beweg- liche Mittellage aus - eine Art von Zitterbe- wegung. Die Bewegung von Flussigkeitsato- men steht somit zwischen der Dynamik von Gasatomen und den Schwingungen von Ato- men im Festkorper. Die Untersuchungen von Brockhouse lieferten Aussagen zu den inter- atomaren Kraften in Flusigkeiten und trugen dazu bei, Eigenschaften wie Viskositat oder Schallabsorption auf atomarer Grundlage zu interpretiercn.

lnterferenzen mit Neutronen

Fundamental fur das Neutron ist seine Eigen- schaft als Materiewelle. Wie Licht in der Op- tik sollte auch das Neutron Effekte der Inter- fercnz zeigen [12]. Bereits Shull hat die Beu- gung von Neutronenwellen an einem engen Spalt untersucht [13]. Wie beim Licht laufen die Neutronen nicht geradlinig durch einen Spalt, sondern werden in ihren Richtungen abgelenkt: es bildet sich eine ,,Halbschatten- zone" aus, die den Neutronen, waren sie reine Teilchen, unzuganglich ware. Dicse Beugung ist umso starker, je enger der Spalt verglichen rnit der Wellenlange der Strahlung ist. Ein pm-breiter Spalt beispielsweise beugt Licht mit einer Wellenlange von einigen O,1 pm um vicle Bogengrade ab. Neutronen besitzen eine tausendmal kurzere WelIenIange. Die Beu- gung an diescm Spalt ist fur Neutronen damit winzig und Iiegt in der Gegend von Bogen-

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te und der Dynamik. Strukturelle Phasenu- bergange, Diffusionsbewegung von Atornen in Festkorpern, Struktureigenschaften von Glasern, Flussigkeiten und Kunststoffen sind nur einige Beispiele moderner For- schungsthemen, deren Untersuchung fur das Verstehen von Stoffeigenschaften wichtig ist.

Die wenigen Beispiele zeigen, wie vielfaltig Neutronen zum Fortschritt von Wissenschaft und Technik eingesetzt werden. Der Bau des neuen Forschungsreaktors FRM-2 in Mun- chen sol1 hierzu eine neue Experimentier- grundlage schaffen und eine drohende ,,Neu- tronendurre" in der Forschung abwenden. Das gleiche Ziel wird mit der Konstruktion vollig neuartiger Neutronenquellen verfolgt: Neutronen aus der Spallation - im getakteten statt irn kontinuierlichen FluB - konnten der Forschung vollig neue Impulse geben (s. Bei- trag in diesem Heft, S. 69).

Abb. 7. Zusammenhang zwischen Wellenzahl (Kehrwert der Wellenlange multipliziert mit 27~) und Frequenz von Schwingungen des KBr-Kristallgitters gemessen von Bertram Brockhouse [ll].

sekunden. Shull hat diese Phanomene der Neutronenbeugung an makroskopischen Einzel- und Doppelspalten untersucht und damit die Wellennatur des Neutrons direkt in Experimenten belegt. Mittels solcher Anord- nungen bei sehr kleinen Winkeldivergenzen ist es ihm nebenbei gelungen, sehr prazise und vie1 genauer als bislang moglich eine obe- re Grenze der Neutronenladung festzulegen (die Grof3e Null Iai3t sich exakt nicht messen).

Quo Vadis?

Welche Aufgaben erfullt das Handwerkszeug ,,Neutron" heute? Strukturanalyse mit Neu- tronen ist inzwischen ein etabliertes Verfah- ren, dessen sich die modernen Naturwissen- schaften - vor allem Physiker und Festkor- perchemiker aber auch Biologen - bedienen. Die strukturellen Eigenschaften eines Stoffes bilden namlich haufig die Grundlagen fur das Verstandnis der Stoff- und Materialeigen- schaften. Die Neutronenbeugung spielt eine hervorragende Rolle auch in neuen Gebieten, etwa bei der Aufklarung der Lage der Sauer- stoffatome in Hochtemperatursupraleitern oder der Ausrichtung der magnetischen Mo-

rnente in Werkstoffen. Die enge Verbindung von Struktur und Funktion wird in der Mole- kularbiologie deutlich, zum Beispiel bei der Untersuchung der Positionen der Wasser- stoffatome in funktionell wichtigen Teilen von Proteinrnolekulen.

Aber auch fur ,,klassische" Fragen der Mate- rialforschung ist Neutronenbeugung ein wichtiges Hilfsrnittel. Wie sind die Kristallite in Festkorpern raumlich orientiert? Wie ver- halten sich deren elastische Deformationen etwa bei der Verformung von metallischen Werkstoffen? Welche Kristallite sind in Ge- steinsproben aus geologischen Tiefbohrungen enthalten? (Solche Proben verraten etwas uber die geologische Geschichte der Ge- steinsschichten.) Der Vorteil der Neutronen gegenuber Rontgenstrahlen ist dabei die grofle Eindringtiefe in das Material (mehrere Zentirneter), ohne es zu zerstoren.

Fur die Spektroskopie der Gitterschwingun- gen sind Neutronen unersetzlich. Die Vielfalt der Anregungsmoglichkeiten wurde fur grof3e Stoffklassen analysiert. Daraus resul- tierte ein tiefes Verstandnis der Bindungskraf-

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Anschriften

Dr. Dr. Jens Simon, FZ Julich, 52425 Julich. Prof. Dr. Tasso Springer, EisenachstraRe 10, 80804 Munchen.

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