68
Oldenburger Universitätsreden Nr. 34 Erhard Lucas-Busemann Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Auch nach 70 Jahren Anlaß der Trauer und des Nachdenkens Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1990

Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechtsoops.uni-oldenburg.de/1201/1/ur34.pdf · 2013. 1. 17. · Oldenburger Universitätsreden Nr. 34 Erhard Lucas-Busemann Die Ermordung

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Oldenburger Universitätsreden

    Nr. 34

    Erhard Lucas-Busemann

    Die ErmordungRosa Luxemburgs und

    Karl Liebknechts

    Auch nach 70 Jahren Anlaßder Trauer und des Nachdenkens

    Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg1990

  • VORWORT

    Vor 70 Jahren, im Januar des Jahres 1919 wurden RosaLuxemburg und Karl Liebknecht ermordet.

    Der Oldenburger Sozialhistoriker Erhard Lucas-Busemannnahm dieses schlimme und folgenreiche Ereignis in der Ge-schichte der deutschen Arbeiterbewegung zum Anlaß, es vonAspekten her zu beleuchten, die in den bisherigen Ausein-andersetzungen und Veröffentlichungen so nicht üblich wa-ren.

    Lucas-Busemann zeigt das Konfliktpotential zwischen denRichtungen der sozialistischen Arbeiterbewegung auf, fernerdie Eskalation des Konfliktes und das Unterliegen jenerKräfte, die die Katastrophe zu verhindern versucht haben.

    Er beleuchtet die Rolle der SPD, indem er deren Reaktionennach der Tat aufzeigt. Bekanntlich ist diejenige Richtung, dieaus moralischen Gründen den sofortigen Rücktritt derRegierung forderte, unterlegen. Während sich diejenigen, dieden Erhalt der Macht über alles setzten, durchsetzen konnten.

    Schließlich kommt der Denkhorizont Rosa Luxemburgs inihren letzten Lebenswochen zur Sprache. Hier hebt sie derAutor aus der Rolle des Opfers einer entsetzlichen Tat herausund stellt sie als Handelnde dar.

    Das Gesamtanliegen des Vortrages wird von der Frage nacheiner Alternative zum Modell gewaltförmig-aggressiver ge-sellschaftlicher Auseinandersetzungen bestimmt. Ist die vomVerfasser versuchte Antwort konsensfähig?

    Oldenburg, im November 1989 Friedrich W. Busch

  • ERHARD LUCAS-BUSEMANN

    Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts -auch nach 70 Jahren Anlaß der Trauer und des Nachdenkens

    1. Der Doppelmord - ein bedeutsames historisches Ereignis

    Meine Damen und Herren! Der Doppelmord in der Nacht vom15. zum 16. Januar 1919 hat eine weitreichende Bedeutung.Jeder, der zu einem kritischen Standpunkt in der Gegenwartauf dem Weg über die Reflexion der Geschichte zu kommentrachtet, wird über ihn mit demselben gesammelten Ernstnachdenken wie etwa über den Zustand Europas im August1914. Es scheint mir kein Zufall, daß er in den siebenJahrzehnten, die seitdem vergangen sind, immer wiederWirkungen entfaltet, die großen historischen Ereignissen in-newohnt, indem Vergangenes und Gegenwärtiges zu einerEinheit verschmelzen und Menschen neu in Bewegung setzen.Ich greife drei Fälle heraus.

    Im vergangenen Jahr - Sie werden sich erinnern - fand inOstberlin die traditionelle Gedenkkundgebung für RosaLuxemburg und Karl Liebknecht statt, bei der plötzlichTransparente auftauchten, die aus der Sicht der Veranstalterungeplant und unerwünscht waren - einen Augenblick nur,bevor der Staatssicherheitsdienst zufaßte, aber eben doch langgenug für den wahrnehmenden Blick. Zwei Sätze RosaLuxemburgs waren zu lesen: "Freiheit ist immer Freiheit derAndersdenkenden" und "Der einzige Weg zur Wiedergeburt:breiteste Demokratie " - beides Zitate aus ihrer letzten Aus-arbeitung im Breslauer Gefängnis 1918, in der sie sich mit derbolschewistischen Oktoberrevolution auseinandergesetzt hat.Unter denen, die mehr Bürgerrechte in der DDR forderten,

  • 6 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    befand sich der Liedermacher Stefan Krawczyk; er bekanntesich als derjenige, der sich in den Schriften Rosa Luxemburgsumgesehen hatte.1 Im Gegenzug trat die international wohlbekannteste offizielle Liedergruppe der DDR an, der"Oktoberclub". Sie textete und komponierte ein "Lied überden 17. 1.", in dem es hieß:2

    "Wo gab es hier einen falscheren Ort,als diesen für dieses Luxemburg-Wort?Als hätten nicht in jenen Januartagen,die Andersdenkenden Karl und Rosa erschlagen.

    Es wird anders denken, wer auf neue Art denkt.Doch wer sich das Wort wie ein Mäntelchen umhängt,um darunter die alte Spaltung zu treiben,steht dem Neuen im Weg, der wird nicht bleiben".

    Die letzten Worte, "der wird nicht bleiben", waren wohl alsDrohung zu verstehen, die dann auch wahrgemacht wurde,indem man die Gruppe um Krawczyk aus der DDR hinaus-drückte. Der Präsident des PEN-Zentrums der DDR, HeinzKamnitzer, schrieb im Neuen Deutschland:

    "Der Trauermarsch für die ermordeten Nationalhelden un-seres Staates wurde vorsätzlich gestört, die Totenfeier für dieMärtyrer der Kommunistischen Partei sollte mutwilligentweiht werden. Man wollte sich nicht in Ehrfurcht einerDemonstration anschließen, sondern auf sich selbst auf-merksam machen. Was da geschah, ist verwerflich wie eineGotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn maneine Prozession zur Erinnerung an einen katholischenKardinal oder protestantischen Bischof entwürdigt.Ebensowenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden,

    1 Der Spiegel, Nr. 4 und 5, 25. Jan. und 1. Febr. 1988.

    2 Musikblatt, 15. Jg., Nr. 123, April/Mai 1988, S. 18, Textaufzeichnungnach einer Sendung im Fernsehen der DDR.

  • DOPPELMORD 7_________________________________________________

    wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und KarlLiebknecht absichtlich stört und schändet".3

    Der zweite Fall. 1969 - das Ereignis lag fünf Jahrzehnte zu-rück - brachte das westdeutsche Fernsehen einen Dokumen-tarfilm über den Doppelmord. Eine Gruppe aus dem Frei-burger SDS, darunter ich, sah ihn sich an. Wir waren so be-wegt, daß wir anschließend beschlossen, am nächsten Vor-mittag ein go-in in der Bismarck-Vorlesung des Militärhisto-rikers Andreas Hillgruber zu machen. Zur Erläuterung:Hillgruber hatte damals einen Lehrstuhl für Neuere Ge-schichte inne, der aus Mitteln des Verteidigungsministeriumsbezahlt wurde; jüngst war er übrigens profilierter Gegner vonHabermas im Streit über den Umgang mit der na-tionalsozialistischen Vergangenheit. Unserem Flugblatt4 ga-ben wir die Überschrift "50 Jahre Militarismus, Klassenjustizund Geschichtsverdrehung sind genug!" und schrieben unteranderem:

    "Seitdem Polizeitruppen im Innern der Bundesrepublik ein-gesetzt werden, seit der Erschießung Benno Ohnesorgs, seitden Anti-Springer-Aktionen Ostern 68 ... wissen wir, nochohne daß die Notstandsgesetze angewandt worden sind, daßwir uns in derselben Situation befinden wie damals: daß dieRegierung brutal zuschlägt, wenn sich eine Bewegung zeigt,die das bestehende System als ganzes in Frage stellt...

    Heute braucht das Militär nicht mehr nur auf verfälschendePresseberichte und auf die militärfrommen Historiker zurechnen, die der Schuljugend ihr Geschichtsbild beibringen:es errichtet eigene Lehrstühle."

    Als Hillgruber das Flugblatt vor Beginn der Vorlesungüberflog, tobte er mit größter Lautstärke auf dem Gang, jeder,

    3 Zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 29. Jan. 1988, S. 2.

    4 Ein Exemplar befindet sich noch in meinem Besitz.

  • 8 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    der dergleichen sage, gehöre entweder ins Gefängnis oder insIrrenhaus. Das go-in verlief dann ziemlich militant, dank dervielen uniformierten Herren, die die Vorlesung besuchten. Fürmich speziell hatte es das Nachspiel, daß Hillgruber mich mitsolcher Hartnäckigkeit verfolgte, bis hin zu einem persönlichvon ihm veranstalteten Verhör, daß ich am Ende inuniversitären Lehrveranstaltungen nicht einmal mehr dieFunktion eines Tutors wahrnehmen durfte.

    Der dritte Fall: Paul Levi zehn Jahre nach der ErmordungRosa Luxemburgs und Karl Liebknechts. In diesen zehnJahren sind viele Menschen auf ähnliche Weise ermordetworden wie die beiden; die genaue Zahl wird nie mehr fest-zustellen sein, allein im Ruhrgebiet 1920 sind es mehrerehundert. Paul Levi, politischer Strafverteidiger Rosa Luxem-burgs 1914, der Mann, mit dem sie in den letzten Jahren ihresLebens eine Liebesbeziehung hatte, nach ihrer ErmordungVorsitzender der KPD, zwei Jahre später der erste große Fallder spektakulären Ausschlüsse aus der kommunistischenWeltbewegung - Paul Levi also erhielt plötzlich undunvermutet Gelegenheit, den Doppelmord noch einmal auf-zurollen. Ich muß dazu eine weitere Figur vorstellen: PaulJorns. Er war 1919 Untersuchungsführer des Kriegsgerichtsgewesen und hatte damals alles getan, um den Mord zuvertuschen und die Mörder in Sicherheit zu bringen; inzwi-schen war er zum Anwalt am Reichsgericht in Leipzig aufge-stiegen. Jorns also erhob Beleidigungsklage gegen eine Zeit-schrift, die seine Vergangenheit zur Sprache gebracht undgefragt hatte, wie ein solcher Mann zu diesem Amt amhöchsten deutschen Gericht habe kommen können. Leviübernahm die Verteidigung des verantwortlichen Redakteurs.Sein Plädoyer war eine der ganz großen Reden in derGeschichte der deutschen Sprache. Eine zentrale Stelle darin:

    "Der Fall Jorns und Liebknecht-Luxemburg ... das war der er-ste Fall, in dem Mörder mordeten und wußten, die Gerichteversagen. Da begann jener schauerliche Zug von Toten,

  • DOPPELMORD 9_________________________________________________

    fortgesetzt im März 1919 schon und ging weiter die ganzenJahre und Jahre, Gemordete und Gemordete; denn vom FallLiebknecht-Luxemburg und vom Kriegsgericht derGardekavallerie-Schützendivision und vom KriegsgerichtsratJorns her wußte man, daß Morden noch lange nicht identischist mit Bestraftwerden".

    Levi erfocht einen glänzenden Sieg. Am 27. April 1929 stelltedas Schöffengericht Berlin-Mitte in seinem Urteil fest, daßJorns bei der Untersuchungsführung

    "1. Spuren, die zur Aufklärung dienen konnten, nichtaufgenommen hat ...

    2. Spuren, deren Wichtigkeit er erkannt hatte, nicht ver-folgte ...

    3. Spuren verwischte, indem er das Gegenteil des Er-mittelten ins Protokoll aufnahm ...

    4. Zustände duldete, die, wie ihm bekannt war, geeignetwaren, den Sachverhalt zu verdunkeln und das Ergebnisder Untersuchung zu gefährden".

    Der angeklagte Redakteur wurde freigesprochen, seine Fol-gerung, daß Jorns "zu einer Tätigkeit im Verbande derReichsanwaltschaft nicht geeignet ist", sei berechtigt.

    Jorns legte Berufung ein. Levi ging nur mit großem Wider-willen erneut an die Sache heran, im Ungewissen darüber, ober sie noch einmal seelisch verkraften würde, ohnehin ein seitlangem Verzweifelter gegenüber der Frage, ob die Ar-beiterbewegung die Entwicklung der Weimarer Republik hinzum Faschismus noch werde aufhalten können. Am drittenVerhandlungstag erkrankte er an einer schweren Lungen-entzündung. Das Fieber stieg immer höher, er wurde vonPhantasien gepeinigt; "der Zug der Toten läßt mich nichtmehr los", klagte er in seinen wachen Augenblicken. Als dieKrankenschwester für einen Moment aus dem Zimmer ge-

  • 10 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    gangen war, stürzte er sich aus dem Fenster, das Rückgratbrach auf dem Pflaster, er war sofort tot.5

    Meine Damen und Herren! Wir befinden uns nicht in derSituation Paul Levis, auch nicht in der der Studentenrevoltevon 68/69, auch nicht in der von Staatsbürgern der DDR. Ichhoffe nur, daß Sie nicht aus rein antiquarischem Interessehergekommen sind, daß Sie also Ihre eigene Verbindungherstellen zwischen Ihrer Gegenwart hier und heute und demvor 70 Jahren Geschehenen.

    2. Der Aufstand vom Januar 1919 und der Doppelmord

    Am 9. November 1918 stürzt das Kaiserreich zusammen,Wilhelm II flieht nach Holland ins Exil. Über die Arbeiter-und Soldatenräte, die sich überall etablieren, fällt der Sozi-aldemokratie die Macht zu. Die Sozialdemokratie wird jedochnicht mehr wie vor dem Kriege durch eine Partei re-präsentiert, sondern durch zwei: die rechtssozialistische SPDund die linkssozialistische Unabhängige SozialdemokratischePartei Deutschlands, abgekürzt USPD. Eine Koalitionsre-gierung wird gebildet aus drei Vertretern der SPD und dreiVertretern der USPD.

    Diese Koalitionsregierung besteht knapp zwei Monate. Ende1918 legen die USPD-Vertreter ihr Mandat nieder. Aus-schlaggebend für diesen Bruch ist zweierlei. Zum einen tretendie SPD-Vertreter in der Regierung, Ebert, Scheidemann undLandsberg, gesellschaftspolitisch auf der Stelle. Sieblockieren selbst klare Aufträge zur Sozialisierung derWirtschaft und zur Demokratisierung der Kommandogewalt

    5 Sibylle Quack: Geistig frei und niemandes Knecht. Paul Levi - Rosa

    Luxemburg. Politische Arbeit und persönliche Beziehung, Köln 1983, S.25-38, wörtliche Zitate S. 26, 35; Helga Grubitzsch/Erhard Lucas/SibylleQuack: Tödliche Wünsche. Emanzipationsbewegung und Selbstmord, in:Kursbuch 58, Berlin 1979, S. 169-191, hier S. 177-181.

  • DOPPELMORD 11_________________________________________________

    im Heer, die der Reichsrätekongreß, also die höchste Autoritätder damaligen Situation, erteilt hat. Zum zweiten paktieren sieimmer offener mit dem alten Offizierkorps. Soeben haben siehinter dem Rücken ihrer USPD-Kollegen die Genehmigungzum Einsatz einer Truppe des alten Heeres gegen eineMatrosentruppe gegeben, die in den Tagen der Revolutionvon der Wasserkante nach Berlin gekommen ist und seitdemim Marstallgebäude beim ehemals königlichen Schloß liegt.Der Kampf hat Tote und Verwundete gekostet.

    Nach dem Ausscheiden der USPD kann die SPD-Führung nurzwei der drei freigewordenen Plätze besetzen. Paul Löbe inBreslau lehnt die Berufung ab; er erklärt sich in Schlesien fürunabkömmlich. Vermutlich ahnt er, welche Konfrontationenin Berlin bevorstehen. Neu in der Regierung treten ein RudolfWissell, ein Spitzenfunktionär der freien Gewerkschaften, undGustav Noske, Rechtsaußen der alten Reichstagsfraktion derSPD, Spezialist für Militär- und Kolonialfragen.6

    3. Januar 1919: In der preußischen Revolutionsregierung er-klären die Vertreter der USPD ebenfalls ihren Rücktritt. Auchhier hat die SPD nunmehr allein die Regierungsver-antwortung.

    Noch am selben Tag fordert die preußische SPD-Regierungden Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn zum Rücktritt

    6 Grundlegend für die folgende chronologische Darstellung ist Richard

    Müller: Der Bürgerkrieg in Deutschland, Berlin 1925, S. 15-84, dazu derTextanhang S. 218-233. An neueren Darstellungen wurden benutzt:Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie1918-1920, Düsseldorf 1978 (Beiträge zur Geschichte desParlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 63), S. 225-236;Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiterund Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924,Berlin/Bonn 1984, S. 120-131; Wolfram Wette: Gustav Noske. Einepolitische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 289-331; IllustrierteGeschichte der Novemberrevolution in Deutschland, hg. vom Institut fürMarxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin-DDR 1968, S. 305-339.

  • 12 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    auf. Eichhorn ist Mitglied der USPD, der letzte Vertreterseiner Partei in einem hohen Amt in Berlin. Man legt ihmverschiedene Amtsvergehen zur Last, u.a. habe er dererwähnten Matrosentruppe Hilfe geleistet und spartakistischgesinnte Arbeiter bewaffnet, auch ist die Rede davon, er steheim Sold der russischen Sowjetregierung. Eichhorn erwidert, erwerde auf alle Vorwürfe schriftlich antworten.

    4. Januar: Die Regierung wartet die Antwort nicht ab, son-dern stellt Eichhorn eine Entlassungsurkunde zu und beauf-tragt den preußischen Innenminister Eugen Ernst (SPD) mitsofortiger Wirkung, die Leitung des Polizeipräsidiums zuübernehmen.

    Dieser Konflikt, der den Aufstand auslöste, wird bis heute inder Literatur falsch verstanden. Warum, so wird gefragt, hatEichhorn nicht sofort sein Amt geräumt, als alle seine Par-teifreunde aus der Regierungsverantwortung ausgeschiedenwaren?.7 Dabei geht man beharrlich an einer zentralen Quellevorbei, die die Grundlage des Konflikts klarstellt.8 ImKaiserreich waren die Polizeipräsidien der größten Städte - sovon Berlin, Essen und anderen - aus den Stadtverwaltungenherausgelöst und den Regierungspräsidenten unterstellt, warenalso der staatlichen Verwaltung eingefügt und unterstandenletztlich der Weisungsbefugnis des preußischen In-nenministers. Die SPD hatte demgegenüber immer gefordert,die Polizeipräsidenten gemäß dem Prinzip der kommunalenSelbstverwaltung in die Stadtverwaltungen einzugliedern, alsodie Polizeigewalt aus der Hand des Staates zu nehmen unduneingeschränkt in die Hand der Städte zu legen. DieseForderung war beim Umsturz des Kaiserreichs, als man die

    7 Miller, S. 227 f.; Wette, S. 298.

    8 Der Ledebour-Prozeß. Gesamtdarstellung des Prozesses gegen Ledebourwegen Aufruhr etc. vor dem Geschworenengericht Berlin-Mitte vom 19.Mai bis 23. Juni 1919, Berlin 1919.

  • DOPPELMORD 13_________________________________________________

    Macht dazu hatte, sogleich realisiert worden. Höchstespolitisches Gremium in der Stadt wurde beim Umsturz 1918der "Vollzugsrat von Groß-Berlin", zusammengesetzt ausgleichviel Vertretern von Arbeitern und Soldaten, dieVertreter der Arbeiterschaft gleichstark unterteilt in SPD- undUSPD-Vertreter. Dieser Vollzugsrat hatte Eichhorn zumPolizeipräsidenten ernannt. Das Vorgehen der preußischenSPD-Regierung gegen ihn und die verfügte Personalunion vonInnenminister und Polizeipräsident war mithin ein Bruch miteinem Kernstück des sozialdemokratischenKommunalprogramms und ein Rückfall in die Ver-waltungspraxis des Kaiserreichs. Zusätzlich provozierendwirkte die Arroganz sowohl der Vorladung an Eichhorn alsauch die preußisch-lakonische Entlassungsverfügung.9

    Bevor ich die weiteren Ereignisse schildere, muß ich kurz dieParteien und Gruppen der radikalen Linken nennen. DieUSPD kennen Sie bereits. Hier ist nochmals zu unterscheidenzwischen der USPD als Partei für das ganze Reich und derUSPD in Berlin. Entsprechend gibt es einen Zentralvorstandund einen Berliner Vorstand. Von der USPD hat sich soebendie Kommunistische Partei, KPD, abgespalten. Sie ist in sichzerrissen; auf der einen Seite steht die Führungsgruppe umRosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die einen langen Wegvoller politischer und ökonomischer Kämpfe bis zurdefinitiven Revolution vor sich sieht, auf der anderen Seite

    9 Dies hat Ledebour in seinem Prozeß mit vollkommener Klarheit ent-

    wickelt (S. 43-46), vgl. weiter das Plädoyer des Verteidigers Obuch (S.723 f.) und des Verteidigers Rosenfeld (S. 742 f.). Arthur Rosenberg, derdiese Quelle noch wirklich gelesen, nicht nur überflogen hat, schreibtironisch (Geschichte der Weimarer Republik, Karlsbad 1935, Neuausgabevon Kurt Kesten Frankfurt 1961, S. 55): "Die Theorie von derkommunalen Polizei ist an sich recht schön, aber in einer revolutionärenZeit ist der Polizeichef der Hauptstadt nur als Organ der Regierungdenkbar". Rosenberg war Ex-Kommunist radikalster Gangart,Parteigänger der Fischer-Maslow-Fraktion, Bezüge zur Sozialdemokratievor 1914 hatte er nicht.

  • 14 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    die große Mehrheit der Parteibasis, die die Situation fürunmittelbar reif zum revolutionären Endkampf hält. Vonbeiden Parteien unabhängig sind die Revolutionären Obleute.Das ist eine Organisation radikaler Gewerkschafter, vor allemin den Berliner Metallbetrieben, die während des Krieges dreigroße Massenstreiks organisiert haben.

    4. Januar abends: Nach dem Vorstoß der preußischen Re-gierung gegen Eichhorn tagen parallel der Berliner USPD-Vorstand und die Revolutionären Obleute einerseits, die KPD-Zentrale andererseits. Beide Sitzungen kommen zu demErgebnis, daß die Arbeiterschaft für den nächsten Tag zueiner Massendemonstration aufgerufen werden soll. In einemgemeinsamen Flugblatt wird die Regierung Ebert-Scheidemann beschuldigt, sie wolle "nicht nur den letztenVertrauensmann der revolutionären Berliner Arbeiterschaftbeseitigen, sondern vor allem in Berlin ein Gewaltregiment ...aufrichten". Auch sonst schlägt das Flugblatt einen scharfenTon an, enthält aber keinen Aufruf zum Sturz der Regierung.

    5. Januar: Die Wirkung des Flugblattaufrufs übertrifft jedeErwartung. Auf den Hauptstraßen im Zentrum der Stadtdemonstrieren unzählige Menschenmassen, wo ein Rednerspricht, stehen sie Kopf an Kopf. Alle Beobachter sind sicheinig, dergleichen noch nicht erlebt zu haben, auch nicht beimStaatsumsturz im November. Im Polizeipräsidium erscheintwährenddessen der preußische Innenminister Ernst undverlangt die Amtsübergabe. Eichhorn lehnt ab. Er verlangteine schriftliche Begründung für seine Entlassung und willseine Amtsführung vor dem Vollzugsrat rechtfertigen. Nachund nach gehen die Demonstranten wieder auseinander,zurück in die Arbeiterviertel. Mehrere Hundert jedoch ziehenins Zeitungsviertel und besetzen die "Vorwärts"-Druckerei,das "Berliner Tageblatt", die großen Druckereibetriebe vonMosse, Ullstein, Scherl, Büxenstein und das halbamtlicheWolffsche Telegraphenbureau, in etwa vergleichbar unsererheutigen Deutschen Presseagentur. Die Besetzung des

  • DOPPELMORD 15_________________________________________________

    "Vorwärts" hat eine besondere Vorgeschichte. In den erstenKriegsjahren hatte das Blatt auf dem linken Flügel der SPDgestanden, war also Gegner der Bewilligung der Kriegskrediteund des durch Anpassung und Druck herbeigeführtenKonsensus aller politischen Richtungen im Dienste derKriegführung. 1916 hatte der Parteivorstand dann das Blattauf seine Linie gebracht; mehrere Redakteure waren entlassenworden, die übrigen einem neu eingesetzten Chefredakteurunterstellt worden. Das alles vorbei an den BerlinerParteiinstanzen und den Parteimitgliedern, die in Berlinunzweideutig mit großer Mehrheit ebenfalls den Kurs derParteispitze ablehnten. Der "Vorwärts" ist uns geraubtworden, hieß es seitdem, und dieser Raub soll jetztrückgängig gemacht werden.

    Abb. 1 Bewaffnete Arbeiter und Soldaten auf dem Wegzum Zeitungsviertel, 5. Januar 1919

  • 16 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Abb. 2 Besetzung des Zeitungsviertels in Berlin. Bewaff-nete Arbeiter und Soldaten auf dem Weg in dieLindenstraße zur Besetzung des Vorwärts-Gebäu-des. 5. Januar 1919.

    Abends versammeln sich im Polizeipräsidium Vertreter derBerliner USPD, der Revolutionären Obleute, Liebknecht undWilhelm Pieck von der KPD-Zentrale. Alle stehen unter demEindruck der gewaltigen Demonstration. Es werdenoptimistische Berichte von der Aufstandsbereitschaft ver-schiedener Truppenteile gegeben. Als die Mitteilung von derBesetzung der Zeitungen und Druckereien eingeht, sehen diemeisten darin den Beweis, daß die Massen zu Aktionendrängen. Kritische Stimmen geraten immer mehr in denHintergrund. Zu den besonders Radikalen gehören Liebknechtund Pieck; sie greifen aufs schärfste jeden an, der Bedenkenvorträgt. Die Stimmung wird fast euphorisch. Schließlich wirdgegen eine kleine Minderheit beschlossen, den Kampf gegendie Regierung aufzunehmen und bis zu ihrem Sturzdurchzuführen. Ein Revolutionsausschuß aus 53 Personen

  • DOPPELMORD 17_________________________________________________

    wird gebildet mit drei gleichberechtigten Vorsitzenden,nämlich Liebknecht sowie je einem Vertreter der BerlinerUSPD und der Revolutionären Obleute.

    6. Januar: Ein neues Flugblatt der drei linken Organisationenruft die Arbeiterschaft auf, die Betriebe zu verlassen und sichum 11 Uhr in der Siegesallee zu versammeln. "Es gilt dieRevolution zu festigen und durchzuführen! ... Nieder mit derRegierung Ebert-Scheidemann!" Im Marstall tagt derRevolutionsausschuß. Schon bald muß er feststellen, daß dieBerliner Truppen alle Aufstandspläne ablehnen; immer wiederbekommen seine Abgesandten zu hören, man lehne jedesBlutvergießen ab. So kann der Ausschuß nur verhältnismäßigwenig Waffen an seine Anhänger ausgeben. Man verliert sichin endlosen Beratungen. Die unübersehbare Menge, die sichin der Siegesallee und den angrenzenden Straßen versammelt,bleibt ohne jede Direktive. Am Nachmittag nötigt dieMatrosentruppe, die im Marstall liegt, den Ausschuß zumVerlassen des Gebäudes; man siedelt ins Polizeipräsidiumüber. Etwa gleichzeitig beschließt der Vollzugsrat dieAbsetzung Eichhorns als Polizeipräsident. Es handelt sich umeine Zufallsmehrheit der SPD-Vertreter, aber Abstimmung istAbstimmung, und so hat Eichhorn die Legitimations-grundlage, auf die er sich mehrmals berufen hat, verloren.

    Aber auch die Regierung ist in übler Lage. Nicht nur ist derVorstoß zur Übernahme des Polizeipräsidiums gescheitert,sondern dies ist jetzt bereits der zweite Tag, wo sie von dendemonstrierenden Arbeitermassen in den Regierungsgebäudeneingeschlossen ist. Auch verfügt sie nicht mehr über dasMedium der Presse. Die SPD verbreitet ein Flugblatt, auf demsie ihre Anhänger auffordert, sofort vor der Reichskanzlei inder Wilhelmstraße zu erscheinen. Das Ergebnis ist eineansehnliche, aber gemessen an der Demonstration derGegenseite bescheidene Kundgebung. Aber auch hier werdenWaffen ausgegeben.

  • 18 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Bald stoßen die bewaffneten Anhänger beider Seiten zu-sammen. An verschiedenen Stellen kommt es zu blutigenSchießereien.

    Aber noch mehr geschieht: in der Reichskanzlei fällt einefolgenreiche Entscheidung. Gustav Noske hat sie in einemBuch, das er gut ein Jahr später veröffentlichte, beschrieben:

    "In ziemlicher Aufregung, denn die Zeit drängte, auf derStraße riefen unsere Leute nach Waffen, stand man imArbeitszimmer Eberts umher. Ich forderte, daß ein Entschlußgefaßt werde. Darauf sagte jemand: 'Dann mach' du doch dieSache!' Worauf ich kurz entschlossen erwiderte:'Meinetwegen! Einer muß der Bluthund werden, ich scheuedie Verantwortung nicht!' Reinhardt [Der preußischeKriegsminister] meinte, auf den Vorschlag habe er eigentlichimmer gehofft. Ein Beschluß wurde mündlich so formuliert,daß Regierung und Zentralrat mir weitgehendste Vollmachtenzum Zweck der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse inBerlin übertrugen ...

    Auf der Straße wurde ich stürmisch begrüßt. Man hob michhoch, und ich teilte kurz mit, daß ich zum Befehlshaber er-nannt sei. Wie es gemacht werden sollte, wußte ich nochnicht, doch erklärte ich voller Zutrauen: 'Verlaßt euch darauf,ich bringe euch Berlin in Ordnung'."10

    Im bürgerlichen Vorort Dahlem schlägt Noske sein Haupt-quartier auf. Er nimmt jede Hilfe, die er bekommen kann, vonnationalistischen Studenten und Bürgern, vor allem aber vonden Offizieren des alten Heeres. Überall werden Werbestellenaufgezogen, die Meldungen zu den Freiwilligenverbändenentgegennehmen; Geld ist überreichlich vorhanden; Waffen

    10 Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Re-

    volution. Berlin 1920, S. 68 f.

  • DOPPELMORD 19_________________________________________________

    auch schwersten Kalibers wie Granat- und Minenwerferwerden herangeschafft und verteilt.

    7. Januar: Um Mitternacht beginnen in der ReichskanzleiVermittlungsverhandlungen. Der Zentralvorstand der USPDwill das sich anbahnende Verhängnis aufhalten und hat sichals Vermittler angeboten.11 Er bemüht sich zunächst um denAbschluß eines Waffenstillstandes. Der Revolutionsausschußist dazu bereit. Doch die Reichsregierung erklärt, vor demEintritt in Verhandlungen müßten zunächst die besetztenZeitungen und Druckereien wieder freigegeben werden.Abbruch der Verhandlungen ohne Ergebnis, Wiederaufnahmeam späten Vormittag. Die Regierung hält an ihrerVorbedingung fest. Die Vertreter des Revolutionsausschusseserwidern, darauf könnten sie sich nicht einlassen, die be-setzten Zeitungen und Druckereien seien ihre Machtposition.Sie sagen aber die Herausgabe nach positivem Abschluß derVerhandlungen fest zu. Unnachgiebigkeit auf der einen,Illusionismus auf der anderen Seite, erneuter Abbruch derVerhandlungen.

    Rosa Luxemburg kritisiert aufs schärfste, daß der Revoluti-onsausschuß sich überhaupt auf Verhandlungen eingelassenhat. Mit einem Todfeind verhandelt man nicht, schreibt sie inder "Roten Fahne". Sie agitiert für weitere Konfrontation undZuspitzung.12

    8. Januar: Beide Seiten bringen böse Flugblätter heraus.Übereinstimmend erklären beide, mit der eigenen Geduld seies nun zuende. Die drei linken Organisationen fordern ihreAnhänger zum Generalstreik und zum bewaffneten Kampf

    11 Es wirft ein schlechtes Licht auf die Historiker, wie nebensächlich sie

    diese Vermittlungsversuche behandeln. Dasselbe gilt für den Ver-mittlungsversuch der Belegschaften Berliner Großbetriebe vom 9. Januar1919, von dem weiter unten gesprochen wird.

    12 Versäumte Pflichten, in: Die Rote Fahne, Nr. 8, 8. Jan. 1919, GesammelteWerke, Bd. 4, Berlin-DDR 1987, S. 519-522.

  • 20 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    gegen die Regierung auf. Die Regierung bittet ihre Anhänger,noch kurze Zeit stillzuhalten. "Die Stunde der Abrechnungnaht!"

    Der Zentralvorstand der USPD unternimmt einen weiterenVermittlungsversuch. Der Revolutionsausschuß erklärt sichbereit, als Vorleistung die Druckereien und Zeitungen frei-zugeben, nur den "Vorwärts" müsse er bis zum Abschluß derVerhandlungen als Faustpfand behalten. Die Regierungverlangt die ausnahmslose Freigabe aller Zeitungen. DieVerhandlung ist gescheitert.

    Fraglich ist, ob die linken Organisationen eine Verständigungin der "Vorwärts"-Frage überhaupt hätten einlösen können.Die Besetzer des "Vorwärts" lehnen jede Instanz ab, dieüberhaupt mit der Regierung verhandelt. Unter eigenerRedaktion bringen sie das Blatt als "Roter Vorwärts" heraus.In ihren Artikeln verkünden sie ihre Bereitschaft zum Kampfbis zum Letzten. Kinder des Weltkriegs.13

    9. Januar: Die Belegschaften mehrerer Großbetriebe, vorallem Schwartzkopff, AEG und Knorr-Bremse, sind entsetztüber die immer schärfere Zuspitzung. Sie ahnen, waspassieren wird, wenn erst einmal zwischen beiden Richtungender sozialistischen Arbeiterbewegung ein blutgetränktesSchlachtfeld liegt. Auf einer Kundgebung im Humboldthainfordern sie den Rücktritt aller für den Brudermord verant-wortlichen Führer auf beiden Seiten. Ein "Verbrüderungs-ausschuß" aus SPD-, USPD- und KPD-Mitgliedern wird ge-bildet, eine Delegation zur Reichsregierung geschickt. DieRegierung weist sie ab.

    13 Vgl. das Zitat in der Illustrierten Geschichte der Novemberrevolution in

    Deutschland, S. 327 f.

  • DOPPELMORD 21_________________________________________________

    Abb. 3 Arbeiter der Maschinenfabrik Schwartzkopff,9. Januar 1919

    Rosa Luxemburg kritisiert auch diesen Vermittlungsversuch.Diese Arbeiter, schreibt sie in der "Roten Fahne", gehörtengewiß zur Kerntruppe des revolutionären Proletariats. Hieraber seien sie "das Objekt einer Mache" seitens der USPD,manipuliert. "Indem diese Leute in demagogischer Weise mitden beliebten Schlagworten 'Einigkeit', 'kein Blutvergießen'arbeiten, suchen sie die Kampfenergie der Massen zu lähmen,Verwirrung zu säen und die entscheidende Revolutionskrise ineinen faulen Kompromiß mit der Gegenrevolutionaufzulösen".14

    10. Januar: Der Kampf um die Zeitungen und Druckereienbeginnt. Zunächst sind es von der SPD aufgestellte Verbände,die vorgehen.

    14 Das Versagen der Führer, in: Die Rote Fahne, Nr. 11, 11. Jan. 1919,

    Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 523-526, hier S. 524.

  • 22 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Abb. 4 Maschinengewehrstand hinter Barrikaden ausZeitungspapier vor dem Gebäude des "BerlinerTageblatts", 11. Januar 1919

  • DOPPELMORD 23_________________________________________________

    11. Januar: Die unter dem Oberbefehl von Noske stehendenVerbände rücken in Berlin ein. Die Militärs wollen den ei-gentlichen Triumph haben. Der "Vorwärts" wird mit schwer-stem Kriegsgerät beschossen. Verteidiger werden unter her-abstürzenden Mauern begraben. Als sieben Mann der Be-satzung nach draußen gehen, um ein Übergabeangebot zumachen, werden sie erschossen. Die noch lebenden Besetzerwerden beim Abtransport in die Gefangenschaft entsetzlichzugerichtet.

    Abb. 5 Regierungstruppen vor dem Gebäude des "Vor-wärts", 12. Januar 1919

    Das Militär behandelt die Arbeiterschaft Berlins wie die Be-völkerung einer besetzten Stadt im Krieg, wenn angeblichHeckenschützen geschossen haben. Jeder ist verdächtig, anGesundheit und Leben bedroht, einen ordentlichen Rechtsweggibt es nicht mehr. Eine hohe Kommandostelle, die dieVerfolgung zentralisiert, etabliert sich im vornehmen Eden-Hotel.

  • 24 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    15. Januar abends. In Wilmersdorf durchsucht die Bürger-wehr die Wohnung der jüdischen Familie Markussohn undentdeckt Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die hieruntergetaucht sind. Beide werden ins Eden-Hotel geschafftund dort verhört. Der kommandierende Hauptmann WaldemarPabst verabredet mit seinen Offizieren, daß die beiden getötetwerden sollen, ohne daß es nach vorsätzlichem Mord aussieht.Liebknecht wird als erster nach draußen geführt und in einAuto mit offenem Verdeck gebracht. Ein Soldat springt vorund schlägt ihm zweimal mit dem Gewehrkolben auf denKopf. Das Auto fährt los. Am Tiergarten wird angehalten,angeblich hat das Auto eine Panne. Die Begleitmannschaftenfragen Liebknecht, ob er noch zu gehen imstande ist. Er nickt.Man führt ihn in einen unbeleuchteten Fußweg. Nach wenigenSchritten schießt man ihn von hinten nieder. Bei der nächstenRettungsstation liefern die Täter die Leiche einesUnbekannten ab.

    Als Rosa Luxemburg abgeführt wird, schlägt derselbe Soldatwiederum zweimal mit dem Gewehrkolben zu, diesmal be-reits an der Drehtür des Hotels. Sie sackt zusammen, scheintbereits tot. Man schleift sie auf den Rücksitz eines offenenAutos. Beim Abfahren springt ein Mann hinten auf undschlägt ihr mit einem harten Gegenstand auf den Kopf. Un-terwegs setzt ein auf dem Trittbrett mitfahrender Offizier diePistole gegen die Schläfe und drückt ab, der Körper zucktnoch einmal zusammen, sie ist tot. Am Landwehrkanal wirddie Leiche ins Wasser geworfen, sie treibt ab und bleibtvorläufig unauffindbar. "Die alte Sau schwimmt schon", heißtes bei der Rückkehr der Täter zum Hotel.

    Eine solche Tat wäre in den Friedenszeiten des Kaiserreichsundenkbar gewesen. Andererseits ist das noch nicht die Ge-stapo, die ihre Opfer foltert und in dunklen Kellern liquidiert.Die Täter sind Offiziere und Soldaten nach vier Jahren Kriegvon bis dahin unvorstellbarer Zerstörungskraft, und sie sehen

  • DOPPELMORD 25_________________________________________________

    sich einer wachsamen und hochpluralistischen Pressegegenüber, die ihnen eine Erklärung abverlangt. Dazu gleich.

    Eine genaue Schilderung des Doppelmordes, wie er nach ei-nem Monat trotz aller Vertuschungsversuche rekonstruiertwerden konnte, ist im Textanhang abgedruckt.

    Am nächsten Tag bringt die Presse eine amtliche Darstellung,ausgearbeitet vom Pressesprecher der Division (ebenfalls imTextanhang). Zentral für diesen Text ist die Behauptung, daßdas Hotel von einer großen Menschenmenge umlagert wurde,die von Mordlust gegen die beiden Verhafteten erfüllt war.Trotz verzweifelter Anstrengungen der Offiziere warenschwere Gewalttaten der Menge nicht zu verhindern.Liebknechts Tod im Tiergarten fällt dann unter die Formel"auf der Flucht erschossen", während bei Rosa Luxemburg diemordlüsterne Menge unerwartet an einer zweiten Stelleauftaucht, sie der Begleitmannschaft entreißt und mit ihr inder Dunkelheit verschwindet. In Wirklichkeit waren alleZufahrtsstraßen zum Hotel hermetisch abgeriegelt gewesen.Lügen erfinden und sie mit dem Stempel "amtlich" versehenüber die Presse verbreiten, das hatten diese Männer im Krieggründlich gelernt.

    Lüge - das ist freilich nur die eine Seite, die auf die äußereRealität bezogene. Nach der Methode von Klaus Theweleits"Männerphantasien" müssen wir aber auch nach der psycho-somatischen Realität fragen, und da sagt der Text die Wahr-heit. Die mordlüsterne Menge - die tobt in diesen Männernselbst; sie fühlen sich zerrissen vom Gegensatz zwischen demanerzogenen Gebot: wehrlose Gefangene müssen beschütztwerden, und der eigenen Mordlust. Wenn wir uns das vor-stellen: zuletzt verschwindet die Menge mit Rosa Luxemburgin der Dunkelheit - welch ein Symbol!

  • 26 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    3. Die Reaktionen der SPD-Führer auf den Doppelmord

    Ich führe zwei neue Figuren ein. Zuerst Kurt Baake, Her-ausgeber einer SPD-Pressekorrespondenz, seit der RevolutionUnterstaatssekretär in der Reichskanzlei, engster MitarbeiterEberts und Scheidemanns. Sodann Walter Oehme, beiKriegsende Unteroffizier an der Ostfront, wegen dringenderDemobilmachungsprobleme seines Truppenteils nach Berlingeschickt, auf Bitten von Baake in der Reichskanzleihängengeblieben, regelrecht mit Wohnung dortselbst, alskundiger Helfer im Umgang mit den konservativenMinisterialbeamten. Walter Oehme war ebenfalls Sozi-aldemokrat, trennte sich aber nach den Erfahrungen dieserMonate bald von seiner Partei und ging zur USPD, dann zurKPD. 1958 erschienen in der DDR seine Erinnerungen an dieZeit in der Reichskanzlei. Er schreibt:

    "Der 16. Januar war ein grauer Wintertag! Die Nacht warlang gewesen: Telegramme, Telefonate, Protokolle, Akten.Gegen zwei Uhr war ich in mein Zimmer im ersten Stockgestiegen. Trotz des sonst erfrischenden Bades kam ich gegenneun Uhr früh müde in das Zimmer des Unterstaatssekretärs,den restlichen Aktenbestand zu holen. Vom Gartenschimmerte trüb der Schnee, die Kohlmeisen schilpten auf denebenerdigen Fensterbrettern. Ich ließ das Licht aufflammenund - blieb erschreckt im Türrahmen stehen.

    Da saß, zusammengesunken in seinem Arbeitssessel, der Un-terstaatssekretär Baake, den großen Kopf in die Händegestützt. Er sah auf, das leichenblasse Gesicht starrte michmit verschleierten Augen verständnislos an. Wir schwiegeneine ganze Zeit. Dann erhob er sich, stemmte schwer diebeiden Fäuste auf die Schreibtischplatte; wie ein Hauch kames von seinen Lippen: 'Die beiden L sind tot!' Ich begriff nicht.

    Er starrte eine Weile schweigend vor sich hin, dann schmet-terte er den granitnen Briefbeschwerer auf die Tischplatte:

  • DOPPELMORD 27_________________________________________________

    'Liebknecht und Rosa Luxemburg sind tot, verstehen Sienicht?' schrie er mich an. 'Ermordet, jammervoll erschlagen!'

    Dann sank er in seinen Sessel zurück. Ich fürchtete einenSchlaganfall, so verzerrt waren seine Gesichtszüge, und eiltezu ihm, ohne die ganze Schwere der Nachricht zu erfassen.'Das ist das Ende!' stöhnte er. 'Das Kabinett muß sofort zu-rücktreten'."15

    Wir müssen festhalten, daß es diese Stimme in der SPD-Führung gegeben hat. Und es war keine Einzelstimme. Amselben Tag brachten beispielsweise in Frankfurt a. Main dieSPD-Vertreter im Arbeiterrat eine Resolution ein, die denRücktritt der Reichsregierung und die Bildung einer neuenRegierung aus SPD, USPD und KPD forderte, auf dem Bodeneines Mindestprogramms zur Sicherung der Revolution, u.a.Säuberung der Verwaltung von Anhängern des alten Regimes,Verstaatlichung des Bergbaus, Festlegung einesEnteignungsrechtes gegenüber dem Großgrundbesitz, Fest-schreibung der sozialen Grundrechte wie Recht auf Arbeit inder künftigen Verfassung, dies alles noch vor Zusammentrittder Nationalversammlung.16

    Aber dies war die kleine Minderheit unter den SPD-Funk-tionären. Zurück zu Walter Oehme in der Reichskanzlei. Erbeschreibt die Reaktion von Otto Landsberg, Mitglied deseigentlichen Kabinetts, von Beruf Rechtsanwalt.

    "Landsberg war genau wie Baake der Überzeugung, daß dasKabinett sofort zurücktreten müsse. Es gäbe keinen anderenAusweg ... Das seien diese politisch stumpfsinnigen Militärs,die alle Probleme mit dem Gewehrkolben glaubten lösen zukönnen. Aber Landsberg war keineswegs wie Baake mensch-

    15 Walter Oehme: Damals in der Reichskanzlei. Erinnerungen aus den

    Jahren 1918/19, Berlin-DDR 1958, S. 132.

    16 Erhard Lucas: Frankfurt unter der Herrschaft des Arbeiter- und Sol-datenrats 1918/19, Frankfurt 1969, S. 60 f.

  • 28 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    lich tief erschüttert. Ihn beschäftigten nur die politischen Kon-sequenzen ... Natürlich müsse die SPD das Heft weiter in derHand behalten. Der Gegenstoß, der von den Spartakistenkommen werde, müsse ins Leere gehen, deshalb müsse dasKabinett demonstrativ geschlossen zurücktreten. Aber vorhermüsse man mit dem Zentralrat die Frage der Nachfolgeregeln. Gleichzeitig mit dem Rücktritt des Kabinetts müsse dasneue Kabinett bekanntgegeben werden. Das brauche nur einekurze Zwischenlösung zu sein. In dieser Frist müsse klarfestgestellt werden, daß das Unternehmen allein auf dasKonto des Militärs komme".17

    Und noch eine dritte Stelle aus diesen Erinnerungen.

    "Etwa gegen 11 Uhr kam Noske. Laut und breit wie immer! Erkam zunächst in Baakes Zimmer, wo noch immer Landsbergsaß, der plötzlich irgendeine Anlehnung suchte, während ersonst lieber allein zu sein pflegte. Er fiel auch gleich überNoske her und schimpfte über die blödsinnigen Offiziere, dienichts Vernünftiges machen könnten und stets Unheil anrich-teten, wenn sie nur für fünf Minuten allein gelassen würden.

    Noske war beleidigt. Er kam schließlich als der Sieger ... Erhatte den ganzen 'Spuk des Spartakusrummels zusammenge-schlagen und davongejagt', wie er sich auszudrücken pflegte.Er hatte Anspruch auf Lob, und Lob hörte Noske gern. Stattdessen mußte er hier noch den verkappten Vorwurfeinstecken, daß er auf seine Offiziere nicht genügendaufgepaßt habe.

    'Na, euch', rief er erregt ..., 'uns haben sie jedenfalls zunächstdas Leben gerettet. Oder meint ihr, daß Liebknecht mit unssanft umgesprungen wäre, wenn wir in seine Hände gefallenwären? ... Ihr habt Nerven wie hysterische alte Weiber. Kriegist Krieg. Na ja, Ihr wart eben nie dabei.'

    17 Oehme, S. 314.

  • DOPPELMORD 29_________________________________________________

    Das war Baake zuviel: 'Aber Krieg ist kein Mord - jedenfallswollen wir die Schuld für diesen Doppelmord nicht auf unsnehmen. Die sollen die tragen, die das Verbrechen organisierthaben. Für uns gibt es nur eins: sofort zurücktreten.'

    Noske zog seinen 30 cm langen, daumendicken Bleistift ausder Rocktasche und schlug damit in seine Hand. Das tat eroft, wenn er erregt und wütend war. Nach einer Weile sagte ermit künstlicher Ruhe: 'Doppelmord? Wer sagt euch eigentlich,daß es ein Mord ist?'"18

    Damit Sie nicht sagen, das sind subjektive Erinnerungen,einseitig und wenig wert, setze ich daneben die entsprechendeStelle aus dem schon zitierten Buch von Noske, ein Jahr nachdem Ereignis geschrieben:

    "Als ich vormittags ins Kanzlerhaus kam, fand ich den Unter-staatssekretär Baake und meinen Kollegen Landsberg ganzverstört vor. Beide waren der Ansicht, das sei überhaupt nichtzu überstehen. Sehr viel kühler habe ich die Lage beurteilt.Die Art, wie die beiden Führer der Spartakisten ums Lebengekommen waren, war gewiß erschütternd. Wegen der Tatwar zudem ein Höchstmaß von Agitation und Aufreizungdurch die eben geduckten Unabhängigen und Spartakusleutezu erwarten. Endlich wurde die Erregung der Gemüter durcheinen Teil der bürgerlichen Presse gesteigert, die mitsensationeller Mache über die Tat am Edenhotel berichtete.

    Zu erklären ist der Mord an Rosa Luxemburg und die TötungLiebknechts nur aus der wahnwitzig erregten Stimmung jenerTage in Berlin. Wie ein Ruheloser war Liebknecht ein paarWochen lang in der Stadt herumgerast. Er und Frau Luxem-burg waren Hauptschuldige daran, daß die unblutig

    18 S. 316 f.

  • 30 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    begonnene Umwälzung zum Bürgerkrieg mit allen seinenScheußlichkeiten ausartete".19

    Soweit dieses Zitat. Ich stelle mir für einen Moment vor, daßSpitzenpolitiker wie Bäume Ringe ansetzen, nicht wenn sieein Jahr älter geworden sind, sondern wenn sie eine böse Sa-che, die sie zu verantworten haben, durchgestanden haben.Aber ich weiß, der Vergleich hinkt, und ich will auch dieBäume nicht beleidigen.

    Die Spitzenpolitiker der SPD wurden dann noch einmal vonden Toten ereilt. Am 31. Mai 1919, einem Samstag, wird dieLeiche Rosa Luxemburgs im Landwehrkanal entdeckt. DiePolizei schafft sie sofort, ohne den zuständigen Richter zuinformieren und dessen Eintreffen abzuwarten, ins Leichen-schauhaus. Noske befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf einergroßen Abendgesellschaft im Hause des Berliner Vertretersder Hamburg-Amerika-Linie, Herrn v. Holtzendorf.Spätabends werden zwei Herren gemeldet, die ihn dringendzu sprechen wünschen. Es sind die Sozialdemokraten Wolf-gang Heine, preußischer Innenminister, und Eugen Ernst,Berliner Polizeipräsident, Nachfolger von Emil Eichhorn, umdessen Amt die Kämpfe im Januar entbrannt waren. Noske hatin einem zweiten Erinnerungsbuch, das er im Dritten Reichals inzwischen pensionierter Oberpräsident von Hannovergeschrieben hat und das nach seinem Tode - er starb 1946 - inder amerikanischen Besatzungszone publiziert wurde, dieSzene beschrieben:

    "Eugen Ernst platzte mit den Worten heraus: 'Man hat sie ge-funden.' Auf meine verwunderte Frage, wen denn, setzte erhinzu: 'Die Rosa.' In jenen Monaten war ich an Hiobspostengewöhnt worden, so daß die Mitteilung mich nicht erregte.Der ruhigen Gemütsstimmung gab ich denn auch Ausdruck ...Die Sorge des Ministers und des Polizeipräsidenten war, am

    19 Noske, Von Kiel bis Kapp, S. 75 f.

  • DOPPELMORD 31_________________________________________________

    Sonntag würde es in den Straßen beim Schauhaus zu großenMenschenansammlungen und heftigen Demonstrationenkommen. Unruhen seien als sicher anzunehmen,Blutvergießen werde notwendig, und bei der Ge-witterstimmung, die in Berlin herrschte, sei nicht abzusehen,was folgen könnte".20

    Noske schlägt die Absperrung der Straßen um das Leichen-schauhaus durch Militär vor. Das genügt den beiden nicht. Soläßt er noch in der Nacht die Leiche in das MilitärlagerZossen überführen. Nach seiner Vorstellung soll dort auch dieBeerdigung erfolgen: "dort konnten die Kommunisten, wennsie demonstrieren wollten, sich nur blutige Köpfe holen".Aber am nächsten Tag bekommt er Schwierigkeiten mit derJustiz, die sich diesen Eingriff in ihre Befugnisse nichtgefallen läßt; sie setzt die Rücküberführung der Leiche nachBerlin durch.21 14 Tage später wird Rosa Luxemburg in ei-nem endlosen, ernsten, von keinerlei Gewalttätigkeiten be-gleiteten Trauerzug zu Grabe getragen.

    Was hat Noske, Eugen Ernst und Wolfgang Heine in jenerNacht umgetrieben? Wirklich nur die Angst vor Demonstra-tionen und sogenannten Ausschreitungen?

    4. Rosa Luxemburgs politisches Testament

    Rosa Luxemburg an Clara Zetkin in Stuttgart, 11. Januar, derletzte Brief, den wir von ihr besitzen.

    "Liebste Klara, heute erhielt ich Deinen ausführlichenBrief, kam endlich dazu, ihn in Ruhe zu lesen und,was noch unglaublicher: ihn zu beantworten. Es ist

    20 Gustav Noske: Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie,

    Offenbach 1947, S. 85.

    21 S. 85 f.

  • 32 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    nämlich nicht zu beschreiben, welche Lebensweiseich - wir alle - seit Wochen führen, den Trubel,den ständigen Wohnungswechsel, dieunaufhörlichen Alarmnachrichten, dazwischenangestrengte Arbeit, Konferenzen etc. etc. ...Meine Wohnung sehe ich nur ab und zu für einpaar Nachtstunden".

    Der Hauptinhalt des Briefes besteht in Mitteilungen undErörterungen über die Entwicklung der jungen KPD, insbe-sondere über den Beschluß zum Boykott der bevorstehendenWahl zur Nationalversammlung. Zum Schluß schreibt sie:

    "Die heftigen politischen Krisen, die wir hier in Berlinalle zwei Wochen oder noch häufiger erleben, hemmenstark den Gang der systematischen Schulungs- undOrganisationsarbeit, sie sind aber zugleich selbst einegroßartige Schule für die Massen. Und schließlich mußman die Geschichte so nehmen, wie sie laufen will. -Daß Du die 'Rote Fahne' so selten erhältst, ist geradezufatal! Ich werde sehen, daß ich sie Dir täglich schicke.In diesem Augenblick dauern in Berlin die Schlachten,viele unserer braven Jungen sind gefallen, Meyer,Ledebour und (wie wir befürchten) Leo Jogiches sindverhaftet.

    Für heute muß ich Schluß machen.Ich umarme Dich tausendmal

    Deine R."22

    Wie sehr unterschätzt sie das Ausmaß der Niederlage! Es istüberliefert, daß sie und Karl Liebknecht nur mit Mühe über-redet werden konnten, sich in den Wohnungen von Freundenzu verstecken. Die Hauptsorge der beiden galt der Fortführungdes Parteiblatts. So erschienen ihre letzten Texte unter der

    22 Rosa Luxemburg, Bd. 5: Gesammelte Briefe, hg. vom Institut für

    Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin-DDR 1984, S. 426 f.

  • DOPPELMORD 33_________________________________________________

    Herrschaft des weißen Terrors, Rosa Luxemburgs Artikel "DieOrdnung herrscht in Berlin", Rote Fahne vom 14. Januar, KarlLiebknechts Artikel "Trotz alledem!", Rote Fahne vom 15.Januar 1919. Versuchen wir uns vorzustellen, wie diese Texteentstanden sind - abgehetzte Menschen, untergebracht und füreine Weile in ihrem Zimmer alleingelassen von besorgten undihrerseits bedrohten Freunden, an einer anderen Stelle derWohnung wartet vielleicht schon der Parteigenosse, der denText unter Lebensgefahr zur illegalen Druckerei bringen wird,nicht wissend, ob die Druckerei nicht auch schon entdeckt undausgehoben ist.

    Sehen wir uns den Text von Rosa Luxemburg an (siehe An-hang). Zu Beginn erinnert sie an ein zentrales Ereignis in derneueren Geschichte des Volkes, aus dem sie stammt, an denAufstand von 1830/31 im Königreich Polen gegen diezaristische Herrschaft.

    "'Ordnung herrscht in Warschau!' teilte der Minister Seba-stiani im Jahre 1831 in der Pariser Kammer mit, als SuworowsSoldateska nach dem furchtbaren Sturm auf die VorstadtPraga in der polnischen Hauptstadt eingerückt war und ihreHenkerarbeit an den Aufständischen begonnen hatte".

    Jetzt lautet die offizielle Meldung: "Ordnung herrscht inBerlin!" Beißend stellt Rosa Luxemburg gegenüber die Nie-derlage der deutschen Truppen an den Fronten des Weltkriegsund ihren Sieg über die Arbeiterschaft Berlins. "Noske ...heißt der General, der Siege zu organisieren weiß, wo Lu-dendorff versagt hat".

    Und wieder geht, Absatz 3, der Blick zurück in die Ge-schichte, diesmal zurück zur Pariser Commune von 1871. Diefranzösische Bourgeoisie ist von den Preußen geschlagen - imGegenzug läßt sie das Pariser Proletariat niedermetzeln.

    Wozu dienen diese Rückblicke in die Geschichte? Absatz 14:hier finden Sie die zentralen Stichworte, die das Verhältnis

  • 34 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    der Moderne zur Geschichte kennzeichnen: historischeErfahrung, Kenntnis, Macht, Idealismus.

    Der derart strukturierte Blick erkennt, daß es in der Ge-schichte der modernen Revolution und des Sozialismus lauterNiederlagen gibt. Aber, Absatz 15, "diese unvermeidlichenNiederlagen häufen gerade Bürgschaft auf Bürgschaft deskünftigen Endsieges".

    Dabei muß allerdings scharf zwischen zwei Arten von Nie-derlagen unterschieden werden: Absatz 16. Entweder pralltedie vorwärtsstürmende Kampfenergie der Massen gegen diemangelnde Reife der historischen Voraussetzungen, oder dierevolutionäre Aktion war in sich durch Halbheit, Unent-schlossenheit, innere Schwäche gelähmt.

    Die schlußfolgernde Schlüsselfrage lautet: Unter welche derbeiden Möglichkeiten fällt die soeben ausgefochtene Aktion?Rosa Luxemburgs überraschende Antwort in Absatz 19: unterbeide! "Der zwiespältige Charakter dieser Krise, derWiderspruch zwischen dem kraftvollen, entschlossenen, offen-siven Auftreten der Berliner Massen und der Unent-schlossenheit, Zaghaftigkeit, Halbheit der Berliner Führungist das besondere Kennzeichen dieser jüngsten Episode".

    Hierzu ein erster kritischer Einwand: Rosa Luxemburg hältdie Logik der kunstvoll aufgebauten Argumentation nichtdurch. Sie behauptet zwar das Vorliegen beider Formen vonhistorischer Niederlage, aber an dieser Stelle läßt sie still-schweigend die eine unter den Tisch fallen und formuliertlediglich die andere aus. Widerspruch zwischen Kampfener-gie der Massen und Unentschlossenheit der Führung: das istausschließlich Fall 2 des Gegensatzpaares von Absatz 16. Fall1 hält Rosa Luxemburg für gleichfalls gegeben, also dieSituation war nicht reif, die Voraussetzungen für einen Siegfehlten. Inwiefern sie fehlten, hat sie weiter vorn dargelegt(Absatz 5 und 6). Aber an dieser Stelle greift sie das nichtwieder auf, und nur aufgrund dieser Auslassung kann sie

  • DOPPELMORD 35_________________________________________________

    überhaupt ihren Vorwurf wegen Unentschlossenheit undHalbheit an die Führer richten und andererseits die Massenidealisieren, wie wir es von Rosa Luxemburg gewohnt sind.Wir müssen umgekehrt schlußfolgern: Wenn alle Vorausset-zungen für einen Sieg fehlten, dann war es die Aufgabe derFührer, die Massen über die Aussichtslosigkeit der Kon-frontation aufzuklären und sie aus dem Kampf herauszuzie-hen. Ich betone, dies ist eine immanente Kritik, auf der Basisvon Rosa Luxemburgs eigener Logik.

    Ich gehe nun noch auf den letzten Absatz ein.

    "Ordnung herrscht in Berlin!" Ihr stumpfen Schergen! Eure"Ordnung" ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sichmorgen schon "rasselnd wieder in die Höh' richten" und zueurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ichbin, ich werde sein!

    Sie sehen, daß die Stelle "rasselnd wieder in die Höh' richten"als Zitat markiert ist. Es gibt zahlreiche solcher Zitate beiRosa Luxemburg. Keiner der bisherigen Herausgeber derSchriften Rosa Luxemburgs hat sich die Mühe gemacht, siesystematisch nachzuweisen. Das vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED eingesetzte Herausgeberteamder "Gesammelten Werke" möchte ich für diese Unterlassungausdrücklich tadeln, verfügte es doch reichlich überpersonelle Kapazität. Es hätte sich von der Überlegung leitenlassen sollen, daß ein Zitat, von einer so bewußten und aufStil bedachten Schriftstellerin wie Rosa Luxemburg ein-gesetzt, ebenso viel Aussagekraft hat wie der Nachweis, wound wann ein Artikel von ihr erschienen ist und auf welchenVorgang innerhalb oder außerhalb der Arbeiterbewegung ersich bezieht.

    Die Suche war schwierig. Verschiedene Sammlungen deut-scher Gedichte halfen nicht weiter, auch mehrere Germani-sten, die ich ansprach, wußten keinen Rat. Schließlich fandsich der entscheidende Hinweis: in dem großen Werk über

  • 36 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Rosa Luxemburg mit dem Untertitel "Journalistin, Polemi-kerin, Revolutionärin" aus der Feder des französischen Mar-xisten Gilbert Badia, Paris 1975. Badia stimmt zwar immerwieder einen schwärmerischen Hymnus auf Rosa Luxemburgan, der uns in der Sache wenig weiterbringt, aber er machtgleichzeitig eine Fülle von ästhetischen und politischenBeobachtungen. So kommt er in einem Abschnitt über dieliterarischen Zitate bei Rosa Luxemburg auch auf diesenArtikel zu sprechen und stellt fest: "Die letzte Zeile 'Ich war,ich bin, ich werde sein!' ist, ebenso wie die in An-führungszeichen gesetzten Worte 'rasselnd wieder in die Höh'richten', einem Gedicht Freiligraths entnommen, das in derletzten Nummer der Neuen Rheinischen Zeitung erschien".23

    Ein kleines Versehen: Rosa Luxemburg hat nicht ein Gedichtzitiert, sondern zwei Gedichte Freiligraths miteinanderkombiniert. Aber das war gleichgültig; entscheidend war derHinweis, bei welchem Dichter zu suchen war. Beide Gedichtesind im Textanhang abgedruckt.

    Das erste Gedicht ist das "Abschiedswort der Neuen Rheini-schen Zeitung". Dazu wenige Stichworte: Die "Neue Rheini-sche Zeitung" in Köln, Chefredakteur Karl Marx, war dasOrgan, mit dem Marx und der Kreis seiner Mitstreiter in denGang der Revolution von 1848/ 49 einzugreifen versuchten;das strategische Konzept dabei lautete: Nach dem Modell derfranzösischen Revolution die Bourgeoisie an die volle Macht;vorwärtstreibende Unterstützung des radikalen Flügels derBourgeoisie durch die Arbeiterbewegung. Infolge derpolizeilichen Verfolgung von Friedrich Engels und andererRedakteure und der Ausweisung von Marx aus Preußen mußtedie Zeitung am 19. Mai 1849 ihr Erscheinen einstellen. Dieletzte Ausgabe erscheint in rotem Druck. Sie enthält unteranderem dieses Gedicht von Freiligrath.

    23 Gilbert Badia: Rosa Luxemburg. Journaliste, polémiste, révolutionnaire,

    Paris 1975, S. 626 Anm. 144.

  • DOPPELMORD 37_________________________________________________

    Betrachten wir jetzt nur die letzten Zeilen von Strophe 4. Siewaren fester geistiger Besitz der sozialistischen Arbeiterbe-wegung in Deutschland. "Nun ade - doch nicht für immer ade!Denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!" das wurdeunzählige Male unter Bismarcks Sozialistengesetz rezitiert, inNot und Verfolgung, im Moment der polizeilichen Aus-weisung, der Inhaftierung, der Auswanderung aus Deutsch-land. "Sie töten den Geist nicht, ihr Brüder" - das wurde dannnach dem Sozialistengesetz immer wieder von Arbei-terführern in großen öffentlichen Reden zitiert, wenn sich dieSituation zuspitzte, in der Zeit des Kaiserreichs und dannweiter in der Weimarer Republik, so in der bedrohlichenKrise im Herbst 1923, als das Schicksal der Republik amseidenen Faden hing und das erste Ermächtigungsgesetz be-schlossen wurde, wo Rudolf Breitscheid im Reichstag, zurrechten Seite des Hauses gewandt, ausrief: "Sie können gegendie Träger der Ideen mit Maschinengewehren und Ihrensonstigen Gewaltargumentationen zu Felde ziehen, Sie kön-nen uns das Leben rauben; aber die Ideen werden leben. 'Sietöten den Geist nicht, ihr Brüder!' Von Marx wird man reden,seine Grundideen werden zum Siege gekommen sein, wenndie Spuren unserer und Ihrer Gräber längst vom Windeverweht worden sind. Ihr hemmt uns, doch Ihr zwingt unsnicht!"24 Oder ein anderes Beispiel, direkt zu unserem Themagehörig: ein Foto von der feierlichen Beerdigung RosaLuxemburgs. Auf dem Schild rechts ist zu lesen: "Ihr tötetwohl den Leib, doch der Geist lebt unter uns fort".

    24 Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 361, Berlin

    1924, S. 11958 A (Sitzung vom 8. Okt. 1923).

  • 38 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Abb. 6 Beerdigung Rosa Luxemburgs am 13.Juni 1919

    Übrigens wird hier ein Jesus-Wort aus dem Evangelium desMatthäus variiert. "Fürchtet euch nicht vor denen, die denLeib töten, und die Seele nicht können töten; fürchtet euchaber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann indie Hölle".25 (Kapitel 10, Vers 28)

    Zurück zu Freiligraths Gedicht. Weniger geläufig waren diebeiden folgenden Zeilen: "Bald richt' ich mich rasselnd in dieHöh', bald kehr' ich reisiger wieder!" Das Wort "reisig" waraltmodisch, vielleicht schon als das Gedicht geschriebenwurde, und eine Komparativform kennt das Grimmsche

    25 Seele, psyche ist Sitz und Trägerin des höheren Lebens; Menschen

    können sie nicht beschädigen, aber Gott kann sie dem Verderbenüberantworten. Die zweite Hälfte des Verses dürfte bei Freiligrath unddenen, die ihn zitieren, mitgedacht sein: an der Seele bzw. dem Geistkeinen Verrat üben!

  • DOPPELMORD 39_________________________________________________

    Wörterbuch überhaupt nicht. Aber Rosa Luxemburg konntediese beiden Zeilen offenbar ebenfalls auswendig, und siestörte sich auch nicht an den Assoziationen, die sich hiernahelegen. Wer richtet sich rasselnd in die Höhe - ein Rittermit Kettenhemd, Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser? As-soziationen, die uns seltsam erscheinen, die aber durchaus imHorizont der Gedankenwelt Freiligraths liegen.26 Undschließlich noch eine Formulierung in Rosa Luxemburgs Textkönnte von diesem Gedicht inspiriert sein, nicht wörtlich, abersinngemäß: die Rede von den "stumpfen Schergen". InStrophe 2 charakterisiert das Gedicht den Gegner: kein Feind,der in offener Feldschlacht gesiegt hat, sondern einer, derfeige aus dem Hinterhalt den tödlichen Pfeil abgeschossenhat, "schmutzige Westkalmücken"!

    Das zweite Gedicht trägt den Titel "Revolution", geschrieben1851 unter den Verfolgungen der Reaktion. Die Revolutionwird vorgestellt als eine Frau, die zur standrechtlichen Exe-kution abgeführt, die ins Zuchthaus gesperrt, die ins Exilgetrieben worden ist. Doch nein, ruft das Gedicht, sie lebtnoch, sie ist frei, sie jammert nicht über ihr Schicksal am Ufereines Flusses in fernem Lande! Sie lebt, wo die Macht derUnterdrücker ein Ende hat, in jedem trotzig denkenden Haupt,in jedem Menschen mit aufrechtem Gang, in jeder menschlichfühlenden Brust, in jeder Werkstatt des arbeitenden Volkes, injeder Hütte der Armen. Und sie wird wiederkommen, um ihreSache siegreich zuende zu führen, sie wird ihren Fuß auf denNacken der Unterdrücker setzen und ihre Kronenzerschmettern. - Das Gedicht steckt voller Anspielungen aufdie Bibel: Israel im Exil, "an den Wassern Babylons saßen wir

    26 Vgl. etwa das Gedicht "Im Himmel" von 1844: Der Alte Fritz, auch im

    Himmel von seinen Generälen umgeben, verspürt große Lust, auf die Erdezurückzukehren und sich an die Spitze der Oppositionsbewegung zustellen. Oder Friedrich Barbarossa sieht im Kyffhäuser die HinrichtungKonradins.

  • 40 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    und weinten", Israels Auszug aus Ägypten, die WiederkunftChristi, das Jüngste Gericht; auf ein weiteres Bibelzitatkomme ich gleich noch etwas genauer zu sprechen.

    Auch dieses Gedicht gehörte zum geistigen Besitz der sozia-listischen Arbeiterbewegung. Zitiert wurde gern aus derStrophe 10 die vorletzte Zeile, wobei man meist die beidenTeile umstellte: "Es ist kein Rühmen, ist kein Drohn, 's ist derGeschichte ehrnes Muß!" Das paßte zur Geschichtsme-taphysik der sozialistischen bzw. marxistischen Arbeiterbe-wegung: wir werden siegen, denn wir sind die Vollstreckerder Gesetzmäßigkeiten der Geschichte! Rosa Luxemburgzitiert eine andere Stelle, nämlich den Schluß von Strophe 6:"Sie (die Revolution) spricht mit dreistem Prophezein, so gutwie weiland euer Gott: Ich war, ich bin - ich werde sein!"Zitat zweiter besonders berühmter Stellen der Bibel, die eineaus dem Alten, die andere aus dem Neuen Testament: dieSelbstbezeichnung Jahwes gegenüber Moses und dieSelbstbezeichnung Gottes gegenüber dem Seher Johannes inder Apokalypse. Da ich davon ausgehe, daß die meisten vonIhnen die Bibel nicht so gut kennen wie Ferdinand Freiligrathund Rosa Luxemburg, habe ich die beiden Texte unter dasGedicht gesetzt.

    Nun zitiert Rosa Luxemburg nicht direkt aus der Bibel wieFreiligrath, sondern indirekt auf dem Weg über das Gedichtvon Freiligrath, und zwar aus dem Kopf, wie wir immer imAuge haben müssen. Dabei läßt sie etwas weg und fügt etwasanderes hinzu. Sie läßt weg die Worte bei Freiligrath "so gutwie weiland euer Gott" (Strophe 6, letzte Zeile). Sie tilgt alsodie Spur, die bei Freiligrath zum Gott der Bibel hinführt. Eskönnte sein, daß ihr dies für die "Rote Fahne" und für dieBerliner Arbeiterschaft unzumutbar erschien. Sicher scheintmir, daß Rosa Luxemburg, als Jüdin und als belesene Frau,sich im klaren darüber war, daß sie hier den Gott der Bibelzitierte. Was sie gegenüber dem Text von Freiligrathhinzugefügt hat, sind die beiden Worte "mit Posaunenklang".

  • DOPPELMORD 41_________________________________________________

    Sie verstärkte damit die bei Freiligrath nicht direkt ausge-sprochene, aber angelegte Assoziation: Jüngstes Gericht,Apokalypse des Johannes.

    Nach diesem langen interpretatorischen Herantasten fasse ichdie Aussage dieses letzten Absatzes in Rosa Luxemburgspolitischem Testament zusammen. Die Göttin Revolution, dieda war, die da ist und die da sein wird, sie wird wiedererscheinen, zum Entsetzen ihrer Feinde, zur Erlösung derMenschheit, zum Jüngsten Gericht.27

    Diese Botschaft, diese Verkündigung erschreckt mich. Ichfrage mich: Wie dienen die Menschen dieser Göttin undwelche Rolle spielen sie in diesem Heilsplan? Dabei er-leichtert mich keineswegs, daß es sich nicht um einen trans-zendenten Gott, sondern um eine rein diesseitige Göttinhandelt, die ganz in der Geschichte aufgeht, genauer: die dieGeschichte i s t. Im Gegenteil, es macht die Sache schlimmer.Ein transzendenter Gott spricht sein Urteil auch über die, dieihm zu dienen glauben, er vollzieht das Jüngste Gericht alleinaus eigener Kraft, und die jüdisch-christliche Re-ligionsgeschichte ist voller Beispiele für die selbstkritischeBedeutung, die die Furcht Gottes im Leben und im Verhaltender Frommen spielt. Anders ist es, wenn Menschen denVerlauf des Jüngsten Gerichts zu kennen glauben, siehe dieZeugen Jehovas; noch wieder anders und extremer, wenn sieden Vollzug des Jüngsten Gerichts in die eigene Hand nehmenwie der revolutionär-enthusiastische Flügel der Wiedertäufer(Hans Hut, Melchior Hoffmann, die Wiedertäufer vonMünster) - das Resultat ist Hybris, Zerstörung, Lust amUntergang.

    27 Zur Vorstellung von der Göttin Revolution vgl. auch Absatz 4: "Ihren

    Richtlinien, ihren Wegen mit Bewußtsein zu folgen, ist die erste Aufgabeder Kämpfer für den internationalen Sozialismus". Jüngstes Gericht: vgl.Absatz 14, "wo wir unmittelbar bis vor die Endschlacht des proletari-schen Klassenkampfes herangetreten sind".

  • 42 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Betrachten wir noch einmal das Foto von der Beerdigung. Aufdem großen Transparent halblinks sehen wir ein Bild RosaLuxemburgs. Darunter steht: "Ich war, ich bin, ich werdesein". Rosa Luxemburg, zu ihren Lebzeiten Prophetin derGöttin Revolution, verwandelt sich nach ihrem Tode selber ineine unsterbliche Göttin. Nach der zugrundeliegendenReligion der Geschichte ist das vollkommen folgerichtig.

    5. Versuch über die Ursachen der Katastrophe in histori-scher Perspektive

    Die deutsche sozialistische Arbeiterbewegung liebte die mi-litärische Metaphorik. Wenn wir heute etwa Franz Mehrings"Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" lesen, erstaunenwir darüber, wie die Ergebnisse der Reichstagswahlen unterBismarcks Ausnahmegesetz geschildert werden. Da ist dieRede von "feindlichen Sturmkolonnen", die sich an den"verschanzten Lagern" der Sozialdemokratie "die Köpfe ein-gerannt hatten"; ein andermal von einer "Verlustliste" derSozialdemokratie, die "keine Toten und keine Überläufer,sondern nur Gefangene und Verwundete" zählte; vom "ge-schlossenen Karree" der Sozialdemokratie in Hamburg undAltona, ihren "gewaltigen Forts" in den Arbeitervierteln Ber-lins und den "sozialistischen Arbeiterbataillonen" in Leipzigund Umgebung.28 Wohlgemerkt, das sind Beschreibungenvon Wahlergebnissen! So überrascht es nicht, daß wir für dieEreigniskette vom Januar 1919, an deren Ende der Mord anRosa Luxemburg und Karl Liebknecht steht, wieder einemilitärische Metapher finden: Ein knappes Jahr später sprachder kluge Rudolf Hilferding, zu diesem Zeitpunkt auf dem

    28 Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 2. Teil,

    Berlin-DDR 1960 (Gesammelte Schriften, Bd. 2), S. 503, 551, 598.

  • DOPPELMORD 43_________________________________________________

    rechten Flügel der USPD, von der "Marneschlacht derdeutschen Revolution".29

    Hilferding meinte damit folgendes: Im Januar 1919 sei einstrategischer Gesamtplan gescheitert, so wie 1914 der Plandes deutschen Generalstabs, den Franzosen und Engländerndurch eine weit ausgreifende Umzingelung eine vernichtendeNiederlage zu bereiten. Bis zum Januar 1919 sah alles sogünstig für die sozialistische Arbeiterbewegung aus, sie waran der Macht und brauchte nur zuzugreifen, um diesozialistische Gesellschaftsordnung herbeizuführen. Dannaber wurde plötzlich der großangelegte Plan verdorben.

    Ich vermute, daß es in Hilferdings Metapher von der Marne-schlacht der deutschen Revolution einen geheimen Hintersinngibt, von Hilferding wahrscheinlich nicht beabsichtigt, abervielleicht unbewußt angelegt. Denn 1914 war ja nicht dieverlorene Schlacht an der Marne das eigentliche Unglückgewesen, sondern der Fehler hatte in der langfristigen Ent-wicklung der Außen-, Innen-und Militärpolitik gesteckt, dieDeutschland in die Situation der Marneschlacht gebrachthatten. Wo also, so müssen wir fragen, hat das Unglück derdeutschen sozialistischen Arbeiterbewegung begonnen?

    Meine These, erst bei der Ausarbeitung dieses Vortragskonzipiert und gänzlich vorläufig, lautet: Der Unglückswegwurde eröffnet in dem Moment, als die Arbeiterbewegungsich von ihrer ursprünglichen Vorgehensweise entfernte:Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft durchAssoziation, Selbsthilfe, Aufbau einer eigenen Subkultur,durch Petition, Demonstration, Streik usw., als sie sich statt-dessen zum Hauptziel die Eroberung der Staatsmacht mitanschließendem Umbau der Gesellschaft von oben setzte undzu diesem Zweck politische Parteien aufbaute. Für diese

    29 Rudolf Hilferding: Taktische Probleme, in: Freiheit, Berlin, Nr. 601, 11.

    Dez. 1919.

  • 44 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Entscheidung gab es gute Gründe, die Erfahrungen mit demBürgertum seit der Revolution von 1848, Theorien, Analysenund Strategien innerhalb der Arbeiterbewegung, das Partei-enspektrum in den sechziger Jahren. Aber von diesem Mo-ment an waren zwei Irrwege möglich, ich betone: möglich,nicht zwingendes Resultat. Der erste Irrweg war die Ver-kümmerung der sozialreformerischen Impulse und die Ver-selbständigung des Machterwerbs der Partei zum Selbst-zweck, der zweite die Konzeption einer politischen Totalre-volution nach dem Muster der französischen Jakobiner, mitKlassendiktatur, entschädigungslosen Enteignungen, Preis-diktaten usw. Anfang 1919 sehen wir die SPD-Führung aufdem einen Irrweg, die KPD-Führung auf dem anderen. Ichmöchte das noch kurz erläutern, insbesondere im Hinblick aufdie Konsequenzen.

    Im Zeitalter des Kolonialismus und des Imperialismus hatEuropa Rechtlosigkeit, Raub, Mord, Zerstörung, Rassismusüber den ganzen Erdball gebracht. Im Ersten Weltkrieg schlugdas alles auf Europa zurück, was niemand treffendergekennzeichnet hat als Rosa Luxemburg.30 Aber das bliebnoch beschränkt auf die Fronten und die militärisch besetztenGebiete. Ab 1917 drang das Gift dann auch ins Innere derStaaten, vor allem bei den beiden großen Verlierern desKrieges, Rußland und Deutschland. Dafür zwei Domumente:- eine antisemistisch-rassistische Zeitungskarikatur auf

    Liebknecht und Luxemburg;- ein Plakat der Antibolschewistischen Liga, die über

    reichliche Spenden der Industrie verfügte.

    Wir sehen hier schon deutlich die Spur, die zu 1933 hinführt.

    30 Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte

    Werke, Bd. 4, Berlin-DDR 1987, S. 49-164, hier S. 161.

  • DOPPELMORD 45_________________________________________________

    Abb. 8 Plakat der Antibolschewistischen Liga

  • 46 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Aufgabe der Arbeiterbewegung wäre gewesen, der tödlichenEntwicklung, die hier einsetzte, mit aller Macht zu widerste-hen, gleichgültig ob reformistisch oder radikal, christlich odersozialistisch. Aber der Widerstand an diesem entscheidendenPunkt ist nicht zu sehen. Unsere Trauer über dieArbeiterbewegung beginnt nicht erst mit dem großen Aufstiegder NSDAP.

    Die SPD-Führung hat den tödlichen Prozeß sicherlich nichtgewollt, aber sie hat ihn ermöglicht, mehr noch: sie hat ihngeduldet. Ich erinnere noch einmal an die intern und öffent-lich erörterte Alternative: Rücktritt der Regierung nach Be-kanntwerden des Doppelmordes. Und diese Ermöglichung,dieses Hinnehmen geschah einzig und allein, um an der Spitzeder staatlichen Macht zu bleiben, und die Macht sollte nichtetwa zu grundlegenden Reformen benutzt werden, sondernum die Geschäfte weiterzuführen und dann der ausallgemeiner Wahl hervorgegangenen NationalversammlungPlatz zu machen.

    Und die KPD? Sie stand im Dienste der Göttin Revolution. Indem in der Hauptsache von Rosa Luxemburg formuliertenProgramm des Spartakusbundes wurde unter den sofort zuergreifenden Maßnahmen gefordert:

    "Einsetzung eines Revolutionstribunals, vor dem die Haupt-schuldigen am Kriege und seiner Verlängerung, die beidenHohenzollern, Ludendorff, Hindenburg, Tirpitz und ihre Mit-verbrecher, sowie alle Verschwörer der Gegenrevolutionabzuurteilen sind".31

    Also Sondergerichtsbarkeit. Wer würde dieses Revolutions-tribunal einsetzen? Wie sollte es zusammengesetzt sein? Nachwelcher Prozeßordnung würde es verfahren? Möglichkeit der

    31 Was will der Spartakusbund?, in: ebenda, S. 440-449, hier S. 446.

  • DOPPELMORD 47_________________________________________________

    Revision? Todesstrafe ein- oder ausgeschlossen? Allesoffengelassene Fragen.

    Ein zweiter ähnlich problematischer Punkt im Programm desSpartakusbundes:

    "Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere so-wie der nichtproletarischen Soldaten, Entwaffnung aller An-gehörigen der herrschenden Klassen".

    So weit so gut. Das hätte ein großartiges Programm seinkönnen: die Mordwerkzeuge einzusammeln und den Men-schen die Waffen- und Gewaltlösungen abzugewöhnen. Aberim Programm hieß es weiter:

    "Bewaffnung der gesamten erwachsenen männlichen prole-tarischen Bevölkerung als Arbeitermiliz, Bildung einer RotenGarde aus Proletariern als aktiven Teil der Miliz zum ständi-gen Schutz der Revolution vor gegenrevolutionärenAnschlägen und Zettelungen".32

    Also bewaffnete Unterdrückung einer Klasse durch eine an-dere. Nach welchen Regeln und Prinzipien, etwa bei Haus-suchungen und Verhaftungen? Und welche Garantie dagegen,daß sich selbst dann, wenn die herrschenden Klassen restlosentwaffnet sind, doch noch der Bürgerkrieg entwickelt, weildie Arbeiterschaft keinen einheitlichen Willen hat, sondern ineine Vielzahl von Strömungen, Richtungen und Gruppenzerfällt? Dies ist übrigens keine rein hypothetische Frage,sondern bereits die Wirklichkeit in Teilen Deutschlandswährend dieses Winters 1918/19.

    Ich habe hier über die christliche Arbeiterbewegung über-haupt nicht gesprochen, das wäre ein eigenes Thema, sondernnur über die sozialistische. Gewiß gab es bei den Sozia-listen,in allen Parteien und Gruppierungen, auch ganz andere

    32 S. 445.

  • 48 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Stimmen und verzweifelte Unruhe über den Gang derEntwicklung seit dem Sturz des Kaiserreichs; einiges davonhabe ich Ihnen gezeigt. Aber wir sehen die Führung der SPDund die Führung der KPD, wie sie, je auf ihre Weise, dieSchleuse ein Stückchen hochdrehen für jenen Strom, der einesTages die gesamte Arbeiterbewegung verschlingen sollte.

  • 1. Der Hergang des Doppelmordes - Darstellung nacheinmonatiger Recherche

    (Die Rote Fahne, 12. Febr. 1919)

    abgedruckt in: Elisabeth Hannover-Drück und HeinrichHannover (Hrsg.): Der Mord an Rosa Luxemburg und KarlLiebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens,Frankfurt 1967 (ed. suhrkamp, Bd. 233), S. 51 - 55

    Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind am Abend des 15.Januar 1919 in das Eden-Hotel beim Stabe der Garde-Kavallerie-Schützen-Division eingeliefert worden. Sie warenvon der Wilmersdorfer Bürgerwehr unter Führung zweierMitglieder, Lindner und Mehring, festgenommen worden.

    Die Festnahme war ein Rechtsbruch. Es bestand kein Haft-befehl. Selbst wenn sie verhaftet wurden, mußten sie nach dengesetzlichen Vorschriften der Polizei übergeben werden. [...]Sie hatten auf dem Stabsquartier nichts zu suchen und dasStabsquartier kein Recht, sich mit ihnen zu befassen.

    Was hat die Wilmersdorfer Bürgerwehr veranlaßt, die Ver-hafteten nach dem Stabsquartier zu bringen?

    Es besteht der dringende Verdacht, daß Lindner und MehringMitwisser des Mordplanes gewesen sind.

    Sind sie es nicht gewesen, hat das Stabsquartier sie veranlaßt,die Inhaftierten dorthin zu bringen, so ist das ein Beweisdafür, daß von Anfang an der Divisionsstab die Absicht hatte,Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in die Hand zubekommen, um sie [...] zu ermorden. Karl Liebknecht ist amselben Abend gegen 9 Uhr, Rosa Luxemburg etwa eine halbeStunde später im Eden-Hotel [...] eingeliefert worden.

  • 50 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Rosa Luxemburg ist bereits beim Eintritt ins Hotel beschimpftworden. Ein Hauptmann hat sich besonders hervorgetan. Erwar es, der zuerst die geplante Tat verkündete. Er erklärte inder Halle des Hotels: "Den beiden wird heute Abend das Maulgestopft."

    Karl Liebknecht wurde gegen halb elf vom Hotel wegge-bracht. Er sollte, wie man erklärte, nach Moabit gebrachtwerden. Er wurde begleitet von dem Kapitänleutnant Horstvon Pflugk-Harttung, dem Leutnant Stiege, dem LeutnantLiepmann, dem Leutnant von Rittgen, dem Leutnant zur SeeSchulze, dem Leutnant Heinz von Pflugk-Harttung (einemBruder des Kapitänleutnants) und dem Jäger ClemensFriedrich. Die sämtlichen waren schwer bewaffnet, trugenHandgranaten und entsicherte Pistolen, die Liebknecht gezeigtwurden.

    Zu derselben Zeit standen als Doppelposten vor dem Hotel dieJäger zu Pferde Runge und Träger. Gegenüber dem Hotel hieltein Automobil, dessen Führer ein Chauffeur namens Göttingerwar, nebst einem Beifahrer.

    Diese vier haben die Ausführung des Mordplanes besprochen.Sie besprachen, die zwei dürften nicht lebendig aus dem Hotel[...]. Man dürfe sie nicht erschießen, das mache zuviel Lärm[...], man müsse sie mit dem Kolben erledigen. [...]

    Sie haben den Mordplan ins Einzelne festgelegt. Bis aufRunge hat das Gericht noch gegen keinen eine Hand gerührt.

    Karl Liebknecht kam aus dem Hotel. Er wurde nicht aus demHauptausgang [...] geführt, sondern durch einen Ne-benausgang. [...] Runge lief um das Hotel und schlug dembereits im Auto sitzenden Liebknecht zweimal mit dem Kol-ben auf den Kopf. Liebknecht sank halb bewußtlos zusam-men. Auf der Straße war kein Mensch! Nur ein paar Soldaten.Die Offiziere standen und saßen um Liebknecht herum.Keiner hat nach dem ersten Schlag den zweiten zu verhindern

  • TEXTANHANG 51_________________________________________________

    versucht, keiner hat dem Mörder gewehrt, keiner auch nur einWort der Mahnung an ihn gerichtet.

    Das Automobil fuhr nicht den Weg nach Moabit. Es fuhr denNeuen See entlang in der Richtung nach der CharlottenburgerChaussee. Wir behaupten, daß vom ersten Augenblick an dieAbsicht bei den transportierenden Offizieren bestand,Liebknecht zu ermorden, und wir folgern das aus diesenTatsachen:

    1. Sie ließen das Automobil ohne wichtigen Grund diesennahezu unbeleuchteten Umweg fahren.

    2. Sie haben die Lüge erfunden, daß das Automobil unter-wegs eine Panne erlitten habe. Daß das alles eine Lügeist, ergibt sich daraus, daß das Automobil sofort nach derErschießung Liebknechts wieder gebrauchsfertig war.

    3. Diese erlogene Panne trat ein genau in dem Augenblick,in dem das Automobil sich an einem völlig unbeleuch-teten Nebenweg befand, also gerade an dem Punkt, dendie Mörder für ihre Tat brauchten.

    4. Sie haben die Lüge erfunden, Liebknecht habe einenFluchtversuch gemacht. Daß dieser Fluchtversuch erlogenist, ergibt sich daraus:

    a. daß Liebknecht nach dem erlittenen schweren Schlagauf den Kopf kaum mehr im Stande war zu gehen, erwar so benommen, daß selbst die Mörder ihn fragten,ob er noch gehen könne,

    b. daß auch nur der Gedanke an die Flucht eine Unmög-lichkeit war, in Anbetracht dessen, daß zwei Mannvor, zwei Mann neben und drei Mann hinter Lieb-knecht gingen, schwer bewaffnet, mit entsichertenPistolen und Handgranaten, wie Liebknecht wußte,

  • 52 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    c. daß jeder, der Liebknecht kannte, wußte, daß er nochnie sich einem Prozeß entzogen und an nichts auf derWelt weniger dachte als an Flucht.

    d. Sie haben nach der Tat Liebknechts "unbekannte Lei-che" bei der Rettungsstation eingeliefert, sie habenalso versucht, die Spuren der Tat zu verwischen.

    Der, wie hiernach festgestellt, geplante Mord vollzog sich inder Weise, daß das Automobil an der genannten Stelle, vonder ein völlig unbeleuchteter Fußweg abging, hielt, daßLiebknecht in diesen Fußweg hineingeführt und nach etwazwanzig Schritt aus allernächster Nähe erschossen wurde. Denersten Schuß gab der Kapitänleutnant von Pflugk-Harttung ab.

    Das ist der Vorgang des einen Mordes.

    Dann sollte Rosa Luxemburg abtransportiert werden. DerselbeSoldat Runge, der soeben den Mordversuch an KarlLiebknecht begangen, kehrte wieder auf seinen Posten zurück.Niemand wehrte ihm. Er stand bereit zu neuem Werk.

    Rosa Luxemburg kam die Haupttreppe des Hotels herab undschritt durch den Hauptausgang.

    Dicht hinter ihr ging der Oberleutnant Vogel, der denTransport führen sollte.

    Vor der Drehtür standen Runge und Träger. Als sie durch dieDrehtür schritt, drehte Runge das Gewehr um und schlug ihrauf den Kopf. Sie sank um. Runge schlug ein zweites Mal aufden Kopf. Von einem dritten Schlag sah er ab, weil er sie fürtot hielt.

    Der Oberleutnant Vogel muß die Schläge bemerkt haben,denn sie wurden sogar im Innern des Hotels gehört.

    Er hat nichts dagegen getan. Es war ihm gleichgültig, daßRunge das Geschäft des Mordes ihm abnahm. Denn RungesTat entsprach seinem, Vogels, Plan.

  • TEXTANHANG 53_________________________________________________

    Man schob die Leblose in den Wagen, rechts und links einMann, darunter Vogel. Der Wagen fuhr an. Ein Mann sprangnoch hinten auf und schlug die schon Leblose noch mit einemharten Gegenstand, etwa einer Pistole, auf den Kopf.

    Der Oberleutnant Vogel hat unterwegs der Leblosen alsdanndie Pistole gegen die Schläfe gehalten, ihr noch einmal eineKugel durch den Kopf gejagt.

    Man fuhr mit der Toten zwischen Landwehrkanal und Zoo-logischem Garten entlang. Auf der Straße war kein Mensch.Nur am Ausgang des Zoologischen Gartens gegen denLandwehrkanal stand eine Gruppe Soldaten. Das Auto hielt,die Soldaten nahmen die Leiche in Empfang, und wohin siesie gebracht haben, das war bis heute nicht zu ermitteln.

    Es ist eine bewußte Lüge, wenn behauptet wird, die Leiche seivon der "Menge" oder von "Anhängern" aus dem Wagen ge-rissen worden. Das Auto fuhr ja einen Weg, auf dem [...] eskein Mensch erwarten konnte, es sei denn solche, die dahinbestellt waren. Es müssen die Leute, die dort waren, vondenen, die den Mord planten, hinbestellt worden sein.

    Rosa Luxemburg hatte, als sie leblos ins Auto gezerrt wurde,einen Schuh verloren. Dieser Schuh wurde von Soldaten alsTrophäe im Eden-Hotel herumgezeigt.

    Die Mordgesellschaft hat sich am Tage danach fotografierenlassen. Der Haupttäter, Runge, ist im Mittelpunkt der Pho-tographie [...].

    2. Die "amtliche Darstellung" des Doppelmordes

    (Berliner Tageszeitungen in ihren Mittag- und Abendausga-ben vom 16. Jan. 1919, abgedruckt bei Elisabeth Hannover-Drück und Heinrich Hannover, S. 36 - 39)

  • 54 ERHARD LUCAS-BUSEMANN_________________________________________________

    Über die Erschießung Liebknechts beim Fluchtversuch undüber die Tötung der Frau Rosa Luxemburg auf der Fahrt zumUntersuchungsgefängnis erhalten wir vom Stabe der Garde-Kavallerie-Schützen-Division folgenden Bericht:

    1. Am Mittwoch, den 15. Januar, gegen 9.30 abends, wurdedurch Mannschaften der Wilmersdorfer Bürgerwehr der inWilmersdorf, Mannheimer Straße 43 vorläufig festgenom-mene Dr. Karl Liebknecht und gegen 10 Uhr die gleichfallsdort vorläufig festgenommene Frau Rosa Luxemburg beimStabe der Garde-Kavallerie-Schützen-Division eingeliefert.

    Nach kurzer Vernehmung der vorläufig Festgenommenen zurFeststellung ihrer Personen wurde zunächst Dr. Liebknechteröffnet, daß er sich weiterhin als vorläufig festgenommenanzusehen habe und auf Anordnung der vorgesetztenDienststelle (Abt. Lüttwitz) in das Moabiter Unter-suchungsgefängnis geschafft würde, wo die Weiterverfügungüber ihn die Reichsregierung zu treffen habe. [...]

    Die Nachricht von der Verhaftung und dem Aufenthaltsortvon Liebknecht und Rosa Luxemburg hatte sich schnell in derUmgebung des Hotels verbreitet. Die Folge davon war einegroße Menschenansammlung vor dem Eden-Hotel. Teile desPublikums drangen bis in die Halle des Hotels ein.

    Von der G.K.S.D. erhielt der Führer der in Aussicht ge-nommenen Begleitmannschaft daher den ausdrücklichenBefehl, von der Menge unbemerkt Dr. Liebknecht durch einenSeitenausgang aus dem Haus zu schaffen, und ihn mit einemDienstautomobil nach Moabit zu bringen. Der Führer machteDr. Liebknecht ausdrücklich darauf aufmerksam, daß er beieinem Fluchtversuch von der Waffe Gebrauch machen werde.

    Inzwischen aber hatte sich bereits auch am Seitenausgangeine zahlreiche Menschenmenge versammelt, so daß es derBegleitmannschaft nur mühsam gelang, sich einen Weg zubahnen. Als Liebknecht und die Begleitmannschaften gerade

  • TEXTANHANG 55_________________________________________________

    im Wagen Platz genommen hatten, und der Wagen im Begriffwar, anzufahren, erhielt Liebknecht aus der den Wagenumdrängenden Menge von hinten von einem unbekanntenTäter einen wuchtigen Schlag auf den Kopf, durch den er einestark blutende Kopfverletzung davon trug. Der Führer derBegleitmannschaft ließ daraufhin das Automobil so schnellwie möglich anlaufen, um L. vor der Menge zu schützen.

    Zur Vermeidung von Aufsehen wählte der Führer der Be-gleitmannschaft einen Umweg durch den Tiergarten nachMoabit. Am Neuen See blieb der Kraftwagen stehen, deroffenbar durch das schnelle Anfahren in Unordnung geratenwar. Als auf Befragen der Kraftwagenführer angab, daß dieWiederherstellung der Maschine einige Zeit erfordern würde,fragte der F�