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- 1 - Thomas Bruns (Trier) Die Erweckung von den Toten? Zur kulturhistorischen Bedeutung des (Alt)Kirchenslavischen für das heutige Russische In der Medizin darf es durchaus als seltener Glücksfall gelten, einen Totgeglaub- ten wieder ins Leben zurück zu holen, und auch im sprachlichen Sektor ist es allemal ein problematisches Unterfangen, ein „totes“ Idiom zu revitalisieren. Sicher ist auch das hier behandelte Altkirchenslavische keine lebende Sprache mehr, es war auch in seinen Blütezeiten nie eine Standardsprache nach unseren heutigen Maßstäben. Es ist aber durchaus legitim, nach dem Grad der Präsenz und damit der Bedeutung einer historischen Entwicklungsstufe für eine heute noch lebende Sprache, das Russische 1 , zu fragen. Nach einem Problemaufriss werde ich mich der Fragestellung zunächst in diachronen Etappen nähern, um die innersprachlichen wie kulturspezifischen Einflussfaktoren auf und durch das Kirchenslavische und mithin dessen wech- selvolle Geschichte zu skizzieren, und leite dann zu einer synchronen Betrach- tung der Rolle des Kirchenslavischen in der Gegenwart über, verbunden mit einem Ausblick auf weitere Forschungsfelder der Slavistik. In meiner Darstellung werde ich drei große, sich überschneidende und stets miteinander interagierende Bereiche in den Blick nehmen: Sprache, Literatur, Typografie einerseits – Geistesgeschichte (mit besonderer Berücksichtigung der Russisch- Orthodoxen Kirche) andererseits – und schließlich Kunst und Kultur allgemein. 2 1) Problemstellung Das Urteil, Altkirchenslavisch sei tot, scheint auf den ersten Blick nicht einer gewissen Berechtigung zu entbehren: Das Altkirchenslavische lässt ja all das 1 Als einschränkende Klarstellung sei vorausgeschickt, dass der Terminus „Russisch“ im Folgenden tatsächlich nur in der engeren Lesart, d.h. mit Bezug auf das russische Volk und die russische Sprache verwendet wird und nicht etwa als – fälschliches – Synonym zu „Ostslavisch“ oder gar „Slavisch“ überhaupt. Siehe jedoch Durnovo (1969: 25, 27), der den Terminus „russische Sprache“ gleich mit mehreren Deutungsmöglichkeiten verwendet. Auch der Artikel „Откуда родом русский язык“ (http://www.ruscenter.ru/53.html; 30.12.09) zitiert einen Abschnitt aus der Повесть временных лет (Nestorchronik) vom Beginn des 12. Jh., in dem es heißt: „А словеньскый язык и рускый одно есть…“ 2 In ähnlicher Weise unterscheidet Alpatov (2004) in der Gegenüberstellung von Kyrillica und Latinica vier Faktoren, die sich auf die Wahl eines Schriftsystems auswirken (können): einen linguistischen, einen ökonomischen, einen psychologischen und einen kulturpoliti- schen, wobei er den linguistischen als den letztlich entscheidenden betrachtet.

Die Erweckung von den Toten? - uni-trier.de · einem Jahrhundert des kommunistischen Bannspruchs über die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Sprache scheint das Kirchenslavische

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Thomas Bruns (Trier)

Die Erweckung von den Toten?

Zur kulturhistorischen Bedeutung des (Alt)Kirchenslavischen

für das heutige Russische

In der Medizin darf es durchaus als seltener Glücksfall gelten, einen Totgeglaub-ten wieder ins Leben zurück zu holen, und auch im sprachlichen Sektor ist es allemal ein problematisches Unterfangen, ein „totes“ Idiom zu revitalisieren. Sicher ist auch das hier behandelte Altkirchenslavische keine lebende Sprache mehr, es war auch in seinen Blütezeiten nie eine Standardsprache nach unseren heutigen Maßstäben. Es ist aber durchaus legitim, nach dem Grad der Präsenz und damit der Bedeutung einer historischen Entwicklungsstufe für eine heute noch lebende Sprache, das Russische1, zu fragen.

Nach einem Problemaufriss werde ich mich der Fragestellung zunächst in diachronen Etappen nähern, um die innersprachlichen wie kulturspezifischen Einflussfaktoren auf und durch das Kirchenslavische und mithin dessen wech-selvolle Geschichte zu skizzieren, und leite dann zu einer synchronen Betrach-tung der Rolle des Kirchenslavischen in der Gegenwart über, verbunden mit einem Ausblick auf weitere Forschungsfelder der Slavistik. In meiner Darstellung werde ich drei große, sich überschneidende und stets miteinander interagierende Bereiche in den Blick nehmen: Sprache, Literatur, Typografie einerseits – Geistesgeschichte (mit besonderer Berücksichtigung der Russisch-Orthodoxen Kirche) andererseits – und schließlich Kunst und Kultur allgemein.2 1) Problemstellung

Das Urteil, Altkirchenslavisch sei tot, scheint auf den ersten Blick nicht einer gewissen Berechtigung zu entbehren: Das Altkirchenslavische lässt ja all das 1 Als einschränkende Klarstellung sei vorausgeschickt, dass der Terminus „Russisch“ im

Folgenden tatsächlich nur in der engeren Lesart, d.h. mit Bezug auf das russische Volk und die russische Sprache verwendet wird und nicht etwa als – fälschliches – Synonym zu „Ostslavisch“ oder gar „Slavisch“ überhaupt. Siehe jedoch Durnovo (1969: 25, 27), der den Terminus „russische Sprache“ gleich mit mehreren Deutungsmöglichkeiten verwendet. Auch der Artikel „Откуда родом русский язык“ (http://www.ruscenter.ru/53.html; 30.12.09) zitiert einen Abschnitt aus der Повесть временных лет (Nestorchronik) vom Beginn des 12. Jh., in dem es heißt: „А словеньскый язык и рускый одно есть…“

2 In ähnlicher Weise unterscheidet Alpatov (2004) in der Gegenüberstellung von Kyrillica und Latinica vier Faktoren, die sich auf die Wahl eines Schriftsystems auswirken (können): einen linguistischen, einen ökonomischen, einen psychologischen und einen kulturpoliti-schen, wobei er den linguistischen als den letztlich entscheidenden betrachtet.

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vermissen, was man von einer lebenden Sprache, zumal einer Standard- oder Literatursprache, erwarten darf: eine Gemeinschaft von Muttersprachlern, eine funktionale Polyvalenz (und damit eine möglichst umfassende Verwendbarkeit in allen Kommunikationssituationen), eine an einer verbindlichen Norm orientierte Differenzierung in verschiedene Stil- und Funktionsebenen. Zudem drängt sich ein Vergleich mit dem Lateinischen auf3, das ebenfalls als „tote Sprache“, wenn auch als „tote Kultursprache“ bezeichnet wird. Während hier aber die Erkenntnis schon lange Fuß gefasst hat, dass „Mutter Latein“ etlichen Töchtern das Leben geschenkt hat, so neigt man in der Slavistik doch noch erstaunlich häufig dazu, die Verbindungslinien vom Altkirchenslavischen zu den heute noch lebenden slavischen Sprachen wenn auch keineswegs zu leugnen, so doch recht stiefmütterlich zu behandeln. Es sei zur Ehrenrettung unserer Disziplin hinzugefügt, dass auch kein Slavist ernsthaft in Erwägung ziehen würde, die Nachkommenschaft des Russischen, Polnischen, Serbischen etc. aus dem Altkirchenslavischen zu leugnen. Dennoch ist dieses Altkirchenslavische nicht nur als Vorläufer der heutigen slavischen Kultursprachen von immenser Bedeutung – und insofern in zahlreichen Standardwerken ausführlich untersucht worden; es ist auch der Beginn der im engeren Sinne kirchenslavischen Sprachentwicklung, denn mit der Verschriftlichung bzw. der wachsenden Funktionsübernahme der Volkssprachen hörte das Altkirchenslavische ja nicht auf zu existieren. Vielmehr behielt es seinen angestammten Funktionsbereich bei und entwickelte sich ebenfalls – wenn auch in Maßen und in verschiedenen, volkssprachlich beeinflussten Redaktionen – weiter zum modernen Kirchen-slavischen als der Liturgiesprache der slavisch-orthodoxen Kirchen.4

Bei einer extensiven und intensiven Lektüre offizieller Texte wie etwa Ver-lautbarungen der russischen Regierung oder Ansprachen von hochrangigen Poli-tikern fällt bisweilen eine neue „Reinheit“ der Sprache auf. Auch im Russischen durchaus etablierte Fremdwörter und Internationalismen weichen, wo dies einem allgemeinen Verständnis nicht abträglich ist, immer häufiger ursprünglich russisch-slavischen Wörtern, wobei kirchenslavische Lexeme oder Wortbil-dungselemente gern gesehen sind. Sicher wäre es übertrieben zu behaupten, nichtslavische Wörter würden bereits systematisch aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, doch lassen sich Anzeichen für eine entsprechende Tendenz feststellen. Da vergleichbare Erscheinungen in anderen Funktionsbereichen der russischen Gegenwartssprache nicht oder nur in deutlich abgeschwächter Form zu beobach-ten sind, liegt die Annahme nahe, dass wir Zeuge einer neuen funktionalen Aus-differenzierung der größten slavischen Sprache sind, die kaum innersprachlich, sondern vielmehr ideologisch und damit extralinguistisch motiviert ist. Nach fast

3 Fomina (1983: 137) bezeichnet das Altkirchenslavische als „славянскую латынь“ und

trägt so der Tatsache Rechnung, dass die Bedeutung des Altkirchenslavischen für die (or-thodoxe) Slavia in vielen Punkten vergleichbar ist mit jener des Lateinischen für die Ro-mania und Germania.

4 Von diesen besitzen heute 14 den Status der Autokephalität, darunter die Russisch-Ortho-doxe Kirche.

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einem Jahrhundert des kommunistischen Bannspruchs über die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Sprache scheint das Kirchenslavische quasi an der Schwelle zu einer Renaissance zu stehen.

Die heutige Sprachsituation lässt sich in ihrer Spezifik nur vor dem Hinter-grund ihrer historischen Genese, genauer: der Entwicklung einer Diglossie-Si-tuation aus ostslavischer Volkssprache und südslavisch geprägter hoher Schrift-sprache adäquat erfassen. Der nun folgende diachrone Teil zeichnet zunächst die wichtigsten Phasen dieser Entwicklung nach.

2) Die Anfänge

Wenn wir vom Altkirchenslavischen sprechen, befinden wir uns in der Epoche etwa ab dem letzten Jahrhundert des ersten nachchristlichen Jahrtausends.5 Die relative sprachliche und kulturelle Homogenität der Slaven löste sich als Folge der Völkerwanderung nach und nach auf; die slavischen Völker gerieten in den Einflussbereich miteinander konkurrierender Religionen, Weltanschauungen, Kulturen und Schriften. Die Grenze zwischen Katholizismus und Orthodoxie und damit zwischen lateinischer und byzantinisch-orthodoxer Einflusssphäre verlief nicht zwischen Slaven und Germanen, sondern längs durch den sla-vischen Siedlungsraum von der Ostsee bis auf den Balkan.6

Dass die Glagolica – und nicht die Kyrillica – als das wohl erste slavische Schriftsystem, das diesen Namen verdient7, nur eine kurze Zeit in der russischen

5 Die Benutzer dieser Sprache, die Slaven, hatten ihre Vorfahren in den Urslaven, deren

Existenz vom 15. Jh. v.Chr. bis zur Zeit der Völkerwanderung im 5.-7. Jh. n.Chr. angesetzt wird und von denen keine schriftlichen Zeugnisse überliefert sind. Den Urslaven wiederum gingen die Protoslaven voraus, etwa im Zeitraum vom Ende des 3. bis zum Beginn des 2. Jahrtausends v.Chr. (vgl. Georgieva 1999: 6).

6 Nur am Rande sei hier angemerkt, dass nach einer oft vorgebrachten Hypothese die Russen im Germanentum der Nordmänner oder Waräger wurzeln, mithin ursprünglich selbst keine reinen Slaven waren und von den Autoren um die Jahrtausendwende auch säuberlich von Letzteren geschieden wurden (vgl. Georgieva 1999: 7f). Eine solche Hypothese entzieht aber in letzter Konsequenz einem von anderer Seite propagierten Eurasiertum der Russen die historische Grundlage.

7 Altkirchenslavisch war erste slavische Schriftkultur, sofern man unter diesem Terminus nicht das bloße Vorhandensein und eine eher sporadische, unsystematische Verwendung von beliebigen Schriftzeichen versteht. So sind beispielsweise slavische Runenzeichen bzw. Runen„schrift“ in ihrer Existenz, in ihrer Bedeutung und in ihrem Schriftcharakter umstrit-ten, und Kalugin (o.J. (g)) urteilt summarisch, dass nach der gegenwärtigen Befundlage für den Zeitraum bis zur Christianisierung der Kiever Rus’ kaum von einem hochentwickelten ostslavischen Schrifttum gesprochen werden könne. Die Betonung liegt hier in der Tat auf dem Wort „hochentwickelt“, da Kalugin, nicht zuletzt unter Berufung auf die Nestorchro-nik und archäologische Funde, sehr wohl die Existenz vorchristlicher Schriftzeichen für die Ostslavia zugesteht, ja sogar die Verwendung der Kyrillica im Alltagsleben, wie es etwa eine 1949 beim Dorf Gnëzdovo in der Nähe von Smolensk ausgegrabene, mit kyrillischen Schriftzeichen versehene Amphore zu belegen scheint („Gnëzdovo-Inschrift“). Eine ältere,

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Geschichte überdauert hat, mag angesichts ihrer immensen kulturellen Bedeu-tung verwundern, doch andererseits ist ihr rascher Ersatz durch die Kyrillica ein Zeichen für einen frühen sprachlichen Pragmatismus, da die neue Grafie leichter zu erlernen und handzuhaben war und sich insofern besser für die Vulgarisie-rung religiösen Gedankengutes eignete.8 Diese Kyrillica war es dann, die mit immer wieder eingefügten Modifizierungen bis zum heutigen Tag die dominie-rende Schrift der slavischen orthodoxen Welt blieb. Diese mal oberflächlichen und mal tiefgreifenden Veränderungen entstammten kaum je dem Willen der Kirche selbst, vielmehr wurden sie von außen, vom weltlichen Staat und seinen Repräsentanten, mochten es Zaren oder Revolutionäre sein9, an sie herangetra-gen und nicht selten gegen den erklärten Willen der Kirche durchgesetzt. Die Geschichte des Kirchenslavischen zeigt aber auch die entschiedenen Versuche der slavischen Orthodoxie, ihre proprietäre Sprache eigenverantwortlich festzu-legen und gegebenenfalls entgegen dem allgemeinen Usus zu archaisieren, wenn man damit glaubte, dem Willen der ursprünglichen Sprachschöpfer – und der Heiligen Schrift – stärker Genüge zu tun.

bis dahin kanonisierte Position zur Existenz einer slavischen Schrift findet sich noch bei Trautmann (1947: 40): „[...] an keiner Stelle des großen slavischen Sprachraumes war das Bedürfnis zur Aufzeichnung slavischer Sprache empfunden worden, es sei denn im deutsch-slavischen Grenzraum von Pannonien und Mähren mit lateinischen Buchsta-ben.“ Betrachtet man den gesamten, später slavischen Siedlungsraum, so stößt man u.a. auf die balkanische Vinča-Kultur (zwischen 5400 v.Chr. und 4500 v.Chr.), welche die sog. Vinča-„Schrift“, auch „Donauschrift“ (nach Haarmann: Einführung in die Donauschrift, Hamburg 2010: 5300-3200 v.Chr.) oder „Alteuropäisch“ (Alteuropa bezeichnet das Europa vor der angenommenen Einwanderung indogermanischer Stämme, nach der litauischen Archäologin Marija Gimbutas umfasst der Terminus archäologische Kulturen des Neo-lithikums in Mitteleuropa) genannt, hervorgebracht hat. Die Charakterisierung der Vinča-Zeichen als Schriftsystem würde die prähistorische Vinča-Kultur in den Rang einer Hoch-kultur erheben, was von Archäologen und Anthropologen bislang überwiegend abgelehnt wird. Andererseits haben neueste archäologische Forschungen im südöstlichen Ural Anzei-chen für eine mit der Stonehenge-Kultur vergleichbare und ähnlich datierbare Hochkultur entdeckt.

8 Interessant ist als Randbemerkung der Hinweis auf den Einfluss der Glagolica im katholi-schen Kroatien. Auch nach dem großen Kirchenschisma von 1054 behielten die Kroaten mit der eckigen Glagolica ihre gewohnten liturgischen Schrifttraditionen bei, standen in diesem Bereich jedoch nicht mehr im direkten kulturellen Austausch mit ihren slavischen Nachbarn, so dass das Kroatisch-Kirchenslavische als eine der verschiedenen Redaktionen etliche Archaismen bewahrt hat, die in anderen Redaktionen nivelliert wurden. Am längs-ten konnte sich die Glagolica auf einigen kroatischen Inseln halten, wo sie von den Bestre-bungen der katholischen Franziskaner zur Durchsetzung der Lateinschrift nur wenig tan-giert wurde. Im Verhältnis hierzu fand die Glagolica in der Ostslavia nur geringe Akzep-tanz; sie wurde alsbald von der Kyrillica abgelöst. Auch ist nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung kein in der Kiever Rus’ in der Glagolica verfasstes schriftliches Zeugnis er-halten.

9 Gesondert hervorgehoben seien hier nur die Einführung der „bürgerlichen Schrift“ (гра-жданка) für Druckwerke nicht-religiösen Inhalts durch Peter den Großen im Jahre 1710 und die (noch von der Übergangsregierung initiierte) Orthografiereform der Bolschewiki nach 1917.

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Welche Sprechergemeinschaft außer den slavisch-orthodoxen kann schon von sich behaupten, ihre Schriftsprache gehe auf zwei später heilig gesprochene Gelehrte zurück, deren sprachschöpferische Fähigkeiten ihrer missionarischen Tätigkeit in nichts nachstanden? Über die beiden Slavenlehrer oder Slaven-apostel Kyrill und Method heißt es bei Trautmann (1947: 37):

„Die beiden Brüder gaben dem zivilisatorischen Leben der Slaven einen starken An-trieb, eigentlich ersten Beginn, ein erstes und vollendet ausgebautes Alphabet, eine erste, am Griechischen hinaufgeförderte Schriftsprache und ein erstes Schrifttum, so die Möglichkeiten eigenen bewußten nationalen und kulturellen Lebens. Mit ihnen, den Griechen, betreten die Slaven zum ersten Mal den Boden der Kultur.“

Das diesem Zitat zugrunde liegende Kulturverständnis soll hier nicht weiter dis-kutiert werden, Konsens lässt sich jedoch dahingehend erzielen, dass das Wirken Kyrills und Methods sowie ihrer Schüler der slavischen Kultur eine ganz neue, für die Zukunft bestimmende Ausrichtung gegeben hat.

Die russische Sprach- und Kulturgeschichte ist nicht zuletzt politische, mi-litärische, ökonomische Geschichte, diese als Rahmen für die Entwicklung eines umfassenden Geisteslebens und die praktische Ausgestaltung sprachtheoreti-scher Modelle.10

10 Sprachgeschichte – wie auch Religionsgeschichte – ist nicht von politischer Geschichte zu

trennen, allenfalls bestehen in der Wissenschaft verschiedene Ansichten über die Intensität des (Wechsel-)Verhältnisses. Als direkte Grundlage für die weitere Ausdifferenzierung in die einzelnen Zweige der Sla-vinen bzw. die weiteren einzelsprachlichen Entwicklungen gilt das Urslavische. Es wird zeitlich etwa von der Großen Völkerwanderung Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. begrenzt, als die regionalen Unterschiede bedeutender werden. Es handelt sich auch hier nicht um eine überlieferte, mit Schriftdenkmälern belegbare Sprache, sondern um „eine Sprachstufe, die man im Rahmen eines genetisch-historischen Modells der Entwicklung verwandter Sprachen annehmen kann, über die man in diesem Rahmen hypothetische Aussagen ma-chen kann, die sich in die genetisch deut- und vergleichbaren Fakten überlieferter Sprachen und Sprachzustände einfügen und diese erklären.“ (Panzer 1991: 243) Im Zuge der Völkerwanderung besiedelten slavische Stämme die Ostalpen und Teile der Balkanhalbinsel, im 7. oder 8. Jh. erreichten Slaven die Elbe. Um 800 n.Chr. siedelten sla-vische Stämme vom Finnischen Meerbusen bis zum Peloponnes, von der Nordsee bis zur Oka und Wolga. Die slavischen Landnahmen führten zunächst zum Zurückdrängen des Christentums, dem alsbald aktiv entgegengewirkt wurde; so förderte bspw. Ende des 9. Jhs. Kaiser Basilios von Byzanz die Christianisierung der Slaven. Ein slavisches Sprachkontinuum (wohl in der Form von sich nur minimal voneinander un-terscheidenden Dialekten) in den genannten Gebieten kann bis ca. 900 n.Chr. vermutet werden, als die Baiern und Magyaren einen Keil zwischen nördliche und südliche Slaven trieben (Issatschenko 1980: 14), doch setzte der Zerfall des Urslavischen bereits einige Jahrhunderte früher ein und verstärkte sich mit der beginnenden Völkerwanderung. Mit der geografischen Ausdehnung der Slaven verstärkten sich dialektale Tendenzen, so dass man vom Zerfall des Gemeinslavischen sprechen kann. Kiev, Novgorod (das 1170 Kiev militärisch besiegte), Vladimir-Suzdal’ (1299 übersiedelt der Mitropolit nach Vladimir), Galizien-Wolhynien, Moskau und St. Petersburg – so hie-ßen die miteinander konkurrierenden, einander ablösenden ostslavischen, russischen, groß-russischen, sowjetischen und schließlich wieder russischen Machtzentren. Sowohl Moskau (der 1147 erstmals urkundlich erwähnte Ort verehrt in Jurij Dolgorukij seinen Stadtgründer)

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Die christliche Missionierungstätigkeit wirkte sich nicht nur auf die Spra-che, sondern in ganz verschiedenen Einflussbereichen der Stammesgesellschaft aus. Die Kiever Rus’ war das letzte der slavischen Länder, das offiziell den Übergang vom Heidentum zum Christentum (später östlicher Prägung) und da-mit sukzessive die Ablösung heidnischen Gedanken- und Kulturgutes durch christliches vollzog.11 Mit der Christianisierung entstand eine neue, zunächst nur geistliche Macht in der Gesellschaft. Die parallele Existenz von althergebrachter weltlicher Ordnung und der neuen Institution der Kirche konnte nicht ohne weit-reichende Folgen für das gesellschaftliche Gesamtgefüge bleiben. Erstmals in der Geschichte der Slaven besaßen diese nun zwei Autoritäten, denen sie unter-worfen waren und die in den kommenden Jahrhunderten offen oder versteckt darum stritten, welcher von beiden die höchste Position in der Gesellschaft zu-stehe. Das kulturelle und das sprachliche Weltbild waren im Wesentlichen christlich geprägt. Durch die Geschichte der Slaven zieht sich wie ein roter Fa-den das messianistische Selbstbildnis einer Vormauer des Christentums („ante-murale christianitatis“) im Kampf gegen das Heidentum (seitens der Osmanen, Tataren etc.). Wir finden diese Idee bei den Russen ebenso wie bei den Polen oder den Kroaten.

Auch auf kulturellem Gebiet übernahm die Kiever Rus’ die großen Leitli-nien von Byzanz (das selbst in der Nachfolge der griechischen, aber auch römi-schen Antike mit ihren Errungenschaften in Kunst, Philosophie etc. stand). Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte jahrhundertelang die geopolitisch schwie-rige Lage zwischen der Goldenen Horde im Osten und den im Mittelalter ein-flussreichen Nachbarstaaten Polen und Litauen im Westen.12

Das frühe ostslavische Schrifttum war, entsprechend der Bestimmung des Altkirchenslavischen, überwiegend religiös orientiert und umfasste zunächst nur

als auch St. Petersburg (1703 von Peter dem Großen gegründet) bildeten ursprünglich Sprachinseln in nicht-slavisch besiedelten Territorien, und die von ihnen ausgehenden zen-tripetalen wie zentrifugalen Kräfte legen Zeugnis ab von der jahrhundertelangen Vitalität der russischen Sprache und Kultur, beide stets im Kontakt und im Austausch mit fremden Sprachen und Kulturen. Uneinigkeit besteht in der Wissenschaft darüber, inwieweit man sich die russische Sprach- und Geistesgeschichte als eine ununterbrochene, sich kontinuier-lich vorwärts bewegende Entwicklungslinie ohne entscheidende Brüche und Verwerfungen vorstellen darf.

11 Mit dem aufkommenden Christentum hörte der Paganismus nicht von heute auf morgen auf zu existieren; vielmehr hielt sich heidnisches Gedankengut im Volksglauben noch über Jahrhunderte. Torke (1985: 150) sieht im ostslavischen Heidentum eine „komplizierte Verflechtung von Naturreligion und Ahnenkult mit neueren Formen anthropomorpher Göttergestalten“. Res-te dieser Glaubenswelt sind tatsächlich bis in die Moderne des russischen 19. Jh. nachweis-bar. Zur slavischen Mythologie hat jüngst Norbert Reiter eine Monografie u.d.T. „Das Glau-bensgut der Slaven im europäischen Verbund“, Wiesbaden 2009, vorgelegt.

12 Erst die Eroberung des tatarischen Kazan’ 1552 ermöglichte eine slavische bzw. russische Besiedlung der Wolgaregion und Sibiriens und damit eine Öffnung nach Osten bzw. Süd-osten.

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Übersetzungen der Bibel und liturgischer Texte aus dem Griechischen, hinzu ka-men hagiografische und patristische Werke, erst später weltlich-historiografi-sche und sonstige.13 Altkirchenslavische Texte gelten gemeinhin als die erste slavische, religiös geprägte Literatur (auch als Grundlage der späteren National-sprachen und Nationalliteraturen, entstanden aus den verschiedenen Redaktio-nen des Altkirchenslavischen), doch darf nicht vergessen werden, dass neben li-turgischen, hagiografischen und patristischen Werken in immer stärkerem Maße auch andere literarische Gattungen wie etwa weltliche Chroniken, Legenden und Heldenlieder (die berühmten russischen Bylinen) sowie sonstige Produkte der reichen, bis dahin mündlichen Folklore in dieser Sprache fixiert wurden.

Zur Koexistenz verschiedener Sprachnormen in der ersten Epoche der rus-sischen Sprache (sofern man sie denn hier bereits als solche bezeichnen darf) konkurrieren im Wesentlichen die Diglossie- und die Triglossie-Hypothese. Letztere unterstellt nicht nur ein Nebeneinander von (geschriebenem) Altkir-chenslavisch und (gesprochener) slavischer Volkssprache, d.h. von Buchsprache und Sprechsprache, sondern erweitert dieses Modell auf die drei Eckpunkte Alt-kirchenslavisch, Standardaltrussisch und regionale Koiné. Mit dieser formalen Dreiteilung ist eine stärkere funktionale Ausdifferenzierung der sprachlichen Mittel verbunden, die bei der gegenwärtigen Forschungslage allerdings noch nicht hinreichend verifiziert und durch Textbeispiele untermauert ist (vgl. Kei-pert 1999: 727f).14

13 Parallelen in der Entwicklung der germanischen und der slavischen Schriften sind offen-

sichtlich, wenngleich nicht überzubewerten. So gilt etwa das Gotische als die älteste (über-lieferte) germanische Schriftsprache. Das von Bischof Wulfila im 4. Jh. geschaffene goti-sche Alphabet resultierte ebenfalls aus der Notwendigkeit, im Zuge seiner Missionstätig-keit das Neue Testament in die Sprache des zu bekehrenden Volkes zu übersetzen. Dieses Schriftsystem basierte, wie auch das altkirchenslavische, auf dem griechischen Alphabet und darüber hinaus wohl auf Runenzeichen und wies schließlich noch einige Neuschöp-fungen auf. Allerdings hat das Gotische für die christlichen Kulturen auch nicht im entfern-testen die herausragende Bedeutung des Lateinischen oder des Kirchenslavischen erlangt. Die lateinische Sprache wiederum entstand, im Gegensatz zum Altkirchenslavischen, nicht im Zuge der Christianisierung und wurde auch nicht als Instrument zu deren Durchführung geschaffen, sondern wurde von der katholischen Kirche ganz natürlich als „ihre“ Sprache angenommen, weil es die weitreichendste Kultursprache in Westeuropa und insofern prä-destiniert war, das Evangelium in diesem Teil der bekannten Welt zu verkünden.

14 Der Diglossie-Hypothese kommt insofern eine weitere wichtige Bedeutung zu, als sie das Altkirchenslavische in seiner Bedeutung aufwertet und im Gegenzug eventuellen gespro-chenen ostslavischen (und in deren Nachfolge russischen) Varietäten nur einen geringeren Status zuerkennt. Vor allem von einem kulturchauvinistischen Standpunkt aus wurde im-mer wieder, letztlich jedoch erfolglos, versucht, die Entwicklung der russischen Literatur-sprache aus sich selbst heraus und unter Verzicht auf äußere, v.a. südslavische, Einflüsse zu motivieren. Wird die Diglossie-Hypothese auch von der Wissenschaft weitestgehend akzeptiert, so warnt Keipert (1999: 743) doch vor einer allzu leichtfertigen und schemati-schen Kategorisierung der beiden Varietäten in „geschrieben“ vs. „gesprochen“ und „reli-giös“ vs. „weltlich“.

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Der Beginn der ostlavischen Schriftkultur ist aufgrund der uns vorliegenden Denkmäler in das 11. Jh.15 zu datieren, und er ist zugleich ein unerlässlicher Orientierungspunkt für das im Vergleich zu Westeuropa rund ein halbes Jahrtau-send später einsetzende (und dafür erst ca. 300 Jahre später als dort endende) Mittelalter in der Ostslavia. Das Jahr 988 war mit der Christianisierung16 der

15 Das Altrussische bezeichnet im weiteren Sinne die Epoche vom 11. bis zum Ende des 17.

Jh. Charakteristisch für diese Epoche sind die Beeinflussung des Altkirchenslavischen durch die lebendige russische Volkssprache und damit die Herausbildung des sog. Rus-sisch-Kirchenslavischen als Mischform oder Hybridsprache aus ostslavischen und südsla-vischen (altkirchenslavischen) Elementen. Im Jahre 1240 zerfällt die Kiever Rus’ unter dem Ansturm der Mongolen (Tataren), und es kommt unter der bis 1480 dauernden Tatarenherrschaft („Tatarenjoch“) zur feudalen Zer-splitterung des Staatsgebildes, die zum Entstehen von regionalen Dialekten des Altrussi-schen führt und in letzter Konsequenz zur Ausdifferenzierung des Großrussischen (Russi-schen), Kleinrussischen (Ukrainischen) und Weißrussischen (Belorussischen) im 14./15. Jh. Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen werden auch große Teile des mittelalter-lichen Originalschrifttums zerstört. Die Stadtrepublik Novgorod löst Kiev als politisches und kulturelles Zentrum der Ostslavia ab. Es entwickelt sich eine thematisch breit gestreute Birkenrinden-Schriftkultur, deren älteste Fragmente aus dem 11. Jh. stammen und die sich bis gegen Ende des 15. Jh. hält, als das Moskauer Großfürstentum als souveränes Macht-zentrum wiederum die Nachfolge Novgorods antritt. Aus Pergament- bzw. Papiermangel verwendet man fallweise noch bis in das 17. und 18. Jh. hinein Birkenrinde als Beschreib-stoff, v.a. in Sibirien. Aus schreibtechnischen Gründen wird für die so eingeritzte Kyrillica nur eine eckige Variante ohne Kursive und Ligaturen verwendet (vgl. Haarmann 1991: 484). Das Alt(kirchen)slavische fand als erstes slavisches Alphabet nach dem Text der Nestor-chronik bereits deutlich vor der Taufe der Kiever Rus’ für christliche Texte Verwendung (vgl. Kalugin o.J. (g)). Auch täuscht das offizielle Taufjahr der Kiever Rus’ 988 ganz of-fensichtlich darüber hinweg, dass das Christentum in dieser Region bereits einige Jahr-zehnte früher anzutreffen war, wenngleich nicht als Staatsreligion. So ließ sich die Fürstin Ol’ga schon 957 in Konstantinopel taufen und schickte an den Germanenkaiser Otto I. die Bitte, die Christianisierung ihres Landes zu unterstützen. Mit dieser Mission wurde Adal-bert von Magdeburg aus dem Benediktinerkloster Sankt Maximin in Trier betraut, der sich jedoch 962 unter dem Druck des noch immer starken Heidentums, v.a. allem nach dem Tod Ol’gas, wieder zurückziehen musste. Nach einer anderen Version jedoch stammte Ol’ga selbst aus Konstantinopel und war bereits bei ihrer Geburt getauft worden (vgl. Ge-orgieva 1999: 10). Bei Datierungen altkirchenslavischer Texte sind die verschiedenen, im Laufe der Ge-schichte verwendeten Kalendersysteme zu beachten: Um das für unseren Gregorianischen Kalender (1582 eingeführt) gültige Jahr zu ermitteln, ist von der im jeweiligen Text ver-wendeten Jahresangabe die Zahl 5508 abzuziehen, da nach dem byzantinischen Kalender, basierend auf der Bibel, das Jahr 5508 den Zeitpunkt der Erschaffung der Erde und damit den Beginn der Zeitrechnung markiert. Peter der Große machte in Russland zum 1. Januar 1700 den Julianischen Kalender verbindlich, der 1918 vom Gregorianischen abgelöst wur-de (auf den 31. Januar folgte direkt der 14. Februar).

16 Zu den fremden Einflüssen auf die Christianisierung der Russen heißt es bei Trautmann (1947: 42): „Während die mährische Kirche und damit das altkirchenslavische Schrifttum in Pannonien und im mährischen Reich sich ins Dasein rangen, schließlich, in die politi-schen Wirrnisse verflochten, auf diesem Schauplatz im Jahre 885 unterlagen [...], entstand

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Kiever Rus’ unter Vladimir I. in historisch fassbarer Zeit der erste große Bruch oder Paradigmenwechsel 17 in der russisch-slavischen Kultur- und Geistesge-schichte, mit weitreichenden Folgen auch für die Entwicklung der Sprache.18

Diese ist nach der herrschenden Auffassung sowohl Kommunikations- als auch Kognitionsmittel. Der Mensch denkt in Kategorien, die er begrifflich-sprachlich fassen kann. Einer Erweiterung des sprachlichen Aktionsradius’ der Slaven im Zuge der Verbreitung des Altkirchenslavischen – diese als Folge und gleichzeitig als Voraussetzung der Missionierungstätigkeit der Slavenapostel Kyrill und Method – folgte demnach eine Erweiterung des Bewusstseins, die Fä-higkeit zur Aufnahme und geistig-sprachlichen Verarbeitung gänzlich neuen Ge-dankengutes – jedenfalls in den Kreisen des Volkes, die einen, wenn auch noch so geringen, Zugang zur Bildung hatten. Dieser geistige Einfluss der Orthodoxie sollte bis zum Ende des 17. Jh. in Russland dominierend bleiben (vgl. Torke 1985: 10) und erst dann zunehmend einem säkularisierten Denken weichen. Diese geistige Säkularisierung, verbunden mit einer umfassenden Europäisie-rung oder Verwestlichung von Wirtschaft, Verwaltung, Militär und Recht, er-möglichte es dem russischen Reich, „vom Randstaat Europas zur osteuropäi-schen Großmacht“ (Torke 1985: 113) aufzusteigen. 3) Tradition und Innovation

Seit seinen Anfängen unterlag das Kirchenslavische ganz unterschiedlichen Be-einflussungen, sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtungen als auch in Bezug auf ihre Verursacher. Vereinfachend können innerslavische (v.a. südsla-

ihnen im Süden, im Bulgarischen Reich des 9. Jh.s ein dauerhafter Boden, auf dem sich im 10. Jh. ein Schrifttum entfalten konnte, das nicht einer gewissen Größe entbehrt und im höchsten Grade anregend auf das Schrifttum der benachbarten Völker, vor allem der Ser-ben und Russen, gewirkt hat. Auch das bulgarische Kirchenwesen hat neben dem byzanti-nischen bei der russischen Taufe Paten gestanden.“

17 Zu den fremden Einflüssen auf die Christianisierung der Russen heißt es bei Trautmann (1947: 42): „Während die mährische Kirche und damit das altkirchenslavische Schrifttum in Pannonien und im mährischen Reich sich ins Dasein rangen, schließlich, in die politi-schen Wirrnisse verflochten, auf diesem Schauplatz im Jahre 885 unterlagen [...], entstand ihnen im Süden, im Bulgarischen Reich des 9. Jh.s ein dauerhafter Boden, auf dem sich im 10. Jh. ein Schrifttum entfalten konnte, das nicht einer gewissen Größe entbehrt und im höchsten Grade anregend auf das Schrifttum der benachbarten Völker, vor allem der Ser-ben und Russen, gewirkt hat. Auch das bulgarische Kirchenwesen hat neben dem byzanti-nischen bei der russischen Taufe Paten gestanden.“

18 Mit der Christianisierung der slavischen Heiden war ja unweigerlich das Eindringen neuen Gedankenguts in die wohl recht einfach strukturierte Begriffswelt der zu missionierenden Menschen dieser Zeit verbunden. In deren Sprache dürften vor allem Bezeichnungen von abstrakten und spirituellen Erscheinungen gefehlt haben, wie sie zu einem großen Teil den christlichen bzw. allgemein den religiösen Wortschatz ausmachen. Das Bildungsmonopol lag seit den Anfängen der slavischen Schriftlichkeit und für Jahrhunderte in den Händen der Kirche, namentlich der Klöster.

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vische) Einflüsse gegen außerslavische (v.a. griechisch-byzantinische) abge-grenzt werden. Im weitesten Sinne kulturelle Kontakte zogen im engeren Sinne sprachliche Kontakte nach sich.19

Bis zu Peter dem Großen, d.h. vom 11. bis zum 17. Jh., besaß das Altbulga-risch-Kirchenslavische das größte sprachliche Prestige in der Ostslavia und wur-de in immer mehr Bereichen des religiösen, zunehmend auch des weltlichen Le-bens (von der gesellschaftlichen Oberschicht und dem höheren Klerus, die als einzige zumindest in Teilen schriftkundig wurden) verwendet. Lexikalische Ele-mente der ostslavischen Volks- bzw. Volksschriftsprache drangen erst langsam in die hohe Schriftsprache ein.20

Nach dem 1. Mongolensturm (1223ff) war es dem Moskauer Metropoliten gelungen, von Konstantinopel als Erbe der „Kathedra von Kiev“ anerkannt zu werden, 1448 gar verlieh sich die Kirche des Moskauer Großfürstentums selbst die Autokephalität. So war es nur konsequent, dass sich Moskau nur fünf Jahre später, 1453 nach dem Fall Konstantinopels, als „Drittes Rom“ titulierte und sich so in eine Ahnenreihe mit den impulsgebenden Zentren der Christenheit stellte.21 Die Loslösung der russischen Kirche von der griechischen Mutterkirche war ein augenfälliges Symbol für den andauernden Antagonismus zwischen Sla-ven und Griechen, zu dessen zahlreichen Facetten die warägisch-slavischen

19 Die russische Geistesgeschichte hat – nach ihrer Emanzipation vom dominierenden byzan-

tinischen Einfluss – etliche charakteristische Erscheinungen hervorgebracht, die jede für sich genug Stoff für viele Vorträge bietet. Insbesondere gilt dies für das 19. Jh. als unmit-telbarem Wegbereiter unserer Gegenwart. Die wichtigsten seien hier nur kurz genannt, oh-ne dass die geistigen Entwicklungslinien hier auch nur ansatzweise dargelegt werden könn-ten. Zu erwähnen wären etwa die Dekabristen des Jahres 1825, der das bestehende Werte- und Gesellschaftssystem ablehnende Nihilismus, dessen Bezeichnung von Ivan Turgenev popularisiert wurde; die spezifisch russische Erscheinung der adligen Intelligencija; die nichtadligen Raznočincy als entferntes russisches Äquivalent zum westlichen Bildungs-bürgertum; der Typus des lišnij čelovek, des „überflüssigen Menschen“ also, der seine Existenz bar eines fassbaren Sinnes sieht und sich demzufolge in der Gesellschaft nicht verorten kann; die aufklärerischen Narodniki, die Volkstümler; ab den 40er Jahren des 19. Jh. die Kontroverse zwischen Westlern (западники) und Slavophilen (славянофилы) um das weitere Schicksal Russlands; panslavistische, i.e.S. panrussische Bestrebungen, auch als Reaktion auf den verlorenen Krimkrieg (1853-56).

20 Innerhalb dieser langen Periode des Altrussischen bzw. Altostslavischen spielten das 13.-15. Jh. eine entscheidende Rolle für die Ausdifferenzierung der einzelnen (ost-)slavischen Sprachen. Mit dem Altrussischen, Altukrainischen und Altweißrussischen entstanden nun die direkten Vorläufer der jeweiligen modernen Slavinen.

21 Berühmt wurden die Worte des Pskover Mönchs Filofej, hier zitiert nach Kalugin (o.J. (b)), welche die konsequente Fortführung des Diktums vom „Ewigen Rom“ darstellen, nur unter geänderten Vorzeichen: „…вся христианская царства приидоша в конець и снидошася во едино царьство нашего государя, по пророчьскимь книгамь то есть Ромеиское царство. Два убо Рима падоша, а третии стоит, а четвертому не быти“ [Herv. – T.B.]. Das lateinische Rom war im 5. Jh. gefallen, das byzantinische ein Jahrtausend später, und mit dem Moskauer Nachfolger sollte ein viertes Rom nicht mehr in Frage kommen.

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Kriegszüge gegen Konstantinopel ebenso gehören22 wie die beiderseitige Ver-einnahmung der Slavenapostel Kyrill und Method sowohl von den Griechen als auch von den (Süd-)Slaven.23

1574 druckte Ivan Fëdorov die erste russische Grammatik und das erste sla-visch-russische Wörterbuch. Zu dieser Zeit eroberte sich auch die Literatur neue Betätigungsfelder, wie etwa die Publizistik, auch diese nicht als l’art pour l’art, sondern zum Ruhme des Herrschers eingesetzt.24

Die seit dem 16. Jh. sich allmählich entwickelnde Publikationstätigkeit und insbesondere das Pressewesen erfuhren im 18. Jh. unter Peter I. und seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern einen Aufschwung, was auch darin begründet lag, dass es die Kirche mit dem Verlust ihres Bildungsmonopols hinnehmen musste, dass weltliche Literatur im Verhältnis zur religiösen deutlich an Umfang wie Bedeutung zunahm. Im Ganzen verlor die Kirche ihre zentrale Stellung im täglichen Leben der Menschen; wirtschaftliche, technische und politische As-pekte gewannen an Gewicht und führten zur Herausbildung einer im engeren Sinne (groß-)russischen Nationalkultur, deren einen Pfeiler die Russisch-Ortho-doxe Kirche bilden sollte.

Das 18. Jh. war in Russland sprachlich von zwei Haupttendenzen markiert: Einerseits kam es zu einer immer weiter fortschreitenden Zurückdrängung des kirchenslavischen Elementes in der russischen Volkssprache (d.h. das Russische wurde modernisiert), andererseits wurden zahlreiche Abstrakta mit kirchenslavi- 22 Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass der Mut und die Zuverlässigkeit der Waräger

auch von ihren potentiellen Feinden derart geschätzt wurden, dass diese sie gerne als Söld-ner in ihre Reihen aufnahmen (vgl. Georgieva 1999: 9).

23 Nicht zu vergessen sind die militärisch-politischen Auseinandersetzungen um die Vorherr-schaft auf dem geopolitisch bedeutenden Balkan bis in unsere Tage.

24 Als solcher wiederum zeichnete sich im 16. Jh. Ivan IV. Groznyj aus, der einen stark zen-tralisierten russischen Staat schuf, welcher es nicht zuletzt zwei Jahrhunderte später Peter dem Großen ermöglichen sollte, umfassende Reformen in allen Bereichen des gesellschaft-lichen Lebens durchzusetzen, wenn auch nicht ohne zum Teil heftige Widerstände. Der gemeinhin ins 16. Jh. datierte und dem Protopopen Silvester zugeschriebene, mögli-cherweise aber schon deutlich ältere, in altrussischer (nicht altkirchenslavischer) Sprache verfasste „Domostroj“ regelte als sozialer Kodex nicht nur die Vormachtstellung des pater

familias im häuslichen Bereich, er definierte auch die Stellung des Einzelnen im Verhältnis zum Zaren als höchster moralischer und faktischer Macht im Staate sowie zur ihm nachge-ordneten Kirche. „Der Domostroj (Der Hausvater, Hauswirt) ist der russische Originalbei-trag des 16. Jahrhunderts (Epoche Ivans des Schrecklichen) zur europäischen christlichen Ökonomie- und Hausväterliteratur von hohem realienkundlichen Interesse; er ist einer der wichtigsten Quellentexte und Dokumentation der Desiderata altrussischen Alltagslebens (Postulate religiöser, moralisch-ethischer Natur; Orthodoxie und Orthopraxie; Verhältnis zur Obrigkeit; Familienleben und Kindererziehung; Umgang mit dem Gesinde; Hauswirt-schaft, auch Gartenbau; Markt, Vermarktung und Handel; Bevorratung; Küche und Keller etc.). Gesellschaftliche Zielgruppe sind die moskowitischen homines novi, der Dienstadel des 16. Jahrhunderts.“ (http://www.uni-muenster.de/SlavBaltSeminar/home/Birkf.htm; Herv. im Orig.) Erst unter Peter dem Großen erfuhren die Frauen wieder eine Stärkung ih-rer gesellschaftlichen Position; die völlige Gleichstellung der Frauen vor dem Gesetz war schließlich eine Errungenschaft des jungen Sowjetstaates nach 1917.

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schen Morphemen neu gebildet, da „die Volkssprache außerhalb des kirchensla-vischen Einflusses nicht über ein hinreichendes Inventar von Wurzeln und Affi-xen mit abstrakter Bedeutung verfügte“ (Šachmatov/Shevelov 1960: 84).

Dabei fällt auf, dass die Einmischung der Politik in die Sprachpflege und -planung keineswegs eine Erscheinung der letzten beiden Jahrhunderte ist. Vielmehr griffen bereits Zar Peter I. sowie die Zarinnen Elisabeth und Katharina II. mehr oder weniger direkt in die Entwicklung des Russischen ein, wie auch später Lenin und Stalin die Wichtigkeit der Sprache für das politische Schicksal ihres Landes erkannten.25

Während die soeben genannten Herrscherinnen und Herrscher innersprach-lich agierten, kamen in Russland die wesentlichen Einflüsse für das Kirchensla-vische von außen, aus der Südslavia. Im eigentlichen Sinne existieren zwei süd-slavische Einflüsse auf das Russische (wie auch auf die anderen slavischen Spra-chen): Die erste Periode dauerte etwa vom 10./11.-14. und die zweite vom 14.-17. Jh. Die lexikalischen Reflexe aus diesen Beeinflussungen werden für den heutigen russischen Wortschatz mal auf nur einige Tausend Wörter, mal gar auf die Hälfte aller Einheiten geschätzt. Zu diesen beiden, in der Literatur ausführ-lich beschriebenen südslavischen Einflüssen kommt noch ein dritter kirchensla-vischer Einfluss im 17. Jh., diesmal aus dem (Süd-)Westen der Rus’, d.h. der Ukraine und Weißrussland (Keipert 1999: 742). Während der erste Einfluss die Ostslaven überhaupt erst mit orthodox-südslavischem Gedanken- und Sprachgut vertraut machte, wird der zweite bisweilen eine „orthodoxe Renaissance“ („пра-вославное Возрождение“; vgl. Kalugin o.J.) genannt, da die für diese Bewe-gung charakteristischen Bestrebungen, die weitreichenden geografischen wie in-haltlichen Wirkungsfelder 26 und die Resultate in der Tat konzeptionell an die

25 Mit der Christianisierung der slavischen Heiden war ja unweigerlich das Eindringen neuen

Gedankenguts in die wohl recht einfach strukturierte Begriffswelt der zu missionierenden Menschen dieser Zeit verbunden. In deren Sprache dürften vor allem Bezeichnungen von abstrakten und spirituellen Erscheinungen gefehlt haben, wie sie zu einem großen Teil den christlichen bzw. allgemein den religiösen Wortschatz ausmachen. Das Bildungsmonopol lag seit den Anfängen der slavischen Schriftlichkeit und für Jahrhunderte in den Händen der Kirche, namentlich der Klöster.

26 Diese kulturelle Neuorientierung erfasste tatsächliche die gesamte Slavia orthodoxa und war keineswegs auf den engeren religiös-liturgischen Bereich (inklusive etwa der Ikonen-malerei als religiöser Kunst) beschränkt, vielmehr wirkte sie sich auch auf die slavischen Literaturen und Literatursprachen als solche aus. Der sog. zweite süd-/kirchenslavische Einfluss fiel in die großrussische (mittelrussische) Periode, die sich vom 14. bis zum Ende des 17. Jh. erstreckte und Zeuge der Entwicklung des Moskauer Staates wurde. Dieser Einfluss, der wohl durch die Eroberung des serbischen (1389) und des bulgarischen Reiches (1393) durch die Osmanen gefördert wurde, da diese, wie einige Wissenschaftler behaupten – und andere kategorisch ablehnen (siehe Issatschen-ko) –, zu einer Ansiedlung zahlreicher Gelehrter aus den eroberten Gebieten in der Kiever Rus’ führte, ergab sich aus der „‚Revision‛ des Mittelbulgarischen, deren Hauptanliegen es war, die geschriebene Sprache auch äußerlich wieder an die altkirchenslavischen Traditio-nen anzunähern, wobei gleichzeitig auch eine Angleichung an die zeitgenössische griechi-sche Schreibkonvention angestrebt wurde. [...] Für das provinzielle Moskau jener Zeit war

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westeuropäische Renaissance erinnern. Kalugin (o.J.) bringt den Zusammenhang von Geisteswelt und Sprache auf den Punkt, wenn er von einem: „В средневе-ковье языковое и религиозное сознание образовывали единое це-лое.“ symbiotisch miteinander verbundenen sprachlichen und religiösen Be-wusstsein spricht, welches dazu geführt habe, dass die Reformwilligen nur ei-nem sprachlich unverfälschten Text die Vermittlung des unverfälschten orthodo-xen Glaubens zubilligen konnten. Anders formuliert: Ein sprachlich entstellter, nicht mehr an den Normen der kyrillo-methodianischen Schule orientierter Text musste als Abweichung vom wahren Glauben und damit als Werk der Häresie verurteilt werden. Der Zweite Südslavische Einfluss äußerte sich in einer grund-legenden Archaisierung und Gräzisierung der Literatursprache, verbunden mit der Eliminierung regional variierender volkssprachlicher Einflüsse und der Zu-rückführung der Schriftsprache auf eine rigide, allgemein verbindliche und über-regional gültige Norm.

Peter I. der Große (1672-1725) unternahm eine weitreichende Umgestal-tung der russischen Gesellschaft zum Zwecke der Modernisierung seines Staates. Hierzu gehörte, dass er das Alte, Traditionelle, und damit auch den Einfluss und die Unabhängigkeit der Kirche sowie der mit ihr auf das Engste verbundenen Sprache zurückdrängte.27 Das Abschneiden der traditionellen Barttracht – dem sich vor allem die Altgläubigen widersetzten (die im russischen Imperium offi-ziell als Raskol’niki, d.h. Kirchenspalter, Schismatiker tituliert wurden) – war ein symbolträchtiges Merkmal für den Bruch mit dem Überkommenen und für die Umverteilung der Macht im Staate, verbunden mit einem deutlichen Eingriff eben dieses Staates in das private und somit auch religiöse Leben seiner Unter-tanen. Der Einfluss der Kirche wurde auf den engsten Bereich von Glaubens-

in den Fragen des Ritus, des Kirchenrechts und der ‘Bücher’ Byzanz die höchste Autorität. Jede Nachahmung des griechischen Vorbildes mußte begrüßt werden.“ (Issatschenko 1980: 215) Diese Rebulgarisierung, man könnte auch sagen: Archaisierung, hatte weitreichende Folgen auf praktisch allen Ebenen des Sprachsystems. Als oberste Leitlinie galt das Aus-merzen ostslavisch-volkssprachlicher Einflüsse auf das AKS, um die liturgische Sprache wieder ihrem ursprünglichen Zustand und damit auch dem ursprünglichen Sinn der Bibel anzunähern. Hierdurch festigte sich eine Diglossie-Situation durch die parallele Existenz der altkirchenslavischen, südslavisch geprägten und den einfachen Menschen in der Ostsla-via weitgehend unverständlichen Liturgiesprache einerseits und der ostslavischen Volks-sprache andererseits, wobei letzterer der Gebrauch für weltliche Zwecke vorbehalten war. Auf lautlichem Gebiet setzte sich die Volkssprache immer mehr durch. Ab dem 15. Jh. entstand die Moskauer Kanzleisprache auf der Grundlage der Moskauer Volkssprache. Die russische Sprache als Ganzes war als Synthese (entlehnter) kirchenslavischer und (genuin) volkssprachlicher Elemente zu betrachten; v.a. im Bereich von Wortbildung und Wort-schatz blieb das Altkirchenslavische für die weitere Entwicklung des Russischen von Be-deutung.

27 Er förderte die Wirtschaft, holte fremde Fachkräfte und Gelder ins Land, reformierte Mili-tär- und Schulwesen, trieb die Zentralisierung und Bürokratisierung der Verwaltung voran, schuf 1722 eine Adelsrangtabelle mit 14 Stufen und verbot schließlich das Tragen von Bärten und altrussischer Kleidung.

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fragen zurückgedrängt, sie verlor ihr Bildungsmonopol und mit ihm letztlich auch ihren Einfluss auf die weitere Entwicklung der russischen Sprache.

Dies war nicht zuletzt im 17. Jh. durch die erfolgreiche Überwindung der „Zeit der Wirren“ (Смута) vorbereitet worden, die zu einem gestiegenen Natio-nalbewusstsein geführt hatte, aber auch durch die innerrussische Kirchenspal-tung (раскол) als Folge der auf eine Archaisierung von orthodoxer Liturgie und Kirchensprache abzielenden Reformen des Patriarchen Nikon. Auch in der Kunst gab es einen Bruch mit zahlreichen Traditionen, etwa mit der Ikonenma-lerei, deren Bedeutung zugunsten der Porträtmalerei an Boden verlor, wie über-haupt sich die Kunst nunmehr an weltlichen Bedürfnissen, v.a. des Hofes, orien-tierte. Werden das visionäre Denken und Handeln Peters des Großen auch allge-mein als Grundlage für die Modernisierung Russlands und seinen Anschluss an Westeuropa gesehen28, so waren und sind doch auch die kritischen Stimmen nicht zu überhören, die ihm einen rücksichtslosen, zerstörerischen Umgang mit den russischen Traditionen und Werten vorwerfen.29

Mit den Reformen Peters des Großen Ende des 17./Anfang des 18. Jh. en-dete das russische Mittelalter. Die bis dahin gültige Aufteilung der bekannten Welt in christliche und nichtchristliche Länder und Völker machte einer stärker politisch orientierten Aufteilung unter dem Gesichtspunkt der Nationenbildung Platz. Im Zuge dieses Umbruchs stieg die Bedeutung der russischen Volksspra-che, die sich langsam in allen Bereichen der Literatur durchsetzte, indem das Kirchenslavische mehr und mehr aus dem weltlichen Bereich zurückgedrängt wurde. Mit dem beginnenden 18. Jh. verlor die Kirche auch ihr Quasi-Monopol auf den Buchdruck in Russland. In der 1. Hälfte des 18. Jh. entwickelte M. V. Lomonosov (1711-1765)30 seine 3-Stile-Theorie als Reaktion auf das v.a. in der Literatur herrschende Durcheinander einer russisch-volkssprachlichen und kir-chenslavischen Hybridsprache, die sich aus einer jahrhundertelangen Diglossie-situation ergeben hatte. Nach seiner Konzeption sollte der äußerst heterogene russische Wortschatz nach Sprachgattungen geordnet werden (Kirchensprache – Dichtungssprache – Umgangssprache). Durch die Öffnung Russlands zum

28 1712 verlegte Peter die Hauptstadt seines Reiches von Moskau nach St. Petersburg, nicht

zuletzt als sinnfällige Öffnung Russlands zum Meer und damit zum Westen. 29 Vgl. etwa die summarische Formulierung bei Maschkowzew (1975: 12): „Die Reform Pe-

ters I. verwandelte die Grenze zwischen Aristokratie und Volk zu einer unüberwindlichen Kluft. Versuche, in der Zeit nach Peter I. eine Brücke zwischen den beiden Polen zu schla-gen, waren vergeblich und fruchtlos.“ Dies fiel um so mehr ins Gewicht, als ein bürgerli-cher Mittelstand als verbindendes, ausgleichendes Element in Russland kaum eine Rolle spielte.

30 Seine Rossijskaja grammatika erschien 1757 als greifbarer Ausdruck erster sprachpflegeri-scher Bestrebungen im Russischen Reich und wird üblicherweise als die erste Grammatik zur russischen Sprache in russischer Sprache bezeichnet, doch waren bereits im 1. Drittel des 18. Jh. erste Ansätze zur Schaffung einer normativen Grammatik durch V. E. Adodu-rov erfolgt (vgl. u.a. Uspenskij 1975). In der 2. Hälfte des 18. Jh. wurden in der Tradition Lomonosovs mehrere Grammatiken zur russischen Sprache publiziert, u.a. durch N. G. Kurganov und A. A. Barsov.

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Westen, nicht zuletzt durch die von Zar Peter initiierte rege Übersetzungstätig-keit, drangen ferner zunehmend lexikalische, aber auch stilistische und syntakti-sche Elemente aus westeuropäischen Sprachen in das Russische ein. Zu Beginn des 19. Jh. setzte sich mit der Literatur A. S. Puškins (1799-1837)31 der Typus der heutigen modernen russischen Standardsprache durch.32 Die mit Peter be-gonnene Periode der Herausbildung der russischen Nationalsprache war damit in etwa abgeschlossen.

Das Russische konnte sich nur nach einem Jahrhunderte währenden Kampf seinen Platz unter den großen Literatursprachen der Welt sichern. Erst das 19. Jh. brachte eine Sprache hervor, die mit Fug und Recht als polyvalente, institutiona-lisierte Standardsprache der russischen Nation gelten konnte und sich somit auf eine Stufe mit den anderen europäischen Kultursprachen stellte. Von Beginn an stand es unter dem umfassenden Einfluss des Byzantinischen bzw. Griechischen, in der Geisteswelt, der Wissenschaft und der Sprache, hinzu kam das Lateini-sche v.a. als Wissenschaftssprache, ferner bis in das 19. Jh. hinein die modernen Sprachen wie das Französische, Deutsche, Holländische, Italienische in Hand-werk, Militär, Diplomatie, Bildungswesen und Kunst. Im engeren Sinne ent-scheidend war jedoch die Koexistenz von ostslavischer, später russischer Volks-sprache (in ihrer mündlichen wie schriftlichen Form) und der altkirchenslavi-schen Schriftsprache, zweier Idiome, die bei aller wechselseitigen Beeinflussung im Interesse einer Sprachökonomie doch nicht beide ohne Einbußen überdauern konnten. Das Russische führte seinen Kampf um die Eroberung der für eine Li-teratursprache notwendigen Funktionsbereiche nicht nur nach außen, gegen eine Überfremdung mit ausländischem Sprachgut, sondern auch im Inneren, im zä-hen Ringen mit altkirchenslavischen Wörtern und Wendungen. Während die ge-nannten Sprachen für die heutige Entwicklung der russischen Sprache und Kul-tur keine nennenswerte Rolle mehr spielen, bleibt das Englische als rezenter Konkurrent als Stachel im Fleisch eines heute von den Muttersprachlern als rela-tiv homogen empfundenen Idioms. Dieser Stachel reizt nicht nur die russischen Sprachpuristen, er wirkt sich auch in der Außenwahrnehmung und der interna-

31 Ende des 18. Jh. schuf Karamzin (gegen den Widerstand der am Altkirchenslavischen ori-

entierten Traditionalisten unter A. S. Šiškov) eine vereinheitlichte, jedoch noch als künst-lich empfundene elegante Sprache, die in Wortschatz und Syntax zahlreiche Anleihen v.a. beim Französischen machte. Diese wurde dann von Puškin überwunden, der direkt aus der einfachen, „natürlichen“ Volkssprache schöpfte und diese mittels einer Synthese aus Volkssprache, Hochsprache und altkirchenslavischen Elementen für alle Gattungen litera-turfähig macht. Er verhalft der russischen Volkssprache so nicht nur zum literarischen Durchbruch im engeren Sinne, sondern machte sie damit zu einem funktional maximal be-lastbaren Kommunikationsmittel.

32 In diese Epoche fiel auch die Veröffentlichung des ersten tatsächlich einsprachigen russi-schen Wörterbuchs, das diesen Namen verdient, des 6-bändigen Slovar’ Akademii Rossij-skoj (1789-94). Es zeichnete sich insbesondere durch seine normsetzenden Bestrebungen aus, die mit einem Verzicht auf Fremdwörter und Dialektismen einhergingen, wo immer dies möglich schien. Dieses Wörterbuch kann mit einiger Berechtigung als der Urahn einer umfangreichen, normativ-lexikografischen Tradition des Russischen angesehen werden.

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tionalen Stellung des Russischen aus, das seine Positionen in den nichtrussi-schen bzw. nichtslavischen ehemaligen Sowjetrepubliken Schritt für Schritt zu-gunsten des Englischen als lingua franca aufgeben muss. Die Konkurrenz des Russischen mit dem Englischen und damit der Verlust an internationalem Pres-tige mag zu einem Teil die heutige Rückbesinnung auf die nationalen Sprachtra-ditionen erklären, die jedoch nicht zu verwechseln sind mit dem sowjetischen Purismus des 20. Jh., der dezidiert bemüht war, Internationalismen wie Kirchen-slavismen aus der russischen Literatursprache zu verdrängen.33

Die politischen Herrschaftszentren emanzipierten sich mit dem ausgehen-den Mittelalter vom Bildungsmonopol der Klöster und lösten diese als wichtigs-te Träger der Schriftkultur ab.34 Erst diese Entwicklung gab den entscheidenden Anstoß für einen rund drei Jahrhunderte dauernden Kampf mit dem Analphabe-tentum, das v.a. außerhalb der Kulturzentren St. Petersburg und Moskau weit verbreitet war.35 Blieb also bis ins 19. Jh. hinein die Schicht der Schriftkundigen recht dünn, so wird klar, dass auch an einer nachhaltigen geistigen und damit sprachlichen Entwicklung des Landes überhaupt nur verschwindend wenige Menschen partizipieren konnten. Die kulturelle Großtat der Slavenapostel und ihrer Schüler, die Basis für eine umfassende Schriftlichkeit sowie eine christlich geprägte Kultur gelegt zu haben, zeitigte erst über Jahrhunderte hinweg dauer-

33 Nun wäre es irrig anzunehmen, erst die Penetranz des Englischen hätte den Widerstand

russischer Puristen hervorgerufen. Ganz im Gegenteil gibt es kaum eine große europäische Kultursprache, die in Russland nicht bereits in der einen oder anderen Form das Objekt mal populistischer und mal wissenschaftlich fundierter Ablehnung gewesen wäre. Die klassischen Bildungssprachen Griechisch und Latein waren hiervor ebenso betroffen wie die romanischen, germanischen und anderen slavischen Sprachen der europäischen Mo-derne. Ja, nicht einmal das Altkirchenslavische als Mutter aller slavischen Sprachen blieb hiervon verschont. So war es etwa im 17. Jh. die Russisch-Orthodoxe Kirche selbst, die sich genötigt sah, interne sprachnormierende Maßnahmen gegen den – irreführenderweise – so genannten Dritten Südslavischen Einfluss zu ergreifen, weil die aus der Ukraine und aus Weißrussland nach Moskau gelangenden religiösen Texte allzu viele Abweichungen von der Moskauer Tradition aufwiesen.

34 Auch setzte sich die Moskauer Form der Kanzleisprache durch. 35 Kalugin (o.J. (a)) widerspricht jedoch unter Bezugnahme auf die Birkenrindenurkunden

des 11.-15. Jh. der weit verbreiteten Meinung, in der Ostslavia habe ein quasi allgemeines Analphabetentum geherrscht. Vielmehr bewiesen die Existenz, die inhaltliche Vielfalt so-wie die Erkenntnisse über die Urheber der kurzen Texte, dass die Schriftkundigkeit weit verbreitet gewesen sei, und dies unter der einfachen Bevölkerung ebenso wie unter höher gestellten Persönlichkeiten, unter Männern wie auch unter Frauen. Gefördert worden sei die Verwendung der Schrift im Alltag durch den „demokratischen“ Charakter und die leichte Zugänglichkeit des Mediums Birkenrinde im Vergleich zum Luxusartikel Perga-ment („В отличие от дорогого пергамена береста была самым демократичным и легкодоступным материалом письма в средневековье.“). Verfasst ist die Mehrzahl der Urkunden auf Altrussisch, nur wenige auf Altkirchenslavisch und einige sogar in nichtsla-vischen Sprachen. Die Internetsite http://gramoty.ru/ stellt 956 Birkenrindenurkunden (Stand: 02.02.10) in Bild und Text sowie mit einer russischen Übersetzung vor. An maßgeblicher Literatur zum Thema siehe v.a. Zaliznjak 1995.

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hafte Erfolge. 1000 Jahre später bereiteten die Bolschewiken dem Bildungs-auftrag der Kirche ein für allemal, wie sie hofften, ein Ende, setzten aber die be-reits mit der fortschreitenden Industrialisierung des Landes verstärkt unternom-mene Beseitigung des Analphabetentums im Sowjetstaat durch, allerdings mit dem keineswegs altruistischen Ziel der Indoktrination der kommunistischen Ideologie.

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, inwieweit das Kirchenslavi-sche in seiner Existenz von den Wechselfällen der Geschichte, von der politi-schen und gesellschaftlichen Entwicklung beeinflusst wurde, bis hin zu einer Si-tuation, in der das Schicksal dieses Idioms auf des Messers Schneide stand. Blicken wir von unserem heutigen Standpunkt nur ein wenig in die russische Vergangenheit zurück, so stoßen wir schnell auf das 19. Jh., in dem panslavisti-sches, in sich durchaus heterogenes, Gedankengut omnipräsent war36, nicht zu-letzt im Zusammenhang mit der Orientalischen Frage, die unter russischer Fe-derführung dahingehend gelöst werden sollte, dass Konstantinopel zur „zukünf-tigen Hauptstadt einer slavischen Föderation“ (Torke 1985: 286) werden sollte. Dieses Hauptziel war in erster Linie den machtpolitischen Bestrebungen seiner Zeit geschuldet, gleichzeitig verweist es jedoch unmittelbar auf die historisch-kulturellen Ursprünge des Slaventums (славянство) und ist ein anschauliches Beispiel für die immer wieder in der Weltgeschichte aufkommende Maxime „Zurück zu den Wurzeln“.37 36 Es war jedoch keineswegs ein Produkt ausschließlich des 19. Jh.; bereits Konstantin Pre-

slavskij, ein Schüler des Slavenapostels Method, besingt Ende des 9. Jh. in seinem Werk Проглас към евангелието nicht nur den Ruhm Gottes, sondern auch die Einheit und die Größe des slavischen Volkes und seiner Sprache.

37 Das europäische Revolutionsjahr 1848 sah in Prag den 1. Slavenkongress – allerdings ohne russische Beteiligung –, auf dem eine panslavische Flagge mit den Farben Weiß-Blau-Rot vorgestellt wurde. Der romantisch verklärte panslavische Nationalismus des beginnenden 19. Jh. brachte im 20. Jh., nicht zuletzt als Folge des Ersten Weltkrieges, die neuen Staaten Tschechoslowakei (1918-1992) und Jugoslawien (1918-1992/2003) hervor, deren Ausein-anderbrechen nach nicht einmal 100 Jahren zugleich symbolhaft das politische Scheitern der allslavischen Idee markierte – wie auch der Auseinanderfall der Sowjetunion sinnbild-lich das Scheitern des Kommunismus veranschaulicht. Getragen wurde der russische Panslavismus zu einem großen Teil von den sogenannten Slavophilen, denen die Westler mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstanden, ob-wohl sie in einigen zentralen Punkten durchaus auf derselben Linie lagen (Abschaffung der Leibeigenschaft; Einführung einer gemäßigten Form der zaristischen Selbstherrschaft), diese aber unterschiedlich motivierten. Die wichtigsten Vertreter des stark von der deut-schen Romantik und vom deutschen Idealismus und der Philosophie Hegels und Schellings beeinflussten Westlertums waren die gemäßigten P. Ja. Čaadaev, I. S. Turgenev, T. N. Granovski, K. D. Kavelin und P. V. Annenkov sowie die radikaleren V. G. Belinskij, A. I. Gercen, N. P. Ogarev und M. A. Bakunin, während unter den slavophilen Protagonisten, denen ein gewisser Messianismus zugeschrieben werden kann, A. S. Chomjakov, I. V. Ki-reevskij sowie die Brüder K. S. und I. S. Aksakov zu finden waren. Die Frage, die zu einer Spaltung der russischen Intelligencija führte, war letztlich das Verhältnis von „Russland und Europa“, präziser müsste man sagen „Russland und Westeuropa“, da sich vor allem die Westler selbst als Teil der europäischen Kultur und Geschichte sahen. Ein Konzept, das

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Der nun folgende synchrone Abschnitt gibt einige Beispiele für das Behar-rungsvermögen des Kirchenslavischen im heutigen Russischen.

Das 19. Jh. wird oft als das russische Jahrhundert der Aufklärung bezeich-net, das Zeuge tiefgreifender sozialer Reformen wurde und in dessen erster Hälf-te ein Puškin die Grundlagen der modernen russischen Sprache schuf, das aber auch – durchaus im Einklang mit Westeuropa – von einem aggressiven Nationa-lismus gekennzeichnet war, der sich nicht zuletzt in einem ausgeprägten Russi-fizierungs- und verstärkten Christianisierungsdrang äußerte und im 20. Jh., wenngleich unter wechselnden Vorzeichen, fortsetzte.38

auf diese Frage eine Antwort finden sollte, war das „Eurasiertum“ (евразийство). Nach den Vorstellungen seiner Vertreter, u.a. N. S. Trubeckojs, waren die Russen weder als Eu-ropäer noch als Asiaten zu sehen, sondern als eigenständige Ethnie, die das Erbe der Turk-völker und Mongolen fortsetze und mit den slavischen Völkern lediglich die Sprache ge-meinsam habe.

38 So erhielten in der noch jungen UdSSR über 40 Völker erstmals eine eigene Schriftkultur (vgl. Georgieva 1999: 233), die letztlich, teilweise nach einer Experimentierphase mit der Lateinschrift, auf den Gebrauch der Kyrillica festgelegt wurden. Für die gesamte Sowjet-bevölkerung wurde 1919 ein verbindlicher Lese- und Schreibunterricht ab einem Alter von 8 Jahren festgelegt. Die Wende zum 20. Jh. markiert das sog. Silberne Zeitalter (Серебряный век), dessen Be-zeichnung zurückverweist auf das Goldene Zeitalter (Золотой век) im 15. Jh., das die alt-russische Kunst und Kultur – nach dem ersten südslavischen Einfluss – in entscheidender Weise prägte. Hier finden wir die impulsgebende Ikonenmalerei eines Andrej Rublëv, ei-nen allgemeinen Aufschwung der Literatur wie der bildenden Künste und nicht zuletzt ei-nen nachhaltigen technisch-wissenschaftlichen Fortschritt in Handwerk und Landwirt-schaft, wir sind aber auch Zeuge der Erfindung des Wodkas, jenes russischen Wässerchens mit enormer Heizwirkung und bisweilen desaströsen menschlichen und gesellschaftlichen Folgen wie auch der Herausbildung einer institutionalisierten Leibeigenschaft, die erst 1861 wieder abgeschafft wurde. Die Ikonenmalerei war bzw. ist eine in der gesamten Orthodoxie verbreitete, aus Konstan-tinopel übernommene religiöse Kunstrichtung. Eine räumliche Verdichtung stellt der Iko-nostas (auch: die Ikonostase) dar, die geschlossene Ikonenwand in einer orthodoxen Kirche zur Abtrennung des Altarraumes vom Kirchenschiff, als Weiterentwicklung der bis dahin verwendeten Trennungen aus Stoff, Holz, Stein oder Metall. Dem „Silbernen Zeitalter“ wiederum sind weltweit so bedeutende Kunstrichtungen wie etwa der Symbolismus. der Akmeismus, der (Kubo-)Futurismus und die Avantgarde zuzu-rechnen. Eine kaum zu überschätzende Rolle kommt hier den im Ausland tätigen russi-schen Künstlern zu, die teils freiwillig, teils gezwungenermaßen als Exilliteraten und -künstler nicht nur ihre heimische Kunstlandschaft beflügelten, sondern auch in West-europa oder Übersee großen Einfluss ausübten. Sie stehen nicht zuletzt in der Tradition der bedeutenden russischen Schriftsteller des 19. Jh., die als Wanderer zwischen den Welten teilweise viele Jahre im europäischen Ausland lebten und wirkten, fremdes Gedankengut rezipierten, verarbeiteten und nach Russland weitergaben, die aber auch genuin russisches Gedankengut in das übrige Europa vermittelten.

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4) Altes im Neuen

Die Forschung hat hinlänglich untersucht, inwieweit die großen Ereignisse in der Geschichte Russlands (1917, 1945, 1991) v.a. die Lexik und die Phraseolo-gie seiner Sprache geprägt haben. Weitaus weniger wird dagegen davon gespro-chen, dass auch das slavisch-kyrillische Schriftsystem selbst nicht zuletzt im Wortschatz, in der Phraseologie und Idiomatik des Russischen seine dauerhaften, charakteristischen Spuren hinterlassen hat.39 Schon die im Russischen vorhande-nen Wörter für das „Alphabet“ sind kulturgeschichtlich aufschlussreich: Hier existieren die quasi-synonymen Bezeichnungen азбука und алфавит. Während der zweite Terminus als Internationalismus jedoch eine gewisse Neutralität, ja Distanziertheit ausstrahlt, weist азбука eine deutlich emotionalere Komponente auf, da es unmittelbar auf die Buchstaben des kyrillischen Alphabets hindeutet, welches wiederum ebenso sinnbildlich wie konkret für die Anfänge der slavi-schen Schriftlichkeit und damit der traditionellen wie modernen Kultur des Sla-ventums steht. Wie auch andere Forscher, so spricht Šmeleva (2006) vom kyril-lischen Alphabet völlig zu Recht als von einer „Tatsache des russischen kultu-rellen Bewusstseins“ („факт русского культурного сознания“). Dies gilt aber nicht nur im engeren Sinne für die Schrift, sondern ganz allgemein für die alt(kirchen)slavische Kultur, ohne die dieses heutige Bewusstsein nicht denkbar wäre.

Das Jahr 1988 war als Milleniumsfeier der Taufe der Kiever Rus’ ein Zei-chen für die wiedergewonnenen materiellen und ideellen Freiheiten der Ortho-doxen Kirche im modernen russischen Staat, einem Staat, in dem die Kirche

39 In morphologischer Hinsicht typisch ist etwa die Existenz von Dubletten, die unterschiedli-

che Entwicklungslinien in der Slavia repräsentieren. Sie entstanden einerseits aus dem ost-slavischen Polnoglasie (Volllautung) (город, молоко, дорого) in volkssprachlichen Wör-tern und andererseits aus der süd- (und west-) slavischen Liquidametathese (град, млеко-, драго- etwa in градостроительство, млекопитающие, драгоценный) in oft gelehrten Wörtern und Abstrakta. Zur parallelen Existenz von Polnoglasie- und Nichtpolnoglasie-formen in alten russischen Texten vgl. etwa die umfangreiche Untersuchung von G. Hüttl-Folter: Die trat/torot-Lexeme in den altrussischen Chroniken. Ein Beitrag zur Vorge-schichte der russischen Literatursprache. Wien 1983. Die erwähnte morphologische Kon-kurrenz führt zur Gegenüberstellung von Formen wie Ленинград und Белгород. Zum historischen Verhältnis des (modernen) Russischen und des Altkirchenslavischen heißt es bei Scholz (1966: 12) zusammenfassend: „[...] ist der Prozentsatz kirchenslav. Elemente, die der russischen Schriftsprache auf der morphonologischen Ebene und bes. auf der lexikalischen Ebene einverleibt worden sind und die heute nicht mehr als fremde Be-standteile empfunden werden, beträchtlich, sodaß man vom sprachhistorischen Standpunkt aus die heutige russ. Schriftsprache als Mischsprache betrachten muß.“ Die von Scholz im Hinblick auf das Altkirchenslavische geäußerte Einschätzung, das Rus-sische sei als Misch- oder Hybridsprache zu betrachten, lässt sich mit einigen Einschrän-kungen auf den Einfluss des Englischen auf das Russische übertragen. Überspitzt formu-liert läuft die russische Sprache Gefahr (und dies hat sie mit einigen westeuropäischen Sprachen gemeinsam), von einem slavischen Idiom zu einer anglo-slavischen Mischspra-che als einer (bislang) letzten Entwicklungsetappe zu mutieren...

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wieder Teil des öffentlichen, gesellschaftlichen Lebens geworden ist und in dem die kirchlich geprägte Schriftkultur wieder stärker in das Bewusstsein der brei-ten Volksmassen dringt.

Rechnet man nun zur Kultur einer Gesellschaft nicht nur künstlerische Pro-dukte im weitesten Sinne, sondern beispielsweise auch alle industriellen Er-zeugnisse, so weist die russische Kultur heute auch hier etliche interessante Bei-spiele für das Beharrungsvermögen der slavischen Schrifttradition auf. Wenn etwa Šmeleva (2006) ein Waschpulver der Marke „ЯТЬ“ erwähnt, dessen Name zurückverweist auf den Buchstabennamen Jat’ sowie auf den Ausdruck на ять, in der Bedeutung ‚aus dem Effeff, perfekt (können, wissen)’, so wird hier ganz offensichtlich auf die hervorragenden Reinigungsqualitäten des Produktes ange-spielt. Und wenn daneben ein Toilettenpapier den Markennamen „Мягкий знак“ trägt, so wird hier mit dem „Weichheitszeichen“ nicht nur ein weiterer charakteristischer Buchstabe des russisch-kyrillischen Alphabets bezeichnet, sondern indirekt auch die vom Verbraucher erwartete Weichheit und Sanftheit des Produktes evoziert. Die Verwendung kyrillischer Buchstabenbezeichnungen schafft eine – nicht nur von den Werbestrategen – durchaus gewollte Symbiose von Tradition und Moderne. Im Zusammenhang mit der immer wieder einmal diskutierten Abkehr von der Kyrillica zugunsten der Latinica wird deutlich, dass eine solche Entscheidung nur unter dem technischen Aspekt der auch die Slavia orthodoxa erfassenden Globalisierung zu motivieren ist, dass sie aber gleichzei-tig diese Völker nicht nur sprachlich eines großen Teils ihres historisch gewach-senen Erbes berauben würde.

Auch in der heutigen russischen Schriftkultur finden sich noch immer Re-flexe der altkirchenslavischen Schrift und Typografie. Die verschiedenen öffent-lichen Debatten zur russischen Sprache und Rechtschreibung – die jüngste gera-de erst in diesen Tagen – haben es nicht vermocht, die Erinnerung an das histori-sche sprachliche Erbe auszulöschen. Vielmehr zeigen archaisierende Formen und eine retro-orientierte Typografie deutliche Reminiszenzen an frühere Sprachzustände, imitieren dabei aber gleichzeitig den gegenwärtigen Schriftge-brauch der Russisch-Orthodoxen Kirche, deren gedruckte Werke sich gegenüber der weltlichen Literatur durch eine ältere Typografie auszeichnen sowie durch die Beibehaltung der in den verschiedenen staatlichen Orthografiereformen von Peter dem Großen bis zur Oktoberrevolution 1917 abgeschafften Grapheme.40 So sieht sich die einflussreiche russische wirtschaftspolitische Tageszeitung „Kommersant“ (КоммерсантЪ) in der Nachfolge der gleichnamigen, zwischen 1909 und 1917 erschienenen Zeitung und hat deren Namenschreibung inklusive des auslautenden, in der heutigen russischen Sprache in dieser Position funk-tionslos gewordenen Härtezeichens übernommen. Dieses Graphem stieg sogar zum Logo der Zeitung auf. Die alte Grafie ist das Sinnbild für eine vielhundert-jährige, im Christentum wurzelnde Tradition, die, wie diese Werbung suggeriert,

40 Unter Peter waren dies: Ksi, Omega, Psi, Ouk, Zelo, die Jusy und die diakritischen Zeichen

wie das Titlo u.a., 1917 waren das Jat’, I desjateričnoe, Fita, Ižica an der Reihe.

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vom antireligiösen Kommunismus nur zeitweilig verdeckt werden konnte. Die vorrevolutionäre Grafie wurde v.a. in der russischen Emigration, zum Teil bis in unsere Zeit, weitergeführt.

Im Computerbereich ist eine Vielzahl von Fonts auf dem Markt, die alte Schriftschnitte nachempfinden. Die Verwendung dieser Schriften ist keineswegs immer als gelungen oder auch nur als korrekt zu bezeichnen; bisweilen stellt sie einen Stilbruch dar oder verstößt gar gegen linguistische Regeln.41 Eine kirchen-slavische Wikipedia-Version versucht schließlich den Brückenschlag von alter Typografie und Orthografie zur aktuellsten Technik. 42 Für wie wichtig und richtig man eine solche Verwendung alter Schriften und Schriftgewohnheiten auch halten mag, sie zeigt doch einerseits den Willen, altes Kulturgut am Leben zu erhalten, und zeugt andererseits nicht nur von einem kulturspezifischen ästhe-tischen Bewusstsein, sondern auch von der Erkenntnis, dass die Wahrung von Traditionen verkaufsfördernd sein kann. Sie lässt sich in dieser Perspektive als vermeintlich oder tatsächlich wohltuendes Gegengewicht zu einer alle kulturel-len Besonderheiten nivellierenden Technisierung und Globalisierung verstehen.

Eine moderne Literatur- oder Standardsprache weist bekanntlich verschie-dene Funktionsbereiche auf, wie etwa die schöngeistige Literatur, den offiziellen politischen Diskurs, die Sprache von Technik und Wissenschaft. Diese sind in sich nicht nur vielschichtig, sie können auch in unterschiedlichem Maße Verän-derungen unterliegen. Wie gestalten sich diese Bereiche für die russische Spra-che der Gegenwart?

Bei der Wissenschaftssprache ist nach geisteswissenschaftlichen und natur-wissenschaftlichen Sektoren zu differenzieren. Während letztere nach wie vor stark vom Lateinischen und Englischen als traditionellen wie modernen Wissen-schaftssprachen beeinflusst sind, erwecken erstere grosso modo den Eindruck von eher national und nationalsprachlich geprägten Disziplinen. Für das Russi-sche bedeutet dies konkret, dass von offizieller Seite – dies können auch Verlage oder ähnliche Institutionen sein – Wert gelegt wird auf eine Vermeidung von Fremdwörtern oder Internationalismen, wenn ein russisches Synonym zur Ver-fügung steht, wie dies etwa bei der Ersetzung von идентификация durch отождествление der Fall ist, um nur ein Beispiel zu nennen. Solchen Dub-letten käme damit nicht nur eine stilistische, sondern auch eine verstärkte funk-tionale Differenzierung zu, wenn sie zur Markierung von Texten etwa aus ver-schiedenen geistes- bzw. naturwissenschaftlichen Bereichen oder aus dem priva-ten vs. dem öffentlichen Leben herangezogen werden.

Die schöngeistige Literatur ist der Teil der nationalen russischen Schriftkul-tur, der sich am stärksten pluralistisch darbietet; hier finden wir – bisweilen in bewusster Abgrenzung zum offiziellen Diskurs – Neologismen, Archaismen,

41 Sehr ausführlich beschäftigt sich die Internetseite http://www.artlebedev.ru/kovodstvo/

sections/ mit solchen Erscheinungen. 42 Die Startseite hat die Adresse http://cu.wikipedia.org/wiki/Гла0вьна_страни0ца.

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Entlehnungen und Fremdwörter verschiedenen Ursprungs sowie zahlreiche Ele-mente des Non- oder Substandards.

Der politische Diskurs lässt einen Renouveau russisch-kirchenslavischer Elemente durchscheinen, der maßgeblich durch das Wiedererstarken des kirch-lich-religiösen Faktors in der russischen Gesellschaft des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jh. beeinflusst ist. Die orthodoxe Kirche scheint zu ihrer Funk-tion als Hüterin nationaler Traditionen und Werte zurückzufinden, einer Rolle, die sie nie freiwillig aufgegeben hätte. Die Annahme ist zukünftig zu verifizie-ren, ob mit dem gestiegenen gesellschaftlichen Prestige der Kirche auch ihr Ein-fluss auf die nationale Sprache wieder zunimmt und inwiefern Kirchenslavismen erneut der stilistisch-funktionalen Differenzierung des Russischen dienen wer-den. 5) Fazit

Kommen wir damit noch einmal zurück auf das eingangs erwähnte Urteil, Alt-kirchenslavisch sei eine tote Sprache. Zusammenfassend ist dem sicherlich zu entgegnen, dass Altkirchenslavisch nicht toter ist (Verzeihung für diesen un-möglichen Komparativ) als das Lateinische. So wie letzteres in seiner vulgärla-teinischen Form mit den romanischen Sprachen seine Genealogie fortgesetzt und darüber hinaus auf benachbarte Sprachfamilien eingewirkt hat, so hat das Altkirchenslavische mit dem Mittel- und dem Neukirchenslavischen seine direk-ten Fortsetzer geschaffen und zudem einen solchen Einfluss auf die slavischen Volkssprachen, darunter das Russische, ausgeübt, dass es auch in diesen wei-terlebt. Von der Vitalität des Kirchenslavischen zeugt nicht zuletzt die aktuelle innerrussische Debatte einer möglichen Aufgabe der slavischen Liturgiesprache zugunsten der russischen Literatursprache.43 Gesamtkulturell betrachtet, und da-mit unter Einschluss von Sprache und Literatur, stellt das Russische von seinen Anfängen bis zum Ende des Mittelalters eine Symbiose aus slavisiertem Warä-gertum, slavisch-russischen Partikularitäten und byzantinischem sowie südsla-visch-bulgarischem Einfluss dar. Mit Peter dem Großen vollzog Russland den Übergang zur Moderne, die wiederum der alle Gebiete des materiellen wie geis-tigen und gesellschaftlichen Lebens nachhaltig veränderte, der den Einfluss der Kirche zurückdrängte und neuen Geistesströmungen den Weg in das beständig größer werdende Reich öffnete, der aber gleichzeitig die engere Grundlage für die gesellschaftlichen Konflikte und widerstreitenden Visionen Russlands für die folgenden Jahrhunderte bildete.

Die Moderne jedoch ist nicht ohne die Geschichte zu begreifen ist, und ein vertieftes Verständnis vom Zustand und Funktionieren einer lebenden Sprache 43 Einen Überblick über die Argumente für und wider einen Verzicht auf das Kirchenslavi-

sche in der russischen Liturgie gibt die Seite „Русский или церковнославянский: «за» и «против»“ unter der Web-Adresse http://www.nikolay.orthodoxy.ru/articles/rus_or_cslav. htm.

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ist nur unter vergleichender Einbeziehung ihrer Entwicklung möglich. Insofern sei hier auch en passant eine Lanze für den Verbleib des Altkirchenslavischen in den zukünftigen universitären Lehrplänen für das Slavistik- bzw. Russistikstu-dium gebrochen, nicht ohne das Eingeständnis, dass hier durchaus Bedarf an einer konzeptionellen Neuorientierung besteht.44

So wie unsere west- und osteuropäischen Kulturen, Denkweisen und Spra-chen nicht ohne das direkte und indirekte (Renaissance!) Wirken der griechi-schen und römischen Antike mit ihren vielfältigen kulturellen und speziell sprachlichen Grundlagen vorstellbar sind, so könnten auch die modernen sla-visch-orthodoxen Kulturen Osteuropas nicht in ihrer heutigen Weise existieren, wenn es im Zuge der byzantinischen Missionierungstätigkeit nicht zur Entwick-lung der ersten, noch gemeinslavischen, aber bereits hochentwickelten Schrift-sprache gekommen wäre. Spuren der ursprünglichen slavischen Literalität und ihrer weiteren Entwicklung sind im heutigen Russischen omnipräsent. Um sie angemessen zu würdigen, bedarf es keiner Wiedererweckung; es genügt zu-nächst, ihre Existenz tatsächlich bewusst zu machen. Im öffentlichen Sprachge-brauch finden sich kirchenslavische Reflexe auf verschiedenen Ebenen, so im politischen Diskurs und in der Sprache der Werbung. Hier wie dort wird das tra-ditionsbehaftete Kirchenslavisch gezielt zur Schaffung eines neuen nationalen Bewusstseins eingesetzt – absatzfördernde Nebeneffekte nicht ausgeschlossen. Sprachlicher Purismus kann als Zeichen nationaler Schwäche interpretiert wer-den, denn für eine starke Nation, einen starken Staat spielt es kaum eine existen-tielle Rolle, sich übermäßig über eine „reine“ Sprache zu definieren; hier kann auch sprachliche Toleranz ein Zeichen von Stärke sein. Zu Beginn des 20. Jh. fochten die Kommunisten ihren Existenzkampf nicht zuletzt auf der sprachli-chen Schiene aus, und auch die neuen russischen Machthaber folgen dieser Stra-tegie, wenngleich unter geänderten Vorzeichen.

Von den Slavenaposteln bis in die Gegenwart war das Kirchenslavische kein l’art pour l’art, keine Stilübung, sondern, wie der historische Überblick ge-zeigt hat, Mittel zum Zweck bei der Durchsetzung kirchenpolitischer und macht-politischer Ziele. Die verschiedenen Redaktionen des Altkirchenslavischen adaptierten diese südslavische Dachsprache an regionale Spezifika. Dabei blieb es jedoch als eine gesamtslavische bzw. slavisch-orthodoxe Sprache im Be-wusstsein ihrer Benutzer. Heute dagegen scheint das Russische das Kirchensla-vische in historisch geradezu widersinniger Weise für russisch-nationale Ziele zu instrumentalisieren, als Zeichen für eine kulturelle Eigenständigkeit, für die das Kirchenslavische im nationalen Sinne gerade nicht steht. Diese Situation ist

44 So wäre es nicht nur angesichts der im BA/MA-Studienmodell gestrafften Lehrpläne sinn-

voll, das reine „Formenpauken“ auf ein für das Verständnis der wesentlichen Sprachent-wicklungen nötiges Mindestmaß zu begrenzen, um statt dessen den kulturellen Aspekten mehr Raum zu geben, damit die Studierenden den sprachgeschichtlichen Wert des Altkir-chenslavischen besser einordnen können. Die meisten der mühsam erlernten Paradigmen dieser formenreichen Sprachstufe sind ohnehin bereits kurz nach den Klausuren in Verges-senheit geraten und werden kaum je wieder gebraucht.

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ein sprachhistorisches Novum, dessen weitere Entwicklung noch durchaus Überraschungen bereithalten kann.

Die Wiederzunahme kirchenslavischer Elemente im russischen Wortschatz der postkommunistischen Ära als eine Art „Rückkehr zu den kulturellen Wur-zeln“ muss als bislang praktisch nicht untersucht bezeichnet werden, im Ge-gensatz zu den Einflüssen der modernen Kultursprachen West- und Osteuropas. Während für letztere die historischen Entwicklungslinien als weitestgehend auf-gearbeitet gelten dürfen, sehen wir uns in Bezug auf die aktuelle Rolle des Kir-chenslavischen quasi auf eine neue Adstrat-Situation verwiesen, mithin auf eine zunächst synchrone Sprachbeschreibung, was den Vergleich mit früheren Er-scheinungen keineswegs ausschließt. Hier wie auch in der Vergangenheit gilt es, den engen Zusammenhang von sprachlicher und gesamtgesellschaftlicher Ent-wicklung im Auge zu behalten und ebenso innerlinguistisch wie interdisziplinär vorzugehen. Weist auch das Kirchenslavische selbst keine Polyvalenz auf, so kann es doch einen Teil zur aktuellen Polyvalenz der russischen Literatursprache beitragen. Es wäre verfrüht, die hier skizzierten Entwicklungen hinsichtlich ihrer Stoßrichtung und ihrer Nachhaltigkeit bereits heute umfassend bewerten zu wol-len. Dies bleibt gewiss als eine interessante Aufgabe einer zukünftigen Slavistik vorbehalten. Und auch wenn das Russische der Gegenwart eher als der Fortset-zer einer slavischen Volkssprache mit (alt-)kirchenslavischen Elementen denn als adaptiertes, „oralisiertes“ Kirchenslavisch anzusehen ist, so ist es doch kei-neswegs unangemessen, die verantwortlichen Schöpfer des Altkirchenslavischen abschließend mit einem Vivat zu ehren: „Да здравствуют святые равно-апостольные Кирилл и Мефодий!“ – „Hoch leben die heiligen Slavenapostel Kyrill und Method!“ Literatur

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