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Robert Esser Die Europ~iische Menschenrechtskonvention Rahmen" der Auslieferung in Europa* Robert Esser** als ,,zweiter I. Einfiihrung Die Ersetzung f6rmlicher Auslieferungsverfahren durch ein effizientes und beschleunigtes System der Uberstellung festgenommener Personen wurde yon den europ~iischen Staats- und Regierungschefs erstmals im Oktober 1999 auf dem EU- Sondergipfel im finnischen Tampere beschlossen. 1 Die politische Einigung fiber die Bedingungen eines europaweit vollstreckbaren Haftbefehls gelang jedoch erst zwei Jahre sp~iter in Vorbereimng auf den Europ~iischen Rat in Laeken am 14./15. Dezember 2001. Ein wesentliches Element des vom Rat der Europ~iischen Union am 30. November 2000 angenommenen Maflnahmenprogramms zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen ~ ist die Einftihrung dieses Europiiischen Haftbefehls in den Mitgliedstaaten der Europ~iischen Union zum 1. Januar 2004 aufgrund des Rahmenbeschlusses des Rates (2002/584/JI) vom 13. Juni 2002. 3 Weitgehend ignoriert wird bei der nun auf nationaler Ebene stattfindenden Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses (RB), dass mit der Europ~iischen Menschenrechtskonvention von 1950 (EMRK), deren Bestimmungen seit 1960 vom Europ5ischen Gerichtshof far Menschenrechte in Straf3burg (EGMR) 4 ausgelegt werden, bereits ein zweiter ,,Rahmen" ftir die Implementiemng des Europ~iischen Haftbefehls besteht. 5 Im Rahmenbeschluss finden die einzelnen Garantien der EMRK an keiner Stelle explizit Erwghnung. Lediglich der Hinweis auf die EU-Charta der Grundrechte6 sowie auf die Achtung der in Art. 6 EU niedergelegten Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrunds~itze lassen die Bedeutung der EMRK ftir die Umsetzung des Rahmenbeschlusses erahnen. 7 70 l]berarbeitete Fassung des Vortrags des Verfassers bei der Tagung der Europ~iischen Rechtsakademie Trier Von der Auslieferung zum Europiiischen Hafibej~hl am 15. und 16. Mai 2003. "" Dr Robert Esser ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl fiJr deutsches, europSisches und internationales Strafrecht und Strafprozessrecht, Kriminologie yon Prof. Dr Hans-Heiner Kiihne, Universit~it Trier. Siehe Nr. 35 der Schlussempfehlungen des Rates (dort allerdings nur ffir rechtskr~iftig Verurteilte); vgl. zum bisherigen Auslieferungsrecht die L~nderberichte bei Glefl (Hrsg.), Auslieferungsrecht der Schengen-Vertragsstaaten, 2002. 2 ABIEG Nr. C E 12 v. 15.1.2001, S. 10. 3 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 fiber den Europ~iischen Haftbefehl und die lQbergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABIEG Nr. LI90 v. 18.7.2002, S. 1 (in Kraft getreten ist der RB am 7.8.2002); zu den Regetungsmaterien des Europ~iischen Haftbefehls vgl. von Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 223 ft.; yon Heintschel- Heinegg/Rohlff, GA 2003, 44 ft.; zum Vorschlag der EU-Kommission vom 19.9.2001 (AB1EG Nr. C 322 E v. 27.11.2001) Wegner, StV 2003, 105 ff.; kritisch zum Verzicht auf die gegenseitige Strafbarkeit (Art. 2 I1 RB) Schiinemann, GA 2003, 299, 311; ders., StV 2003, 115 ft. 4 Die fiir die Urteile angegebene Fundstelle bezieht sich auf die amtliche Sammlung des Gerichtshofs (Serie A / Reports). Die gesamte StraSburger Rechtsprechung ist aul3erdem im Internet unter www.echr.coe.int zug~inglich (,,Judgments and Decisions"). Neben einer cbronologischen Auflistung (,,List of Recent Judgments") ist dort eine HUDOC-Suchmaske eingerichtet, die eine Suche nach einzelnen Urteilen und Entscheidungen erm6glicht. Zur Bedeutung der EMRK im Kontext des Europ~iischen Grundrechtsschutzes Esser, Auf dem Weg zu einem europ~iischen Strafveffahrensrecht - Die Grundlagen im Spiegel der Rechtsprechung des Europaischen Gerichtshofs fiir Menschenrechte, 2002; Ehlers, Europ~.ische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003; Nickel, JZ 2001, 625, 626 f. 6 AB1EG Nr. C 364 v. 18.12.2000, S. 1. Art, 1 In RB; Nr. 10, 12 der Erw~gungsgriinde.

Die Europäische Menschenrechtskonvention als „zweiter rahmen“ der auslieferung in Europa

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Robert Esser

Die Europ~iische Menschenrechtskonvention Rahmen" der Auslieferung in Europa* Robert Esser**

als ,,zweiter

I. Einfiihrung

Die Ersetzung f6rmlicher Auslieferungsverfahren durch ein effizientes und beschleunigtes System der Uberstellung festgenommener Personen wurde yon den europ~iischen Staats- und Regierungschefs erstmals im Oktober 1999 auf dem EU- Sondergipfel im finnischen Tampere beschlossen. 1 Die politische Einigung fiber die Bedingungen eines europaweit vollstreckbaren Haftbefehls gelang jedoch erst zwei Jahre sp~iter in Vorbereimng auf den Europ~iischen Rat in Laeken am 14./15. Dezember 2001. Ein wesentliches Element des vom Rat der Europ~iischen Union am 30. November 2000 angenommenen Maflnahmenprogramms zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen ~ ist die Einftihrung dieses Europiiischen Haftbefehls in den Mitgliedstaaten der Europ~iischen Union zum 1. Januar 2004 aufgrund des Rahmenbeschlusses des Rates (2002/584/JI) vom 13. Juni 2002. 3 Weitgehend ignoriert wird bei der nun auf nationaler Ebene stattfindenden Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses (RB), dass mit der Europ~iischen Menschenrechtskonvention von 1950 (EMRK), deren Bestimmungen seit 1960 vom Europ5ischen Gerichtshof far Menschenrechte in Straf3burg (EGMR) 4 ausgelegt werden, bereits ein zweiter ,,Rahmen" ftir die Implementiemng des Europ~iischen Haftbefehls besteht. 5 Im Rahmenbeschluss finden die einzelnen Garantien der EMRK an keiner Stelle explizit Erwghnung. Lediglich der Hinweis auf die EU-Charta der Grundrechte 6 sowie auf die Achtung der in Art. 6 EU niedergelegten Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrunds~itze lassen die Bedeutung der EMRK ftir die Umsetzung des Rahmenbeschlusses erahnen. 7

70

l]berarbeitete Fassung des Vortrags des Verfassers bei der Tagung der Europ~iischen Rechtsakademie Trier Von der Auslieferung zum Europiiischen Hafibej~hl am 15. und 16. Mai 2003.

"" Dr Robert Esser ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl fiJr deutsches, europSisches und internationales Strafrecht und Strafprozessrecht, Kriminologie yon Prof. Dr Hans-Heiner Kiihne, Universit~it Trier.

Siehe Nr. 35 der Schlussempfehlungen des Rates (dort allerdings nur ffir rechtskr~iftig Verurteilte); vgl. zum bisherigen Auslieferungsrecht die L~nderberichte bei Glefl (Hrsg.), Auslieferungsrecht der Schengen-Vertragsstaaten, 2002.

2 ABIEG Nr. C E 12 v. 15.1.2001, S. 10. 3 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 fiber den Europ~iischen Haftbefehl und die lQbergabeverfahren

zwischen den Mitgliedstaaten, ABIEG Nr. LI90 v. 18.7.2002, S. 1 (in Kraft getreten ist der RB am 7.8.2002); zu den Regetungsmaterien des Europ~iischen Haftbefehls vgl. von Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 223 ft.; yon Heintschel- Heinegg/Rohlff, GA 2003, 44 ft.; zum Vorschlag der EU-Kommission vom 19.9.2001 (AB1EG Nr. C 322 E v. 27.11.2001) Wegner, StV 2003, 105 ff.; kritisch zum Verzicht auf die gegenseitige Strafbarkeit (Art. 2 I1 RB) Schiinemann, GA 2003, 299, 311; ders., StV 2003, 115 ft.

4 Die fiir die Urteile angegebene Fundstelle bezieht sich auf die amtliche Sammlung des Gerichtshofs (Serie A / Reports). Die gesamte StraSburger Rechtsprechung ist aul3erdem im Internet unter www.echr.coe.int zug~inglich (,,Judgments and Decisions"). Neben einer cbronologischen Auflistung (,,List of Recent Judgments") ist dort eine HUDOC-Suchmaske eingerichtet, die eine Suche nach einzelnen Urteilen und Entscheidungen erm6glicht.

Zur Bedeutung der EMRK im Kontext des Europ~iischen Grundrechtsschutzes Esser, Auf dem Weg zu einem europ~iischen Strafveffahrensrecht - Die Grundlagen im Spiegel der Rechtsprechung des Europaischen Gerichtshofs fiir Menschenrechte, 2002; Ehlers, Europ~.ische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003; Nickel, JZ 2001, 625, 626 f.

6 AB1EG Nr. C 364 v. 18.12.2000, S. 1.

Art, 1 In RB; Nr. 10, 12 der Erw~gungsgriinde.

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Die Europ~iische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

II. Die Best immungen der E M R K zur Auslieferung

Die EMRK und ihre mittterweile 13 Zusatzprotokolle (ZP) enthalten nur wenige Vorschriften, die sich speziell mit der Auslieferung befassen. Weder die Grtinde, bei deren Vorliegen eine Auslieferung in Betracht kommt, noch das anzuwendende Verfahren werden von der Konvention geregelt. Beide Aspekte sind nach Ansicht des EGMR eine Angelegenheit zwischenstaatlicher Kooperation. 8 Die Stragburger Organe mussten sich daher auf die Herausbildung bestimmter Leitlinien zur Auslieferung und die Feststellung beschr~inken, dass der Konvention - insbesondere Art. 6 1 EMRK - kein Recht auf Nichtauslieferung entlehnt werden kann, auch dann nicht, wenn die Auslieferung zur Verfolgung politischer Straftaten erfolgt. 9 Die Auslieferung in einen Staat, in welchem dem Betroffenen eine Folter oder unmenschliche Behandlung droht, ftihrt allerdings zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch den ausliefernden Staat, weil dieser durch sein Verhalten diese konventionswidrige Behandlung im ersuchenden Staat erst erm0glicht. Daraus folgt die Pflicht des ersuchten Staates, die Auslieferung zu unterlassen, wenn die naheliegende Gefahr besteht (,, real risk"), dass der Betroffene einer der in Art. 3 EMRK genannten Behandlungen unterworfen wird? ~ Eine Verletzung des von Art. 8 EMRK geschiitzten (Privat-)" und Familienlebens droht, wenn der Betroffene dutch die Auslieferung aus seiner Familie herausgerissen wird. '2

Terminologisch v o n d e r Auslieferung zu unterscheiden ist das Verfahren der Ausweisung. UnzuRissig ist nach Art. 4 des 4. ZP die Kollektivausweisung von AusRindem. Dagegen verbietet die Konvention nicht die Auslieferung eigener Staatsangeh6riger. 13 Hinsichtlich eigener Staatsangeh6figer sind nach Art. 3 I des 4. ZP lediglich Kollektiv- und Einzelausweisungen, nicht aber Auslieferungen untersagt? 4 Schliel31ich sei noch auf Art. 1 des 7. ZP hingewiesen, der bestimmte Verfahrensgarantien fiir Ausl~inder normiert, gegen die ein Ausweisungsverfahren anh~ingig ist. Fiir Auslieferungen gelten diese Bestimmungen nicht.

Sieht man vom Haftgrund der Auslieferung in Art. 5 I (f) EMRK ab, auf den sp~iter einzugehen sein wird, so bleibt festzuhalten, dass die EMRK keine Vorschriften enth~lt, die speziell die Auslieferung oder die zwischenstaatliche f21bergabe einer Person aus Anlass der Strafverfolgung betreffen. Andererseits hat der EGMR die Notwendigkeit eines strafprozessualen Ausliefemngs- bzw. f21bergabesystems, wie es dem Verfahren zur

s EGMR, Ocalan vs. Tiirkei, Urteil v. 12.3.2003 (,,the Convention contains no provisions concerning the circumstances in which extradition may be granted~ or the procedure to be followed before extradition may be granted"); vgl. auch: EGMR, Aronica vs. Deutschland (72032/0 I), Entsch. v. 18.4.2002, w 1~

9 EGMR, Soering vs. Vereinigtes KOnigreich, Serie A Nr. 161, w 85 (= EuGRZ 1989, 314); Gonzales vs. Spanien (43544/98), Entsch. v. 29.6.1999; EKMR, Bakhtiar vs. Schweiz (27292/95), Entsch. v. 18.1.1996.

,0 EGMR, Soering (Fn. 9) aaO; die Ausweisung betreffend: EGMR, Cruz Varas vs. Schweden, Serie ANr. 201; Vih,arajah vs. Vereinigtes KOnigreieh, Serie A Nr. 215; Ahmed vs. Osterreich, Reports 1996-VI, w 38; zur Beweislast in dieser Frage: Villiger, Handbuch der EMRK, 2. Aufl. 1999, Rn. 301 ft.; vgl. aucb die Entscbeidungspraxis der Europgischen Menschenrechtskommission (EKMR) bei: Frowein/Peukert, Europ~iische Menscbenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, Art. 3 Rn. 18, Fn. 66. Bemerkenswert ist, class der Rahrnenbescbluss dieser fundamentalen Schranke ftir jede Auslieferung lediglicb in Nr. 13 seiner Erw~igungsgriinde Rechnung trfigt.

" Hierzu Trechsel, in: FS ftir Ermacora, 1988, S. 195 f.

~2 EGMR, Amrollahi vs. Diinemark, Urt. v. 11.7.2002, w167 26-28; Moustaquim vs. Belgien, Serie ANr. 193, w 16.

t3 Zur Ausliefernng Deutscher an EU-Mitgliedstaaten und internationale Gericbtsh0fe gemgB Art. 16 II 2 GG n.E (BGB1. 2000 I, 1633) Zimmermann, JZ 2001, 233 ft.; Uhle, NJW 2001, 1889, 1893; Baier, GA 2001, 427 ft.

,4 Vgl. LRIGollwitzer, 24. Aufl., MRK Art. 5 Rn. 84; ebenso: Villiger (Fn. 10) Rn. 685. 71

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Robert Esser

Vollstreckung des Europfiischen Haftbefehls zugrundeliegt, bereits 1989 im Urteil Soering anerkannt/~ Die Konvention steht denmach einer auf der Grundlage von Auslieferungs- und Abschiebungsabkommen erfolgenden Kooperation zwischen Staaten zum Zwecke der Verbringung fl(ichtiger Tatverd~chtiger vor Gericht nicht entgegen, solange dabei keine in der Konvention niedergelegten Garantien verletzt werden. '6 Als Zwischenergebnis l~st sich denmach festhalten, dass sowohl die EMRK als auch der EGMR dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafverfahren often gegentiberstehen. Gleiches gilt ftir ein zwischenstaatliches Verfahren der Auslieferung bzw. Obergabe im Rahmen der Strafverfolgung.

III. Der Europ/iische Haftbefehl als Instrument der Auslieferung?

Die eigentliche Bedeutung der EMRK im Rahmen der Implementierung des Europ~iischen Haftbefehls in den Mitgliedstaaten der EU erschliegt sich nur dem Betrachter, der sich vergegenw~rtigt, worum es bei der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls tats~ichlich geht. Art. 1 I RB definiert den Europ~iischen Haftbefehl als ,,justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Fesmahme und Ubergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung ... bezweckt". Die strafprozessuale Funktion des Europ~iischen Haftbefehls besteht demnach darin, dass auf seiner Grundlage eine Person, gegen die im Ausstellungsstaat wegen einer im H6chstmaB von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohten Straftat (Art. 2 1 RB) ein Strafverfahren eingeleitet wird, zum Zwecke der l]bergabe an den Ausstellungsstaat in einem anderen EU-Mitgliedstaat festgenommen und inhaftiert werden kann. Diese vereinfachte transnationale Vollstreckbarkeit ipsofacto in jedem Mitgliedstaat der Union markiert den gegentiber herk6mmlichen, nationalen Haftbefehlen neuen Eingriffsgehalt des Europ~iischen Haftbefehls. Bisher ist lediglich eine Ausschreibung nationaler Haftbefehle im Rahmen yon Interpol bzw. im Schengener Informationssystem m6glich (Art. 95 SDO), wobei sich an die Festnahme das trotz gewisser Erleichterungen h~iufig immer noch schwerf~illige Verfahren der Auslieferung anschliegt.'7

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Bei genauer Betrachtung erweisen sich der Europ~iische Haftbefehl und das Verfahren seiner Vollstreckung nicht als Auslieferung im herk6mmlichen Sinne, sondern als eine auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung konzipierte StrafverfolgungsmaBnahme. Davon geht auch der Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 aus, besagt er doch in den vorangestellten Erw~igungsgrtinden sowie in Art. 31 I, dass das mitunter schwerf~illige System der Auslieferung durch ein System der Obergabe zwischen Justizbeh6rden ,,ersetzt" werden und der Europ~iische Haftbefehl an die Stelle aller Obereinkommen zur Auslieferung treten soll? ~

~s EGMR, Soering (Fn. 9) w w 86, 89; zu diesem Urteil Lillich, AJIL 85 ( 1991 ). 128 ft.; Ziih[ke/Pastil{e, ZaORV 59 (1999), 749 ff.; Lagodny, NJW I990, 2183; Breitenmoser~ilms, Michigan Journai of InternationaI Law II (I990), 845 ff.

'~ EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 89 (,,the Convention does not prevent cooperation between States, within the framework of extradition treaties or in matters of deportation, for the purpose of bringing fugitive offenders to justice, provided that it does not interfere with any specific rights recognised in the Convention").

~7 Schomburg/Lagodny, Intemationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl. 1998, Art. 59-66, 95 SD0; Schomburg, NJW 1995, 1931, 1934 f.; die Aussehreibung im SIS siebt Art. 9 11, Ill RB vor

'* Vgl. Nr. 1, 5, 11 der Erw~igungsgr/inde; zu den Grunds~tzen des ~raditionellen Auslieferungsrecbts vgt. Gless/Biehler in: (}!ess (Hrsg.), Auslieferungsrecht tier Schengen-Venragsstaaten. 2002, S. 547 ft.; Weigend JaS 2000, 105 ft.; zu den Ubereinkommen tiber die Auslieferung yon Straft~itern innerhalb der Europ~iischen Union G~vtz, in: Hailbronner (Hrsg.), Zusammenarbeit der Polizei- und Justizverwaltungen in Europa, 1996, S. 53 ft.; Vogel, JZ 2001, 937 ft.

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c/ Die Europhische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

Die Klassifizierung des Europaischen Haftbefehls als strafprozessuale Zwangsmagnahme und Instrument des Strafverfahrensrechts er6ffnet den Zugang zu zahlreichen Konventionsgarantien, denn anders als auf dem Gebiet der ,,Auslieferung" enth~ilt die EMRK explizit auf das Strafverfahren zugeschnittene Rechte und Verfahrensgarantien, die prim~ir dem Schutz des Beschuldigten dienen und diesen vor einer willktMichen Behandlung im Strafverfahren schtitzen sollen. Dabei muss jedoch sehr genau differenziert werden zwischen der Geltung yon Konventionsrechten im Ausstellungsstaat auf der einen und im Vollstreckungsstaat auf der anderen Seite. Diesem Gedanken wiederum vorgeschaltet ist die Frage der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten ftir die Behandlung einer Person inner- und augerhalb ihres Staatsgebietes.

IV. Verantwortlichkeit von Mitgliedstaaten fiir die Behandlung einer Person inner- und auflerhalb ihres Staatsgebietes

1. Pflicht zur 0berprtifung der Vereinbarkeit des Strafverfahrens im ersuchenden Staat mit der Konvention

Die Vereinbarkeit des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafverfahren mit den Grunds~itzen der EMRK ist eng mit der Frage verkntipft, ob fiir Vertragsstaaten im Rahmen der Rechtshilfe eine Pflicht zur Uberprtifung der ,,Konventionsm~igigkeit" des Strafverfahrens im ersuchenden Staat besteht. Auf dem Gebiet der Auslieferung hfilt der EGMR eine Verletzung yon Art. 6 I EMRK durch den ausliefemden Staat ftir m{3glich, wenn die Auslieferung trotz Kenntnis yon nachweisbaren Umstfinden erfolgen soll, aus denen sich ergibt, dass der Betroffene im ersuchenden Staat einem willktirlichen Strafverfahren ohne die Beachtung minimaler Verfahrensgarantien ausgesetzt wird (,,flagrant denial of a fair trial"). ~ Ob damit die Einhaltung aller oder nur einiger Garantien der EMRK gemeint ist, hat der Gerichtshof- wohl wegen der mit einer solchen Feststellung verbundenen Schwierigkeiten in der Praxis :~ - bisher offengelassen. Eine umfassende Prtifungspflicht wtirde dem Gedanken der Harmonisierung und gegenseitigen Anerkennung des Strafrechts in Europa-" offensichtlich zuwiderlaufen, weil ftir Strafverfahren in allen Vertragsstaaten der EMRK dieselben Mindestanforderungen gelten - Risst man etwaige Vorbehalte an dieser Stelle auger Betracht. Andererseits sind ,,flagrante" Verfahrensm~ingel angesichts der v61kerrechtlichen Bindung aller EU-Mitgliedstaaten an die Grunds~itze der EMRK zumindest theoretisch kaum denkbar. 22

Die in diesem Punkt noch erforderliche Feinabstimmung vemaochte der EGMR

,9 EGMR, Soering (Fn. 9) w w 86, 113; vgl. Ziihlke/Pastille. ZaiSRV 1999. 749. 754 f.: ~ r eine Orientierung an Art. 6 EU Vogel, JZ 2001, 937, 941; die Einhaltung aner Garantien des Art. 6 EMRK fordem: Schomburg/lxtgodny (Fn. 17), w 73 Rn. 50.

20 Siehe: Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 203 f.

'-~ Vgl. hierzu Artt. 29 - 31 EU; Obereinkommen vom 13.11.1991 zwischen den Mitgliedstaaten der Europ~iischen Gemeinschaft tiber die Vollstreckung ausl~indischer strafrechtlicher Verurteilungen; EuropS.isches Ubereinkommen (jJger die {)berwachung bedingt verurteilter oder bedingt entlassener Personen yon 1964 (ETS 51); Europ~iisches Ubereinkommen tiber die internationale Geltung strafgerichtlicher Entscheidungen yon 1970 (ETS 70); Obereinkommen tiber die 0berstellung verurteilter Personen vom 21.3.1983 - UberstUbk (ETS 112); zum Einfluss der EMRK auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Klihl, ZStW 100 (1988), 406, 418 f.

22 Wohl abet im Falle der Auslieferung zur Vollstreckung eines (italienischen) Abwesenheitsurteils: BGH, JZ 2002. 464 mit A n m Vogel; vgl. hierzu Art. 5 Nr, 1 RB. 73

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bisher auch nicht bei der Beantwortung der Frage zu leisten, ob ein Vertragsstaat das in einem anderen Vertrags- oder Drittstaat ergangene Strafurteil einer Kontrolle hinsichtlich der Einhaltung der Konventionsgarantien unterziehen muss, bevor er die darin ausgesprochene Sanktion auf eigenem Territorium vollstreckt. Im Interesse einer verstirkten internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Straf- und Strafprozessrechts mtisste eigentlich auf die Kontrolle strafgerichtlicher Urteile verzichtet werden, die in einem anderen Vertragsstaat der EMRK ergangen sind.

Soweit geht der EGMR aber nicht. Seiner Ansicht nach ist ein Vertragsstaat, der das Urteil eines anderen Staates vollstreckt, jedenfalls nicht zu einer Prtifung verpflichtet, ob das Verfahren, welches Grundlage ftir die Verurteilung war, siimtlichen Anforderungen des Art. 6 EMRK entsprochen hat. Diese Formulierung impliziert, dass zumindest bestimmte Konventionsgarantien in dem auslandischen Strafverfahren eingehalten worden sein mtissen. Die Vertragsstaaten mtissen ihre Kooperation jedenfalls dann versagen, wenn die Verurteilung die Folge einer offensichtlichen Rechtsverweigerung ist (,,flagrant denial of justice")."3 Auch hier hat der EGMR nicht abschliel3end geklirt, welche Konventionsgarantien er als vollstreckungsrechtliche essentialia ansieht. Mit Sicherheit festhalten k6nnen wird man aber, dass die Behandlungsverbote des Art. 3 EMRK eine international anerkannte, absolute Grenze ftir jede Art von Kooperation bei der Vollstreckung ausl~indischer Urteile und Entscheidungen bilden. 24

2. Territoriale Geltung der Konventionsgarantien als Grenze staatlicher Verantwortlichkeit?

In justitiellen Fragen mit transnationalem Bezug stellt sich die grunds~itzliche Frage, ftir welche Handlungen ein Vertragsstaat nach der Konvention verantwortlich ist. Gem~if3 Art. 1 EMRK sichert jeder Vertragsstaat allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die im Ersten Abschnitt der Konvention (Artt. 2 - 18 EMRK) genannten Rechte und Freiheiten zu. Diese auf die territoriale Austibung staatlicher Hoheitsgewalt abstellende Er6ffnung des pers6nlichen Schutzbereichs der Konventionsgarantien hat zur Folge, dass sich alle Personen, insbesondere auch Ausl~inder, die sich aufdem Territorium eines Vertragsstaates aufhalten, diesem Staat gegentiber auf die Einhaltung der Konventionsgarantien berufen k6nnen (Territorialit~itsprinzip). Eine andere Frage ist, ob die Austibung von ,,Hoheitsgewalt" (,,jurisdiction") im Sinne von Art. 1 EMRK auf das Territorium eines Staates beschr~inkt ist oder ob ein Staat unter bestimmten Voraussetzungen auch ftir das extraterritoriale Handeln seiner Organe - genauer: ftir die daraus augerhalb seines Territoriums eintretenden Auswirkungen - verantwortlich ist. 25

23 EGMR, Drozd u. Janousek vs. Frankreich u. Spanien, Serie ANr. 240, w 110. Diesen Ansatz hat der Gerichtshof im Urteil Iribarne P~rez dahingehend best~itigt, dass Art. 5 IV EMRK nicht die erneute Uberpriifung der Rechtm~igigkeit einer lnhaftierung verlangt, wenn ein Beschuldigter die gegen ihn in einem Nichtvertragsstaat verhangte Freiheitsstrafe in einem Vertragsstaat der Konvention verbi~Bt: EGMR, lribarne Pdrez vs. Frankreich, Serie A Nr. 325- C, w167 29-33 (,,incorporated in its judgment").

2, Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 197-201.

:~ EKMR, Zypern vs. Tiirkei, Entseheidung v. 10.7.1978, Decisions and Reports (DR) 13, 85 ft.; EGMR, Drozd u. Janousek vs. Frankreich u. Spanien, Serie ANr. 240, w 91, hierzu: Husheer, ZEuS 1998, 389, 396; Rumpf, EuGRZ 1991, 199 ff.

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Die Europ/iische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

Dieser Problematik hat sich der EGMR jfingst bei der f}berprtifung der Festnahme des PKK-Ffihrers Ocalan 26 in Kenia durch staatliche ttirkische Sicherheitskr~ifte zugewandt und dabei - unter Bezugnahme auf die den NATO-Einsatz in Jugoslawien betreffende Entscheidung Bankov i6 27 - festgestellt, dass nach den Regeln des internationalen V/31kerrechts die Hoheitsgewalt eines Staates in erster Linie auf sein Temtorium beschr~inkt ist, zugleich aber die Austibung staatlicher Hoheitsgewalt auBerhalb des eigenen Territoriums dadurch nicht ausgeschlossen ist. Weil eine solch extraterritoriale Hoheitsgewalt ihre Grenze in den souver~inen Hoheitsrechten des anderen Staates findet, daft ein Staat auf dem Territorium eines anderen Staates ohne dessen Einverst~indnis oder Duldung bekanntlich keinerlei Hoheitsgewalt ausfiben. 28 Beztiglich milit'a_rischer Aktionen hatte der Gerichtshof bereits in den staatspolitisch brisanten Urteilen L o i z i d o u und in den gegen die Ttirkei gerichteten Staatenbeschwerden Zyperns die extraterritoriale Verantwortlichkeit eines Staates im Sinne von Art. 1 EMRK (nur) ffir den Fall angenommen, dass die staatlichen Organe eine ,, ef fek t ive K o n t r o l l e " fiber das fremde Hoheitsgebiet ausfiben. 29 Dartiber hinaus rechnet der EGMR einem Staat das extratemtoriale Handeln seiner Organe zu, wenn es eine diplomatische oder konsularische TStigkeit betrifft oder an Bord eines Flugzeugs oder Schiffes geschieht, das unter der Flagge dieses Staats registriert ist. 3~

V. Die Steilung des ,,Beschuldigten" im Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat

Wenden wir uns nun der Frage zu, auf welche Rechte und Verfahrensgarantien der EMRK sich der vonder Vollstreckung eines Europaischen Haftbefehls Betroffene - unter Berficksichtigung der Grunds~itze zur intemationalen Staatenverantwortlichkeit - in einem Vertragsstaat der EMRK berufen kann. MaBgeblich ist, ob der sachliche Anwendungs- und Schutzbereich dieser Konventionsgarantien ftir ihn pers6nlich er6ffnet ist. Ohne Zweifel daft eine festgenommene Person weder im Ausstellungs- noch im Vollstreckungsstaat einer Folter bzw. unmenschlichen oder emiedrigenden Behandlung ausgesetzt werden (Art. 3 EMRK). Den Konventionsgarantien der Ai'tt. 5 und 6 EMRK wohnt dagegen in einem Verfahren der Festnahme im Ausland und fJbergabe an den strafverfolgenden Staat, wie es der Europ/iische Haftbefehl vorsieht, eine transnationale Problematik inne, die eine r~iumlich isolierte Betrachtung der Beschuldigtenrechte im Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat verlangt.

1. Die Stellung des Beschuldigten im Ausstellungsstaat

a. Verantwortlichkeit des Ausstellungsstaates for die Festnahme im Ausland, Art. 5 I EMRK

Da die Fesmahme des Beschuldigten im Vollstreckungsstaat und damit nicht auf dem Territorium des Ausstellungsstaates erfolgt, ist dessen p r i m d r e t e r r i t o r i a l e

26 EGMR, Ocalan vs. Tiirkei, Urteil v. 12.3.2003, mit Anm. Kiihne, JZ 2003, 670 ft.

27 EGMR, Bankovid u.a. vs. Belgien und 16 andere Vertragsstaaten, Entscheidung v. 12.12.2001, Reports 2001-XII, w167 59-60, 67; vgl. hierzu: Ress, ZEuS 2003, 74, 80 ft.

2~ EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 93 (,,a State may not actually exercise jurisdiction on the territory of another without the latter's consent, invitation or acquiescence").

2~ EGMR, Loizidou vs. Tiirkei, Serie A Nr. 310 (Verfahrenseinrede), Reports 1996-VI (Hauptsache); Zypen~ vs. Tiirkei, Urteil v. 10.5.2001, w167 76-81; vgL Heintze, German Yearbook of lnlernational Law (GYIL) 2002, 60, 65 ft.

EGMR, Bankovi6 u.a (Fn. 27) w 72. 75

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Hoheitsgewalt im Sinne von Art. 1 EMRK zu diesem Zeitpunkt nicht beriihrt. Nach den Gmnds~itzen zur extraterritorialen Verantwortlichkeit eines Staates begrtindet die Mitplanung und Veranlassung einer Festnahme im Ausland, deren Durchftihrung allein durch die Sicherheitskr~ifte des ausl~indischen Staates erfolgt, nicht die Verantwortlichkeit des mitplanenden Staates im Sinne von Art. 1 EMRK. 31 Erfolgt dagegen die Festnahme einer Person durch eigene staatliche Organe im Ausland, d.h. auf dem Territorium eines anderes Staates ohne dessen Zustimmung, so stellt diese Festnahme eine Verletzung des Rechtes der festgenommenen Person auf Freiheit und Sicherheit aus Art. 5 I EMRK dar, ftir die der durch seine Organe ,,handelnde" Ausstellungsstaat im Sinne von Art. 1 EMRK verantwortlich ist. 3'-

Ftir die Vollstreckung eines Europfiischen Haftbefehls, d.h. die Festnahme und Inhaftierung der gesuchten Person, w~ire der Ausstellungsstaat nur dann verantwortlich, wenn seine Organe an dieser Festnahme in einer der Hoheitsgewalt des Vollstreckungsstaates widersprechenden Art und Weise mitwirken, 33 wobei die Beurteilung der Verantwortlichkeit des Ausstellungsstaates for die Festnahme strikt v o n d e r Frage zu trennen ist, ob die Freiheitsentziehung ftir den - territorial verantwortlichen - Vollstreckungsstaat eine Verletzung des Art. 5 I EMRK bedeutet. 34

Die Beteiligung von Vertretern des Ausstellungsstaates bei der Festnahme des Tatverd~chtigen in einem anderen EU-Mitgliedstaat sieht das Verfahren zur Vollstreckung des Europ~iischen Haftbefehls nicht vor. Zwar k6nnen auch Akte eines Staates, denen aufgrund v61kerrechtlicher Vereinbarung unmittelbare rechtliche Wirkung auf dem Gebiet des ausl~indischen Staates zukommt, die Aus~Jbung extraterritorialer Hoheitsgewalt des den Akt erlassenden Staates begr~inden, ohne dass dieser im Ausstellungsstaat handelt. 3s Der Erlass des - unmittelbar europaweit vollstreckbaren - Europfiischen Haftbefehls als solcher ist jedoch kein die Verantwortlichkeit des Ausstellungsstaates im Sinne von Art. 1 EMRK fiir die Festnahme ausl6sender Umstand, weil die Garantien des Art. 5 I EMRK an den Akt der Freiheitsentziehung und nicht wie Art. 6 EMRK an den Verfahrensstatus der betroffenen Person ankntipfen.

Der Ausstellungsstaat ist daher far die Festnahme und Inhaftierung des Tatverd~ichtigen im Austand nicht gem~it3 Art. 5 I EMRK in Verbindung mit Art. 1 EMRK verantwortlich. Ab dem Zeitpunkt der Obergabe der festgenommenen Person gelten far den Ausstellungsstaat freilich die allgemeinen Regeln territorialer Verantwortlichkeit, auch und gerade im Hinblick auf die RechtmgBigkeit der

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3~ Im Fall EGMR, Stock~ vs. Deutschland, Sene A Nr. 199, war die Fesmahme des Bf. erst in Deutschland erfolgt, nachdem dieser durch eine Privatperson get~iuscht - nut Kennmis der deutschen Beh6rden - aus dem Ausland nach Deutschland gekommen war; vgl. hierzu Trechsel EuGRZ 1987, 69, 76.

32 EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 89 (,,an arrest made by the authorities of one State on the territory of another State, without the consent of the latter, affects the person's individual rights to security under Article 5 w 1").

33 EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 92; Stockd (Fn. 31) w 54 (,,acted extraterritorially in a manner that is inconsistent with the sovereignty of the host State and therefore contrary to international law").

34 EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 92 (,,independently of the question whether the arrest amounts to a violation of the law of the State in which the fugitive has taken refuge").

35 EKMR, X & Yvs. Schweiz, DR 9, 57, 71 ft. (= EuGRZ 1977, 497).

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~ / Die Europ~iische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

Freiheitsentziehung, die sich auf seinem Territorium fortsetzt. Aus dieser Konzeption resultiert fiir den Betroffenen keine Schutzlticke. Er kann die Einhaltung s~imtlicher Garantien des Art. 5 EMRK gegeniiber dem auf seinem Territorium handelnden Vollstreckungsstaat verlangen.

b. Geltung der Beschuldigtenrechte im Ausstellungsstaat, Art. 6 EMRK

Ob sich ein Tatverd~ichtiger im Ausstellungsstaat auf die Beschuldigtenrechte aus Art. 6 EMRK berufen kann, h~ingt von dem Zeitpunkt ab, von dem an der sachliche und zeitliche strafrechtliche Anwendungsbereich dieser Vorschrift er6ffnet ist. Schon im Urteil Imbrioscia hat der EGMR darauf hingewiesen, dass Art. 6 1 EMRK auf das dem gerichtlichen Strafprozess vorgelagerte Ermittlungsverfahren Anwendung findet, weil das Strafverfahren in seiner Gesamtheit durch anf~ngliche M~ingel beeintr~ichtigt werden kann? 6 ,,Anklage" im Sinne von Art. 6 I EMRK meint jedenfalls nicht (erst) die f6rmliche Anklage und {)berstellung eines Beschuldigten an ein Strafgericht, sondern den Zeitpunkt, zu dem eine Person tiber einen gegen sie bestehenden Tatverdacht offiziell informiert wird oder ihr gegentiber eine Mal3nahme ergriffen wird, die einen solchen Vorwurf beinhaltet? '

Beim Europ~iischen Haftbefehl kommt es fiir den Beginn der strafrechtlichen Anklage und damit ftir die prinzipielle Er6ffnung s~imtlicher Beschuldigtenrechte des Art. 6 EMRK entweder auf den Erlass des Haftbefehls im Ausstellungsstaat oder auf die Festnahme des Beschuldigten im Vollstreckungsstaat an. Regelm~il3ige Ankntipfungspunkte ftir den Beginn der Anklage sind die Festnahme und die Inhaftierung einer Person? 8 Eine Haftanordnung kommt als Beginn der Anklage in Betracht, wenn die sp~itere Festnahme aufgrund dieser Anordnung erfolgt? 9 Mitunter hat der EGMR auch auf die Kenntnis des Beschuldigten von den gegen ihn gefiihrten Ermittlungen abgestellt? ~

Will man den Beschuldigten im Ausstellungsstaat nicht v611ig schutzlos stellen, muss man im Erlass des Haftbefehls und dessen 6ffentlicher Bekanntmachung die Erhebung der Anktage im Sinne yon Art. 6 t EMRK sehen. Demzufolge kann sich der Beschuldigte im Ausstellungsstaat von diesem Moment an auf s~imtliche, im Ermittlungsverfahren einschl~igigen Garantien des Art. 6 EMRK berufen, freilich nicht unbedingt in demselben Umfang wie im gerichtlichen Verfahren. Schon an dieser Stelle sei auf das mit der Auslieferung verbundene Problem der Berticksichtigung einer Inhaftierungszeit im Ausland als ,,inl~ndische"

36 EGMR, lmbrioscia vs. Schweiz, Serie A Nr. 275, w 36.

37 EGMR, Hozee vs. Niederlande, Reports 1998-In, w167 43, 45; vgl. auch Eckle vs. Deutschland, Serie A Nr. 51, w 73; Serves vs. Frankreich, Reports 1997-VI, w 42; Reinhardt u. KaM vs. Frankreich, Reports 1998-1I, w 93.

38 Vgl.: EGMR, Wemhoffvs. Deutschland, Serie A Nr. 7; Moreira de Azevedo vs. Portugal, Serie A Nr. 189; Alimena vs. ltalien, Serie A Nr. 195-D; Viezzer vs. ltalien, Serie ANr. 196-B; Maj vs. Imlien, Serie A Nr. 196-D; Abdoella vs. Niederlande, Serie A Nr. 248-A; Dobbertin vs. Frankreich, Serie A Nr. 256-D; Bunkate vs. Niederlande, Serie A Nr. 248-B; Yagci u. Sargin vs. Tiirkei, Serie ANr. 317-B; Ferrantelli u. Santangelo vs. ltalien, Reports 1996-II1; Mitap u. Miifiiioglu vs. Tiirkei, Reports 1996-II.

39 EGMR, Girolami vs. ltalien, Serie A Nr. 196-E; Ferraro vs. ltalien, Serie A Nr. 197-A; Triggiani vs. ltalien, Serie A Nr. 197-B; Boddaert vs. Belgien, Serie A Nr. 235-D.

4~ EGMR, Eckle vs. Deutschland, Serie A Nr. 51; Corigliano vs. Italien, Serie ANr. 57; Milasi vs. ltalien, Serie ANr. 119; Motta vs. Italien, Serie A Nr. 195-A; Pugliese vs. ltalien, Serie A Nr. 195-C; Ficara vs. ltalien, Serie A Nr. 196- A; Mori vs. Italien, Serie A Nr. 197-C; Adiletta vs. ltalien, Serie A Nr. 197-E. 77

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Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 I EMRK hingewiesen. In einigen Entscheidungen hat der EGMR Zeitraume nicht in die auf ihre Angemessenheit lain zu tiberprtifende ,,Frist" einbezogen, in denen sich der Beschuldigte auf der Flucht befand oder aus einem anderen Grund nicht dem Zugriff der nationalen BehOrden unterlag. 4~ Dies wird man im Lichte der nun folgenden Konzeption ebenfalls tiberdenken mtissen.

2. Die Stellung des Beschuldigten im Vollstreckungsstaat

Rechtsdogmatisch weitaus interessanter ist die Frage, in welchem Umfang sich ein Tatverd~ichtiger - und ab Erlass des Haftbefehls im Ausstellungsstaat ,,Angeklagter" im Sinne von Art. 6 EMRK - auf die Garantien der EMRK in dem um Rechtshilfe ersuchten Vollstreckungsstaat bis zu seiner Ubergabe an den ersuchenden Ausstellungsstaat berufen kann.

a. Art. 5 EMRK

Die Inhaftierung des Beschuldigten im Vollstreckungsstaat ist diesem unmittelbar zuzurechnen. 42 Sie muss sich wie jede andere Art der Freiheitsentziehung an Art. 5 I EMRK messen lassen, der im Gegensatz zu Art. 6 EMRK nicht an die Anklageerhebung, d.h. an den Beschuldigtenstatus des Tatverd~ichtigen ankntipft.

(1) Allgemeine Grunds~itze zur Freiheitsentziehung, Art. 5 I EMRK

Dass ein Tatverd~chtiger aufgrund einer zwischenstaatlichen Kooperation an den um Auslieferung bzw. {)bergabe ersuchenden Staat iibergeben wird, macht seine Festnahme im ersuchten Staat for sich betrachtet keineswegs rechtswidrig. 43 FOr diese Festnahme und die anschliel3ende Inhaftiemng gelten die allgemeinen Rechtm~igigkeitsvoraussetzungen flit Freiheitsentziehungen. Die Festnahme einer Person muss nicht durch einen Richter angeordnet werden, daftir aber von strengen prozessualen Sicherheiten begleitet sein. Dazu geh6ren - unabh~ingig vom Haftgrund - neben der Vereinbarkeit mit der gesetzlichen Grundlage im nationalen Recht die unverztigliche Mitteilung der Festnahmegriinde und der erhobenen Beschuldigungen (Art. 5 II EMRK) sowie die Einrichtung eines gerichtlichen Verfahrens zur fQberpriJfung der Rechtm~igigkeit der Freiheitsentziehung (Art. 5 IV EMRK).

Dem Wortlaut des Art. 5 I EMRK ist kein Ubermagverbot fiir Festnahmen und Freiheitsentziehungen zu entnehmen. Diesem im Konventionstext angelegten Mangel hat der EGMR dadurch abgeholfen, dass er den schon bei der Anordnung der Haft erforderlichen Schutz vor unverhfiltnism~igigen Inhaftierungen in die Kontrolle der Rechtmiifligkeit der Freiheitsentziehung, des Willkiirverbots und der Angemessenheit der Haftdauer verlagert. Ffir Festnahmen besteht aul3erdem eine umfassende Dokumentations- und Nachweispflicht, die sich in der Haft fortsetzt. Die

~ In den Entscheidungen Girolami und Boddaert (Fn. 39) konnten Haftbefehle nicht vollstreckt werden. Die Zeit, w~ihrend der sich die Bf. im Ausland befanden, blieb bei der Berechnung der Verfahrensdauer unberiicksichtigt.

4z Ebenso Vogel, JZ 2001, 937, 943.

43 EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 90; vgl. auch die Entscheidungen der EKMR in den F~illen Freda vs. Itaiien, Entsch. v. 7.10.1980, DR 21, 250; Klaus Altmann (Barbie) vs. Frankreich, Entsch. v. 4.7.1984, DR 37, 225; Luc Reinette vs.

78 Frankreich, Entsch. v. 2.10.1989, DR 63, 189.

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mit der Fesmahme befassten staatlichen Stellen mtissen das Datum, die Zeit und den Oft der Festnahme ebenso dokumentieren und aufbewahren wie den Namen der festgenommenen Person, die Griinde ftir ihre Festnahme sowie den Namen der die Festnahme durchftihrenden Personen. Der Aufenthalt einer inhaftierten Person muss jederzeit nachvollziehbar sein, vor allem dann, wenn sie in eine andere Haftanstalt verlegt wird."

(2) Vorliegen eines Haftgrundes nach Art. 5 I EMRK

Art. 5 1 EMRK enth~ilt eine abschliel3ende Liste von F~illen, in denen die Konvention eine Freiheitsentziehung erlaubt. Die Voraussetzungen der dort genannten Haftgrtinde miissen eng ausgelegt werden. Zu Recht hat der EGMR allen Versuchen eine Absage erteilt, die Festnahme- und Haftgriinde des Art. 5 I EMRK aus ermittlungstaktischen Grtinden oder wegen der Probleme bei der Bek~impfung der Organisierten Kriminalit~it extensiv zu interpretieren? 5

(a) Der klassische strafprozessuale Haftgrund, Art. 5 I (c) EMRK

Art. 5 I (c) EMRK enth~ilt drei alternative Grtinde, bei deren Vorliegen eine Freiheitsentziehung zum Zweck der Vorfiihrung einer Person vor die zust~indige Gerichtsbeh6rde erfolgen darf. Der wichtigste Fall ist das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts gegen eine Person (,,reasonable suspicion"). Ein hinreichender Verdacht setzt das Vorhandensein von Tatsachen voraus, die einen objektiven Betrachter zu der Annahme verleiten, dass die betreffende Person eine Straftat begangen haben k6nnte? 6 Die beiden anderen Haftgriinde des Art. 5 I (c) EMRK erlauben eine Freiheitsentziehung zur Verhinderung yon Straftaten dutch die festzunehmende Person bzw. zur Verhinderung ihrer Flucht, nachdem sie eine Straftat begangen hat. Im Verfahren der Vollstreckung eines Europ~iischen Haftbefehls ist in den allermeisten F~illen bereits der erste Haftgrund des Art. 5 I (c) EMRK einschlagig.

Jede nach Art. 5 I (c) EMRK festgenommene Person muss automatisch, d.h. ohne Antrag, und unverz0glich einem Richter oder einer anderen zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben erm~ichtigten Person vorgeffihrt werden, die entweder fiber die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung oder in der Sache selbst entscheidet (Art. 5 III 1 EMRK). 47 Die Vorfiihrung der festgenommenen Person ist auch dann erforderlich, wenn - wie in der Konzeption des Europ~iischen Haftbefehls - die Festnahme auf einer gerichtlichen Haftanordnung beruht. 48 Eine Vorfiihrung innerhalb von zwei Tagen nach der Festnahme kann (noch) als unverziiglich

EGMR, Kurt vs. Tiirkei, Reports 1998-III, w 124-126, 139-140; Cakici vs. Tiirkei, Reports 1999-IV, 105-107.

'~ EGMR, Engel u.a. vs. Niederlande, Serie A Nr. 22, w 57; lrland vs. Vereinigtes KOnigreich, Serie ANr. 25, w 194; Guzzardi vs. ltalien, Serie A Nr. 39, w 96; Bouamar vs. Belgien, Serie A Nr. 129, w 43; Ciulla vs. ltalien, Serie A Nr. 148, w 41; Quinn vs. Frankreich, Serie A Nr. 311, w 42; Lukanov vs. Bulgarien, Reports 1997-I1, w 41; Eriksen vs. Norwegen, Reports 1997-III, w 76; K.-E vs. Deutschland, Reports 1997-VI1, w 70.

46 EGMR, Fox, Campbell u. Hartley vs. Vereinigtes KSnigreich, Serie A Nr. 182, w 32; ErdagSz vs. Tiirkei, Reports 1997- VI, w 51; K.-E vs. Deutschland, Reports 1997-V11, w 57.

47 EGMR, Lawless vs. lrland. Sefie A Nr. 3, w 14; lrland vs. Vereinigtes K6nigreich, Serie A Nr. 25, 9w 196, 199; Schiesser vs. Schweiz, Serie ANr. 34, w 29; De Jong, Baljet u. van den Brink vs. Niederlande, Serie ANr. 77, w 44; Ciulla (Fn. 45) w 38.

48 EGMR, McGoffvs. Schweden, Serie A Nr. 83, w167 12-13, 27. 79

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angesehen werden, was dagegen bei einem Zeitraum von 4 Tagen und 6 Stunden nicht mehr der Fall ist? 9 Wird eine Person nach ihrer Festnahme in ein anderes Land ausgeliefert, ohne zuvor im Festnahmestaat vorgefiihrt worden zu sein, und erfolgt die Vorfahrung demzufolge erst in dem um Auslieferung ersuchenden Staat, ist bei der Beurteilung der Unverziiglichkeit der Vorf6hrung auch die Zeit zwischen der Fesmahme und der Llbergabe an den ersuchenden Staat zu berficksichtigen. Zwar trifft den Staat, in den die Person ausgeliefert wird, far diesen Zeitraum keine unmittelbare Verantwortung. Dies schliegt jedoch nicht zwangsl~iufig aus, dort die bereits vor der Auslieferung verstrichene Haftzeit zu berficksichtigen, vor allem wenn man berficksichtigt, dass die Festnahme gerade aufgrund des Ersuchens dieses Staates effolgt ist. s~

Die Stelle, der eine festgenommene Person vorgeffihrt wird, muss nicht nur unabh~ingig und unparteilich sein, sondern auch die Kompetenz besitzen, nach pers6nlicher Anh6mng der festgenommenen Person tiber deren Freilassung zu entscheiden2 ~ In der die Vorffihrung abschliel3enden Entscheidung mfissen diejenigen Tatsachen benannt werden, auf die sich die Entscheidung stfitzt, s2 Aus dem Art. 5 III 2 EMRK immanenten Beschleunigungsgebot leitet der EGMR ein Recht des inhaftierten Beschuldigten auf eine besonders z~gige Verfahrensftihrung ab. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer spielen nicht nur die yon den nationalen Stellen herangezogenen Grtinde, sondern auch die konkrete Art der Verfahrensftihrung eine Rolle. Sowohl auf Seiten der Justiz als auch beim Beschuldigten hat der EGMR diverse Verschuldens- und Zurechnungsgesichtspunkte entwickelt.

(b) Der Haftgrund der Auslieferung bzw. Ausweisung, Art. 5 I (f) EMRK

Art. 5 I (f) EMRK erlaubt die rechtmfigige Festnahme oder Freiheitsentziehung bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Austieferungsverfahren im Gange ist. Ein solches Ausliefemngsverfahren ist aus zwei Grtinden denkbar: zur Durchffihrung eines Strafverfahrens gegen die auszuliefemde Person in einem anderen Land oder zur Vollstreckung eines gegen den Beschuldigten bereits ergangenen Strafurteils? 3 FOr die Inhaftiemng nach Art. 5 I (f) EMRK ist ein hinreichender Verdacht, dass die betroffene Person andernfalls eine strafbare Handlung begehen oder fltichten wird, nicht erforderlichr 4 Der EGMR prfift lediglich die Konventionsm~,igigkeit der Haft, nicht aber die RechtmSgigkeit der Ausliefemng. Letztere daft allerdings nicht prima facie unzul~issig oder unbegrandet sein. s~

~9 Vgl. EGMR, Aquilina w'~ Malta, Reports 1999-II[, w167 8-9, 51.

~a hn Urteil McGoff hat der EGMR lediglich auf die Inhaftiemngszeit in dem Land abgestellt, in das der Beschuldigte ausgeliefert worden war. Dieser Ansatz d•rfte jedoch nicht verallgemeinemngsf~.hig sein, weil im konkreten Fall bereits der Zeitranm vonder Ubergabe bis zur Vorffihrung offensichtlich nicht mehr den Anfordemngen an eine unverziigliche Vorftihrung im Sinne yon Art. 5 III EMRK entsprochen hatte: EGMR, McGoff (Fn. 48) w167 12-13, 27 (Fesmahme: 10.07.1979; Ausliefemng: 24.1.1980; Vorfahmng: 8.2.1980).

5, EGMR, Schiesser (Fn. 47) w167 31, 36; De Jong, Baljet u. van den Brink (Fn. 47) w 51; Nikolova vs. Bulgarien, Reports 1999-II, w 49 (,,must hear the individual brought before him in person").

,2 EGMR, Hood vs. Vereinigtes KOnigreich, Reports 1999-I, w 60: Aquilina (Fn. 49) w167 47, 52.

" Art. 5 I (t) EMRK betrifft nicht nur Auslfinder, sondem auch eigene Staatsangeh6fige (aA: LR/Gollwitzer. MRK Art. 5 Rn. 84).

v 54 EGMR, Conka vs. Belgien (51564/99), Entsch. v. 5.2.2002.

5~ EGMR, Sanchez-Reisse vs. Schweiz, Serie A Nr. 107, w 57 (= EuGRZ 1988, 523).

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Die EuropSische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

Die Haft steht selbst dann mit Art. 5 1 (f) EMRK in Einklang, wenn die Auslieferung nicht erfolgt, z.B. weil sich im Laufe des Verfahrens ihre Unrechtm~il3igkeit herausstellt. Eine Inhaftierung auf der Grundlage von Art. 5 I (f) EMRK scheidet allerdings aus, sobald ein Gericht das Auslieferungsbegehren des Staates abschlagig beschieden hat. s6

Wie jede andere Freiheitsentziehung auf der Grundlage des Art. 5 I EMRK muss auch die Inhaftierung zum Zwecke der Auslieferung rechtmiiflig sein. Als Tell ihrer Rechtmiifligkeit prtift der EGMR, ob sie einem anderen Zweck als dem ftir ihre Anordnung angeftihrten dient oder gar eine ,,verkappte" Untersuchungshaft darstellt (,,pre-trial detention in disguise").57 Vom Wortlaut her verlangt Art. 5 I (f) EMRK lediglich, dass gegen die festzunehmende Person ein Auslieferungsverfahren im Gange ist. Ob die Entscheidung zur Auslieferung dem jeweiligen nationalen Recht oder der Konvention entspricht, ist unerheblich? 8 Die Freiheitsentziehung wird gerechtfertigt durch die blol3e Tatsache der Einleitung eines Auslieferungsverfahrens in Verbindung mit der Absicht, die Auslieferung sicherzustellen, s9

Die Ausgestaltung des Verfahrens im Anschluss an die Festnahme ist in Art. 5 I (f) EMRK nicht n~iher beschrieben. Da die formelIen Garantien des Art. 5 III EMRK rlur ftir Freiheitsentziehungen auf der Grundlage des Art. 5 I (c) EMRK gelten und auf die Auslieferung keine Anwendung finden, hat der EGMR unmittelbar aus Art. 5 1 (f) EMRK zwei zentrale Verfahrensgarantien abgeleitet: die Verh~iltnism~igigkeit der Inhaftierung und die Angemessenheit ihrer Dauer. Gem~il3 dem Wortlaut der Vorschrift ist eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 I (f) EMRK nur zul~issig, solange gegen die betroffene Person ein Auslieferungsverfahren im Gange ist. Hieraus leitet der Gerichtshof ein Beschleunigungsgebot ftir Auslieferungsverfahren ab. 6~

(c)Zum Konkurrenzverh~iltnis der Haftgrtinde des Art. 5 I EMRK bei der Vollstreckung des Europ~iischen Haftbefehls

Je nach den Umstfinden des Einzelfalls kann eine Inhaftierung auch durch mehrere Haftgrtinde des Art. 5 1 EMRK gerechtfertigt sein. 6~ Kommen mehrere Haftgrtinde in Betracht, soll der letztlich einschl~igige im Lichte von Ziel und Zweck des Art. 5 EMRK zu ermitteln sein. 62 Erfolgt die Festnahme einer Person im Ausland aufgrund eines Auslieferungsersuchens zur Sicherung der Strafverfolgung im ersuchenden Staat, so ist letzterer fur die Dauer der Inhaftierung nicht verantwortlich. Es handelt sich hier um eine herk6mmliche Auslieferungshaft zum Zwecke der Strafverfolgung

56 EGMR, Bozano vs. Frankreich, Serie A Nr. 111 (wegen eines VerstoBes gegen den ordre public); zusammenfassend: Villiger (Fn. 10) Rn. 339-341.

~7 Allein aus der Tatsache, dass strafrechtliche Untersuchungen und ein Auslieferungsverfahren parallel geftihrt werden, kann jedoch nicht auf einen Missbrauch des Auslieferungsverfahrens fiir Zwecke des nationalen Rechts geschlossen werden: EGMR, Quinn (Fn. 45) w 47.

58 EGMR, Chahal vs. Vereinigtes KOnigreich, Reports 1996-V, w 112 (,,immaterial ... whether the underlying decision to expel can be justified under national or Convention law").

29 Frowein/Peukert (Fn. 10) Art. 5 Rn. 98.

~'~ EGMR, Quinn (Fn. 45) w 48; Chahal (Fn. 58) w 113.

~ EGMR, Eriksen vs. Noru'egen, Reports 1997-HI, w 76: Johnson vs. Verebdgtes KdJligreich, Reports 1997-VII, w 58.

~: EGMR, Ringeisen vs. Osterreich, Serie A Nr. 13. w167 109-110: Scott vs. Spanien, Reports 1996-VI, w 52. 81

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im ersuchenden Staat, die unter Art. 5 I (f) EMRK f~illt und ftir die allein der festnehmende, ersuchte Staat verantwortlich ist. 63 Die Angemessenheit ihrer Dauer ist nicht nach Art. 5 III EMRK, sondern nach Mal3gabe des unmittelbar aus Art. 5 I (f) EMRK abzuleitenden Beschleunigungsgebotes zu beurteilen. 6~ Die nach Mal3gabe des Art. 5 III 1 EMRK zu tiberprtifende Freiheitsentziehung beginnt erst mit der sich an die Auslieferung anschlief3enden Untersuchungshaft im ersuchenden Staatr 5

Welche Verfahrensgarantien die EMRK for die Festnahme und anschliel3ende Inhaftierung einer Person auf der Grundlage eines Europ~iischen Haftbefehls verlangt, h~tngt also davon ab, welcher Haftgrund des Art. 5 I EMRK ffir die Freiheitsentziehung bis zur Ubergabe der Person an den Ausstellungsstaat einschliigig ist, s~ Der Text des EU-Rahmenbeschlusses ~iuBert sich zu dieser Frage nicht. Dies ist deshalb problematisch, well die festgenommene Person aufgrund des aufgezeigten Konkurrenzverh~iltnisses yon Art. 5 I (c) zu Art. 5 I (f) EMRK nur dann in den Genuss der Verfahrensgarantien des Art. 5 III EMRK kommt, wenn ihre Festnahme im Vollstreckungsstaat (materiell) wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat und (formell) zur Vorfiihmng vor die zust~indige Gerichtsbeh6rde erfolgt (Art. 5 I (c) EMRK). Sieht man dagegen in der Ubergabe der festgenommenen Person an den Ausstellungsstaat das einzige Ziel der Inhaftierung, l~ige die Annahme einer Freiheitsentziehung zum Zwecke der Auslieferung im Sinne von Art. 5 I (f) EMRK nahe. Gem~il3 Art. 1 I RB bezweckt der Europ~ische Haftbefehl die ,, (]bergabe einer gesuchten Person ... zur Strafverfolgung" im Ausstellungsstaat. Die Festnahme verfolgt also zumindest auch das Ziel einer Vorfiihrung der festgenommenen Person vor eine gerichtliche Stelle.

Diese Betrachtungsweise wird auch dem Umstand gerecht, dass ausweislich Art. 31 I RB und der Erw~igungsgrtinde Nr. 5, 11 zum EU-Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 alle frtiheren Instrumente beztiglich der Auslieferung zwischen den EU- Mitgliedstaaten ,,abgeschafft" und durch eine System der Ubergabe zwischen Justizbeh6rden ,,ersetzt" werden sollen. Der somit im Vordergrund stehende strafprozessuale Charakter des {Sbergabeverfahrens spricht daftir, die transnationale ,, Obergabe" von Tatverd~ichtigen zuktinftig nicht mehr als ,,Auslieferung" im Sinne von Art. 5 I (f) EMRK, sondern als ,,Strafverfolgung" im Sinne von Art. 5 I (c) EMRK zu klassifizieren. Demnach hat jede aufgrund eines Europ~iischen Haftbefehls festgenommene Person im Vollstreckungsstaat ein Recht auf Vorft~hrung vor eine gerichtliche Stelle im Sinne von Art. 5 III EMRK.

Eine solche obligatorische Vorftihrung jeder festgenommenen Person sieht der EU- Rahmenbeschluss lediglich ftir Personen vor, die ihrer {)bergabe an den Ausstellungsstaat nicht zugestimmt haben (Art. 13 RB). Ein ,,Recht aufVernehmung"

63 Frowein/Peukert (Fn. 10) Art. 5 Rn. 98.

~" EGMR, Kolompar vs. Belgien, Serie A Nr. 235-C. w167 40-43. Auch hier spielen Zurechnungs- und Verschuldensgesichtspunkte eine Rolle.

~ EKMR, E 5078/71, CD 4@ 35 (40): FrowehT/Peuker! (Fn. 10) Art. 5 Rn. 120.

ZusS.tzliche Konkurrenzprobleme bei den Haftgriinden der Art. 5 I (c) und (f) EMRK ergeben sich insbesondere, wenn gegen die festgenommene Person auch im Vollstreckungsstaat wegen straPoarer Handlungen ermittelt wird. Dies ist

82 jedoch nicht die Grundkonstellation, die dem Europ~iischen Haftbefehl zugrunde liegt.

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Die Europiiisehe Mensehenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

(Artt. 14, 19 RB), d.h. auf Vorffihrung vor eine gerichtliche Stelle, steht aber gem~ig Art. 5 Ill 1 EMRK jeder festgenommenen Person zu und daft nicht v o n d e r unterbliebenen Zustimmung zur Ubergabe an den Ausstellungsstaat abh~ingen. Ein EMRK-konformes Vorftihrungsverfahren k6nnte daher einzig und allein in Art. 12 Satz 1 RB niedergelegt sein, der vorsieht, dass die ,,vollstreckende JustizbehiSrde entscheidet, ob die gesuchte Person nach Maflgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist". Das dieser Entscheidung zugrundeliegende Verfahren ist im Lichte des Art. 5 III 1 EMRK auszugestalten. ,, VoIlstreckende Justizbeh6rde" (Art. 6 III RB) muss daher ein unabh~ngiger und unparteilicher Richter oder eine gerichts~hnliche Stelle - nicht abet eine Staatsanwaltschaft - sein. Augerdem ist die Entscheidung ,,unverziiglich" nach der Festnahme zu treffen. 67

H~ilt man wie der Verfasser als Haftgrund den Art. 5 I (c) EMRK ftir einschl~igig, so gew~ihrt Art. 5 III 2 EMRK dem Festgenommenen einen Anspruch auf Freilassung, wenn er ,,angemessene Garantien" ftir sein Erscheinen vor dem Strafgericht vorweisen kann. Die in Art. 12 Satz 2 RB geregelte M6glichkeit einer vorl~iufigen Haftentlassung muss unter Beriicksichtigung der Entscheidungspraxis des EGMR zu Art. 5 Ill 2 EMRK interpretiert werden. 6~

(3) Information tiber die HaftgriJnde, Art. 5 II EMRK

Unabh~ingig vom jeweiligen Haftgrund muss jeder festgenommenen Person unverztiglich und in einer ihr verst~indlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Grtinde fiJr die Festnahme und die gegen sie erhobenen Beschuldigungen sind (Art. 5 II EMRK). Diese Mitteilung muss ausdriicklich erfolgen. Ein lediglich informell erlangtes Wissen der festgenommenen Person gentigt nicht. Von der Form her schreibt die Konvention weder eine mtindliche noch eine schriftliche Mitteilung vor. Ein pauschaler Hinweis auf eine spezielle Gesetzeslage gentigt den Vorgaben des Art. 5 II EMRK allerdings nicht? 9 Dagegen ist es ausreichend, wenn dem Beschuldigten eine Kopie des Haftbefehls ausgeh~indigt wird, aus dem sich neben den Haftgrtinden auch Einzelheiten der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen ergeben. Die genaue Angabe der strafrechflichen Bestimmung, gegen die der Festgenommene verstogen haben soll, verlangt der EGMR nicht. Es gentigt, wenn das zur Last gelegte Delikt namentlich benannt und das strafrechtlich reIevante Verhalten n~iher dargetegt wird. 7~' Die Mitteilung muss nicht bereits vollst~indig zum Zeitpunkt der Festnahme erfolgen. 7' Der EGMR hNt es ftir ausreichend, wenn der festgenommenen Person die Grtinde ihrer Festnahme w~ihrend einer sp~teren Vernehmung zur Kenntnis gebracht werden22

67 Vgl. zu den diesbeztiglichen Vorgaben des EGMR: Esser (Fn. 5), 263 ft.

Vgl. hierzu Esser (Fn. 5), S. 307 ft.

~9 EGMR, Fox, Campbell u. Hartle) vs. Vereinigtes KOnigreich, Serie A Nr. 182, w 41-43; Murray vs. Vereinigtes Kdinigreich, Serie A Nr, 300-A, 9w 76-78.

7, EGMR, Lamy vs. Belgien, Serie A Nr. 151, w 32.

7, EGMR, Fox, Campbell u. Harttey (Fn. 69) 9w 40-42. v

7! EGMR, Conka vs. Belgien (51564/99), Entsch. v. 5 2 2002, w 50. Dabei muss es far die festgenommene Person abet offensichtlich sein, dass sie fiber ihre rn/Sgliche Beteiligung an einer Straftat befragt wird. Eine Zeitspanne yon 4 Stunden und 35 Minuten zwischen der Festnahme und der von Art. 5 II EMRK geforderten Mitteilung ist in jedem Fall noch eine kutzer Frist: EGMR, Murray (Fn. 69) w 77. hn Urteil Steel u.a. vs. Vereinigtes KOnigreich, Reports 1998-VII, hat der Gerichtshof einen Zeitraum yon mehr als 10 Stunden noch als angemessen ftir die nach Art. 6 llI (a) EMRK erforderliche Unterrichtung angesehen 83

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Robert Esser

Die in Art. 8 RB genannten Mindestinhalte des Europ~tischen Haftbefehls gentigen den Anforderungen des Art. 5 II EMRK. Allerdings sieht Art. 8 II RB keine schriftliche Ubersetzung des Haftbefehls in eine ffir den Festgenommenen verst~indliche Sprache vor. Versteht der Festgenommene die Sprache, in der der Haftbefehl ausgestellt ist, nicht, so muss die yon Art. 1l I RB vorgeschriebene (mtindliche) Unterrichtung mit Hilfe eines Dolmetschers in einer fur den Festgenommenen verst~indlichen Sprache erfolgen (Art. 11 I[ RB), und zwar innerhalb kurzer Frist nach tier Festnahme.

(4) Anspruch auf l~lberprtifung der Rechlm~igigkeit der Inhaftierung, Art. 5 IV EMRK

Zum Schutz vor willktirlichen Freiheilsentziehungen hat jede festgenommene Person das Recht auf ein Verfahren zur Uberprtifung der Rechtm~igigkeit ihrer Freiheitsentziehung (Art. 5 IV EMRK). 73 Nach anf~inglichem Z6gern bekennt sich der Gerichtshof mittlerweile zu einem kontradiktorischen und clem Prinzip der Waffengleichheit verpflichteten Haftprtifungsverfahren, in dem in regelmiifiigen Abstiinden fiber die Rechtm/~13igkeit der Freiheitsentziehung entschieden werden muss und die irlhaftierte Person ein Recht auf angemessene Beteiligung und Anh6rung hat. TM

Unmittelbar aus Art. 5 IV EMRK besitzt der Beschuldigte ein Recht auf Zugang zu einem Verteidiger, wenn er selbst aufgrund der konkreten Art seiner Inhaftierung und der ihm fehlenden rechtlichen Kenntnisse nicht in tier Lage ist, den Anspruch auf Haftprfifung in eigener Person durchzusetzen. 7s Jedenfalls fiber den ersten Haftprfifungsantrag einer nach Art. 5 1 (c) EMRK inhaftierten Person muss im Rahmen einer mfindlichen Verhandlung nach persOnlicher Anh6rung entschieden werden.

Haben die Strafverfolgungsbeh6rden Zugang zur Ermittlungsakte - was regelm~igig der Fall ist - und sttitzen sie ihre Antr~ige auf in der Akte befindliche Dokumente, so erfordert das Prinzip der Waffengleichheit, dass auch der Beschuldigte Zugang zu diesen Dokumenten erh~ilt. 76 In einem Auslieferungsverfahren im Sinne von Art. 5 I (f) EMRK genfigt dagegen prinzipiell auch ein schriftliches Haftprtifungsverfahren den Anforderungen des Art. 5 IV EMRK, wenn es kontradiktorisch ausgestaltet ist, dem Prinzip der Waffengleichheit Rechnung tr~igt und keine besonderen Anhaltspunkte vorliegen, die ftir die Erforderlichkeit der Durchffihmng einer mfindlichen Verhandlung und die Anwesenheit der auszuliefernden Person in einer solchen sprechen. 77

Die je nach Haftgrund uaterschiedlichen Anforderungen an das Verfahren der Haftprafung werfen ebenfalls die Frage auf, ob die Freiheitsentziehung aufgrund

84

73 EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 86; Brannigan u. McBride vs. Veremigtes Konigreich, Series A Nr. 258-B, w167 62-63.

74 Die Ktirze der ftir die Entscheidung geforderten Zeitspanne hangt yon der An des konkret zu Oberpriifenden Freiheitsentzugs und der Komplexit~it der zu beurteilenden Tatsachen und Gesichtspunkte ab: EGMR, Kolompar (Fn. 64) w167 21-23, 41.

75 EGMR, Ocalan (Fn. 8) w 72.

76 EGMR, Garcia Alva, Lietzow, SchOps vs. Deutschland, Reports 2001-1 (= StV 2001~ 201 ff.) m. Anm. Kempf, NJW 2001, 206 f.; Lamy (Fn. 70) w167 29, 37 mit Anm. Zieger, SIV 1993, 321: zum Akteneinsichtsrecht im Rahmen der Untersuchungshaft: Esser (Fn. 5), S. 351 ff.

77 EGMR, Sanchez-Reisse vs. Schweiz, Serie A Nr. 107.

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c/ Die Europiiische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

eines Europ~iischen Haftbefehls als ,,Auslieferung" oder ,,Strafverfolgung" einzuordnen ist. Eine Abkehr vom Konzept der Auslieferung, ffir die - wie oben gesehen - gute Grtinde sprechen, hat zur Folge, dass die festgenommene Person - neben dem Recht auf Vorftihrung im Sinne von Art. 5 III EMRK - zus~tzlich einen Anspruch auf pers6nliche Anh6rung in einem Haftprfifungsverfahren hat. Eine solche gerichtliche Uberprfifung der Inhaftierung im Sinne von Art. 5 IV EMRK kann nach der Konzeption des EU-Rahmenbeschlusses allenfalls im Verfahren zur Entscheidung iiber die Aufrechterhaltung der Inhaftierung gem~iB Art. I2 Satz 1 RB erfolgen, n

b. Beschuldigtenrechte des Art. 6 I, IlI EMRK

(1) Allgemeine Ausffihrungen

Der festnehmende Vollstreckungsstaat selbst muss alle Beschuldigtenrechte und Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK beachten, sobald und soweit dessert zeitlicher und sachlicher Anwendungsbereich auf seinem Territorium - wo sich die festgenommene Person aufh~ilt - er6ffnet ist. Stellt man allein auf die Festnahme ab, so ist in der Vollstreckung des Europ~ischen Haftbefehls sicher nicht die Erhebung einer eigenst~ndigen strafrechtlichen Anklage im Sinne von Art. 6 1 EMRK zu sehen. Ein solch origin~rer ,,strafrechtlicher" Regelungsgehalt kommt dem in Art. 9 ft. RB geregelten U-bergabeveffahren ffir sich belrachtet nicht zu. 79 lnsofern bleibt es bei dem Grundsatz, dass die Prfifung eines (herk6mmlichen) Auslieferungsersuchens vor den Justizbeh6rden und Gerichten des ersuchten Staates selbst keine Entscheidung fiber eine strafrechtliche Anklage zum Gegenstand hat) ~

Sieht man aber im Erlass des Europfiischen Haftbefehls zugleich die Erhebung der strafrechtlichen Anklage gegen den Betroffenen im Ausstellungsstaat, woftir angesichts der Entscheidungspraxis des EGMR einiges spricht, so stellt sich die ]=rage, ob genau diese Anklage auch im Vollstreckungsstaat als ,,erhoben" gilt, oder anders ausgedrfickt, ob sich der ersuchte Staat die Anklageerhebung im ersuchenden Staat zurechnen lassen muss, was zur Folge hfitte, dass yon nun an der zeitliche und sachliche Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK auch in diesem Staat er6ffnet ist und wires in beiden Staaten mit einer ,,angeklagten" Person zu tun haben.

Ein die Zurechnung der ,,Anklageerhebung" ausl6sender Umstand ist sicher nicht das blol3e Verweilen des Beschuldigten auf fremdem Staatsterritorium. Wer als Beschuldigter der Strafverfolgung ausgesetzt ist und sich dann ins europfiische Ausland begibt, kann gegenfiber den Beh6rden dieses Staates nicht per se die Beachtung seiner Beschuldigtenrechte aus Art. 6 EMRK einfordern. Ein Gesichtspunkt, der die Geltung und Inanspruchnahme der Beschuldigtenrechte auch gegentiber dem ausl~ndischen Festnahmestaat rechtfertigt, ist aber in der

7~ Vgl. hierzu auch Nr. 8 der Erw~igungsgrtinde zum EU-Rahmenbeschluss.

79 Vgl. EKMR, Osman vs. Vereinigtes K6nigreich (15933/89), Entsch. v. 14.1.1991.

Siehe hierzu: EGMR, Aronica vs. Deutschland (72032101), Entsch. v. 18.4.2002; Eid vs. ltalien (53490/99), Entsch. v. 22.1.2002; Dinstein, German Yearbook of International Law (GYIL) 1993, 46, 47; Villiger (Fn. 10) Rn. 401; Trechsel, EuGRZ 1987, 69 ft.; Frowein/Peukert (Fn. 10) Art. 6 Rn. 52, Fn. t99 rail Nachweisen zur Entscheidungspraxis der EKMR. 85

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Robert Esser

zwischenstaatlichen Vereinbarung einer Festnahme- und Oberstellungspraxis zu sehen, welche die Grenzen eines herk6mmlichen Auslieferungsverfahrens iiberschreitet. In dieser Oberstellungspraxis manifestiert sich ab dem Zeitpunkt der Festnahme im ausl~indischen Vollstreckungsstaat die Fortsetzung des ,, inliindischen"

Strafverfahrens (,,Prinzip der transnationalen Verfahrenseinheit"). 81

Den Schritt zu einem transnationalen Verst~indnis der Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK hat der EGMR bisher noch nicht vollzogen. Er war allerdings auch noch nicht mit einem fdbergabesystem befasst, wie es dem Europ~iischen Haftbefehl zugrunde liegt. Im Interesse eines ltickenlosen transnationalen Beschuldigten- schutzes in Europa ist die bier vertretene Konzeption als unentbehrliches Pendant zu einem an der Effektivit~it der Strafverfolgung orientierten System der Ubergabe gesuchter und im Ausland festgenommener Personen anzusehen. Sie tr~igt dem Umstand Rechnung, dass der Festgenommene eben auch in einer Strafsache und nicht nur in einem untrennbar mit ihr verbundenen Auslieferungsverfahren inhaftiert ist. Seine Angaben - insbesondere im Rahmen einer ,, Vernehmung" nach Artt. 1 4, 1 9 RB - k6nnen ebenso wie sein sonstiges Verhalten im sp~iteren Strafverfahren im Ausstellungsstaat berticksichtigt werden. Gerade weil der strafprozessuale Zweck des Ubergabeverfahrens tiberwiegt, ist kein Grund ersichtlich, den auf fremdem Staatsterritorium festgenommenen Beschuldigten schlechter zu stellen als im Ausstellungsstaat.

Folgt man der Theorie einer Transmission der , ,Anklage" aus dem Ausstellungs- in den Vollstreckungsstaat, so hat dies zur Folge, dass die bisher bestehenden Nachteile in der Rechtsstellung des ,,auszuliefernden" Beschuldigten aufgehoben werden. 82 Sp~itestens mit dem Erlass des Europaischen Haftbefehls im Ausstellungsstaat ist die von Art. 6 II EMRK verbtirgte Unschuldsvermutung von s~imtlichen Stellen des Vollstreckungsstaates, einschliel31ich seiner Strafverfolgungsbeh6rden, zu beachten. 83 Neben den in Art. 6 Iund III EMRK ausdrticklich genannten Beschuldigtenrechten kann der Beschuldigte weitere vom EGMR aus dem Fairnessgebot des Art. 6 I EMRK entwickelte Garantien und Privilegien einfordern, darunter das Prinzip der Waffengleichheit und das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren. Als Auspr~igung des Fairnessgebotes sind augerdem der Grundsatz in dubio pro reo, die auf Seiten der Anklagebeh6rde liegende Beweislast und die mangelnde Pflicht des Beschuldigten zur aktiven Kooperation mit den Ermittlungsbeh6rden als strafprozessuale Leitlinien zu nennen.

Die vom EGMR aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleiteten Beschuldigtenrechte gelten im vorgerichtlichen Stadium des Strafverfahrens nicht notwendigerweise in demselben Umfang wie in der Hauptverhandlung. Mal3stab ist hier im wesentlichen die Frage, inwieweit die Verfahrensfairness die Geltung dieser Garantien bereits in diesem

~ So zutreffend bereits Schomburg, StV 1998, 153; ders./Lagodny (Fn. 17), Einl. Rn. 108 ff., Vor w 15 IRG Rn. 6 ff., w 15 IRG Rn. 6, Vor w167 21, 22 IRG Rn. 33 f.; dagegen jedoch IntKomm-EMRK/Vogler, Art. 6 Rn. 247; zum Grundsatz der Verfahrenseinheit in Hinblick auf die Anrechnung der Auslieferungsbaft vgl. auch: Lackner/Kiihl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 24. Aufi. 2001, w 51 Rn. 13.

82 Zu dieser Forderung bereits: Schomburg, StV 1998, 153, 156.

86 ~ Namentlich sei hier auf etwaige Presseerklarungen im Zusammenhang mit der Festnahme hingewiesen.

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0 / Die Europ~iische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

vorgerichtlichen Stadium gebietet. Mit Ausnahme von drei speziellen Garantien, auf die sogleich zurtickzukommen sein wird, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht im einzelnen gekl~rt werden, in welchem Umfang die einzelnen Rechte aus Art. 6 EMRK im Vollstreckungsstaat Anwendung finden. Es geht vielmehr zunachst einmal um die Er6ffnung einer neuen ,,transnationalen Dimension" auf dem Gebiet des menschenrechtlichen Beschuldigtenschutzes: der Er6ffnung des strafprozessualen Anwendungsbereichs des Art. 6 EMRK im Vollstreckungsstaat aufgrund einer Anklage im Ausstellungsstaat.

Prinzipiell schon im Ermittlungsverfahren sind zu beachten

�9 das Recht des Beschuldigten, von der Anklagebeh6rde tiber das gegen ihn gefiihrte Verfahren so informiert zu werden, dass er sich vorbereiten und seine Verteidigung entsprechend darlegen kann,

�9 das Recht auf Untersttitzung dutch einen Verteidiger schon zu Beginn einer polizeilichen, staatsanwaltlichen oder richterlichen Vemehmung, wenn sich der Beschuldigte bereits bei Beginn der Vernehmung in einer Situation befindet, in der die Rechte der Verteidigung m6glicherweise unwiderruflich beeintr~ichtigt werden,

�9 das Recht auf eine freie, nicht tiberwachte Kommunikation mit dem Verteidiger aul3er H6rweite Dritter,

�9 das Recht zu schweigen sowie

�9 der Schutz vor Selbstbelastung.

Auf alle diese Rechte kann sich der Festgenommene gegentiber den Beh6rden des Vollstreckungsstaates berufen. Drei Beschuldigtenrechte verdienen im Zusammenhang mit der Implementierung des Europ~iischen Haftbefehls eine besondere Beachtung: das Recht auf Akteneinsicht, das Recht auf effektive Verteidigung sowie das Recht auf Dolmetschemnterstiitzung.

(2) Recht auf Zugang zur Verfahrensakte

Von Bedeutung far die Effektivit~it der Verteidigung ist das Recht des Beschuldigten auf Zugang zur Verfahrensakte, die sich zum Zeitpunkt der Festnahme im Ausstellungsstaat befindet. Die Notwendigkeit eines Zugangs zu ihr kann sich bereits w~_hrend der Inhaftierung im Vollstreckungsstaat ergeben. Haben die Justizbehtirden und Gerichte des Vollstreckungsstaates im Zuge der yon ihnen zu treffenden Entscheidung (Art. 12 RB), d.h. insbesondere w~ihrend der Vernehmung im Sinne yon Art. 14 RB, Zugang zu dieser - auf elektronischem Wege bzw. als Kopie tibermittelten - Verfahrensakte und stiJtzen sie ihre Antr~ge auf in der Akte befindliche Dokumente, so verlangt das Prinzip der Waffengleichheit, dass auch der Beschuldigte Zugang zu diesen Dokumenten erh~ilt. ~ Das Recht auf Zugang zur Akte

8, EGMR, Lamy (Fn. 70) w167 29, 37. 87

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kann jedenfalls dann nicht auf den Verteidiger beschr~inkt werden, wenn davon auszugehen ist, dass der Beschuldigte selbst die Beweise hinsichtlich seiner Verteidigung besser einsch~itzen kann. ss

(3) Recht auf effektive Verteidigung, Art. 6 III (c) iVm Art. 6 I EMRK

Art. 6 III (c) EMRK gewShrt dem mittellosen Beschuldigten ein Recht auf einen unentgeltlichen Verteidigerbeistand, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Ob die Beiordnung eines Verteidigers in der Hauptverhandtung

geboten ist, h8ngt nicht nut von der Schwere der Straftat, der H6he der zu erwartenden Strafe und der Komplexit~it des Falles, sondern auch von der pers6nlichen Situation, der sozialen Herkunft, der Lebenssituation und etwaigen sprachlichen Problemen des Beschuldigten ab. Far die Erforderlichkeit einer Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren gelten diese Gesichtspunkte im Prinzip ebenso, allerdings unter dem Blickwinkel, ob eine Verteidigerunterst~itzung zeitlich gesehen schon in diesem Verfahrensstadium erforderlich ist. se In den letzten Jahren tendiert der Gerichtshof dahin, dem allgemeinen Fairnessgebot des Art. 6 I EMRK ein von dem Erfordernis der Mittellosigkeit losgel6stes Recht auf effektive und wirksame Verteidigung zu entlehnen. Ein Verstol3 gegen Art. 6 III (c) EMRK kann daher auch dann anzunehmen sein, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger seiner Wahl mit der Verteidigung beauftragt hat oder ibm ein Verteidiger bestellt worden, gleichwohl aber eine effektive Verteidigung objektiv nicht gew~hrleistet ist. s7

Ob dem aufgrund eines Europ~iischen Haftbefehls Festgenommenen ein Verteidiger bestellt werden muss, h~ingt nicht nur von den oben genannten Gesichtspunkten, sondern auch von Art und Ausgestaltung der in Art. 14 RB vorgesehenen ,, Vernehmung" sowie davon ab, ob die Inhalte aus einer solchen Vernehmung im sp~iteren Strafverfahren verwertbar sind. Art. 11 RB nonniert zwar ausdriicklich den - scheinbar uneingeschr~nkten - Anspruch des Festgenommenen auf einen , ,Rechtsbeis tand" ab dem Zeitpunkt der Festnahme (Pflichtbeistandschaft), allerdings nur nach Mal3gabe des innerstaatlichen Rechts des Vollstreckungsstaates. Letzteres muss im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 III (c) EMRK interpretiert werden. Uberdies mtisste terminologisch korrekt in Art. 11 RB der Anspruch auf einen ,, Verteidiger" und nicht auf einen ,, Beistand" verbtirgt sein. Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Verteidigers im Ausstellungsstaat ist unabh~ingig von der Pflichtbeistandschaft im Vollstreckungsstaat zu beurteilen.

(4) Dolmetscherunterstfitzung, Art. 6 IIl (e) EMRK

Der EGMR interpretiert den Schutzbereich des Art. 6 III (e) EMRK dahingehend,

,s EGMR, Ocalan (Fn. 8) w167 161-163.

"~ EGMR, Quaranta vs, Schweiz, Serie A Nr. 205, w 36 (,,his appearance in person before the investigating judge, and then before the Criminal Court, without the assistance of a lawyer, did not therefore enable him to present his case in an adequate manner").

~7 So hat der EGMR im Urteil John Murray vs. Vereinigtes KOnigreich, Reports 1996-I, w 70 ohne dass es auf die Mittellosigkeit des Beschuldigten ankara - einen Verstog gegen Art. 6 III (c) EMRK angenommen, weil dem Beschuldigten anl~isslich einer polizeilichen Vernehmung der yon ibm begehrte Zugang zu einem Verteidiger verweigert worden war, der jedoch erforderlich gewesen w~e, weil sich der Beschuldigte - wegen der m6glichen Verwertung seines Sehweigens schon zu diesem Zeitpunkt in einer Situation befand, in der die Verteidigungsrechte nachhaltig beeintrfichtigt werden konnten.

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Die Europiiische Menschenrechtskonvention als ,,zweiter Rahmen" der Auslieferung in Europa

dass jeder Beschuldigte nicht nur das Recht hat, die unentgeltliche Untersttitzung eines Dolmetschers in der Hauptverhandlung zu verlangen, sondern dass ihm dieses Recht prinzipiell in jedem - von Art. 6 EMRK erfassten - Stadium des Strafverfahrens zusteht, wenn er die vor Gericht verwendete Sprache nicht versteht oder spricht. 88 Dabei stellt die Konvention nicht auf die Nationalit~it, sondern auf das Sprachverstindnis des Beschuldigten ab. Der Umfang der von Art. 6 III (e) EMRK geforderten Untersttitzung erstreckt sich nicht nur auf mtindliche Stellungnahmen in der Verhandlung vor dem Strafgericht, sondern auch auf das Aktenrnaterial und das vorgerichtliche Ermittlungsverfahren. Der Beschuldigte hat Anspruch auf die T~itigkeit eines Dolmetschers bei der Obersetzung s~imtlicher Schriftstticke und mtindlichen Erkl~ungen in dem gegen ihn gef0hrten Verfahren, die er verstehen oder in die Verfahrenssprache tibersetzen lassen muss, um in den Genuss eines fairen Verfahrens zu kommen, s9

Ein Anspruch des Beschuldigten auf eine l~lbersetzung der gegen ihn erhobenen Beschuldigung sowie der Griinde fiir seine Festnahme ergibt sich bereits aus Art. 6 III (a) EMRK und Art. 5 II EMRK. Bei einer polizeilichen bzw. richterlichen Vernehmung - wie sie auch Art. 14 RB vorsieht - muss der Beschuldigte mit Hilfe eines Dolmetschers in der Lage sein, die an ihn gerichteten Fragen zu verstehen, und sich bei ihrer Beantwortung verst~indlich zu rnachen. Art. 6 III (e) EMRK verlangt aber nicht, dass der Beschuldigte im Anschluss an eine Vernehmung im Ermittlungsverfahren eine schriftliche Ubersetzung des Vernehmungsprotokolls erh~ilt, urn etwa die Korrektheit des Protokolls und die darin enthaltenen Aussagen tiberprtifen zu krnnen. 9~ In welchem Umfang der Beschuldigte im Vollstreckungsstaat die Untersttitzung eines Dolmetschers erhalten muss, h~ingt ebenfalls maBgeblich vonde r konkreten Gestaltung des Verfahrens, insbesondere vonder Art der ,, Vernehmung" im Sinne von Art. 14 RB sowie davon ab, ob und in welchem Umfang die Justizbeh6rden im Vollstreckungsstaat Zugang zur im Ausstellungsstaat befindlichen Verfahrensakte haben (s.o.).

V1. Resi imee

Die Vorgaben der EMRK ftir das Verfahren der Vollstreckung eines Europ~iischen Haftbefehls erschlief3en sich tiber einen strafprozessualen Ansatz. Wesentliche Verfahrensgarantien sind dabei Art. 5 und Art. 6 EMRK, deren sachlicher und zeitlicher Anwendungsbereich im Ausstellungs- bzw. Vollstreckungsstaat unterschiedlich beurteilt werden muss. In der Vergangenheit hat der Gerichtshof zwischen einer Auslieferungshaft im Ausland und einer Untersuchungshaft im Inland unterscheiden k6nnen. Ob diese Auffassung auch nach der Einrichtung eines Festnahme- und f2bergabeverfahrens, wie es dem Rahrnenbeschluss des

== Zur diesbezfiglichen richterlichen Priifungspflicht: EGMR, Cuscani vs. Vereinigtes KOnigreich, Urteil v. 24.9.2002.

89 EGMR, Luedicke, Belkacem und Koq vs. Deutschland, Serie ANr. 29, w 4-8; Kamasinski vs. Osterreich, Serie A N n 168, w 74 (,,translation or interpretation of all those documents or statements in the proceedings instituted against him which it is necessary for him to understand or to have rendered into the court's language in order to have the benefit of a fair trial").

EGMR, Kamasinski (Fn. 89) w 77 (,,led to results compromising his entitlement to a fair trial or his ability to defend himself ' ) ; vgl. hierzu auch alas Gr~nbuch der Kommission - Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europ~iischen Union, KOM (2003) 75 endg , S. 32 f. 89

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Robert Esser

Europ~iischen Haftbefehls zugrunde liegt, aufrecht erhalten werden kann, ist mehr als fraglich. Nicht nur die vom EGMR geforderte effektive Gew~Jarleistung der in der EMRK verbtirgten Verfahrensgarantien, sondern auch die Konzeption des EU- Rahmenbeschlusses zum Europ~iischen Haftbefehl verlangen die Entwicklung eines tiber die Grunds~itze zur staatlichen Verantwortlichkeit ftir Handlungen und ihre Auswirkungen im Ausland hinausgehenden transnationalen Beschuldigtenschutzes (Art. 1 EMRK).

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