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Carl-Christian Buhr Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873 ABSTRACT Im wirtschaftswissenschaftlichen und im wirtschaftshistorischen Schrifttum werden die Auswirkungen der Kriegsentschädigungszahlungen, die Frankreich nach 1871 an das Deutsche Reich leistete, sehr unterschiedlich bewertet. Mit Blick auf die nach dem Gründerboom bald einsetzende Wirtschafts- und Börsenkrise wird sogar teilweise die Meinung vertreten, bei dem Geld habe es sich um ein ‚vergiftetes‘ Geschenk gehandelt, das besser nicht hätte angenommen werden sollen. Der vorliegende Beitrag unternimmt es, nach einer Darstellung des historischen Geschehens und der unterschiedlichen Literaturmeinungen, vorhandene theoretische Versuche zur Erklärung der Auswirkungen von Zahlungsmittelübertragungen zwischen Volkswirtschaften auf den Fall der französischen Kriegsentschädigung anzuwenden. Insgesamt ergibt sich, dass tatsächliche negative Auswirkungen zwar auf eine suboptimale Verwendung der Zahlungen zurückgeführt werden können, nicht aber auf die Zahlungen selbst. Eine abschließende Entscheidung darüber, welche Ansätze der Transfertheorie anderen vorzuziehen sind, kann aufgrund des vorliegenden Datenmaterials indes nicht getroffen werden. 1

Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

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This is a fairly detailed treatment, in German, of the extraordinarily large war reparations imposed on France by Germany after the 1870-71 war and its economic impact in Germany.

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Page 1: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

Carl-Christian Buhr

Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

ABSTRACT

Im wirtschaftswissenschaftlichen und im wirtschaftshistorischen Schrifttum

werden die Auswirkungen der Kriegsentschädigungszahlungen, die Frankreich

nach 1871 an das Deutsche Reich leistete, sehr unterschiedlich bewertet. Mit

Blick auf die nach dem Gründerboom bald einsetzende Wirtschafts- und

Börsenkrise wird sogar teilweise die Meinung vertreten, bei dem Geld habe es

sich um ein ‚vergiftetes‘ Geschenk gehandelt, das besser nicht hätte angenommen

werden sollen. Der vorliegende Beitrag unternimmt es, nach einer Darstellung des

historischen Geschehens und der unterschiedlichen Literaturmeinungen,

vorhandene theoretische Versuche zur Erklärung der Auswirkungen von

Zahlungsmittelübertragungen zwischen Volkswirtschaften auf den Fall der

französischen Kriegsentschädigung anzuwenden. Insgesamt ergibt sich, dass

tatsächliche negative Auswirkungen zwar auf eine suboptimale Verwendung der

Zahlungen zurückgeführt werden können, nicht aber auf die Zahlungen selbst.

Eine abschließende Entscheidung darüber, welche Ansätze der Transfertheorie

anderen vorzuziehen sind, kann aufgrund des vorliegenden Datenmaterials indes

nicht getroffen werden.

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1 Grundlegung

1.1 Problemstellung

Die Kriegsentschädigungszahlung von fünf Milliarden französischen Franken, die

Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1870-71 an das neu gegründete Deutsche

Reich leistete, war die bis dahin „größte Finanzoperation, welche je seit

Menschengedenken vorgekommen ist“.1

Neuere Autoren kommen ebenso wie auch schon einige zeitgenössische

Kommentatoren zu dem Ergebnis, dass sich der Transfer bei weitem nicht in dem

Umfang, den die hohe Summe erwarten ließe, positiv auf die

Wirtschaftsentwicklung2 im Deutschen Reich ausgewirkt hat. Die konkreten

Urteile fallen dabei allerdings sehr unterschiedlich aus.

Bamberger fordert schon während der noch laufenden Zahlungen, angesichts der

problematischen Wirtschaftsentwicklung im Deutschen Reich, eine sofortige

Verlangsamung des Geldzustroms.3 Dem schließt sich Soetbeer rückblickend zwar

an. Er kann aber direkt nach Beendigung der Zahlungen nach strengem Abwägen

der Vor- und Nachteile noch ein kleines Übergewicht auf Seiten der Vorteile

konstatieren.4

Während Samhaber sich zu der Feststellung versteigt, dass es zu den

„unausweichlichen Folgen“ jeder Kriegsentschädigung gehöre, den Sieger bald

„unvermutet von einer Krise überrascht“5 zu sehen, kann Mackscheidt lediglich

„keinen eindeutig positiven Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung“6

erkennen.

1 Adolf Soetbeer: Die fünf Milliarden. Betrachtungen über die Folgen der großen Kriegsentschädigung für die Wirthschaftsverhältnisse Frankreichs und Deutschlands (Deutsche Zeit- und Streitfragen, Heft 33), Berlin 1874, S. 3.

2 Vgl. zur näheren Kennzeichnung dieser und ähnlicher Umschreibungen Abschnitt 1.3 dieses Beitrages.

3 Vgl. Ludwig Bamberger: Die fünf Milliarden, in: Politische Schriften. Von 1868 bis 1878 (Gesammelte Schriften von Ludwig Bamberger, Bd. 4), Berlin 1913, S. 219-251, hierS. 248 f. (Der Text wurde erstmals bereits 1873 publiziert. Preußische Jahrbücher 31 (1873), S. 441-460.)

4 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 55. 5 Ernst Samhaber: Die Kriegsentschädigung, in: Wolfgang v. Groote/Ursula v. Gersdorff

(Hg.), Entscheidung 1870. Der deutsch-französische Krieg, Stuttgart 1970, S. 256-289, hier S. 288.

6 Vgl. Klaus Mackscheidt: Einkünfte aus fremden öffentlichen Finanzwirtschaften, in: Fritz Neumark (Hg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 3., gänzlich neubearbeitete Auflage, Tübingen 1980, S. 949-986, hier S. 969.

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Bei dieser Vielfalt mehr oder weniger entschiedener Urteile drängt sich ebenso

die Frage auf, was die einzelnen Autoren zu ihren Schlussfolgerungen bewogen

hat, wie diejenige nach Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft der jeweils

vorgebrachten Argumente.

Daraus ergeben sich die in dieser Untersuchung zu behandelnden Fragestellungen:

Welche Einzelaspekte der deutschen Wirtschaftsentwicklung ab 1871 lassen sich

direkt oder indirekt der französischen Kriegsentschädigungszahlung zurechnen?

Wie muss ein Gesamturteil anhand vorliegender Daten- und Literaturquellen

ausfallen?

1.2 Gang der Untersuchung

Abschnitt 2 beschreibt die verschiedenen vertraglichen Festlegungen über die

genauen Termine, Summen und Modalitäten der Zahlungen (Abschnitt 2.1). Dies

geschieht anhand einer Zweiteilung in die weitgehend deckungsgleichen

Bestimmungen des Vorfriedensvertrages und des Friedensvertrages von Frankfurt

einerseits (Abschnitt 2.1.1), sowie in die nach dem eigentlichen Friedensschluss

notwendig gewordenen Zusatzabkommen andererseits (Abschnitt 2.1.2). Danach

geht es um die Aufbringung des Geldes in Frankreich (Abschnitt 2.2). Der letzte

Unterabschnitt gibt Antwort auf die Frage, welche Zahlungsmittel tatsächlich zur

Übergabe kamen (Abschnitt 2.3). Die Darstellung dieser weitgehend unstreitigen

Fakten erscheint sinnvoll, insoweit schon ihre konkreten Ausprägungen die

spätere Verwendung und vor allem die zu untersuchende Wirkung der Zahlungen

im Deutschen Reich beeinflussten.

In Abschnitt 3 erfolgt zunächst eine Aufschlüsselung über die Benutzung des

zufließenden Geldes im Deutschen Reich im Einzelnen (Abschnitt 3.1). Dies soll

geschehen, um die anschließend zu analysierenden Zusammenhänge zwischen der

Art ihrer Verwendung und der Wirkung der Mittel (Abschnitt 3.2) anschaulicher

zu machen. Abschnitt 3.3 enthält den Versuch, die modelltheoretischen

Schlussfolgerungen der Transfertheorie für den zu betrachtenden Zeitraum

nachzuvollziehen. Zu diesem Zweck geht ein Überblick über Prämissen und

Modelle der Transfertheorie (Abschnitte 3.3.1-3.3.1) ihrer Anwendung auf den

konkreten Fall (Abschnitt 3.3.2) voraus.

Abschnitt 4 führt die zuvor herausgearbeiteten Teilergebnisse zusammen und

versucht eine Gesamtbewertung.

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Eine Würdigung des Untersuchungsergebnisses findet sich abschließend in

Abschnitt 5.

1.3 Begriffskennzeichnung

Von einem positiven Effekt, einem Nutzen oder Vorteil wird im Gegensatz zu

einem negativen Effekt, einem Schaden oder einem Nachteil dann gesprochen,

wenn die Aussage zulässig erscheint, dass sich der betrachtete Tatbestand der

Realität ab 1871 besser entwickelt hat, als es ohne Zahlungen aus Frankreich der

Fall gewesen wäre. Dabei soll der Begriff „besser“ neben laufenden Indikatoren

(z.B. wachsendes Volkseinkommen, stabile Preise, höhere Reallöhne, niedrigere

Steuern) auch die ebenfalls beeinflussten Zukunftsmöglichkeiten einschließen.

Eine derartige Aussage ist in jedem Fall problematisch, was sich, neben dem

grundlegenden Hinweis auf die Interdependenz aller Faktoren, etwa auch daran

ablesen lässt, wie schwierig es ist, die nationale Begeisterung über den Sieg der

deutschen Staaten gegen Frankreich und eine daraus folgende gesteigerte

Motivation bei jedem Einzelnen zu quantifizieren. Wenn man sich ein

Gesamturteil über die Kriegsentschädigung erlauben will, dürfen diese

Phänomene jedoch nicht zu gering geschätzt werden.7

2 Vertragliche Bestimmungen und Zahlungsablauf

2.1 Verträge

2.1.1 Vorfrieden und Frankfurter Frieden

Nach dem Waffenstillstand unterzeichneten der deutsche Reichskanzler Bismarck

und die französischen Verhandlungsführer am 26. Februar 1871 in Versailles den

Präliminarfriedensvertrag.8 Dieser bestimmte in Artikel II, dass Frankreich dem

deutschen Kaiser fünf Milliarden Franken innerhalb von drei Jahren zu zahlen

hatte, wobei die erste Milliarde bis Ende 1871 übergeben werden sollte. Artikel III

7 Vgl. Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880. Mit einem konjunkturstatistischen Anhang (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 29), Berlin 1977, S. 354.

8 Vgl. Hans Dollinger (Hg.): Das Kaiserreich. Seine Geschichte in Texten, Bildern und Dokumenten, München 1966, S. 100.

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verknüpfte den schrittweisen Abzug der deutschen Truppen mit der

fortschreitenden Abzahlung der Summe.9

Der endgültige Friedensvertrag, geschlossen am 10. Mai 1871 in Frankfurt am

Main, legte genaueres bezüglich der Zahlungen fest. Die ersten 500 Millionen

Franken sollten 30 Tage nach Wiederherstellung der französischen

Regierungsautorität gezahlt werden, denn zur Zeit des Vertragsschlusses war in

Paris noch der Kommune-Aufstand im Gange.10 Die nächsten 1000 Millionen

Franken waren bis Ende 1871 zu zahlen, von denen die von Frankreich

abgegebenen Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen zum Preis von 325 Millionen

Franken abgezogen wurden. Weitere 500 Millionen Franken mussten am 1. Mai

1872 übergeben sein, während der Restbetrag von 3000 Millionen Franken ab

dem 2. März 1871 jährlich mit 5% verzinst werden musste und insgesamt am 2.

März 1874 fällig wurde.11

Der Artikel VII des Frankfurter Friedensvertrages bestimmte außerdem, in

welcher Form die Zahlungen erfolgen durften. Akzeptiert wurden Edelmetall,

Noten der englischen, preußischen, niederländischen und belgischen Banken,

sowie erstklassige Wechsel.12 Hintergrund dieser Forderung waren Befürchtungen,

Frankreich könnte sich bei Zahlung in Form eigener Banknoten oder Staatspapiere

zu Lasten des Deutschen Reiches durch einen künstlich herbeigeführten

Staatsbankrott schnell von der Schuldenlast befreien.13

2.1.2 Zusatzabkommen

In der Zeit von Mai 1871 bis März 1873 wurden drei zusätzliche Abkommen

zwischen der deutschen und der französischen Regierung geschlossen, die die

weitere Konkretisierung der Zahlungsvereinbarungen zum Gegenstand hatten.

Diese drei Verträge wurden notwendig, da sich die innerfranzösischen Zustände

auch nach der Niederschlagung des Kommune-Aufstands nicht soweit beruhigt

hatten, dass die deutsche Seite der ursprünglichen Intention folgen zu können

9 Vgl. Johannes Hohlfeld: Deutsche Reichsgeschichte in Dokumenten 1849-1926, 1. Halbband, Berlin 1927, S. 83 f.

10 Vgl. Klaus Malettke: Deutsche Besatzung in Frankreich und französische Kriegsentschädigung aus der Sicht der deutschen Forschung, in: Philippe Levillain/Rainer Riemenschneider (Hg.), La Guerre de 1870/71 et ses consequences (Pariser Historische Studien, Bd. 29), Bonn 1990, S. 249-283, hier S. 259.

11 Vgl. Wilhelm Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte Preussens (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56), Berlin/New York 1984, S. 590.

12 Vgl. Hans Herzfeld: Deutschland und das geschlagene Frankreich 1871-1873. Friedensschluß, Kriegsentschädigung, Besatzungszeit, Berlin 1924, S. 46.

13 Vgl. Ursula E. Koch: Berliner Presse und europäisches Geschehen 1871. Eine Untersuchung über die Rezeption der großen Ereignisse im ersten Halbjahr 1871 in den politischen Tageszeitungen der deutschen Reichshauptstadt (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 22), Berlin 1978, S. 344.

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glaubte, schon nach der Zahlung von zwei Milliarden eine vorzeitige Räumung

des besetzten französischen Staatsgebiets im Austausch gegen Finanzgarantien

über die noch ausstehende Summe durchzuführen.14

Die Konvention vom 12. Oktober 1871 vereinbarte die Zahlungstermine der

vierten halben Milliarde Franken, sowie der ersten Zinsrate von 150 Millionen

Franken. Die Zahlungen erfolgten ab dem 15. Januar 1872 jeweils am 1. und 15.

jedes Monats bis einschließlich April in Raten à 80 Millionen Franken. Die letzten

90 Millionen Franken wurden am 1. Mai 1872 fällig.15

Die Konvention vom 29. Juni 1872 verlängerte im Hinblick auf französische

Schwierigkeiten den Zahlungszeitraum bis zum 1. März 1875.16

Die Konvention vom 15. März 1873 stand hingegen schon unter dem Einfluss der

gelungenen zweiten französischen Staatsanleihe zur Aufbringung des Geldes17 und

legte den letzten Zahlungstermin für den 5. September 1873 fest.18

Allen Vertragsbedingungen war gemeinsam, dass sie zur schnellen Zahlung

anreizten und Frankreich auch ein Vorziehen der Termine gestattet wurde. Es

wurde kein Zweifel daran gelassen, dass die schrittweise Rückgabe des besetzten

Gebietes mit dem Fortgang der Zahlungen stattfinden, sowie der endgültige

Abzug der deutschen Truppen nach der letzten Zahlungsrate ohne weitere

Komplikationen erfolgen würde.19

Die in allen Vertragsabschlüssen erkennbare Rücksichtnahme auf die politische

Lage in Frankreich lässt die Zielsetzung der deutschen Regierung klar

hervortreten. Eine vollständige Zahlung durch Frankreich sollte auf jeden Fall

sichergestellt werden, weshalb ein vorzeitiger Truppenabzug nicht in Betracht

kam. Weil man an dieser Priorität durchgängig festhielt, wurde die französische

Regierung faktisch gezwungen, die Zahlungen soweit wie möglich zu

beschleunigen, da das schnelle Ende des Besatzungszustands ihr vordringlichstes

Ziel war.

Die Analyse der Auswirkungen des Geldzustroms im Deutschen Reich in

Abschnitt 3 wird zeigen, ob die erzwungene Bezahlung der deutschen Wirtschaft 14 Vgl. Herzfeld: Das geschlagene Frankreich (wie Anm. 5), S. 265.15 Vgl. Johannes Lepsius u. a. (Hg.): Der Frankfurter Friede und seine Nachwirkungen

1871-1877 (Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, Bd. 1), Berlin 1922,S. 95.

16 Vgl. ebenda, S. 144.17 Zu dieser Anleihe vgl. Abschnitt 2.2 des vorliegenden Beitrages.18 Vgl. Lepsius: Die große Politik, (wie Anm. 6) S. 187.19 Vgl. Karl Linnebach: Deutschland als Sieger im besetzten Frankreich 1871-1873. Auf

Grund der deutschen Akten dargestellt, Berlin/Leipzig 1924, S. 45.

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mehr Nutzen brachte, als es ein früherer Truppenabzug gegen längerfristige

Finanzgarantien und ein damit verbundenes Zahlungsausfallrisiko vermocht hätte.

2.2 Aufbringung der Summe in Frankreich

Die zu zahlende Summe verschaffte sich Frankreich mit zwei Staatsanleihen. Die

erste wurde im Juni 1871 von den Pariser Privatbankiers Rothschild über ganz

Europa verteilt. Aus diesem Grund bekamen deutsche Zeichner nicht im

gewünschten Umfang Papiere zugeteilt.20

Die Anleihe im Umfang von 2 Milliarden war mit 4,8 Milliarden Franken deutlich

überzeichnet und damit ein unerwarteter Erfolg für die junge französische

Regierung Thiers, der erheblich zu deren Stabilisierung beitrug.21

Die zweite Anleihe vom Juli 1872 verlief für Frankreich noch besser. Statt der

ausgeschriebenen 3 Milliarden wurden 43 Milliarden Franken gezeichnet, 26

Milliarden davon aus dem Ausland, wobei Belgien und England mit 9 bzw. 7

Milliarden die größten Anteile stellten. Alle Zeichner bekamen entsprechend der

Überzeichnungsquote Papiere zugeteilt. Für deutsche Anleger ergab das eine

Gesamtsumme für die zweite Anleihe von etwa 350 Millionen Franken.22

Frankreich hatte fortan das benötigte Geld zur Verfügung. Die Verhandlungen

über einen vorgezogenen deutschen Truppenabzug gegen Finanzgarantien blieben

erfolglos, woraufhin man in Paris auf das Recht zu vorgezogener Zahlung

zurückgriff und die oben beschriebene dritte Konvention aushandelte.23

Interessanterweise waren beide Anleihen als „Ewig-Renten“ ausgestaltet, d. h. als

Schuldpapiere, bei denen es zwar permanente Zinszahlungen aber keine Tilgung

gab.24 Während die deutsche Regierung die Bezahlung durch solche französischen

20 Vgl. Fritz Stern: Gold and Iron. Bismarck, Bleichröder, and the Building of the German Empire, London, 1977,S. 320.

21 Vgl. Vgl. Herzfeld: Das geschlagene Frankreich (wie Anm. 5), S. 59.22 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 592.; anders Samhaber:

Kriegsentschädigung (wie Anm. 2), S. 265. Für diesen „[trugen] [a]lle Länder [..] zu dieser Anleihe bei und an der Spitze zweifellos die deutschen Banken.“ Außerdem spricht er durchgehend nur von einer Anleihe. Da er keine Quellen offen legt, ist man allein auf sein Argument im Text angewiesen, das aus der Vermutung, dass die tatsächliche Zahlung zu einem sehr hohen Anteil aus deutschen Währungen bestanden habe, die zitierte Aussage herleitet. Eine andere Deutung erscheint aber stimmiger. Vgl. dazu Abschnitt 2.3.

23 Vgl. Karl Helfferich: Ludwig Bamberger als Währungspolitiker, in: Karl Helfferich (Hg.), Ausgewählte Reden und Aufsätze über Geld- und Bankwesen von Ludwig Bamberger (Schriften des Vereins zum Schutz der deutschen Goldwährung, Bd. 1), , Berlin 1900, S. 1-160, hier S. 83. Vgl. dazu auch Abschnitt 2.1.2 des vorliegenden Beitrages.

24 Vgl. Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 275.

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Staatspapiere schon im Friedensvertrag von Frankfurt unterbunden hatte, kamen

diese auf dem Umweg über die Privatanleger nun doch zum Einsatz.

2.3 Übergebene Zahlungsmittel

Über die Art der Zahlungsmittel, die tatsächlich übergeben wurden, besteht

zumindest hinsichtlich der Darstellung eine gewisse Uneinigkeit unter den

Autoren.

Samhaber zählt bis zur Gesamtsumme von knapp unter 5.000 Millionen Franken

(die sich aus den fünf Milliarden Franken zuzüglich Zinsen nach Gegenrechnung

des Preises für die Eisenbahnen Elsaß-Lothringens ergibt) verschiedene

europäische Währungen und die jeweils in ihnen entrichteten absoluten Summen

auf, wonach der größte Anteil mit mehr als drei Milliarden Franken auf deutsche

Silbermünzen entfallen sei.25 Als wahrscheinlicher ist es nach der vorliegenden

Literatur jedoch anzusehen, dass die Zahlungen zum überwiegenden Teil in

Wechseln erfolgten.26

Die französische Regierung bezahlte z.B. französischen Exporteuren ins Deutsche

Reich ihre Waren und übergab die geschuldete Zahlung des deutschen

25 Vgl. Samhaber: Kriegsentschädigung (wie Anm. 2), S. 265. Hier mag bereits eine Umschreibung der Wechsel in die jeweiligen Landeswährungen stattgefunden haben, über die der Leser aufgrund eines fehlenden Hinweises keine Kenntnis erhält. Samhabers gesamte weitere Argumentation, die schließlich auch zu seiner negativen Einschätzung der Kriegsentschädigung führt, baut allerdings schwerpunktmäßig darauf auf, daß sich durch den mit Paris noch lohnenden Silberhandel (denn in Frankreich gab es zum einen noch keine reine Goldwährung und zum anderen gerade wegen der Kriegsentschädigungszahlungen einen gesteigerten Bedarf an Silber) in Frankreich große Guthaben in der Landeswährung gebildet hätten, die deutschen Banken und deutschen Ländern gehörten. (S. 261-265) Seine Vermutung, der größte Anteil der zweiten Anleihe sei von Deutschen gezeichnet worden (vgl. dazu Anm. 7), stützt sich damit auf folgende Argumentationskette: Da die tatsächliche Zahlung der Kriegsentschädigung zu über 60% in deutschen Silbermünzen erfolgt sei, müsse es entsprechend hohe französische Guthaben in deutschem Besitz gegeben haben, die aus dem Silberhandel herrührten. Deren Besitzer wären dann gezwungen gewesen, die „Guthaben in Paris stehen zu lassen oder eben französische Staatsanleihe[n] zu erwerben“ (S. 265). Die Basis dieser Argumentation, und damit der Schlussfolgerungen Samhabers, wird jedoch erschüttert, wenn man, der Literatur folgend, davon ausgeht, dass tatsächlich überwiegend Wechsel transferiert wurden.

26 Vgl. August Sartorius von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815-1914, 2. ergänzte Auflage, Jena 1923, S. 273.; übereinstimmend Bamberger: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 223 f.; übereinstimmend Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 277; übereinstimmend Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867/71-1914), Stuttgart 1985, S. 52; übereinstimmend Helfferich: Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 83; übereinstimmend Joseph A. Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Bd. 1, Göttingen 1961, S. 324, der eine Unterscheidung in Bargeld und Devisen vornimmt, was auch wegen der genannten absoluten Zahlen darauf hindeutet, daß Samhaber bereits eine Umschreibung in die jeweiligen Landeswährung vorgenommen haben könnte, ohne darauf hinzuweisen. (Vgl. auch Anm. 8.)

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Empfängers in Form eines Wechsels an die deutsche Regierung.27 Außerdem

erwarb sie Wechsel, die im normalen Handelsverkehr im Deutschen Reich oder in

dritten Ländern entstanden waren. Um störende Kursausschläge an den

internationalen Finanzmärkten zu unterbinden, die sie durch „überstürzte Käufe“

zu Beginn selbst verursacht hatte, ging die französische Regierung im weiteren

Verlauf der Transferoperationen dazu über, „einem Bankensyndikat Bestellungen

auf Wechsellieferungen“28 zu erteilen.

Folgt man dieser Darstellung, so ist es einsichtig, dass Wechsel auf das Deutsche

Reich (also in deutscher Währung) den größten Anteil der französischen

Kriegsentschädigungszahlung ausmachten. Das Geld wechselte somit nur

innerhalb Deutschlands den Besitzer, nämlich von den Wechselschuldnern zur

Regierung. Dafür spricht auch von Waltershausens Hinweis auf die Verwendung

von „105 Millionen in deutschem Geld, das während der Okkupation in

Frankreich von deutschen Truppen ausgegeben worden war.“29 Dies waren danach

die einzigen deutschen Münzen, die direkt als Teil der

Kriegsentschädigungszahlungen übergeben wurden und physisch die Grenze

überquerten.

Gesichert, und für den Fortgang der Untersuchung bedeutsam, scheinen weiterhin

zwei Größen zu sein: Es kamen etwa 270 Mio. Franken in Form von

französischen Goldmünzen, sowie mehr als eine halbe Milliarde Franken in

englischen Wechseln (Pfund Sterling) zur Übergabe.30

Darüber hinaus ist der technische Ablauf der Zahlungen bis zu dem Zeitpunkt, ab

dem der Deutschen Regierung das Geld zur Verfügung stand, für den Zweck

dieser Untersuchung von untergeordneter Bedeutung.31

27 Vgl. Bamberger: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 242 f.28 Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 277.29 Von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 273.30 Vgl. Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 52. Vgl. auch Abschnitt

3.2.2 des vorliegenden Beitrages.31 Es überrascht allerdings, dass sowohl Samhaber (Kriegsentschädigung (wie Anm. 2),

z. B. S. 267) als auch Mackscheidt (Einkünfte (wie Anm. 2), S. 966) von der „Reichsbank“ und ihrer Beteiligung an den Transaktionen sprechen. Die Reichsbank wurde auf Betreiben der liberalen Reichstagsfraktionen gegen den Widerstand Preußens und Süddeutschlands erst durch das Bankgesetz 1875 gegründet und ging aus der Preußischen Bank hervor, vgl. z. B. Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 52.

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3 Verwendung und Wirkung des Geldes im Deutschen Reich

3.1 Die Ausgaben im Einzelnen

Darst. 1: Abrechnung über die französische Kriegsentschädigung

1 in Talern In Mark2 Kriegsentschädigung +1.333.333.333 +4.000.000.0003 Zinsen +80.317.856 +240.953.5684 Pariser Kontribution +53.505.865 +160.517.5955 Überschüsse der in Frankreich erhobenen Steuern und

örtlichen Kontributionen+17.600.000 +52.800.000

6 Abzüglich Wert der Eisenbahn Elsaß-Lothringens -86.666.666 -260.000.0007 1.398.090.388 4.194.271.1638 1.Reichsinvalidenfonds -187.000.000 -561.000.0009 2.Kriegsinvalidenpensionen vor Bildung des Fonds -16.196.674 -48.590.02210 3.Ersatz von Kriegsschäden und Kriegsleistungen -38.800.000 -116.400.00011 4.Entschädigung der deutschen Reederei -5.600.000 -16.800.00012 5.Umgestaltung und Ausrüstung der deutschen Festungen -72.000.000 -216.000.00013 6.Umgestaltung und Ausrüstung der Festungen in Elsaß-

Lothringen-43.280.950 -129.842.850

14 7.Erweiterung der Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen -57.205.887 -171.617.66115 8.Reichskriegsschatz -40.000.000 -120.000.00016 9.Ersatz von Reichsausgaben zur Kriegführung,

Entschädigung an Eisenbahnverwaltungen, Erneuerung von Kriegskarten, Kriegsgedenkmünzen

-43.120.793 -129.362.379

17 10.Okkupationskosten -21.815.000 -65.445.00018 11.Mehrkosten der Truppenbesatzung in Elsaß-Lothringen -4.581.938 -13.745.81419 12.Erweiterung der Kriegsmarine -31.949.890 -95.849.67020 13.Schießplatz der Artillerieprüfungskommission -1.618.267 -4.854.80121 14.Zum Betriebsfonds der Reichskasse und zu den eisernen

Vorschüssen für die Verwaltung des Reichsheeres-8.270.000 -24.810.000

22 15.Übernahme der von den Bundesstaaten gewährten Zoll- und Steuerkredite

-19.792.719 -59.378.157

23 16.Errichtung des Reichstagsgebäudes -8.000.000 -24.000.00024 17.Beihilfe an die aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen -2.000.000 -6.000.00025 18.Dotationen -4.000.000 -12.000.00026 19.Erwerb des Radziwillschen Palais an der Wilhelmstraße -2.011.328 -6.033.98427 790.846.942 2.372.540.82528 Zuzüglich Zinsen für vorübergehende Anlage +6.459.175 +6.459.17529 An Bayern -90.200.411 -270.601.23330 Gemeinsame Rechnung (übrige Staaten): Abtragung der

Reichsschuld für die Küstenbefestigung, Erweiterung von Dienstgebäuden

-6.119.000 -18.357.000

31 An Württemberg -28.500.870 -85.502.61032 Gemeinsame Rechnung (übrige Staaten)33 Betriebsfonds der Postverwaltung -1.750.000 -5.250.00034 Reorganisation des Heeres -106.846.810 -320.540.43035 An den Norddeutschen Bund -530.116.053 -1.590.348.15936 An Baden -20.133.182 -60.399.54637 An Südhessen -9.333.674 -28.001.02238 0 0

Werte nach Hohlfeld: Deutsche Reichsgeschichte (wie Anm. 5), S. 85 f. Darstellung in Anlehnung an Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 964. Die Wertangaben in Mark sind im Verhältnis 1 Taler = 3 Mark errechnet und stimmen mit geringfügigen Abweichungen mit den von Cohn: Finanzen (wie Anm. 11), S. 154-159 angegeben Werten überein.

10

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Über die konkrete Verwendung des Geldes aus der französischen

Kriegsentschädigungszahlung im Deutschen Reich sind detaillierte Aufstellungen

vorhanden. Diese stimmen in den verschiedenen Quellen nicht immer auf Mark

oder Taler überein, was angesichts unterschiedlicher Aufstellungsgrundsätze nicht

verwundert. Entscheidend und unstreitig sind aber Struktur und Größenordnung

der Ausgaben. Darstellung 1 gibt einen Überblick.

Diese Zahlen ergaben sich entsprechend der Vereinbarung, dass nach Bestreiten

der gemeinsamen Reichs- und Kriegsausgaben der deutschen Staaten das restliche

Geld zu drei Vierteln im Verhältnis der militärischen Inanspruchnahme und zu

einem Viertel im Verhältnis der Bevölkerungszahlen an die Einzelstaaten verteilt

werden sollte.32

Ein großer Teil der den Einzelstaaten zugekommenen Summen wurde zur

Rückzahlung aufgelaufener Staatsschulden verwendet, die sich 1871 für alle

Teilstaaten des Deutschen Reiches insgesamt auf etwa eine halbe Milliarde Taler

beliefen.33 Der Norddeutsche Bund tilgte innerhalb von zwei Jahren seine

Kriegsanleihen im Wert von mehr als 200 Millionen Talern34 und „[d]ie Bundes-

staaten verhielten sich nicht anders.“35 Daraus ergibt sich eine Summe von etwa

270 Millionen Talern, die der Volkswirtschaft bis 1873 zuströmten.36

Auf einzelne Posten von Abbildung 1 wird im folgenden Abschnitt näher

eingegangen, da ihre spezifischen Ausprägungen im direkten Zusammenhang mit

ihrer wirtschaftlichen Wirkung zu sehen sind.

3.2 Folgen der Ausgabepolitik für die Wirtschaft

3.2.1 Börse

Am 11. Juni 1870 wurde in Deutschland ein Bundesgesetz erlassen, das die

Bestimmungen zur Gründung von Aktiengesellschaften lockerte. Fortan war zu

diesem Zweck keine Genehmigung durch den jeweiligen Einzelstaat mehr

notwendig.37 Dieses Gesetz, das seinem Anspruch, Gläubiger und Schuldner

besser zu schützen, nicht gerecht wurde und im Gegenteil zu hemmungslosen

32 Vgl. S. Cohn: Die Finanzen des Deutschen Reiches seit seiner Begründung, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1899, Glashütten im Taunus 1972, S. 159.

33 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 8. 34 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 586.35 Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 279.36 Vgl. Von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 273.37 Vgl. ebenda, S. 275.

11

Page 12: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

Gründungsabenteuern einlud38, „bildete ein ungeheures Stimulans“39 für die

Kapitalmärkte.

Ähnlich mussten die großen Summen wirken, die durch die Rückzahlung der

Staatsschulden zurück in die Hände der Anleger gelangten. Auch die 561

Millionen Mark des neu aufgelegten Reichsinvalidenfonds (siehe Darstellung 1,

Zeile 8) und andere Mittel des Reiches flossen dem Kapitalmarkt zu.40

Weitgehend unstreitig ist deshalb die Annahme, dass die erhöhte Liquidität sich

auf die Entwicklung am Aktienmarkt unterstützend und verstärkend auswirkte.

Wie groß ihre tatsächliche und direkte Verantwortung für den Börsenboom (und

den anschließenden Börsenkrach) der ersten Nachkriegsjahre gewesen ist, wird

jedoch in der Literatur unterschiedlich eingeschätzt.

Nach Soetbeer sind die enormen Kurssteigerungen bestehender und der Ansturm

auf neue Aktiengesellschaften nur durch das durch Rückzahlung der sicheren

Staatsanleihen auf der Suche nach neuen Anlagen befindliche Geld möglich

gewesen. Im Zuge dieser Entwicklung sei es dann soweit gekommen, dass

Anlagen von sicheren in riskantere Papiere der Industrie umgeschichtet wurden.41

Für Böhme war es hingegen die höhere Renditeerwartung der

Industrieunternehmen im Vergleich zu festverzinslichen Wertpapieren, die das

flüssige Geld angelockt hat.42

Nach der erstgenannten Deutung wäre das vorhandene Kapital durch die

Rückzahlung der Staatsschulden praktisch gezwungen worden, sich

spekulativeren Anlagen zuzuwenden, während gemäß der zweiten Deutung eine

Tendenz zu riskanteren Beteiligungen schon vorher vorhanden gewesen sein

müsste.

Einiges spricht dafür, dass bereits vor dem Zufluss der französischen Milliarden

eine solche spekulative Grundeinstellung die Kapitalmärkte beherrschte. So

wurden zwar insgesamt im Deutschen Reich in den Jahren 1871 bis 1873 viermal

mehr Aktiengesellschaften als seit Beginn des Jahrhunderts gegründet.43 Schon im

38 Vgl. Max Wirth: Geschichte der Handelskrisen, 2., vervollständigte und verbesserte Auflage, Frankfurt a. M. 1874, S. 434.

39 Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 497.40 Vgl. Helmut Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von

Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln/Berlin 1966,. S. 325 f.

41 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 43.42 Vgl. Böhme: Großmacht (wie Anm. 12), S. 326.43 Vgl. Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (1871-1918), in: Theodor

Schieder (Hg.), Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 6), Stuttgart 1968, S.

12

Page 13: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

Jahr 1871 verdoppelte sich allerdings die Anzahl der preußischen

Aktiengesellschaften, wobei die neuere Hälfte ein Kapital von 800 Millionen

Mark aufwies.44 Der größte Teil der französischen Zahlung, 3 Milliarden Franken,

kam jedoch erst nach der Jahresmitte 1872 zur Übergabe. Von Mitte bis Ende

1871 wurde hingegen nur etwas mehr als der Gegenwert von 1 Milliarde Mark

gezahlt.45 Es wäre unrealistisch, die genannten neuen Aktiengesellschaften

allesamt direkt mit diesem Geld in Verbindung zu bringen, zumal die

Gründungswelle schon vor dem ersten Zahlungstermin begonnen hatte.

Ein weiterer Anhaltspunkt ergibt sich aus dem unerwarteten Erfolg der ersten

französischen Staatsanleihe über 2 Milliarden Franken. Einem geschlagenen und

besetzten Land, das überdies schwere Verwüstungen erlitten hatte, Kapital in

solchem Umfang zur Verfügung zu stellen, spricht ebenfalls nicht für eine

zurückhaltende Stimmung an den Kapitalmärkten.

Ähnliche Schlüsse lassen sich mit Blick auf die Umstände der zweiten

französischen Staatsanleihe ziehen. Gegenüber dem Ausgabekurs von 84,5%

gewann das Papier innerhalb von nur zwei Tagen fünf Prozentpunkte hinzu.46 Dies

ist ein deutlicher Hinweis auf die „internationale Spekulation“, die dafür sorgte,

dass die Rententitel erst nach Jahren „eine dauerhafte Unterbringung fanden.“47

Dass es nicht die französischen Milliarden allein gewesen sein können, die die

Spekulationswelle am deutschen Kapitalmarkt auslösten und ermöglichten, wird

auch offensichtlich, wenn man sich das Verhalten der deutschen Anleger bei den

französischen Anleihen vor Augen führt.

Die deutschen Zeichnungen bei beiden Platzierungen entsprachen zusammen in

etwa der Summe, die Frankreich insgesamt schuldig war – und gerade mit diesen

Anleihen aufzubringen suchte.48 Daraus wird ersichtlich, dass die

Spekulationsneigung schon vorhanden gewesen sein muss, bevor das Geld aus

Frankreich tatsächlich floss.

Auch die in Darstellung 2 gezeigte Entwicklung verschiedener Kennziffern des

Kapitalmarktes legt eine derartige Deutung nahe.

198-230, hier S. 207.44 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 497.45 Vgl. dazu die Abschnitte 2.1.1 und 2.1.2 des vorliegenden Beitrages.46 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 592.47 Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 275.48 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 592.

13

Page 14: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

Darst. 2 Entwicklung am deutschen Kapitalmarkt 1866-1875

70

80

90

100

110

120

130

140

150

160

170

1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875Jahr

%

Index der Durchschnittskursefestverzinslicher Papiere anden deutschen Börsen

Index der durchschnittlichenEffektivverzinsung derpreußischen Staatsanleihen

Index der durchschnittlichenAktienkurse an dendeutschen Börsen

Absolute Werte nach Spree: Wachstumszyklen (wie Anm. 4), S. 377 f. Die Indexziffern wurden daraus berechnet und auf das Jahr 1866 normiert.

So verringerte sich die Effektivverzinsung der preußischen Staatsanleihen am

stärksten bereits zwischen 1870 und 1871 (was gleichbedeutend mit einer

Kurssteigerung dieser Anleihen war), während die Aktienkurse im gleichen

Zeitraum ihre erste große Steigerung erfuhren.

Wirth konstatiert denn auch, dass der Einfluss der

Kriegsentschädigungszahlungen auf die Börse von den Marktteilnehmern „um

mehr als ein Jahr zum Voraus escomptirt49 und überdies noch überschätzt“50

worden war.

Es wird deutlich, dass die fünf Milliarden nicht direkt für den Beginn des

Börsenbooms verantwortlich gemacht werden können. Inwieweit die Spekulation

allein schon von der Aussicht auf die französischen Zahlungen getrieben war,

muss jedoch dahingestellt bleiben. Es liegt nahe, hier mit Stern von einem

Zusammenspiel mehrerer Faktoren auszugehen, die sich nicht losgelöst

voneinander betrachten lassen. Zu nennen ist hier neben dem neuen Aktiengesetz,

einer aufgrund hoher Liquidität erleichterten Kreditvergabe durch die Banken und

der Aussicht auf das dem Kapitalmarkt in naher Zukunft voraussichtlich

zufließende Geld auch die allgemein positive Stimmung in Deutschland nach der

Reichsgründung.51

Es bleibt deshalb eine offene Frage, wie die Entwicklung an der Börse weiter

verlaufen wäre, wenn anders mit dem französischen Geld umgegangen und

beispielsweise der Forderung nachgekommen worden wäre, die Mittel zunächst

49 Das französische Wort escompter bedeutet soviel wie ‚erwarten‘, ‚rechnen mit‘.50 Wirth: Handelskrisen (wie Anm. 12), S. 434.51 Vgl. Stern: Gold and Iron (wie Anm. 7), S. 181.

14

Page 15: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

zinstragend im Ausland anzulegen und nur auf lange Zeit verteilt dem deutschen

Kapitalmarkt zuzuführen.52

3.2.2 Goldwährung

Beginnend mit dem Münzgesetz vom 4. Dezember 1871 führte das Deutsche

Reich den Übergang zum Goldstandard durch. Es wurden Reichsgoldmünzen im

Wert von 20, zehn und anfangs auch fünf Mark geprägt, während die Herstellung

weiterer Silbermünzen unterbunden wurde. Eine Mark entsprach dabei dem

Drittel eines Talers53, der zuvor in Preußen gegolten hatte und damit die

bestimmende Währung Norddeutschlands gewesen war.

Auf die kontroversen Diskussionen54 über die Einführung der Goldwährung und

die genaue gesetzliche Ausgestaltung dieses Vorhabens kann an dieser Stelle nicht

eingegangen werden.

Verschiedene Argumente sprachen für die Umstellung auf den Goldstandard.

Zusätzlich zu der Vereinheitlichung der zerstückelten Währungslandschaft des

Deutschen Reiches, auf dessen Gebiet es zur Zeit seiner Gründung insgesamt

sieben verschiedene Währungseinheiten gegeben hatte55, wurde mit der Goldmark

auch ein vereinfachtes System von Nennwerten (1 Mark = 100 Pfennige)

eingeführt, das eine einfachere Handhabung des Bargeldes im Geschäftsverkehr

versprach. Ein gewichtiger Grund lag weiter in der „Erleichterung und Sicherung

des internationalen Geschäfts.“56 Das Projekt Goldwährung hatte damit einen

hohen wirtschaftspolitischen Stellenwert.

Für das Gelingen der Währungsumstellung war es unumgänglich, „eine

entsprechende Quantität Silber gegen das auszuprägende und in Umlauf zu

setzende Gold einzuziehen.“57 Da zeitgleich weitere Länder mit der Einführung

der Goldwährung beschäftigt waren, zeichnete sich ein Verfall des Silberpreises

ab. Zusätzliche Kosten wurden wegen starker Abnutzung einiger Münzsorten

erwartet. Zusammen mit den Herstellungskosten der Goldmünzen, für die auch

das Prägematerial erst noch beschafft werden musste, wurden Umstellungskosten

52 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 46 f.53 Vgl. Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 52.54 Vgl. Michael North: Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart,

München 1984, S. 149 f.55 Vgl. Ludwig Bamberger: Zur deutschen Münzgesetzgebung. Vortrag, 1871 im Berliner

Handwerkerverein gehalten, in: Karl Helfferich (Hg.), Ausgewählte Reden und Aufsätze über Geld- und Bankwesen von Ludwig Bamberger (Schriften des Vereins zum Schutz der deutschen Goldwährung, Bd. 1), Berlin 1900, S. 219-244, hier S. 240.

56 Hermann Kellenbenz: Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2), München 1981, S. 287.

57 Helfferich: Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 41.

15

Page 16: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

bis zu 15 Millionen Talern veranschlagt. Aus diesem Grund hätte es bei

„normalem“ Verlauf der Dinge wohl viel länger bis zur Umsetzung des Projekts

gedauert.58

Die außergewöhnlichen Geldzuflüsse aus Frankreich veränderten die Lage jedoch

drastisch. Die Beschaffung des Prägematerials war nun kein Problem mehr. Der

kleine Teil der Kriegsentschädigung, den Frankreich in Goldmünzen leistete, fand

teilweise als Reichskriegsschatz (siehe Darstellung 1, Zeile 15) Verwendung, der

bar gelagert wurde.59 Der Rest diente der Herstellung deutscher Goldmünzen. Auf

Pfund Sterling lautende Wechsel aus den französischen Zahlungen wurden dafür

benutzt, am Londoner Edelmetallmarkt weiteres Prägematerial zu kaufen.

Insgesamt stand so für etwa 600 Millionen Mark Gold zur Verfügung60, ohne dass

dieses Geld erst durch den mühsamen Verkauf von Silber hätte aufgebracht

werden müssen.

Die Leichtigkeit, mit der das benötigte Gold aufgrund der

Entschädigungszahlungen beschafft werden konnte, war jedoch mit der

nachteiligen Tatsache verknüpft, dass durch diese Zahlungen auch das Problem

der Silberabstoßung noch verschärft wurde, weil Teile davon aus Silbermünzen

bestanden.61 Zudem wurde die Bedeutung dieser aufgrund der zu erwartenden

Verluste relativ unpopulären Maßnahme von Seiten einiger Politiker

unterschätzt.62

Als am 1. Januar 1876 die alten Währungen außer Kraft gesetzt wurden, waren

noch immer Silbermünzen im Umlauf, die ihren Wert behielten.63 Die deutsche

Goldwährung blieb deshalb noch lange eine „hinkende“64, d.h. es waren neben

Gold- und Scheidemünzen65 auch noch die alten Silbertaler im Umlauf.

Das Ende des Wirtschaftsaufschwungs fiel in etwa mit den letzten französischen

Zahlungen zusammen. Die starke Geldvermehrung, die während der ersten

Nachkriegsjahre die Hochkonjunktur mit angetrieben hatte, trat nun offen zu

58 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 28 f.59 Diese „häufig als veraltet und überholt“ bezeichnete Vorgehensweise hatte sich auch bei

der Mobilmachung 1870 als Übergangslösung wieder als „sehr nützlich“ erwiesen, bis die Finanzierung des Militärs anderweitig sichergestellt werden konnte (Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 585).

60 Vgl. Schumpeter: Konjunkturzyklen (wie Anm. 8), S. 324.61 Vgl. Helfferich: Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 79.62 Vgl. ebenda, S. 47.63 Vgl. North: Geld (wie Anm. Error: Reference source not found), S. 149.64 Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 52.65 Scheidemünzen enthielten weniger Metall als es ihrem Nominalwert entsprach. Sie

dienten der Erleichterung des Zahlungsverkehrs, da sie kleinere Stückelungen der Währungseinheit ermöglichten. Sie mussten meist nur bis zu einem bestimmten Höchstbetrag angenommen werden.

16

Page 17: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

Tage. Tatsächlich verkehrten sich die Wechselkursverhältnisse so sehr

zuungunsten des Deutschen Reiches, dass es zu starken Goldabflüssen kam „und

sich im inneren deutschen Verkehr ein Agio auf Goldgeld [bildete]“66, was den

Kritikern der Goldwährung neuen Aufschwung gab.

Die Einflüsse der französischen Kriegsentschädigungszahlung auf die

Entwicklung der deutschen Goldwährung sind unübersehbar. Eine Bewertung fällt

indes nicht leicht. Man darf davon ausgehen, dass auch ohne das Geld aus

Frankreich die Goldwährung eingeführt worden wäre, denn dieses Projekt war

schon lange vor der Reichsgründung in Deutschland diskutiert worden.67 Wann

dies aber bei einem anderen Verlauf der Geschichte geschehen, und ob es dabei in

vergleichbarem Umfang zu einem Problem mit der Einziehung des Silbers

gekommen wäre, kann nicht beantwortet werden.

Für Soetbeer war es letztlich die einfacher ermöglichte Durchführung der

Münzreform, die ihn trotz der ungesunden Entwicklungen in Kapital- und

Realwirtschaft noch von einem insgesamt kleinen Vorteil der

Kriegsentschädigung für Deutschland sprechen ließ.68

3.2.3 Sonstiges

Dieser Unterabschnitt soll weitere Zusammenhänge knapp beleuchten, die mit

dem Zufluss des Geldes aus Frankreich in Verbindung gebracht werden können.

Große Summen aus der Kriegsentschädigung flossen direkt in die Rüstung (siehe

Darstellung 1, Zeilen 12, 13, 16-20, 34). Außerdem finanzierte das Deutsche

Reich einen Aufrüstungsplan, der über mehrere Jahre verteilt über eine Milliarde

Mark ausmachte und zumindest teilweise ohne die Kriegsentschädigung nicht

hätte verwirklicht werden können.69 Zusammen mit großen Summen, die für die

Erweiterung der Eisenbahnen vorgesehen waren70, ergaben sich daraus starke

Wachstumsimpulse vor allem für die Montanindustrie.

Bei der Interpretation dieser Vorgänge gibt es einander zuwiderlaufende

Positionen. Böhme bezeichnet besonders Festungsbau und Reorganisation des

Heeres als „unproduktive, geldaufwendige, konjunkturfördernde Anlagen“71. Nach

66 Helfferich: Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 84 f.67 Vgl. North: Geld (wie Anm. Error: Reference source not found), S. 145.68 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 55.69 Vgl. Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 969.70 Vgl. Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 279 f.71 Böhme: Großmacht (wie Anm. 12), S. 325. Daran ist zumindest die Wortwahl

fragwürdig, denn gemeinhin bezeichnet Produktivität das Verhältnis zwischen Output und Input, über das in diesem Fall allein durch den Hinweis auf das Einsatzgebiet der Gelder noch gar nichts ausgesagt ist. Offenbar hat der Autor eine Unterscheidung im Sinn, in der

17

Page 18: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

seiner Deutung ging das Wachstum der Grundstoffindustrie allerdings einher mit

einem allgemeinen Produktionswachstum und den damit verbundenen Effekten

höheren Waren- und Geldumlaufs, sowie höherer Preise72 und Löhne. Insgesamt

habe sich eine „krasse Überhitzung der Konjunktur“73 eingestellt. Folgerichtig

musste die Wirtschaftsentwicklung nach dem erzwungenen Ende der expansiven

Finanzpolitik, nämlich infolge der abgeschlossenen Zahlungen aus Frankreich,

eine krisenhafte Wendung nehmen.

Mackscheidt rückt demgegenüber den Aspekt eines fehlenden Angebots in den

Mittelpunkt seiner Betrachtung. Die vom Staat verausgabten Mittel, sei es für das

Militär oder auch die direkten Transfers, etwa durch den Reichsinvalidenfonds,

landeten letztlich bei privaten Haushalten (in der Interpretation von Böhme

geschah dies indirekt über die steigenden Löhne der Baubranche ebenfalls). So sei

durch die Art der Verwendung des Geldes durch den Staat einerseits „eine

Steigerung des privaten Güterangebots“74 verhindert, andererseits gerade die

Nachfrage nach einem solchen erhöht worden. Angesichts der Übernachfrage

mussten die Preise steigen und damit einen Teil des Wohlfahrtszuwachses wieder

zunichte machen.

Unabhängig davon, wie man sie beurteilt, ist festzuhalten, dass die beschriebenen

Maßnahmen in den ersten Jahren des Deutschen Reiches nur deshalb ergriffen

werden konnten, weil der Staatshaushalt kaum mit Schulden belastet war.75 Dies

wird denn auch als einer der Hauptvorteile der französischen Zahlungen gesehen76.

Direkt anschließend an die Betrachtung der Staatsfinanzen folgt die des

Steuerrechts. Es gibt Berechnungen, wonach ohne Zahlungen aus Frankreich die

durchschnittliche Steuerlast pro Haushalt nach der Reichsgründung um fast ein

Viertel hätte ansteigen müssen.77 Obwohl angenommen werden kann, dass das

Ausbleiben einer negativen Folge weniger stark wirkt, als das Eintreten einer

positiven, so ist es doch offensichtlich, dass die wirtschaftliche Stimmung im

Lande und bei jedem einzelnen ungleich besser war, als sie es bei erhöhten

lediglich solche Anlageinvestitionen als „produktiv“ bezeichnet werden, die nach ihrer Fertigstellung einem wirtschaftlichen Zweck dienen, z.B. Fabrikgebäude oder Straßen. Die eigentliche Kritik bestünde dann darin, dass der Staat durch die Verwendung des Geldes falsche Anreize gesetzt habe.

72 Während Böhme (Großmacht (wie Anm. 12), S. 326) vor allem auf höhere Preise für Luxusgüter hinweist, spricht Soetbeer (Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 52) von gesteigerten Mieten und erhöhten Preisen für Güter des täglichen Bedarfs.

73 Böhme: Großmacht (wie Anm. 12), S. 326.74 Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 969. In diesem Punkt ähnelt Mackscheidts

Argumentation der von Böhme beklagten „Unproduktivität“ der staatlichen Anlagen. Vgl. Anm. 17.

75 Vgl. Abschnitt 3.1.76 Vgl. z.B. von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 274.77 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 31.

18

Page 19: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

Steuern gewesen wäre. Der Umfang und damit die Auswirkungen dieses

psychologischen Effekts lassen sich aber ebenso wenig quantifizieren, wie die

vorhandene Begeisterung über die nationale Einigung und die große „Geldstrafe“,

die Frankreich auferlegt wurde. Dass Stimmungen teilweise erhebliche

Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben haben und hatten, darf hingegen als

gesichert bezeichnet werden.

3.3 Transfertheorie

3.3.1 Klassischer Transfermechanismus

Gegenstand der Transfertheorie (eines Bestandteils der Außenhandelstheorie) sind

die Wirkungen, die Kapitaltransfers zwischen Ländern auf deren

Volkswirtschaften haben. Solche Transfers können beispielsweise in

Entwicklungshilfe, internationalen Anleihen oder eben Reparationszahlungen

bestehen.

Untersucht werden dabei konkret die verschiedenen Positionen der

Zahlungsbilanzen der beteiligten Länder. Da die Zahlungsbilanz nach ihrer

Definition immer ausgeglichen ist, muss die Kapitalübertragung aus dem

Geberland entweder eine Kapitalrückübertragung aus dem Empfängerland zur

Folge haben, oder einen Überschuss in der Leistungsbilanz des Geberlandes, d. h.

eine gesteigerte Ausfuhr von Gütern in das Empfängerland.

Von Hauptinteresse für die Untersuchung ist dabei weniger der monetäre

Transfer, d. h. die tatsächliche Übertragung der Zahlungsmittel vom Geber- ins

Empfängerland, sondern vielmehr der reale Transfer, also genau die Frage

danach, wie sich die erfolgte Bezahlung real auf die Wohlstandssituation in den

beiden Ländern ausgewirkt hat.78 Nicht im Modell berücksichtigt sind deshalb

Änderungen der Geldmengen, Zinsen, Devisenreserven und -kurse, die je nach

Vorliegen fester oder flexibler Wechselkurse sowie bestimmter Voraussetzungen

durch den monetären Transfer hervorgerufen werden können. Es wird vielmehr

davon ausgegangen, dass der monetäre Transfer erfolgreich war und Kaufkraft

78 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Soetbeer (Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 33), der mit Bamberger von „wirklicher Liquidation“ spricht und damit den Sachverhalt meint, dass allein das zuströmende Geld noch keinen Vorteil für das Empfängerland in sich trägt. Ein solcher stellt sich erst ein, wenn mit diesem Geld der tatsächliche Güterbestand vermehrt werden kann, also gesteigerte Importe möglich sind. Dies ist auch unmittelbar einsichtig, denn in einer geschlossenen Volkswirtschaft würde etwa eine Verdoppelung der Geldmenge lediglich eine Zunahme aller Preise im gleichen Umfang nach sich ziehen, nicht aber einen positiven Wohlfahrtseffekt.

19

Page 20: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

entsprechend dem Nennwert der übertragenen Zahlungsmittel vom Geber- auf das

Empfängerland übergegangen ist.79

Das Modell des klassischen Transfermechanismus basiert auf folgenden

Annahmen: Die übertragenen Zahlungsmittel stammen weder im Geberland aus

einem gehorteten Vorrat, noch werden sie im Empfängerland einem solchen

zugeführt. Multiplikatoreffekte80 sind ausgeschlossen und die in beiden Ländern

herrschende Vollbeschäftigung wird durch die Kräfte des Marktes konstant

gehalten.

Betrachtet man nur zwei Länder, dann führt eine Kapitalübertragung, die im

Geberland gleichmäßig von allen privaten Haushalten aufgebracht (z.B. durch

eine Steuererhöhung) und im Empfängerland ebenso gleichmäßig an alle privaten

Haushalte verteilt wird (z.B. durch erhöhte Transferzahlungen oder

Steuersenkungen), im Geberland im kompletten Umfang des

Übertragungsnennwertes zu einer Verringerung der Ausgaben für einheimische

und auswärtige Güter, während im Empfängerland genau der umgekehrte Fall

eintritt. Die veränderten Nachfragebedingungen der jeweiligen Importgüter führen

auch zu einer Veränderung der Handelsbeziehung zwischen beiden Ländern. In

Abhängigkeit von den jeweiligen marginalen Importquoten ist dann eine Aussage

über den Umfang des realen Transfers möglich. Nur für den Fall, dass die

marginalen Importquoten beider Länder sich zu 1,0 addieren, entspräche der reale

dem monetären Transfer. Bei einer zu unterstellenden Summe der beiden

marginalen Importquoten von kleiner als 1,0, ist ein Ausgleich der Zahlungsbilanz

nur über sinkende Preise im Geberland möglich, die zu höheren Exporten führen

würden. Dies ist auch das bei einer in beiden Ländern funktionierenden

Goldwährung zu erwartende Ergebnis. Eine Verbesserung der „terms of trade“81

zum Vorteil des Empfangslandes hätte somit dort eine zusätzliche

Wohlfahrtssteigerung zur Folge.82

79 Zu grundlegenden Ausführungen zur Transfertheorie vgl. J. Schröder: Transfertheorie, in: Willi Albers u. a. (Hg.), Handbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 8, Stuttgart u. a. 1980, S. 8-17, hier S. 8 f.

80 Multiplikatoren beschreiben in der Makroökonomie den Umfang, in dem sich die Veränderung einer gesamtwirtschaftlichen Determinante auf das Gleichgewichtseinkommen auswirkt. Z. B. gibt der Investitionsmultiplikator Auskunft darüber, wie stark das Einkommen bei einer Erhöhung der autonomen Investitionsausgaben um eine Einheit steigt. Vgl. etwa Rüdiger Dornbusch/Stanley Fischer: Makroökonomik, München 1995, S. 77 ff.

81 Dieser Begriff bezeichnet das Verhältnis der Preise verschiedener Länder und ist damit ein Bestimmungsgrund für die Entwicklung der jeweiligen Im- und Exporte.

82 Zum realen Transfermechanismus vgl. Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 957 f.

20

Page 21: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

3.3.1 Modernere Modelle

Die Kritik am klassischen Transfermechanismus zielt sowohl auf die sehr

restriktiven Prämissen, die in der Realität kaum anzutreffen sein dürften, als auch

auf den nur geringen Erkenntniswert der damit vorgenommenen Analysen, da

wichtige ökonomische Zusammenhänge nicht in Ansatz gebracht werden.83

An der Diskussion über die deutschen Reparationszahlungen nach dem 1.

Weltkrieg lassen sich exemplarisch grundlegende Standpunkte darstellen.

Während Keynes annahm, dass nur eine deutliche Verschlechterung der „terms of

trade“ zuungunsten Deutschlands den notwendigen Realtransfer ermöglichen

könnte, und er deshalb eine stark steigende Arbeitslosigkeit in Deutschland

befürchtete, stand er den Reparationszahlungen kritisch gegenüber.

Im Gegensatz dazu war Ohlin davon überzeugt, dass es die

Kaufkraftveränderungen in den beteiligten Ländern erlaubten, einen Realtransfer

auch ohne große Verschiebungen in den Preisverhältnissen (und damit auch in

den Beschäftigungsraten) zu erreichen. Interessanterweise nahm er damit eine

Position ein, die später Bestandteil der Keynesschen Transfertheorie wurde.84

Der Keynessche Transfermechanismus geht von genereller Unterbeschäftigung in

den untersuchten Ländern aus, was Kapitalübertragungen ohne Veränderungen

der „terms of trade“, sowie Einkommensveränderungen über Multiplikatoreffekte

ermöglicht. Außerdem wird Horten und Enthorten berücksichtigt, was

Kaufkraftübertragungen ohne Nachfrageveränderungen vorstellbar macht.

Die auf dieser Vorstellung aufbauenden Analysen sind sehr kompliziert und für

das weitere Verständnis nicht im Einzelnen erforderlich, weshalb nur ein Beispiel

den Interpretationsunterschied im Vergleich zum klassischen

Transfermechanismus deutlich machen soll. Führt der monetäre Transfer im

Geberland zu einem Nachfragerückgang (z.B. weil er durch Steuererhöhungen

aufgebracht wird) und wird die zusätzliche Kaufkraft im Empfängerland gehortet,

so kann es zu Einkommensrückgängen in beiden Ländern kommen. Die

gesunkene Nachfrage im Geberland überträgt sich in Form niedrigerer Importe

aus dem Empfängerland auf dieses. Die dadurch hervorgerufene Verbesserung der

Leistungsbilanz des Geberlandes wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass

geringeren Importen auch geringere Exporte gegenüberstehen, da ja im

Empfängerland ebenfalls ein Nachfragerückgang aufgetreten ist. Ein Realtransfer

83 Vgl. ebenda, S. 958.84 Zur Keynes-Ohlin-Debatte vgl. Schröder: Transfertheorie (wie Anm. 20), S. 11.

21

Page 22: Die französische Kriegsentschädigung und die Nachkriegskonjunktur 1871-1873

bleibt somit zu erwarten, allerdings in geringerem Umfang als der vorangehende

monetäre Transfer.85

Als dritte Denkrichtung soll abschließend die neoklassische Transfertheorie

angeführt werden. Diese gibt die den beiden anderen Modellen implizit zugrunde

liegende Annahme auf, Kapital sei bezüglich seiner Natur als Produktionsfaktor

immobil.86 Somit müssen neben den Nachfrage- auch die Angebotswirkungen der

Kaufkraftübertragungen berücksichtigt werden. Beispielsweise hängen die

Veränderungen der „terms of trade“ zwischen Geber- und Empfängerland nun

davon ab, in welchen Sektoren der beiden Volkswirtschaften Ab- und Zunahmen

der Produktionsfaktoren auftreten.

3.3.2 Anwendung auf vorliegende Statistiken

Obwohl die Erkenntnisse zum monetären Transfer und auch zur Verwendung des

Geldes aus der französischen Kriegsentschädigung, wie in den vorherigen

Abschnitten dargestellt, überwiegend unstreitig sind, können die Daten die

Anforderungen einer modernen Transferanalyse nicht erfüllen. Multiplikator- und

Angebotswirkungen lassen sich anhand des vorliegenden empirischen Materials

nicht nachvollziehen und „in der Regel reichen die Fakten allenfalls aus, den

klassischen Transfermechanismus zu überprüfen.“87

Auch dies muss allerdings nicht bloß aufgrund häufig nur geschätzter Statistiken

problematisch bleiben, sondern auch wegen der vielfach nicht erfüllten

Modellprämissen.

So wurde das Geld für die Kriegsentschädigung in Frankreich durch die beiden

Anleihen nicht gleichmäßig von allen Haushalten aufgebracht. Geht man etwa

davon aus, dass wohlhabende Franzosen ihr Vermögen im Hinblick auf die guten

Renditeaussichten der Staatsanleihen lediglich umschichteten, so lag im Gegenteil

85 Vgl. ebenda, S. 12. Im Zusammenhang mit diesem Beispiel erscheint auch der Vorschlag, das empfangene Geld zunächst im Ausland anzulegen und nur behutsam dem Wirtschaftskreislauf des Deutschen Reiches zuzuführen, in einem neuen Licht (vgl. Abschnitt 3.2.1 des vorliegenden Beitrages). Zweifellos würde es sich bei einem solchen Vorgehen um ein Horten gehandelt haben, das eventuell die im Beispiel beschriebenen negativen Folgen für beide Länder hervorgerufen hätte. Diese Einschätzung ist aber nicht nur wegen mangelnder Überprüfbarkeit aufgrund fehlenden empirischen Materials, sondern auch deshalb problematisch, weil ein solcher in sich suboptimaler Umgang mit den Kriegsentschädigungszahlungen gesamtwirtschaftlich, mit Blick auf die sich überhitzende Konjunktur, möglicherweise das geeignete Mittel für eine langfristige Wohlstandsverbesserung gewesen wäre.

86 Die Demontagen durch die Sowjetunion in Ostdeutschland nach 1945 sind ebenso ein Beispiel für internationale Transfers in Form von Produktionsfaktoren, wie solche Entwicklungshilfezahlungen, die von den Empfängern zum Kauf von Maschinen im Geberland genutzt werden.

87 Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 965.

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ein Enthorten vor, dessen Wirkung auf die Nachfragestruktur in Frankreich

fraglich bleibt.88 Hinzu kommt die Tatsache, dass Teile der aufgenommenem

Mittel aus dem Ausland stammten, was unter Vernachlässigung der über einen

langen Zeitraum gestreckten Zinszahlungen als „Kriegsentschädigung mit

umgekehrtem Vorzeichen“ und damit als Kompensation für einen Teil der

französischen Transfers gesehen werden kann, die folglich real nicht die Höhe

von 5 Milliarden Franken erreichten.

Der Anteil von Gold an den übertragenden Zahlungsmitteln war relativ gering, so

dass auch der als „orthodoxe Lösung“89 bezeichnete Zahlungsbilanzausgleich über

veränderte Preise aufgrund der Goldströme zwischen den beteiligten Ländern

nicht vorgelegen haben kann.

Das Horten des Reichskriegsschatzes von 120 Millionen Mark und zumindest

anfangs auch des in England beschafften Prägegoldes90 „wirkte wie eine

Geldvernichtung“91, da dieser große Teil der Kriegsentschädigungszahlung nicht

unmittelbar im Wirtschaftskreislauf wirksam werden konnte.

Trotz der genannten Probleme sollen im Folgenden einige ausgewählte Zeitreihen

im Hinblick auf die dargestellten Schlussfolgerungen der Transfertheorie

betrachtet werden.

Ein Teil der starken Preissteigerungen92 im betrachteten Zeitraum ist zweifellos

auf die gute konjunkturelle Lage zurückzuführen. Dafür spricht auch, dass die

Preise bereits vor dem Beginn der französischen Zahlungen anzogen. Inflationäre

Einflüsse dürfen ebenfalls nicht vernachlässigt werden, aber auch ohne diese war

nach der klassischen Transfertheorie im Empfangsland des Kaufkrafttransfers eine

Preissteigerung zu erwarten.

88 Vorstellbar wäre es, dass Nachfragerückgänge in Frankreich hauptsächlich durch die schlechte wirtschaftliche Stimmung angesichts des verlorenen Krieges und der gespannten innenpolitischen Lage hervorgerufen wurden, und nicht bloß dadurch, dass Geld nicht mehr zur Verfügung stand, das ohne die beiden Anleihen hätte ausgegeben werden können.

89 Vgl. ebenda, S. 958.90 Vgl. Abschnitt 3.2.2.91 Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 966.92 Interessant an den dargestellten Preisindizes ist auch die zeitliche Komponente. Den

prozentual stärksten Preissteigerungen bei den Rohstoffen folgt mit Verzögerung ein Höhepunkt der Investitionsgüterpreise, der schon mit dem Beginn der Gründerkrise zusammenfällt. Daran lässt sich die Längerfristigkeit der Kalkulationen in der Schwerindustrie ablesen, die diese zu einem stabilisierenden Faktor in der schwankenden Konjunkturentwicklung macht.

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Darst. 3: Nettoinlandsprodukt, Preise, Außenhandel

1 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875

2 Nettoinlandsprodukt 14,19 14,17 14,65 15,68 16,45 17,55 17,65

3 Industrielle

Rohstoffpreise83 88 99 129 145 121 101

4 Großhandelspreise 89 90 96 111 118 109 98

5 Investitionsgüterpreise 152,2 150,5 150,1 156,4 178,8 199,7 186

6 Volumen Exporte 2016 1972 2361 2276 2149 2233 2393

7 Volumen Importe 1719 1734 2232 2571 2470 2519 2604

8 Leistungsbilanzsaldo 297 238 129 -295 -321 -286 -211

Werte nach Spree 1977.Zeile 2: Nettoinlandsprodukt (zu Faktorkosten) des Deutschen Reiches jeweiligen Gebietsstands in

Preisen von 1913 und Mrd. Mark, S. 370.Zeile 3: Preisindex für industrielle Rohstoffe in Deutschland, 1913 = 100, S. 371.Zeile 4: Index der Großhandelspreise in Deutschland, 1913 = 100, S. 372.Zeile 5: Preisindex für Investitionsgüter in Deutschland, 1913 = 100, S. 496.Zeile 6: Volumen der Exporte aus dem Zollverein/Deutschen Reich in konstanten Preise von

1837/41 und Mio. Mark, S. 385.Zeile 7: Volumen der Importe in den Zollverein bzw. das Deutsche Reich in konstanten Preisen

von 1837/41 und Mio. Mark, S. 388.Zeile 8: Leistungsbilanzsaldo in konstanten Preisen von 1837/41 und Mio. Mark, eigene

Berechnung aus den Werten der Zeilen 7 und 8.

Die Entwicklung der Im- und Exporte zeigt kein einheitliches Bild. Insgesamt

sind aber die Importe stärker gestiegen als die Exporte, was die Leistungsbilanz

des Deutschen Reiches in den Jahren der größten französischen Zahlungen, 1872

und 1873, passiv werden ließ. Auch wenn die beiden verwendeten

Zeitreihenreihen auf Preisen von 1837/41 beruhen und damit eine direkte Aussage

über den Umfang der Leistungsbilanzverschiebung im Vergleich zu dem

monetären Transfer der Kriegsentschädigung nicht erlauben, so ist doch die von

der klassischen Transfertheorie behauptete Tendenz dadurch bestätigt, dass sich

der Leistungsbilanzsaldo im Empfangsland, also im Deutschen Reich, verringert

hat.93

93 Vgl. ebenda, S. 966 f.

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4 Zusammenführung und Bewertung der Ergebnisse

In Deutschland herrschte nach gewonnenem Krieg und Reichsgründung allgemein

eine gute Stimmung. Der durch den Krieg unterbrochene Wirtschaftsaufschwung

setzte sich fort und an den Kapitalmärkten war die stimulierende Wirkung des

neuen Aktiengesetzes unübersehbar. In diese Situation fiel die Ankündigung, dass

Frankreich sich in den Friedensverhandlungen verpflichtet hatte, eine

Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franken zu bezahlen.

Die Folgen dieser Vereinbarung lassen sich ohne Berücksichtigung der deutschen

Regierungsentscheidungen nicht ermessen. Die Regierung war zunächst für die

Höhe der Summe verantwortlich, aber auch Auszahlungsarten und -zeiträume

lagen in ihrem Ermessens- und Verhandlungsspielraum. Obwohl sie sich des

außergewöhnlichen Umfangs der geplanten Finanztransaktion bewusst war,

unterschätzte sie offenbar die damit verbundenen Risiken und Schwierigkeiten. So

wurden die spekulativen Tendenzen an der Börse durch die sofortige Rückzahlung

der Staatsschulden verstärkt. Die eine möglichst schnelle Zahlung praktisch

erzwingende Besatzungspolitik in Frankreich und die Überführung großer

Summen in den ebenfalls am Kapitalmarkt aktiv werdenden Reichsinvalidenfonds

waren weitere Faktoren, die im Rückblick hauptsächlich die Art des Umgang mit

der Kriegsentschädigung für deren negative Auswirkungen verantwortlich

erscheinen lassen.

Der verzögerte Silbereinzug bei Einführung der Goldwährung ist ebenfalls ein

Beispiel für die Leichtfertigkeit, mit der von Seiten des Staates zu Werke

gegangen wurde. Es kann indes als erwiesen angesehen werden, dass sich der

frühzeitige Entschluss zur Währungsumstellung in hohem Maße den

außerordentlichen Einnahmen aus Frankreich verdankte.

Neben der indirekten Wirkung über die Börse, deren Höhenflüge nicht ohne

Wirkung auf Entscheidungen in der Realwirtschaft bleiben konnten (z.B. durch

erleichterte Kreditvergaberichtlinien bei den Banken), nahm die Regierung durch

ihre Aufrüstungs- und Bauprogramme (z.B. Eisenbahnen) auch direkten Einfluss

auf die reale Wirtschaftsentwicklung, der ohne Kriegsentschädigung sicherlich

von geringerem Umfang geblieben wäre. Dafür spricht auch die Tatsache, dass es

erst der für lange Zeit kaum verschuldete Haushalt dem Staat ermöglichte, in

seiner Ausgabenpolitik derart bestimmende Akzente zu setzen.

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Zieht man für einen Wohlstandsvergleich die Situation jedes Einzelnen heran, so

darf auch die konkrete positive Folge der auf niedrigerem Niveau verbliebenen

Steuern nicht unterschätzt werden.

Die transfertheoretischen Überlegungen zeigen, dass der monetäre Transfer sehr

viel geringer war, als es die Summe von fünf Milliarden Franken suggerierte. Es

muss jedoch davon ausgegangen werden, dass nur diese allerorts genannte

Summe Stimmung und Bewusstsein der handelnden Menschen bestimmten,

während dem faktisch entgegen gesetzte Entwicklungen wie das Horten von

Zahlungsmitteln in Deutschland oder Kapitalrücktransfers nach Frankreich in der

öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unberücksichtigt blieben. Legt man die

Einschätzung zugrunde, dass es nur zu einem vergleichsweise geringen

Realtransfer von Frankreich nach Deutschland gekommen ist, so ergibt sich eine

verblüffend einfache Erklärung für die als Auslöser der Gründerkrise

identifizierten Überkapazitäten des produzierenden Gewerbes: Wenn alle

Wirtschaftssubjekte falsche Erwartungen hegten, musste sich beim

Zusammentreffen der Ergebnisse ihres Handelns mit den realen Gegebenheiten

zwangsläufig eine Krise einstellen, in diesem Fall eine Wendung zum

Schlechteren.

Zweifellos verstärkte die Kriegsentschädigung den konjunkturellen Trend und

beschleunigte damit einen möglicherweise in jedem Fall bevorstehenden

Umschlag in eine Phase wirtschaftlicher Depression. Ganz anders hätte die

Bewertung allerdings wohl ausfallen müssen, wenn sich das Deutsche Reich

gerade in einer solchen Depression befunden hätte, als die Nachricht von der

Kriegsentschädigung bekannt wurde.94

5 Fazit

Letztlich ist es unmöglich, alle Einzelaspekte gegeneinander aufzurechnen und

damit eine sinnvolle Gesamtbewertung der Folgen der französischen

Kriegsentschädigung zu präsentieren. Aus welcher Sicht sollte dies auch

geschehen? Aus der eines Unternehmers oder der eines Arbeiters? Aus der Sicht

einer einzelnen Branche oder aus der des Finanzministers?

94 Vgl. ebenda, S. 969. Es ist in der Tat nicht zu sehen, wie eine solche Möglichkeit zu „deficit spending“ ohne Defizit im Rückblick negativ beurteilt werden könnte.

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So muss mit den herausgegriffenen Aspekten vorlieb genommen werden – auch

im Bewusstsein, dass diese streng genommen gar nicht unabhängig voneinander

betrachtet werden dürften.

Es gibt eine Indizienkette, die darauf hindeutet, dass Reichskanzler Bismarck im

Rückblick geäußert haben soll, er würde beim nächsten gewonnenen Krieg eher

dem Besiegten eine Entschädigung zahlen, statt umgekehrt.95 Einer derart

drastischen Einschätzung kann man sich nach den vorliegenden Ergebnissen nicht

anschließen.

Die Bewertung eines so außergewöhnlichen Finanztransfers, wie es die

französischen Kriegsentschädigungszahlungen im Zeitraum von 1871 bis 1873

waren, kann weder unabhängig von der konkreten wirtschaftlichen Lage, noch

unbeachtet der genauen Verwendung des Geldes vorgenommen werden.

Als Fazit bietet sich deshalb vielmehr die Feststellung an, dass auch die

Verwendung großer Summen einer sorgfältigen Planung bedarf, um das ihnen

innewohnende Potenzial gesteigerten Wohlstands in der Realität freizusetzen.

95 Zu den Aktenvermerken, die ein solches Zitat nahe legen, vgl. Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 281.

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