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Peter Schmid " Heinrich Wanderwitz (Hrsg. ) DIE GEBURT ÖSTERREICHS 850 Jahre Privilegium minus SCHNELL ý STEINER

DIE GEBURT ÖSTERREICHS - MGH-Bibliothek · 2011. 10. 14. · Peter Schmid " Heinrich Wanderwitz (Hrsg. ) DIE GEBURT ÖSTERREICHS 850 Jahre Privilegium minus SCHNELL ý STEINER

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Peter Schmid " Heinrich Wanderwitz (Hrsg. )

DIE GEBURT ÖSTERREICHS 850 Jahre Privilegium minus

SCHNELL ý STEINER

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Roman Deutizzgez"

Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel des 12. Jahrhunderts

Die Urkunde, die Kaiser Friedrich Barbarossa am 17. September 1156 über die Vereinbarungen des vorangegangenen Regensburger Reichstags ausstellte, und der Bericht, den Otto von Freising zwei Jahre später in seinen Gesta Friderici über diese Vorgänge niederschrieb, bilden für uns die beiden wichtigsten Quellen über die Erhebung Österreichs zum Herzogtum. Beide Texte bergen eine Fülle von Interpretationsproblemen; soweit sie rein quellenkritischer Natur

sind, werden sie in anderen Beiträgen dieses Bandes behandelt. Im folgenden sollen vielmehr die verfassungsgeschichtlichen Deutungsschwierigkeiten in den Blick genommen werden, die Privilegium minus und Gesta Friderici aufiverfen. Dabei werden drei Problemkreise im Zentrum der Betrachtung stehen: zuerst die lehnrechtliche Bedeutung des Gesamtvorgangs (I); dann die Bedeutung der einzelnen durch die Urkunde verbrieften Privilegien für die tatsäch- lichen Verfassungszustände des 12. Jahrhunderts (II); zuletzt die Frage nach den

�drei Grafschaften", die Ottos Bericht zufolge �von alters her" zur Mark Österreich gehörten und nun zusammen mit dieser das neugeschaffene Herzogtum bildeten (III). Alle drei Problemkreise sol- len jeweils vor dem Hintergrund des allgemeinen Verfassungswandels im 12. Jahrhundert ver- ortet werden, wobei diese Perspektive nicht nur das Verständnis für diese Fragen verbessern kann, sondern gleichzeitig umgekehrt das rechte Verständnis der beiden Texte auch helfen kann, diesen allgemeinen Verfassungswandel besser zu begreifen. Angesichts des Umstandes, dass beide Quellen, ihrer Bedeutung entsprechend, schon vielfach Gegenstand gelehrter Bemühungen gewesen sind, kann es dabei weniger um die Präsentation von umwälzenden Entdeckungen oder Neuerkenntnissen gehen als vielmehr um die kritische Auseinandersetzung

mit bisherigen Deutungen. Doch soll versucht werden, dabei den Blick gelegentlich auch auf

solche Phänomene zu lenken, die von der bisherigen Forschung vielleicht zuwenig beachtet

worden sind.

I

Das Privilegium minus beschränkt sich bei der Darstellung der Ereignisse auf dem Regensburger Hoftag auf das juristisch Relevante. Der Reihe nach werden die rechtsetzenden Akte genannt, zuerst die Rückgabe Bayerns an Kaiser Friedrich durch Heinrich Jasomirgott, dann die Weitergabe des Herzogtums an Heinrich den Löwen, die Rückgabe der Mark Öster-

reich an den Kaiser, das Fürstenurteil über die Erhebung der Markgrafschaft zum Herzogtum und schließlich dessen Vergabe an den Babenberger. ' In welchen Formen sich diese Rechtsakte

1 DF. l. 151; vgl. dazu auch Ferdinand OPLL, Die Regesten des Kaiserreiches unter Friedrich I., 1. Lieferung: 1152

(1122)-1158 (Regesta Imperii IV, 2/I), Wien - Köln - Graz 1980, Nr. 417.

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180 Roman Deutinger

vollzogen haben, sagt die Urkunde nicht; darüber belehrt uns Otto von Freising in seinen Gesta Friderici. 2 Ihm zufolge wurde das Herzogtum Bayern bei diesen Vorgängen durch sieben Fahnen symbolisiert. Die Siebenzahl der Fahnen ist etwas rätselhaft, doch waren damit ver- mutlich nicht sieben konkrete, verschiedene Rechte gemeint, sondern die mit dem Herzogtum

verbundenen Rechte in ihrer Gesamtheit. Bei der Investitur von Reichsfürsten in späteren Zeiten war es durchaus üblich, das Fürstentum durch mehrere Fahnen zu symbolisieren; der Akt

von 1156 ist dafür das früheste Beispiel. 3 Diese sieben Fahnen gab zuerst Heinrich Jasomirgott dem Kaiser, dieser unmittelbar darauf weiter an Heinrich den Löwen, der damit - nach jahr-

zehntelangem Streit - endlich rechtmäßiger Herzog von Bayern wurde. Zwei Fahnen, die die Mark Österreich - bis dahin ein fester Bestandteil Bayerns - repräsentierten, gab der Welfe

sofort wieder an Friedrich Barbarossa zurück. Daraufhin erklärte ein Rechtsspruch der deut-

schen Fürsten die bisherige Markgrafschaft Österreich zu einem Herzogtum. Damit erhielten die beiden symbolischen Fahnen eine neue, höhere Bedeutung, und in dieser erhöhten Bedeutung wurden sie schließlich an Heinrich Jasomirgott überreicht, der durch diesen Akt Herzog von Österreich wurde.

Der Bericht Ottos von Freising zeigt uns, wie komplizierte und abstrakte verfassungsrechtli- che Vorgänge durch symbolische Handlungen sinnfällig und allgemeinverständlich öffentlich dargestellt werden konnten. Im Hinblick auf diese Symbolhandlungen hat man der Passage des- halb schon oft die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Noch viel bemerkenswerter ist mei- ner Meinung nach aber etwas, das man bei Otto nicht findet, sondern allein im Privilegium

minus, und was, wenn ich recht sehe, bisher noch überhaupt nicht beachtet und gewürdigt wor- den ist. Das Privilegium minus von 1156 ist nämlich der erste explizite Beleg überhaupt dafür, dass das Herzogtum Bayern als Lehen betrachtet worden ist. Ausdrücklich heißt es da vom ducatus Bawarie, er sei in beneficium an Heinrich den Löwen vergeben worden, und analog dazu auch vom neugeschaffenen ducatusAustrie bei der Übertragung an Heinrich Jasomirgott. 4

Das ist bemerkenswerter, als es auf den ersten Blick aussieht, denn nach geläufiger Ansicht sind zwar schon in den vorausgehenden Jahrhunderten die jeweiligen bayerischen Herzöge mit ihrem Herzogtum belehnt worden, bis hin zu Arnulf, dem ersten Herzog des Hochmittelalters im frühen 10. Jahrhundert, 5 allein wenn man die zeitgenössischen Quellenberichte zu allen die-

sen Vorgängen durchmustert, so sieht die Sache anders aus. Etwa zwanzigmal ist zwischen 919

und 1156 das Herzogtum Bayern vergeben worden. In den meisten Fällen erfahren wir gar nicht genauer, unter welchen Umständen das geschehen ist; meistens sind wir schon froh, wenn wir halbwegs sicher die Regierungszeiten der Herzöge ermitteln können. Doch in allen Fällen, in

2 Gesta Friderici c. II, 55, hg. von Georg WArrz - Bernhard voN SI>tso% (NIGH SS rer. Germ. 46), Hannover - Leipzig 1912,160.

3 Karl-Friedrich KRIEGER, Die Lehnshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter (ca. 1200-1437)

(Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N. F. 23), Aalen 1979,37ff.

4 DF. I. 151: dux Austrie resignavit nobis ducanun Bauarie, quert statim in beneficium concessinuts duci Saxonie [.. 1 eundetn ducatum cum onini iure prefato patnto nostro Heinrico ei prenobilissme uxori sue Theodore in beneficium concessimus.

5 Friedrich MERZBACHER, Der Lehnsempfang der Baiemherzöge, in: ZBLG 41 (1978) 387-399.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 181

denen die Vergabe des Herzogtums ausdrücklich genannt wird, ist kein einziges Mal von einem feudtnn oder beneficium die Rede.

Dieser Quellenbefund als solcher ist eindeutig. Aber wie kann man ihn sich erklären? Bisher

gingen die Historiker offensichtlich stillschweigend davon aus, dass es sich dabei lediglich um ein Defizit der Quellenberichte handelt, dass das Herzogtum Bayern schon seit seinen Anfängen im 10. Jahrhundert ein Lehen war und die Verfasser der Quellen es bloß nicht für nötig befan- den, dies explizit zu erwähnen. Das scheint indes eine allzu leichtfertige und oberflächliche Erklärung. Sie setzt nämlich als gegeben voraus, dass schon seit dem 10. Jahrhundert das Lehnswesen ein integraler Bestandteil der Reichsverfassung gewesen ist, dass wir über die Gestalt dieser Reichslehnverfassung schon in dieser Zeit gut Bescheid wissen, und dass das Schweigen der Quellen bezüglich des Herzogtums Bayern lediglich eine seltene Ausnahme

wäre. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall! Seit einigen Jahren sind nämlich gerade diese Prämissen fragwürdig und Gegenstand einer grundlegenden Diskussion geworden. Auslöser dafür war die provokante These der britischen Historikerin Susan Reynolds, das Lehnswesen

sei im Mittelalter überhaupt unbekannt gewesen und erst von neuzeitlichen Juristen erfunden worden. 7 In dieser radikalen Zuspitzung ist die These zu Recht abgelehnt worden, denn wenig- stens seit dem 13. Jahrhundert sind die Zeugnisse für ein etabliertes System des Lehnswesens,

auch und gerade als Bestandteil der deutschen Reichsverfassung, so zahlreich und eindeutig, dass man an seiner Existenz nicht gut zweifeln kann. 8 Offen ist vorläufig jedoch die Frage, seit wann das so war. Reynolds' kühner Vorstoß hat zu einer erneuten Beschäftigung mit diesen Problemen geführt, und dabei hat sich gezeigt, dass auf diesem Feld viele scheinbare Gewissheiten auf recht fragwürdiger Grundlage beruhen. 9

Ohne nun zu dieser Diskussion grundsätzlich Stellung zu nehmen, kann man zu den frag- würdigen Grundlagen getrost auch den Lehnscharakter der deutschen Herzogtümer im 10. und

6 Dies gilt übrigens genauso schon für das agilolfingische Herzogtum; vgl. Philippe DEPREUX, Tassilon III et le

roi des Francs: examen d'une vassalite controversee, in: Revue Historique 293 (1995) 23-73, bes. 46ff.

7 Susan REYNOLDS, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994; ergänzend DIES.,

Afterthoughts on Fiefs and Vassals, in: The Haskins Society Journal 9 (1997) 1-15.

8 Vgl. v. a. die Besprechung von Karl-Friedrich KRIEGER, in: HZ 264 (1997) 174-179; ferner Karl-Heinz SPIESS,

Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter (Historisches Seminar-Neue Folge 13),

Idstein 2002,18f. 9 Siehe z. B. Brigitte KASTEN, Beneficitml zwischen Landleihe und Lehen - eine alte Frage neu gestellt, in:

Mönchtum - Kirche- Herrschaft 750-1000, hg. von Dieter BAUER u. a., Sigmaringen 1998,243-260; Hans-Werner

GoETZ, Staatlichkeit, Herrschaftsordnung und Lehnswesen im Ostfränkischen Reich als Forschungsprobleme, in: II feudalesimo nell'alto medioevo (Settimane di studio 47), Spoleto 2000,85-143, hier 116-123; Die Gegenwart des Feudalismus - Presence du feodalisme et present de la feodalite - The Presence of Feudalism, hg. von Natalie FREYDE u. a. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 173), Göttingen 2002; Roman DEUTINGER, Seit wann gibt es die Mehrfachvasallität?, in: ZRG Germ. Abt. 119 (2002) 78-105; Jürgen DENDORFER, Was war das Lehnswesen? Zur politischen Bedeutung der Lehnsbindung im Hochmittelalter, in:

Denkweisen und Lebenswelten des Mittelalters, hg. von Eva SCHLOTHEUBER, München 2004,43-64; Stephen D. WHITE, Re-Thinking Kinship and Feudalism in Early Medieval Europe, Aldershot 2005.

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11. Jahrhundert rechnen. Die Quellenbelege fehlen nämlich nicht nur für Bayern, sondern auch anderswo. Wenn heutige Historiker die Verfassungsverhältnisse in dieser Zeit lehnrechtlich deuten, dann ist das eine Rückprojektion jüngerer Zustände in die Vergangenheit, die durch die

zeitgenössischen Quellen so nicht gedeckt wird. Bei der Suche nach eindeutigen Belegen für die Identifizierung von Herzogtümern mit Lehen kommt man nämlich über die Mitte des 12. Jahrhunderts anscheinend nicht zurück, jedenfalls nicht innerhalb des deutschen Reichs. Für die Gleichsetzung eines ducatus mit einem beneficium ist vielmehr das Privilegium minus eines der frühesten Zeugnisse, wenn nicht überhaupt das früheste. 10

Nun ist es eine anerkannte Ansicht in der Geschichtsschreibung über die deutsche Verfassung des Mittelalters, dass die Staufer, näherhin Kaiser Friedrich Barbarossa, die Reichsverfassung im lehnrechtlichen Sinn umgebaut hätten; geradezu von einer staufischen Verfassungsreform ist hier gerne die Rede. Eben seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts finden wir einen wesent- lich lehnrechtlich definierten Reichsfürstenstand und wenig später eine differenzierte Herrschildordnung, schriftlich aufgezeichnete Festlegungen über Rechte und Pflichten von Lehnsherren und Vasallen sowie Herrschererlasse zur Regelung strittiger Einzelfragen, kurzum: ein systematisch durchstrukturiertes Lehnswesen als Rückgrat der Verfassung des Heiligen Römischen Reichs. "

Dieser etablierten Auffassung ist durchaus zuzustimmen, man kann sie aber in zweifacher Hinsicht modifizieren. Erstens war die Veränderung wohl noch grundlegender als bisher

gedacht, weil nicht allein längst in der Reichsverfassung vorhandene Elemente des Lehnswesens konsequenter und systematischer als bisher für das Königtum nutzbar gemacht wurden; vielmehr scheint es, dass überhaupt erst seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Elemente des Lehnswesens Eingang in die fürstliche Sphäre des Herrschaftsverbands des deutschen Reichs gefunden haben. Das Privilegium minus von 1156 ist wie gesagt eines der frühesten Beispiele für diesen Vorgang; für die vorausgehende Zeit halten die dafür angeführten Zeugnisse einer strengeren Prüfung nicht stand.

10 Belege für die spätere Zeit bei Julius BRUCKAUF, Vom Fahnlehn und von der Fahnenbelehnung im alten deutschen Reiche, Leipzig 1906,29-45, während die ebd. 19-29 aufgeführten Belege für das 10. und 11. Jahrhundert zwar von einer Investitur mit Fahnen zeugen, aber nicht vom Lehncharakter der übertragenen Fürstentümer. Ebensowenig überzeugen die Beispiele bei Helmut MAURER, Der Herzog von Schwaben. Grundlagen, Wirkungen und Wesen seiner Herrschaft in ottonischer, salischer und staufescher Zeit, Sigmaringen 1978,137-140. Immerhin bis ins frühe 11. Jahrhundert zurück reichen die Belege für einen Lehnscharakter von Grafschaften; vgl. Roman DEUTINGER, Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 20), Ostfildem 2006,150ff.

11 Vgl. umfassend KRIEGER, Lehnshoheit (wie Anm. 3). Zur staufischen Reform vgl. neuerdings Sigrid HAUSER, Staufische Lehnspolitik am Ende des 12. Jahrhunderts 1180-1197 (Europäische Hochschulschriften 111,770), Frankfurt/Main u. a. 1998; Norberto Iblher Ritter voN GREIFFEN, Die Rezeption des lombardischen Lehensrechts

und sein Einfluß auf das mittelalterliche Lehensivesen (Europäische Hochschulschriften 111,820), Frankfurt/Main u. a. 1999; Gerhard DILCIIER, Die Entwicklung des Lehnswesens in Deutschland zwischen Saliern und Staufern, in: 11 feudalesimo (wie Anm. 9) 263-303.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 183

Gleichzeitig kann man die gängige Auffassung von einer Staufischen Verfassungsreform

noch in eine zweite Richtung modifizieren. Der Begriff der Reform setzt ja ein planmäßiges, bewusstes und konsequentes Handeln voraus, in diesem Fall also den Vorsatz der staufischen Könige, in die Verfassung des Reichs einzugreifen und diese in ihrem Sinn neu zu gestalten. Das scheint jedoch - mit Verlaub - von einem mittelalterlichen König etwas viel verlangt. Zum

einen weil die Reichsverfassung damals - und noch weit über das Mittelalter hinaus - ihrem Wesen nach gar nicht systematisch erfassbar war. Im Gegensatz zu modernen Verfassungen bestand sie nicht aus einem konsequent durchdachten System und war auch nirgends schriftlich aufgezeichnet. Vielmehr bestand das, was wir im Nachhinein Verfassung nennen, aus einer Vielzahl von Regeln, Gewohnheiten und Gebräuchen für konkrete Einzelfälle, die nirgends klar festgelegt waren, sondern der immer wieder erneuerten Praxis bedurften, um überhaupt Gültigkeit zu erlangen. Die mittelalterliche Reichsverfassung ist, drastisch ausgedrückt, ein modernes Konstrukt, in dem die Historiker in der Rückschau zusammenfassen, was ihnen am Funktionieren der Herrschaftsordnung als regelhaft erscheint; das Mittelalter selbst hat die Vielzahl der Einzelregeln in den verschiedensten Bereichen der Herrschaftsordnung niemals zu einem Gesamtsystem

�Verfassung" zusammengeführt. Zum andern wäre ein vorsätzlicher Umbau der Reichsverfassung unmöglich durchzusetzen

gewesen, wenn er allein vom König ausgegangen wäre und in völligem Gegensatz zu bisheri-

gen Usancen gestanden hätte. Wie auch das Privilegium minus und der Bericht Ottos von Freising zeigen, denen zufolge die Erhebung Österreichs zum Herzogtum nicht durch den Kaiser, sondern durch das gemeinsame Urteil der deutschen Fürsten zustande gekommen ist: 12

Solche Dinge konnten nicht einfach von oben dekretiert, sondern nur durch gemeinsames Handeln aller Beteiligten in die Tat umgesetzt werden.

Es scheint daher, dass die sogenannte staufische Reichsreform weniger in einer neuen Politik der Herrscher bestand, weniger in konkreten Änderungen im rechtlichen Verhältnis zwischen König und Fürsten, sondern vielmehr in einer neuen, veränderten Wahrnehmung der bekannten

politischen Phänomene. Konkret auf den Regensburger Investiturakt von 1156 bezogen: Seit über zweihundert Jahren gab es bayerische Herzöge, und die meisten, wenn nicht alle davon haben diese Stellung durch königliche Einsetzung erlangt. In mindestens einem Fall ist dabei

explizit gesagt, dass dieser Einsetzungsakt in der Übergabe einer Fahnenlanze bestand. 13 Von der Sache her hat sich also 1156 nichts geändert: Auch hier erhält Heinrich der Löwe das bay-

erische Herzogtum in einem symbolischen Akt vom König durch die Überreichung von Fahnenlanzen, ebenso wie anschließend Heinrich Jasomirgott das österreichische. Neu ist lediglich die Deutung dieses Vorgangs, die uns das Privilegium minus gibt, dass es sich näm- lich dabei um die Übergabe eines beneficium, eines Lehens, handelte.

12 DF. 1.151: de consilio ei ittdicio principunt; Gesta Friderici (wie Anm. 2) c. II, 55 160: iudicio principum. 13 Bei der Einsetzung Herzog Heinrichs V. 1004; vgl. Thietmar von Merseburg, Chronik c. VI, 3, hg. von

Robert HOLTZ. \tANKN (MGH SS rer. Germ., N. S. 9), Berlin 1935,276: ntiliti suimet generoque Heinrico X11.

Kai. Aprilis tunt omnium laude presentitun cumque basta signiifera ducattan dedit. Zu weiteren Investituren mit Fahnenlanzen vgl. die Belege bei BRUCKAUF (wie Anm. 10).

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184 Roman Deutinger

Theoretisch wäre es sogar denkbar, dass diese lehnrechtliche Interpretation des Vorgangs den

Beteiligten gar nicht bewusst war, sondern allein dem Notar zuzuschreiben ist, der den Urkundentext verfasst hat. '4 So weit wird man wohl nicht gehen wollen, aber der Hinweis zeigt, dass man die Initiatoren dieses eher geistesgeschichtlichen als politischen Wandels gar nicht unbedingt in der politischen Führungselite suchen muss, sondern vielleicht eher im intellek-

tuellen Milieu dieser Zeit. Nicht unwichtig scheint in diesem Zusammenhang, dass gerade auf dem ersten Italienzug Friedrich Barbarossas 1154155 sein Hof intensive Kontakte mit dem sich gleichzeitig in Italien etablierenden Juristenstand gepflegt hat. Diese Zusammenarbeit hat

schon auf dem ersten Hoftag von Roncaglia im Dezember 1154 zum Erlass eines Lehnsgesetzes und des Scholarenprivilegs

�Authentica Habita" geführt. ls Beide Erlasse waren

zwar für italienische Empfänger bestimmt, doch dürfte die Beschäftigung mit den darin

niedergelegten Rechtsprinzipien nicht spurlos am kaiserlichen Hof vorbeigegangen sein. Nicht

unbedingt der Kaiser und die Fürsten selbst, aber doch die Gelehrten in Kanzlei und Kapelle

waren durchaus in der Lage, sich die neuartigen juristischen Sichtweisen anzueignen und auch auf die Verhältnisse im Reich nördlich der Alpen anzuwenden. 16 Wenngleich es auch zuvor schon einen gewissen geistigen Austausch zwischen italienischen Juristen und deutschem Königshof gegeben hat, '7 so ist es dennoch kaum ein Zufall, dass gerade in den Jahren

unmittelbar nach dem Italienzug von 1154/55 lehnrechtliche Definitionen eine herausragende Rolle bei politischen Vorgängen spielen: Neben dem Privilegium minus von 1156 ist hier an den im Herbst 1157 im Hinblick auf burgundische Verhältnisse formulierten Rechtssatz zu erinnern, dem zufolge alles, was vom Reich empfangen wird, zu Lehnrecht besessen wird, 18

sowie an den Streit mit den päpstlichen Legaten auf dem Reichstag von Besancon im Oktober

14 Zu den Verfassern und Schreibern des Privilegium minus vgl. Kurt ZEILLLNGER, Die Notare der Reichskanzlei in den

ersten Jahren Friedrich Barbarossas, in: DA 22 (1966) 472-555, bes. 513-522; Walter Kocil, Die Schrift der Reichs-

kanzlei im 12. Jahrhundert (1125-1190). Untersuchungen zur Diplomatik der Kaiserurkunde, Wien 1979,340-346.

15 DF. 1.91 und 243; vgl. Winfried STELZER, Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica �Habita"), in: DA 34 (1978) 123-165; Kurt ZEILLINGER, Das erste roncaglische Lehensgesetz Friedrich Barbarossas, das

Scholarenprivileg (Authentica Habita) und Gottfried von Viterbo, in: RHM 26 (1984) 191-217.

16 Vgl. Dietmar WILLOWEIT, Rezeption und Staatsbildung im Mittelalter, in: Akten des 26. Deutschen

Rechtshistorikertages, hg. von Dieter SINION (lus Commune, Sonderheft 30), Frankfurt/Main 1987,19-44, hier

42 ff.; Andrea CASTAGNETTI, La feudalizzazione degli uffici publici, in: 11 feudalesimo (wie Anm. 9), 723-819.

Die Kluft zwischen den theoretischen Konzepten der Gelehrten am Hof und dem eigenen Verständnis Friedrich

Barbarossas betont Karl J. LEYSER, Frederick Barbarossa and the Hohenstaufen Policy, in: Viator 19 (1988)

153-176, bes. 175f.

17 Vgl. Johannes FRIED, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und

politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 21), Köln - Wien 1974,46-52; Timothy REUTER, Rechtliche Argumentation in den

Briefen Wibalds von Stablo, in: Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Festschrift für Horst Fuhrmann zum 65. Geburtstag, hg. von Hubert MORDEI:, Tübingen 1991,251-264; Tilman STRUVE, Die Salier und das

römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Investiturstreites

(Akademie der Wissenschaften und der Literatur [Mainz], Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaft- lichen Klasse 1999/5), Stuttgart 1999.

18 DF. I. 187: quoniam ea, grte ab imperio ienenrur, iure feodali possidentrrr

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 185

1157 über die Frage, ob der Begriff beneficium in einem Schreiben Hadrians IV. an den Kaiser nun als feudiun oder als bomun factton zu verstehen sei. 19 Und überhaupt lässt sich gerade ab 1155 eine deutliche Zunahme lehnrechtlicher Begriffe in den Herrscherurkunden beobachten. 20

Die Um-Interpretation der etablierten Reichsverfassung - das heißt ihrer vielen zusammen- hanglosen Einzelregelungen - in ein durchdachtes, hierarchisches, lehnrechtliches System im Lauf des 12. Jahrhunderts fügt sich außerdem gut ein in gleichzeitige ähnliche Vorgänge in

anderen Ländern 11 und sogar in ganz anderen Bereichen: In Theologie und Philosophie, im Kirchenrecht und im weltlichen Recht, eben auch im Lehnrecht, überall zeigt sich um die Mitte des 12. Jahrhunderts der Drang zum hierarchischen Systematisieren, zur Einordnung bestehen- der Einzelphänomene in größere gedankliche Konstruktionen, zur Aufstellung von allgemeinen Regeln, denen gegenüber Abweichungen nun als Ausnahmen oder gar Fehler gelten müssen 22

Mit anderen Worten: Das, was unter dem Schlagwort einer staufischen Reichsreform geläufig ist, scheint eher Teil einer gesamteuropäischen geistigen Bewegung zu sein, der Rationalisierung - um nicht zu sagen: Verwissenschaftlichung - der Weltwahrnehmung, die ja

als ein charakteristisches Merkmal des 12. Jahrhunderts gilt. Das Privilegium minus bildet, so verstanden, den Teil einer viel größeren Umwälzung als bloß der Neuregelung der bayerischen Herrschaftsverhältnisse; es ist Ausdruck eines neuartigen Weltbildes, das eine hierarchische Ordnung an die Stelle des unverbundenen Nebeneinanders von Einzelregelungen setzt.

II

Die einzelnen Vorrechte, die dem österreichischen Herzog im Privilegium minus gewährt wur- den, lassen sich im großen und ganzen zwei Bereichen zuordnen: Der erste Bereich ist die Nachfolgeregelung für das neugeschaffene Herzogtum Österreich; der zweite sind die Verpflichtungen des Lehnsinhabers gegenüber seinem Lehnsherrn, dem König. Zwischen diese beiden Abschnitte eingeschoben und inhaltlich keinem zugehörig ist ein kurzer Passus über die Gerichtshoheit im Herzogtum.

Bei der Nachfolgeregelung gibt es gleich mehrere Besonderheiten, denn über die damals bereits allgemein übliche Vererbung des Lehens vom Vater auf den Sohn hinaus sind hier meh-

19 Vgl. am ausführlichsten zuletzt Knut GÖRICH, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und

politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001,106-118.

20 Iblher Ritter voN GREIFFEN, Rezeption (wie Anm. 11) 147-159.

21 Vgl. Robert N. SWANSON, The twelfth-century renaissance, Manchester-New York 1999,66-102; Timothy

REUTER, Nur im Westen was Neues? Das Werden prämoderner Staatsformen im europäischen Hochmittelalter, in:

Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter, hg. von Joachim EHLERS (Vorträge und Forschungen 56),

Stuttgart 2002,327-351; Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, hg. von Bernd SCHINEIDMULLER - Stefan WEINFURTER (Vorträge und Forschungen 64), Ostfildem 2006.

22 Dietmar WILLOtvEtr, Fürst und Fürstentum in den Quellen der Stauferzeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter

63 (1999) 7-25; DILCHER, Entwicklung des Lehnswesens (wie Anm. 11) 288-299. Nichts Einschlägiges bietet

hingegen der Sammelband Oben und Unten - Hierarchisierung in Idee und Wirklichkeit der Stauferzeit, hg. von Volker HERZ. NER - Jürgen KRÜGER, Speyer 2005.

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186 Roman Deutinger

rere andere Möglichkeiten der Weitergabe vorgesehen. Zunächst ist es nicht Herzog Heinrich

Jasomirgott allein, der das Lehen erhält, sondern gleichzeitig auch seine Frau Theodora; es han-

delt sich um eine Belehnung �zu gesamter Hand.. "23 Dem Herzogspaar wird zweitens das Erbrecht für das Lehen nicht nur in männlicher, sondern auch in weiblicher Linie gewährt,

�ohne Unterschied für Söhne und Töchter. "24 Und drittens wird ihnen auch noch für den Fall,

dass sie ohne Kinder sterben sollten, das Recht zugestanden, das Herzogtum jeder beliebigen

anderen Person testamentarisch zu übereignen, die sogenannte libertas affectandi. 25

Alle diese Sonderregelungen sind für sich genommen Mitte des 12. Jahrhunderts keine Einzelfälle und auch nicht vollkommen neu: Die gemeinsame Belehnung eines Ehepaares fin- det man schon bei Herzog Heinrich dem Stolzen und seiner Frau Gertrud 1133 oder 1150 bei Graf Hermann II. von Winzenburg und seiner Frau Liutgard 26 Die weibliche Erbfolge war in Frankreich schon längst üblich geworden, ebenso in Burgund, also auf dem Boden des Römischen Reichs. In Deutschland gab es schon im 11. Jahrhundert einzelne Präzedenzfälle, die im folgenden Jahrhundert dann noch mehr wurden. Doch kam es hier nicht zur Ausbildung

eines allgemeingültigen Rechtsprinzips, da die Lehnsherren, stets an einem Heimfall der Lehen interessiert, dies zu verhindern wussten. Mit der Rezeption des lombardischen Lehnrechts, das im Gegensatz zum älteren fränkischen die weibliche Erbfolge von vornherein kannte, wurde sie aber auch nördlich der Alpen immer häufiger. 27 Und dem bereits genannten Hermann von Winzenburg war 1152 auch schon das Recht zugestanden worden, im Fall der Kinderlosigkeit

einen Nachfolger für sein Lehen zu bestimmen. 28 Treffend hat man die Erbfolgebestimmungen des Privilegium minus deshalb als �die

Zusammenfassung einer Reihe von Rechtsmöglichkei-

ten" bezeichnet; 29 es handelt sich dabei nicht um bis dahin unbekannte rechtliche Neuschöp- fungen, andererseits aber auch nicht um allgemein verpflichtende Rechtsprinzipien, sondern um

23 DF. I. 151: Eundent ducatuni cum onnti lure prefato painio nostroHeinrico et prenobilissime urori sue Theodore

in beneftciunt concessimus. 24 Ebd.: fit ipsi et liberi eonan post eos ind Jerenier filii sive filie eundem Austrie ducatum hereditario hire a

regno teneant et possideant. 25 Ebd.: Si autein predictus dux Austrie patnnrs nosier ei tncor eins absque liberis decesserint, libertatein

habeant eundem ducattan aJJeciandi, cuicuntque voluerint. 26 Zu Heinrich dem Stolzen und Gertrud vgl. MGH Const. 1, Hannover 1893, Nr. 117, S. 169 f.: Henrico Bauarie

duci genero vestro et filie vestre [.. ] urori eins eandetn terrant concedintus. * zu Hermann von Winzenburg und Liutgard vgl. Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, hg. von Karl JANICKE, Bd. I,

Leipzig 1896, Nr. 263, S. 240 (hier auch die Gewährung weiblicher Erbfolge). Hermann war übrigens ein Schwager Heinrichs Jasomirgott, war er doch in erster Ehe mit dessen Schwester Elisabeth (t 1143) verheiratet.

27 Vgl. KRIEGER, Lehnshoheit (wie Anm. 3) 332-350; Norberto lblher Ritter VON GREIFFEN, Die

Lehenserbfolge in weiblicher Linie unter besonderer Berücksichtigung der Libri feudorum (Europäische Hoch-

schulschriften II, 946), Frankfurt/Main 1990,32-37 und 197-203; HAUSER, Staufische Lehnspolitik (wie Anm.

11) 292-296 und 312-324.

28 Mainzer Urkundenbuch, Bd. 2/1, hg. von Peter ACirr, Darmstadt 1968, Nr. 173, S. 323: fit, si ftlitis ei non

nasceretur, castnan illud, cui ipse expeteret, a dfagtuttino antistite concederetuc 29 Heinrich BÜTTNER, Das politische Handeln Friedrich Barbarossas im Jahre 1156, in: Blätter für deutsche

Landesgeschichte 106 (1970) 54-67, das Zitat 63.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 187

vorhandene Optionsmöglichkeiten bei der Festlegung rechtlicher Sachverhalte, deren Anwendung oder Nicht-Anwendung im Ermessen der Beteiligten lag.

Für sich genommen sind diese Rechtsmöglichkeiten also keineswegs außergewöhnlich; ungewöhnlich und ohne direktes Vorbild ist vielmehr die Häufung dieser Vorrechte speziell für den österreichischen Herzog. Warum kam nun ausgerechnet Heinrich Jasomirgott in den Genuss einer solchen Kumulierung von vorteilhaften Sonderregelungen? Erklärungen dafür hat

man schon verschiedene gefunden, am plausibelsten ist aber nach wie vor diejenige, die am konkretesten die aktuelle Situation des österreichischen Herzogspaares berücksichtigt 30 Dieses befand sich nämlich im Jahr 1156 in familiärer Hinsicht in einer ausgesprochen heiklen Lage. Heinrich und Theodora hatten sich schon acht Jahre vorher auf dem Zweiten Kreuzzug ver- mählt, dennoch war dem Paar seither noch kein Sohn geboren worden, nur eine Tochter namens Agnes, und auch diese war noch ein kleines Kind von fünf Jahren. Hätte man sich bei der Erbfolge im neugeschaffenen Herzogtum Österreich auf die übliche Vater-Sohn-Folge beschränkt, so hätte die Gefahr bestanden, dass bei einem vorzeitigen Tod Heinrichs seiner Dynastie die neue Würde wieder verloren ging, denn wer konnte schon voraussagen, ob das Herzogspaar überhaupt noch Kinder bekommen würde, und wenn ja, ob ein Sohn darunter

wäre. Das ist der Grund, weshalb man bei den Vereinbarungen von 1156 auch eine mögliche Nachfolge der bereits geborenen Tochter vorsah. Und weil man ja auch von ihr nicht sicher sein konnte, ob sie das Erwachsenenalter erreichen würde, plante man als letzten Ausweg noch die testamentarische Verfügung ein.

Die zweite Gruppe von Vorrechten betrifft die üblichen Pflichten eines Vasallen gegenüber seinem Lehnsherrn: consi/iam et atcrilima, Rat und Hilfe. Konkret heißt das erstens die Pflicht, bei Hoftagen des Königs zu erscheinen und an den dortigen Beratungen teilzunehmen, und zweitens, bei Feldzügen des Königs Heeresfolge zu leisten und ein Kontingent von Rittern

zu stellen. Diese allgemeinen Verpflichtungen sind bei konsequenter Handhabung ziemlich weitreichend: Hoftage hielt der König ja sehr häufig an allen möglichen Orten im Reich ab, und Feldzüge auch nicht gerade selten. Demgegenüber werden die Pflichten des Herzogs von Österreich im Privilegium minus stark eingeschränkt: Er muss nur bei den königlichen Hoftagen erscheinen, die in Bayern abgehalten werden, muss also keine aufwendigen und zeitraubenden Reisen in entferntere Teile des Reichs auf sich nehmen, und er muss nur an den Feldzügen teilnehmen, die in die Nachbarländer Österreichs gerichtet sind, an denen er also ohnehin ein persönliches Interesse haben musste. 1 Der Leitgedanke hinter diesen Regelungen dürfte auch hier, wie im gesamten Privileg, gewesen sein, den Babenbergern die Herausgabe Bayerns möglichst schmackhaft zu machen, indem man ihnen günstige Sonderkonditionen

gewährte. Das grundsätzlich primäre Ziel Barbarossas, nach Jahrzehnten des Streits endlich

30 Heinrich APPELT, Privilegium minus. Das staufische Kaisertum und die Babenberger in Österreich, Wien-Köln- Graz 1973 (2! 1976) 51-62; Erich ZÖLLNER, Das Privilegium minus und seine Nachfolgebestimmungen in

genealogischer Sicht, in: MIÖG 86 (1978) 1-26, wieder abgedruckt in DERS., Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung. Ausgewählte Aufsätze, München 1984,236-262.

31 DF. 1.151: Dur vero Austrie de ducatu suo aliud servicitmt non debeat intperio, nisi quod ad curias, quas Imperator prefcrerit in Bawwaria, evocator reniat. Nullani quoque erpedicioneut debeat, nisi quatn forte Imperator

in regna vel provincias Austrie vicinas ordinaverit.

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den Frieden im Reich wiederherzustellen, zwang ihn zu beträchtlichen Zugeständnissen an denjenigen, der in gewisser Weise der Verlierer des Kompromisses von 1156 war.

Der Passus über die Gerichtshoheit schließlich, der zwischen die Nachfolgebestimmungen

und die Regelung der Vasallenpflichten eingeschoben ist, legt fest, dass keine Person im Bereich des Herzogtums ohne Zustimmung des Herzogs Gerichtsbarkeit ausüben darf. 32 Im Licht der oben gemachten Beobachtungen ist interessant, dass es sich dabei wieder um den Versuch handelt, die in Österreich damals nebeneinander bestehenden Gerichtsrechte einer hierarchischen Ordnung zu unterwerfen, und dass ein solcher Versuch nicht ohne zeitgenössi- sche Parallelen ist. Zu erinnern ist hier vor allem an die sogenannte �Güldene

Freiheit" aus dem Jahr 1168, das Privileg Barbarossas für den Würzburger Bischof, das diesen zum Herzog von Ostfranken erhob und ihm innerhalb seines Bistums die alleinige Gerichtsgewalt zusprach 33

Doch ist schon Mitte des 12. Jahrhunderts die dahinterstehende Idee von einem einheitlichen Ursprung der Gerichtsbarkeit, die nur durch Delegation von oben her in legitimer Weise aus- geübt werden kann, auch abstrakt formuliert worden. Als einen Vorläufer dieses Gedankens kann man das von Konrad III. verkündete \Veistum aus dem Jahr 1149 betrachten, dem zufolge alle Kirchenvögte ihre Gerichtsgewalt vom König entgegennehmen müssen. 34 Weiter ins Grundsätzliche wurde der Gedanke dann unter Friedrich Barbarossa gezogen, der auf dem Reichstag von Roncaglia 1158 den Rechtssatz verkünden ließ, dass jegliche Gerichtsbarkeit

vom Kaiser abgeleitet sei. 35 Zwar ist dieses Weistum im Hinblick auf die italienischen Verhältnisse formuliert worden und außerdem ohne Verbreitung geblieben, 36 aber im Hinblick

auf das Privilegium minus ist es doch sehr bemerkenswert, dass ein solcher Gedanke ausge- rechnet kurz nach 1156 am Königshof formuliert worden ist.

Was sich in den genannten Rechtssätzen manifestiert, ist nichts anderes als die Idee der königlichen Bannleihe. Hat die ältere, konstitutionalistisch ausgerichtete Verfassungs-

geschichtsschreibung noch angenommen, dass schon im Frühmittelalter die Ausübung staat- licher Zwangsgewalt allein im Auftrag des Königs geschehen konnte, so ist die neuere rechts- geschichtliche Forschung zu der Überzeugung gelangt, dass dem keineswegs so war, dass sich

32 Ebd.: Statuintus quogtte, ut Holla magna rel pan"a persona in eittsdeni ducatus regintine sine duels consensu ref permissione aliquant iusticiani prestnnat exercere.

33 DF. I. 546: omnent iurisdictionem seu plenant potestatem faciendi ittstitiam per totunt gpiscopattun ei ducatunt

firrzebvrgensent ei per onntes contetias in eodem gpiscopatu rel ducatu Bitas [.. 1 ne aliqua gcclesiastica

secularisve persona [... j iudiciariant potestatent de predis rel incendiis auf de allodiis seu benefciis sire hontinibus deinceps exerceat nisi sohts ilirzebrrgettsis gpiscopts ei dicr.

34 DK. III. 210: quod nullos posses causas vel lites, qug ad adrocaiontm ins pertinerent, audire rel terntinare rel

placita advocatig tenere, nisi qui bannten de ntantt regia recepisset.

35 DF. 1.238: Omnis iurisdictio ei o: nnis districtus aped principem est ei onuses indices a principe adntinisirationent

accipere debent ei iusiurandum prestare, quale a lege continuum est. Vgl. Gerhard DILCIIER, Die staufische

Renovatio im Spannungsfeld von traditionalem und neuem Denken. Rechtskonzeptionen als Handlungshorizont

der Italienpolitik Friedrich Barbarossas, in: HZ 276 (2003) 613-646, bes. 631 f1:

36 Der Text wurde erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt; vgl. Vittore COLOR, \I, Die drei verschollenen Gesetze

des Reichstags bei Roncaglia, wiedergefunden in einer Pariser Handschrift (Bibl. Nat. Cod. Lat. 4677)

(Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N. F. 12), Aalen 1969.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 189

die Vorstellung einer Delegierung des Gerichtsbanns durch eine zentrale Rechtsinstanz viel- mehr erst im 12. Jahrhundert entwickelt hat, dann freilich unter dem starken Einfluss römisch- rechtlicher Prinzipien. Die Weistümer von 1149 und 1158 bilden ebenso wie die beiden Herzogsprivilegien von 1156 und 1168 mit die frühesten Zeugnisse für diese Gedankenfigur. 37 Auch der Gerichtspassus des Privilegium minus legt somit Zeugnis ab für die Neugestaltung der Reichsverfassung durch die Entwicklung und Umsetzung eines hierarchischen Modells, und auch hier handelt es sich im Grunde nicht um die Neuschaffung verfassungsrechtlicher Institutionen, sondern um eine neue Art, bestehende Verhältnisse im Rahmen einer hierarchi- schen Ordnung zu deuten, anstelle die Einzelelemente unverbunden nebeneinander bestehen zu lassen.

Zum Schluss dieses Abschnitts soll noch die Frage nach der praktischen Wirksamkeit all die-

ser Regelungen gestellt werden, denn nicht alles, was in solchen politischen Verträgen auf dem Papier bzw. Pergament festgehalten wurde, wurde auch Realität - das ist heutzutage bei politi- schen Verträgen ja nicht anders. Die Regelungen zur weiblichen Erbfolge und zur Testierfreiheit

wurden niemals Wirklichkeit, weil schon im folgenden Jahr 1157 dem österreichischen Herzogspaar ein Sohn geboren wurde und damit die reguläre männliche Erbfolge in Kraft trat. Und das blieb auch in den folgenden Generationen so, bis zum Tod des letzten Babenbergers Friedrichs des Streitbaren 1246. Er starb kinderlos, und daraufhin entbrannte ein Streit darüber,

ob die Regelung des Privilegium minus zur weiblichen Erbfolge auch für Friedrichs Schwestern

und Nichten galt, ob also diese ein Erbrecht auf das Herzogtum hatten, oder ob das Lehen damit

erledigt war. Der Streit zog sich über Jahrzehnte hin, weil diese Schwestern und Nichten bzw. deren Ehemänner natürlich an einem Erwerb des mittlerweile stark vergrößerten Österreich

sehr interessiert waren, weil aber gleichzeitig die deutschen Könige - an einem Heimfall des Lehens an das Reich interessiert - diese Form der weiblichen Erbfolge nicht anerkennen woll- ten. Die Entscheidung über diese Frage wurde schließlich nicht auf dem Rechtsweg getroffen - welches Gericht hätte da auch zuständig sein können? -, sondern auf dem Schlachtfeld. 1278 besiegte der deutsche König Rudolf von Habsburg in der Schlacht auf dem Marchfeld Ottokar

von Böhmen, den Schwager des letzten Babenbergers, der seit 1251 aufgrund des angenom- menen Erbrechts seiner Frau Margarete Österreich und die dazugehörenden Länder in Besitz

genommen hatte. Rudolfs Sieg machte den Weg frei für die Belehnung seines eigenen Sohnes Albrecht mit Österreich und damit für die spätere Machtstellung der Habsburgerdynastie. 38

37 WILLOWEIr, Rezeption (wie Anm. 16) 21-25; DILCHER, Entwicklung des Lehnswesens (wie Anm. 11) 298f.

Zu den Modellen von �delegierter Amtsgewalt' einerseits und �autogenen Adelsrechten" andererseits sowie zu ihrer jeweiligen Bedingtheit vgl. grundsätzlich Werner HECHBERGER, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems (Mittelalter-Forschungen 17), Ostfildern 2005.

38 Vgl. Karl LEC1IXER, Die Babenberger. Markgrafen und Herzöge von Österreich 976-1246 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 23), \Vien - Köln - Weimar 1976 (6/1996) 299-307; Christian RoitR, Piemysl Otakar 11. - ein Wegbereiter der Habsburger?, in: Böhmisch-österreichische Be-

ziehungen im 13. Jahrhundert. Österreich (einschließlich Steiermark, Kärnten und Krain) im Großreichsprojekt Ottokars 11. Piemysl, König von Böhmen, hg. von Marie BLAttovA - Ivan HLVAAEK, Prag 1998,25-37; Karl- Friedrich KRIEGER, Rudolf von Habsburg, Darmstadt 2003,127-161.

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190 Roman Deutinger

Auch bei den Vasallendiensten der österreichischen Herzöge für den König sah die Realität

anders aus, als es das Privilegium minus vorgesehen hatte 39 Heinrich Jasomirgott nahm auch an Hoftagen des Königs außerhalb Bayerns teil, zu denen er nicht verpflichtet war, so gleich im

Jahr 1157 in Bamberg, sein Sohn Leopold später in Augsburg, Nürnberg, Mainz und Worms.

Umgekehrt blieb Leopold dem Regensburger Hoftag Friedrich Barbarossas im Jahr 1180

anscheinend fern. 40 Heinrich beteiligte sich auch an militärischen Unternehmungen des Reichs,

zu denen er eigentlich nicht verpflichtet gewesen wäre. Schon zwei Jahre nach Ausstellung des

Privilegium minus, 1158, begleitete er den groß angelegten Italienzug, der sich gegen Mailand

und dessen Verbündete richtete, jahrelang dauerte und schließlich in der Zerstörung der Stadt 1162 gipfelte. Und 1177, beim Friedensschluss von Venedig zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III., erfahren wir sogar die Größe des österreichischen Kontingents, das sein Sohn Leopold für dieses Unternehmen stellte, wiederum ohne dazu ver- pflichtet zu sein: 160 Ritter, das ist das größte Kontingent eines weltlichen Fürsten bei diesem Anlass überhaupt. 41 Die Regelungen des Privilegium minus waren also auch auf diesem Feld Teil eines politischen Kompromisses, wie ihn die Situation des Jahres 1156 erfordert hatte. Auch wenn in der Urkunde am Ende all dieser Regelungen die übliche Formel steht, die darin

getroffenen Festlegungen sollten für ewige Zeiten Bestand haben: Wenn es die Umstände oder die Interessen geboten, dann legte offenbar niemand \Vert auf die buchstabengetreue Erfüllung der Vorschriften. Und da die Babenberger insgesamt mehr leisteten als von ihnen verlangt, hatte

niemand Anlass, dagegen zu protestieren. Beim Passus über die alleinige Gerichtshoheit des Herzogs in seinem Fürstentum ist eben-

falls fraglich, inwieweit diese Bestimmung in die Wirklichkeit umgesetzt wurde, lassen sich doch noch im Spätmittelalter Inhaber einer Gerichtsgewalt in Österreich feststellen, die ihre Gerichtshoheit nicht vom Herzog, sondern direkt vom Reich geliehen haben. Sie sind zwar weitaus weniger als früher gerne angenommen, aber allein ihre Existenz zeigt, dass die theore-

39 Vgl. Alheydis PLASSMANN, Die Struktur des Hofes unter Friedrich 1. Barbarossa nach den deutschen Zeugen

seiner Urkunden (MGH Studien und Texte 20), Hannover 1998,79f.; Rudolf SCIIIEFFER, Mit Barbarossa über die Alpen. Zum bayerisch-österreichischen Anteil an den Italienzügen Kaiser Friedrichs 1., in: Bayern. Vom

Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, hg. von Konrad ACKERMANN - Alois

SCHMID - Wilhelm VOLKERT, Bd. 1 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 140/1), München 2002,

53-66, bes. 56 und 60 ff.; vgl. allgemein auch Karl-Friedrich KRIEGER, Obligatory Military Service and the Use

of Mercenaries in Imperial Military Campaigns under the Hohenstaufen Emperors, in: England and Germany in

the High Middle Ages, hg. von Alfred HAVERKAMP - Hanna VoLLRAnt, London 1996,151-168.

40 Vgl. die Teilnehmerliste bei Peter SCHMID, Regensburg. Stadt der Könige und Herzöge im Mittelalter

(Regensburger Historische Forschungen 6), Kallmünz 1977,391 f.

41 Historia ducum Veneticorum c. 12, hg. von Henry SIMONSFELD, in: NIGH SS 14, Hannover 1883,87:

Leopoldus dux Austrie cunt hominibus 160. Zu den hier genannten Zahlen vgl. Alheydis PLASSMANN,

Barbarossa und sein Hof beim Frieden von Venedig unter verschiedenen Wahmehmungsperspektiven, in:

Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas, hg. von Stefan

WEINFURTER (Mittelalter-Forschungen 9), Stuttgart 2002,85-106, hier 87f.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 191

tisch formulierte Norm und die diesbezügliche Praxis auseinanderklafften. 42 Insgesamt kann

man also feststellen, dass die 1156 zugestandenen Vorrechte nur sporadisch genutzt wurden, sei es, wie im Fall der Erbregelung, weil es die Umstände nicht zuließen, sei es, wie im Fall der Hoffahrts- und Heeresfolgepflicht, weil jeweils andere aktuelle Interessen überwogen. Anders

gesagt: Auch ohne das Privilegium minus wäre die Geschichte Österreichs und seiner Herzöge

nicht wesentlich anders verlaufen.

III

Dem Bericht Ottos von Freising in den Gesta Friderici zufolge gab Heinrich der Löwe dem Kaiser

�die Mark Österreich mit den Grafschaften, die von alters her dazu gehören, zurück",

woraufhin dieser �ebendiese

Mark mit den genannten Grafschaften, die drei genannt werden" zum Herzogtum erhob und an Heinrich Jasomirgott weiterreichte 43 Die Frage, was unter die-

sen drei Grafschaften zu verstehen ist, gehört zu den klassischen Problemen der österreichi-

schen Geschichtsforschung; seit dem 16. Jahrhundert wurden immer wieder neue Lösungsvor-

schläge ausgebreitet, doch hat bis heute keiner davon allgemeine Zustimmung gewinnen kön-

nen. Das liegt vor allem daran, dass die Gesta Friderici die einzige mittelalterliche Quelle sind, die diese drei Grafschaften explizit erwähnt, und man deshalb zum Verständnis der Passage

nicht einfach Parallelquellen zum selben Vorgang heranziehen kann, sondern auf logische Deduktionen aus anderen, wesentlich komplexeren Quellenbefunden angewiesen ist. Diese Deduktionen nun hängen ganz wesentlich davon ab, wie man sich grundsätzlich die Entwicklung der Verfassungsverhältnisse im hochmittelalterlichen Österreich vorstellt. Und so ist es praktisch unmöglich nachzuweisen, dass eine These zu den drei Grafschaften richtig oder falsch ist; man kann lediglich zeigen, welche Thesen sich besser oder schlechter mit dem Wortlaut der beiden zentralen Quellen, des Privilegium minus und der Gesta Friderici, und mit dem, was wir sonst über die Herrschaftsgliederung Österreichs im Mittelalter wissen (oder zu wissen meinen), vereinbaren lassen.

Man könnte eine eigene Abhandlung über die verschiedenen zu diesem Thema geäußerten Ansichten schreiben, und dabei wäre es besonders interessant, diese Thesen vor dem Hintergrund der größeren verfassungsgeschichtlichen Theorien zu verorten, von denen sie - meist eher unbewusst - geprägt sind. An dieser Stelle möchte ich mich aber darauf beschrän- ken, diese Thesen zu wenigen inhaltlichen Gruppen zusammenzufassen - hoffentlich ohne ihnen allzu viel Gewalt anzutun. 44 Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen Forschern,

42 Roman ZEHER+IAYER, ReichsunmittelbareGebiete im Herzogtum Österreich (13. - 15. Jahrhundert), in: Österreich

im Mittelalter. Bausteine zu einer revidierten Gesamtdarstellung, hg. von Willibald RosNER, St. Pölten 1999,

67-96. 43 Gesta Friderici c. II, 55 (wie Anm. 2): ille duobus cum veri/lis marchimn Orientalem cum comitatibus ad earn

ex antiquo pertinentibus reddidit. Exinde de eadem marcltia tunt predictis contitatibus, quos tres dicunt, iudicio

principum ducatunr fecit eunrque 1.... 1 tradidit.

44 Neuere Überblicke über die verschiedenen Forschungsrichtungen bieten Max WELTtx, Die �tres comitatus" Ottos von Freising und die Grafschaften der Mark Österreich, in: MIÖG 84 (1976) 31-59, hier 32-38; Othmar

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192 Roman Deutinger

die in der Aussage Ottos von Freising tatsächliche historische Gegebenheiten gespiegelt sehen, und solchen, die dieser Aussage jeden Realitätsbezug rundweg absprechen. Nicht dass diese Otto eine vorsätzliche Falschaussage unterstellen wollten; vielmehr habe er das ihm vorliegen- de Urkundenmaterial missverstanden und Grafschaften erfunden, die es so nie gegeben hat - drei, weil die ihm zur Verfügung stehenden Dokumente diese Zahl nahelegten. 45 Man kann diese Ansicht schwerlich widerlegen, doch verträgt sie sich nicht recht mit unserem Wissen über Ottos Methode als Historiograph. Zum einen arbeitete Otto anders als moderne Historiker;

seine Geschichtswerke sind nicht das Ergebnis von Archivstudien, sondern gestalten in sehr überlegter Weise einen letztlich allgemein bekannten Stoff, der aus relativ wenigen, durchweg

erzählenden Geschichtsquellen oder - für die Zeitgeschichte - aus eigenem Erleben und Erfahren zusammengetragen ist. Historische Dokumente zieht Otto in seinen Werken sonst nie als Quellen heran, nicht einmal für Freisinger Angelegenheiten, wo ihm diese Dokumente doch besonders leicht greifbar gewesen wären. Zum andern darf man dem Sprössling der Babenberger Markgrafendynastie, der Otto war, zutrauen, dass er über die grundlegenden Verfassungsverhältnisse seiner österreichischen Heimat einigermaßen informiert war und nicht auf völlig wirklichkeitsfremde Konstruktionen verfallen wäre.

Man darf also aus schlichten Plausibilitätserwägungen davon ausgehen, dass die drei Grafschaften, obwohl ansonsten nirgends direkt bezeugt, keine Erfindung Ottos von Freising

sind. Will man sie allerdings identifizieren, steht man vor einem doppelten Problem, weil man nicht nur die örtliche Lage dieser Grafschaften zu bestimmen hat, sondern auch ihren sach- lichen Gehalt, unterlag doch gerade dieser im Lauf des Hochmittelalters einem grundlegenden Wandel von einer ziemlich präzise definierten hoheitlichen Gewalt innerhalb eines mehr oder weniger genau umschriebenen Bezirks hin zu einem Konglomerat aus verschiedenen verstreu- ten Herrschaftsrechten, zu denen vornehmlich Grundherrschaft und Kirchenvogtei zählten. 46

HAGENEDER, Das Problem der �Drei

Grafschaften" von 1156 bei Otto von Freising. Ein Lösungsversuch, in:

Regensburg, Bayern und Europa. Festschrift für Kurt Reindel zum 70. Geburtstag, hg. von Lothar KoLMER - Peter SEGL, Regensburg 1995,229-243, hier 230-234.

45 In diesem Sinn zuletzt HAGENEDER, Problem der Drei Grafschaften (wie Anm. 44) 234-240. Wie Otto der

genaue Wortlaut der in Passau singulär überlieferten Raffelstettener Zollordnung aus dem frühen 10. Jahrhundert

(siehe unten Anm. 61) bekannt geworden sein soll, kann übrigens auch Hageneder nicht erklären, obwohl diese

Kenntnis einen zentralen Punkt seiner Argumentation darstellt.

46 Vgl. für den bayerisch-österreichischen Raum: Ludwig HoLZFURTNER, Ebersberg-Dießen-Scheyern. Zur

Entwicklung der oberbayerischen Grafschaft in der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich, hg. von Stefan

WEINFURTER, Bd. 1, Sigmaringen 1992,549-577; DERs., Die Grafschaft der Andechser. Comitatus und Grafschaft in Bayern 1000-1180 (Historischer Atlas von Bayern. Altbayern, Reihe 11,4), München 1994; Alois

SCHMID, Untersuchungen zu Gau, Grafschaft und Vogtei im Vorderen Bayerischen Wald, in: Aus Bayerns

Geschichte. Forschungen als Festgabe zum 70. Geburtstag von Andreas Kraus, hg. von Egon Johannes GREIPL

u. a., St. Ottilien 1992,117-177; DERS., Comes und comitatus im süddeutschen Raum während des

Hochmittelalters. Beobachtungen und Überlegungen, in: Regensburg, Bayern und Europa (wie Anm. 44)

229-243; Richard LoIBL, Der Herrschaftsraum der Grafen von Vombach und ihrer Nachfolger. Studien zur Herrschaftsgeschichte Ostbayerns im hohen Mittelalter (Historischer Atlas von Bayern. Altbayern, Reihe II, 5),

München 1997,247-315; Jürgen DENDORFER, Adelige Gruppenbildung und Königsherrschaft. Die Grafen von

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Im Hinblick auf die örtliche Lage hat man die drei Grafschaften sowohl innerhalb wie außer- halb der alten Markgrafschaft Österreich gesucht. Letztere Deutung hatte stets die meisten Anhänger unter den Historikern, doch herrschten und herrschen wiederum die verschiedensten Ansichten darüber, wo diese Grafschaften dann zu lokalisieren sind, und keine von ihnen konn- te auch nur zeitweise allgemeine Zustimmung finden. Der Möglichkeiten sind allzu viele, selbst wenn man sich bei der Suche sinnvollerweise auf den Südosten des Reichs beschränkt. Vielleicht am geläufigsten war lange Zeit die 1926 aufgestellte These Karl Lechners, es hand- le sich dabei um die drei Grafschaften Poigen, Raabs und Pernegg im Waldviertel, die tatsäch- lich irgendwann Mitte des 12. Jahrhunderts an die Babenberger gekommen sind und noch im Spätmittelalter eine gewisse Sonderstellung innerhalb der habsburgischen Erbländer einneh- men. 47 Bis dahin hatte man die Grafschaften eher im heutigen Oberösterreich gesucht, im Traungau, im Machland, im Mühlviertel und in der Riedmark, wobei die Lokalisierung im Detail dann wieder variieren konnte. Und in eine ähnliche gedankliche und geographische Richtung führte - am weitesten nach Westen ausgreifend - die Identifizierung mit den Grafschaften im östlichen Donaugau, im Künzinggau und im Schweinachgau, die im 10. und 11. Jahrhundert in babenbergischer Hand gewesen waren.

Allein, alle diese Versuche, die drei Grafschaften außerhalb der Mark Österreich zu lokali- sieren, scheitern letztlich am Wortlaut der beiden zentralen Quellen, Privilegium minus und Gesta Friderici. Letztere besagen eindeutig, dass die Grafschaften schon �von alters her" zur marchia orientalis gehört haben, und aus der Urkunde geht klar genug hervor, dass allein die bisherige Markgrafschaft in ein Herzogtum umgewandelt wurde, nichts sonst. 8 Eine Vergrößerung Österreichs durch das Abkommen vom September 1156 kann deshalb einiger- maßen sicher ausgeschlossen werden.

Nun gibt es jedoch einige spätere Quellen, die gerade das behaupten, nämlich dass die Gerichtsgewalt des österreichischen Herzogs bei dieser Gelegenheit nach Westen bis an den Sallenvald östlich von Passau - bis 1779 dann die Grenze zwischen Bayern und Österreich - erweitert worden sei. Diese Quellen sind im wesentlichen zwei: das sogenannte Chronicon Mellicense breve und die Annalen Hermanns von Niederaltaich49 Beide Nachrichten stammen freilich erst aus dem 13. Jahrhundert. Vom Niederaltaicher Abt Hermann (t 1275) ist das ohne-

Sulzbach und ihr Beziehungsgeflecht im 12. Jahrhundert (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 23), München 2004,306-314; HECtIUERGER, Adel (wie Anm. 37) 254-260.

47 Karl LECHNER, Grafschaft, Mark und Herzogtum, in: JBLKNÖ 20 (1926) 32-69, wieder abgedruckt in DERS.,

Ausgewählte Schriften, Wien 1947,8-68; vgl. auch DERS., Babenberger (wie Anm. 38) 160-163.

48 Gesta Friderici c. II, 55 (wie Anm. 2); DF. I. 151: raarchiam Austrie in ducatum commutavinras. Man kann an dieser Stelle darauf hinweisen, dass zum einen die Angehörigen der Grafschaft Chiavenna 1153 comitatum ilium

ad ducatum Sueuie peninere dicebant (DE1.54), und dass zum andern die Schenkung des Herzogtums Westfalen

an das Erzbistum Köln 1180 cum comitatibucs 1... ] ad eundem ducatum pertinentibus (DF. I. 795) erfolgt ist. In beiden Fällen sind die Grafschaften eindeutig als Bestandteil des jeweiligen Herzogtums und in diesem liegend

aufgefasst, was dann wohl auch für die gleichartige Formulierung Ottos von Freising gilt. 49 Breve Chronicon Austriae Mellicense, hg. von Wilhelm WArrENBACII, in: MGH SS 24, Hannover 1879,71:

dilatatis videlicel tenninis a flumine Anaso usque ad fluvium qui dicitur Rötensala, addito et comilatu Pogen; Hermannus Altahensis, Anales a. 1152 (! ), hg. von Philipp JAFFE, MGH SS 17, Hannover 1861,382:

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hin genugsam bekannt, 50 doch auch beim Melker Chronicon, das für Herzog Leopold I. (1177-1194) verfasst, somit relativ zeitnah und dementsprechend gut informiert ist, findet sich die entsprechende Aussage erst in einem nachträglichen Zusatz der einschlägigen Handschrift,

und dieser gehört, wie die gesamte Niederschrift, dem paläographischen Befund zufolge erst in die Zeit nach 1200.51 Gegenüber unseren beiden zeitgenössischen Hauptzeugnissen zu 1156 mit ihrer klaren Aussage wird man diesen beiden späten Nachrichten nicht allzu viel Gewicht bei-

messen können. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese jüngeren Quellen reinen Unsinn behaupten; zweifel-

haft erscheint lediglich der Bezug auf das Jahr 1156, der sich im Übrigen allein bei Hermann

von Niederaltaich findet. 52 Zu erinnern ist aber daran, dass mit dem Aussterben der Grafen von Vornbach nur zwei Jahre später die Herrschaftsverhältnisse im östlichen Bayern gewaltig erschüttert und anschließend völlig neu geordnet wurden, galt es doch nun, die umfangreichen Herrschaftsrechte der Vombacher von der Isar im Westen bis zur ungarischen Grenze im Osten

neu zu verteilen. Zu den Hauptnutznießern dieser Neuordnung darf man die Grafen von Andechs, von Ortenburg, von Bogen sowie die steirischen Otakare rechnen. 53 Der Sturz Heinrichs des Löwen 1180 und die Errichtung des Herzogtums Steiermark, das wiederum schon zwölf Jahre später an den österreichischen Herzog übertragen wurde, taten zusammen mit dem sukzessiven Anfall verschiedener kleinerer Herrschaften an die Babenberger ein übri- ges, um die Herrschaftsverhältnisse in diesem Raum völlig umzuwälzen. Angesichts dieses ständigen Wechsels fällt es ausgesprochen schwer, genauer festzulegen, wann innerhalb dieses längeren Prozesses die Westgrenze des österreichischen Herzogtums am Salletwald festgelegt

wurde - falls dies überhaupt durch einen bestimmten, einmaligen Akt geschehen ist. Die Frage

iudiciarimn potestatem principi Austrie ab Anaso usque ad silvant prope Patariant, que dicitur Rotensala,

protendendo. Auszuscheiden hat man die entsprechenden Nachrichten aus dem frühen 14. Jahrhundert aus Kremsmünster: Auctarium Cremifanense a. 1155 (! ), hg. von Wilhelm WATTENBACH, in: MGH SS 9, Hannover

1851,554; De ordine ducum Wawarie sive regum a. 1152 (! ), hg. von Georg \VArrz, in: MGH SS 25, Hannover

1880,662; De origine et ordine ducum Austrie a. 1152 (! ), ebd. 664. Diese Nachrichten sind mit einiger Sicherheit

aus Hermanns Annalen übernommen.

50 Zu ihm vgl. am gründlichsten Michael MÜLLER, Die Annalen und Chroniken im Herzogtum Bayern 1250-1314 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 77), München 1983,5-75, zu seinem Bericht über 1156 bes. 35f1:

51 So zuletzt Heide DIENST, Regionalgeschichte und Gesellschaft im Hochmittelalter am Beispiel Österreichs

(MIÖG Erg. Bd. 27), Wien-Köln 1990,88 Anm. 55; auf die Zeit um 1180 datiert die Abschrift wenig überzeugend Alois ZAUNER, Die Anfänge des Landes ob der Enns, in: Österreich im Hochmittelalter (907 bis 1276), red. von Anna M. DRABEK, Wien 1991,195-228, hier 218. Vgl. die Abbildung bei Max \VELTIN, Vom �östlichen Bayern" zum �Land ob der Enns", in: Tausend Jahre Oberösterreich. Das Werden eines Landes, Bd. 1, Wels 1983, 23-51, hier 31.

52 Der Zusatz der Melker Chronik bezieht die Erweiterung lediglich allgemein auf Herzog Heinrich Jasomirgott,

nicht auf den Regensburger Reichstag von 1156, und lässt somit einen zeitlichen Spielraum bis 1177. 53 Vgl. HOLZFURTNER, Grafschaft der Andechser (wie Anm. 46) 266-287; LommL, Vornbach (wie Anm. 46)

142-145,218 f. und 277-285; Fritz Poscu, Die Besiedlung und Entstehung des Landes Steiermark, in: Das Werden der Steiermark. Die Zeit der Traungauer. Festschrift zur 800. Wiederkehr der Erhebung zum Herzogtum, hg. von Gerhard PFERSCHY (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 10), Graz-Wien-Köln 1980,23-62, hier 44.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 195

ist von einigem landesgeschichtlichen Interesse, braucht aber an dieser Stelle nicht weiter ver- folgt zu werden. 54

Damit zurück zur Frage der drei Grafschaften. Sie sind anscheinend nicht außerhalb, sondern innerhalb der alten Mark Österreich zu suchen, und wirklich ist das auch stets von einem beträchtlichen Teil der Forschung so angenommen worden. Dabei betrachtete diese Richtung lange Zeit die drei spätmittelalterlichen Gerichtsbezirke im Österreich unter der Enns, Mautern, Tulln und Korneuburg, die als cometiae bezeichnet werden, als direkte Nachfolger der drei älte-

ren, bei Otto von Freising bezeugten co nitatus. Doch hat Max Weltin 1976 überzeugend dar- legen können, dass diese jüngeren cometiae eine Neubildung des 13. Jahrhunderts sind und folglich mit etwaigen älteren comitatus nichts zu tun haben. 55 Darin wird man ihm gerne zustimmen, weniger hingegen in seiner eigenen These, die er gleichzeitig entwickelt hat: Die drei Grafschaften seien die eigentliche Mark Österreich und zwei kleinere Marken an der unga- rischen und böhmischen Grenze, die unter Kaiser Heinrich 111. Mitte des 11. Jahrhunderts ein- gerichtet wurden, sich dann aber nicht weiterentwickelten und recht bald in der österreichischen Mark aufgingen. Ottos Hinweis auf diese drei Grafschaften spiegele somit nicht die Zustände Mitte des 12. Jahrhunderts, sondern die Erinnerung an die drei Bezirke, aus denen Österreich

drei Generationen früher zusammengewachsen war. 56 Die Grundlage für diese Deutung wurde jedoch vor einigen Jahren zerstört, als Karl Brunner feststellte, dass es diese angebliche unga- rische und böhmische Mark niemals gegeben hat, sondern beide lediglich Fehldeutungen und der interpretatorischen Phantasie einiger Historiker des 20. Jahrhunderts entsprungen sind - ein

�Konstrukt gegen die Evidenz der Quellen". 57

Damit gibt es anscheinend keine Anhaltspunkte mehr, um die comitatus, quos tres dicunt, innerhalb der Mark Österreich genauer zu lokalisieren. 58 Zwar bestimmen die Urkunden des 10.

54 Vgl. zu diesem Problem, jeweils mit unterschiedlicher Akzentsetzung: Hans PIRCHIEGGER, Bayern, Österreich,

Steiermark und Traungau 1156-1192, in: ZBLG 13 (1941/42) 384-42; Alois ZAUNER, Oberösterreich zur Babenbergerzeit, in: MOÖLA 7 (1960) 207-251, hier 227-238; DERS., Anfänge (wie Anm. 51) 2176:; Max

WELTIN, Die steirischen Otakare und das Land zwischen Donau, Enns und Hausruck, in: Das Werden der

Steiermark (wie Anm. 53) 164-180; DERS., Vom östlichen Bayern (wie Anm. 51) 32ff.; Siegfried HAIDER,

Geschichte Oberösterreichs, Wien 1987,67ff.; zuletzt knapp Karl BRUNNER, Herzogtümer und Marken. Vom

Ungarnsturm bis zum 12. Jahrhundert, Wien 1994,380 und Heinz Dopscn, Die Länder und das Reich. Der

Ostalpenraum im Hochmittelalter, Wien 1999,141.

55 Max WELTIN, Zur Entstehung der niederösterreichischen Landgerichte, in: Babenberger-Forschungen = JBLKNÖ, N. F. 42 (1976) 276-315; im selben Sinn (wenngleich mit eigenwilliger Begründung) Hans Constantin

FAUSSNER, Die tres comitatus im Bericht Ottos von Freising und der Wandel des Grafschaftsbegriffs.

Grundfragen der mittelalterlichen Rechtsgeschichte Österreichs, in: Die österreichische Rechtsgeschichte. Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hg. von Hans Constantin FAUSSNER - Gernot KoCIIER - Helfried VALENTINITSCH (Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien 47), Graz 1991,75-89.

56 Max WELTIN, Tres comitatus (wie Anm. 44) 43-50. Vgl. auch DERS., Die Entstehung der freisingischen

Herrschaft Groß-Enzersdorf, in: Hochstift Freising. Beiträge zur Besitzgeschichte, hg. von Hubert GLASER, München 1990,271-285, hier 277f.

57 Karl BRUNNER, Welche Marken?, in: JBLKNÖ, N. F. 62 (1996) 159-169, das Zitat 162.

58 Außer Acht lassen kann man die Erklärung, die Bezeichnung tres stamme vom Flussnamen Traisen her, vertreten von Mathilde UNLIRZ, Bemerkungen zu dem �Privilegium minus" für Österreich (1156) und zu der Frage der

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und 11. Jahrhunderts immer wieder die Lage einzelner Güter durch die Angabe in comitatu eines bestimmten Grafen, aber da dieser Graf stets der österreichische Markgraf ist, ist damit für die Zuordnung der Orte zu bestimmten Grafschaften nichts gewonnen. So hat man eher danach zu fragen, warum diese Grafschaften seit dem 12. Jahrhundert aus den Quellen ver- schwinden und bereits Otto von Freising anscheinend nur mehr ungenaue Vorstellungen von ihrer Zahl und ihrer Gestalt hatte, das Privilegium minus sie sogar ganz übergeht. Man wird hier den bereits erwähnten grundsätzlichen Wandel der Grafschaftsgewalt im Lauf des Hochmittelalters in Rechnung stellen müssen. Die fränkische (und bayerische) Grafschaft des Frühmittelalters war eine Organisation, die - letztlich unter Fortführung römischer Institutionen

- grundlegende (�staatliche") Aufgaben der Friedenssicherung zu bewältigen hatte: die Sicherung des äußeren Friedens durch die Bereitstellung eines Heeresaufgebots unter Führung des Grafen, die des inneren durch die gewaltfreie Lösung von Konflikten auf dem Rechtsweg

vor dem Grafschaftsgericht. Diese Organisation erfasste freilich, und das ist wesentlich, allein den Stand der Freien innerhalb der Bevölkerung; die Masse der Unfreien war davon ausge- schlossen und rechtlich ihrem jeweiligen Herrn unterworfen. Nun dürfte im ehemals slawischen Gebiet östlich der Enns der Anteil der freien Franken bzw. Bayern an der Bevölkerung von vornherein nicht besonders hoch gewesen sein, und wie anderswo, so ging er auch hier im Lauf des Hochmittelalters noch weiter zurück. Dementsprechend gering darf man die Wirkmächtigkeit der Grafschaftsorganisation in diesem Raum schon im Frühmittelalter veran- schlagen. Die umfangreiche Rodungstätigkeit nördlich der Donau trug weiter dazu bei, große Grundherrschaften entstehen zu lassen, die der Grafengewalt weitgehend entzogen waren, und entsprechendes gilt für den kirchlichen Besitz, der dem Gericht des jeweiligen Vogtes anstelle des Grafen unterstand. So entwickelten sich, gerade in den Rodungsgebieten, Herrschaften, die

auf Grundherrschaft und Vogtei basierten und deren Inhaber seit dem 11. Jahrhundert auch als Grafen tituliert wurden, die Gesamtheit ihrer jeweiligen Herrschaftsrechte als Grafschaften. 59

Mit anderen Worten: Die Grafschaften alten Typs wurden immer mehr ausgehöhlt und ersetzt durch neue Herrschaftsformen; in Österreich, wo die Grafschaftsorganisation wie gesagt von vornherein nicht besonders ausgeprägt gewesen sein kann, hatte sie Mitte des 12. Jahrhunderts ihre Funktionen anscheinend schon weitgehend eingebüßt. Und nicht nur dort: Auch weiter westlich, im Passauer Gebiet, lässt sich zur selben Zeit schon eine Diskrepanz zwischen einem theoretischen Anspruch auf die überkommenen Grafschaftsbezirke und der tatsächlichen Ausübung gräflicher Herrschaftsrechte beobachten; zu Beginn des 13. Jahrhunderts scheiterte hier der letzte Versuch, beides wieder in Einklang zu bringen. 0

Die in den Gesta Friderici Ottos von Freising genannten comitatus, die �von alters her" zur österreichischen Mark gehörten, scheinen demnach solche frühmittelalterliche Grafschaften

�tres comitatus", in: Südostforschungen 20 (1961) 23-32, hier 28-32; vgl. dagegen schon Heinrich APPELT, in: AZ 61 (1965) 222 und APPELT, Privilegium minus (wie Anm. 30) 48f.

59 Vgl. oben Anm. 46. 60 Vgl. Ludwig VEIT, Passau. Das Hochstift (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, 35), München 1978,

38-85; LOIBL, Vornbach (wie Anm. 46) 277-285; Michael HI\-rER. MIAYER-\VELLENBERG, Die Edlen von Polsenz und Griesbach zur Zeit des Investiturstreits, in: Ostbairische Grenzmarken 43 (2001) 13-25.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 197

gewesen zu sein, die im 12. Jahrhundert aufgrund völlig veränderter Herrschaftsverhältnisse längst obsolet geworden waren und mit denen man nur mehr vage Vorstellungen verband. Diese Unbestimmtheit kann um so weniger überraschen, wenn man bedenkt, dass weder die genauen Aufgaben des Grafen noch die genaue Abgrenzung der Grafschaftsbezirke irgendwo schriftlich festgehalten waren, sondern sich nur aus der stets fortgeführten und dadurch immer wieder erneuerten Praxis ergaben. Wo diese Praxis erlosch, verschwand zwangsläufig auch das Wissen darum, und so ist es ganz bezeichnend, dass sogar der Markgrafensohn Otto Mitte des 12. Jahrhunderts nicht einmal mehr vermochte, die Zahl der Grafschaften in Österreich mit Bestimmtheit anzugeben.

Die von Otto erwähnten tres comitatus mit Grafschaften frühmittelalterlichen Typs

zu identifizieren heißt freilich noch lange nicht, sie mit den tres comitatus gleichzusetzen, die zu Beginn des 10. Jahrhunderts in der sogenannten Raffelstettener Zollordnung

genannt sind 61 Zwar ist dies namentlich durch die ältere Forschung immer wieder geschehen, 62

doch abgesehen davon, dass auch diese drei Grafschaften nicht eindeutig zu lokalisieren sind und man dabei jedenfalls auf das Gebiet westlich der Enns ausweichen müsste, ignoriert ein sol- cher Brückenschlag über drei Jahrhunderte hinweg den Umstand, dass es sich bei Grafschaften

um keine überzeitlichen Phänomene, sondern um veränderliche Einheiten handelt, deren Umfang und Gestalt den jeweils aktuellen Verhältnissen angepasst wird. Sie können in den Grenzen verändert, geteilt oder mit anderen Grafschaften zusammengelegt werden, und es kön-

nen auch ganz neue Einheiten geschaffen werden. Diese allgemeine Aussage lässt sich schon für die karolingische Ostmark des 9. Jahrhunderts bestätigen, kann man doch auch hier einen häufigen Wechsel in der Markenorganisation beobachten: Je nach Bedarf unterstand die Mark

einem oder mehreren Präfekten, wurden Grafschaften in den Händen von königsnahen Leuten kumuliert, entstanden mehr oder weniger ausgeprägte Hierarchien innerhalb der politischen Führungsgruppe. 63 So waren anscheinend auch die drei von der Raffelstettener Zollordnung

erwähnten comitatus erst das Ergebnis einer Umorganisation der Mark in den 870er Jahren. 64

Die Ungarnkriege des 10. Jahrhunderts haben hier sicher einen noch stärkeren Einschnitt bewirkt, auch wenn es keinen wirklichen Anhaltspunkt dafür gibt, dass alles Gebiet östlich der Enns unter ungarische Herrschaft geraten wäre, und Besiedlung und Landesausbau anscheinend

61 MGH Capit. 2, Hannover 1897, Nr. 253, S. 250: omnes, qui in biss tribus comitatibus nobiles f terunt. Zum

Charakter des Dokuments vgl. Peter JOHANEK, Die Raffelstetter Zollordnung und das Urkundenwesen der

Karolingerzeit, in: Festschrift für Berent Schwineköper zu seinem siebzigsten Geburtstag, hg. von Helmut

MAURER - Hans PATZE, Sigmaringen 1982,87-103. 62 Zuletzt noch bei Ignaz ZIBERMMAYER, Noricum, Bayern und Österreich. Lorch als Hauptstadt und die Einführung

des Christentums, Horn 2/1956,413-416. 63 Michael MIrrERAUER, Karolingische Markgrafen im Südosten. Fränkische Reichsaristokratie und bayerischer

Stammesadel im österreichischen Raum (Archiv für österreichische Geschichte 123), Wien 1963,160-169; Brigitte KASTEN, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der

Merowinger- und Karolingerzeit (MGH Schriften 44), Hannover 1997,505-523; DEUTINGER, Königsherrschaft

(wie Anm. 10) 195-200.

64 MITFERAUER, Markgrafen (wie Anm. 63) 165.

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ohne Unterbrechung weitergingen. 5 Von der Neuorganisation der Ostmark nach dem Ende der Ungarneinfälle war mit einiger Wahrscheinlichkeit auch das System der Grafschaften betroffen. Vielleicht hatte schon der erste bekannte Markgraf der Ottonenzeit Burchard in den 960er Jahren mehrere Komitate zwischen Enns und Wienerwald inne, einigermaßen sicher ist dies dann für die nachfolgenden Babenberger, zumal unter ihnen die Mark ja weiter nach Osten aus- gedehnt wurde. 66 Und wenn diese Grafschaften dann über mehrere Generationen hinweg immer

einer einzigen Person unterstanden und gleichzeitig fortwährend an praktischer Bedeutung ver- loren, nimmt es nicht wunder, dass sie im 12. Jahrhundert als separate Einheiten gar nicht mehr erkennbar waren.

Das Privilegium minus und der mysteriöse Hinweis Ottos von Freising auf die drei Grafschafen, die zur Mark Österreich gehörten, sind, so kann man zusammenfassen, herausra-

gende Zeugnisse für den Verfassungswandel des 12. Jahrhunderts. Dieser Wandel vollzieht sich auf mehreren Ebenen und zeigt dort jeweils ein anderes Gesicht. Auf der Ebene der Grafschaften spiegelt er im Grunde nur die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung wider: Bevölkerungswachstum und Landesausbau, die Ausbreitung von großen Grundherrschaften

und Vogteibezirken, das Aufkommen neuer gesellschaftlicher Gruppen wie Ministerialität und Bürgertum bei gleichzeitiger Verminderung des alten Adels, all das machte die aus dem Frühmittelalter überkommene Institution der Grafschaft allmählich funktionslos. Mitte des 12. Jahrhunderts hatte in Österreich selbst ein Kenner wie der Markgrafensohn Otto anscheinend nur mehr eine vage Vorstellung davon; mit ihm verschwindet sie aus der österreichischen Geschichte. An die Stelle des comitatus trat die cometia, der gemeinsamen Namenswurzel zum Trotz eine hoheitliche Bildung ganz neuer Art. Ihr gehörte die Zukunft, und sie sollte schließ- lich die wichtigste Grundlage für die umfassenden Landeshoheit der österreichischen Herzöge in der Neuzeit bilden.

Auf der Ebene der Fürstentümer stellt sich der Wandel anders dar. Hier scheint sein Ausgangspunkt weniger eine Änderung der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse oder gar eine vorsätzliche Verfassungsreform der Staufer gewesen zu sein als vielmehr eine veränderte Wahrnehmung altbekannter Phänomene. Mitte des 12. Jahrhunderts begann man, die Beziehungen zwischen König und Fürsten in lehnrechtlichen Kategorien zu deuten, wobei noch zu untersuchen ist, inwieweit dabei eine direkte Übernahme aus dem theoretischen System der lombardisch-italienischen Feudistik vorliegt oder eine damit bloß verwandte hie- rarchische Ordnungskonzeption, wie sie damals allgemein im Trend der Zeit lag. Doch das Bewusstsein bestimmt auch das Sein: Die Reichsverfassung wurde dadurch nicht nur umge- deutet, sondern auch umgeformt, indem die Regelung der Beziehungen nun zunehmend dem theoretischen System des Lehnrechts folgte. Das Privilegium minus von 1156 spielt hier eine

65 Vgl. Peter CSENDES, Der niederösterreichische Raum im 10. Jahrhundert, in: Baiern, Ungarn und Slawen im

Donauraum, red. von Willibald KATZINGER - Gerhart MARCKJIGOTr (Forschungen zur Geschichte der

Städte und Märkte Österreichs 4), Linz 1991,95-104.

66 Dasselbe lässt sich übrigens auch für Kärnten und Steiermark beobachten; vgl. zusammenfassend Claudia FRASS-EIIRFELD, Geschichte Kärntens, Bd. 1, Klagenfurt 1984,115-123; Fritz Poscti, Die Besiedlung und Entstehung des Landes Steiermark, in: Steiermark (wie Anm. 53) 23-62.

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Das Privilegium minus, Otto von Freising und der Verfassungswandel 199

herausragende Rolle, ist es doch eines der frühesten Zeugnisse für die Umsetzung der abstrak- ten lehnrechtlichen Ordnung in die konkrete Wirklichkeit. Es bildet den Wandel nicht nur ab, sondern ist selbst ein Teil davon, hat ihn ganz wesentlich mitbestimmt, denn die Verfassung bestand ja nicht aus einem System abstrakter Normen, sondern aus der Summe all ihrer Einzelregelungen. Urkundlich verbriefte Privilegien wie das von 1156 waren keine Ausnahmeregelungen, sondern selbst �normative

Bestandteile der Reichsverfassung". 67 Dass das Heilige Römische Reich vom 12. Jahrhundert bis zu seinem Ende 1806 ganz wesentlich als Lehnsverband von König und Fürsten erscheint, verdankt es der Umsetzung theoretischer lehn-

rechtlicher Prinzipien in die konkrete politische Praxis, wie sie im Privilegium minus erstmals manifest wird. Mag man die Bedeutung dieses Privilegs für die weitere Entwicklung des Herzogtums Österreich eher gering veranschlagen, da von den darin verankerten Vorrechten kaum Gebrauch gemacht wurde, seine Rolle im Verfassungswandel des 12. Jahrhunderts wurde bislang, trotz der intensiven Beschäftigung mit dieser Urkunde über viele Forschergenerationen hinweg, eher unter- als überschätzt.

67 Arno BUSCH: IIANN, Privilegien in der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches im Hochmittelalter, in: Das

Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, hg. von Barbara DÖLEMEYER - Heinz MOHNHAUPT (Ius

Commune, Sonderheft 125), Frankfurt/Main 1999,17-44, das Zitat 35; vgl. im selben Sinn Hanna VOLLRATH,

Fürstenurteile im staufisch-welfischen Konflikt von 1138 bis zum Privilegium Minus. Recht und Gericht in der

oralen Rechtswelt des früheren Mittelalters, in: Funktion und Form. Quellen- und Methodenprobleme der

mittelalterlichen Rechtsgeschichte, hg. von Karl KROESCHELL und Albrecht CORDES (Schriften zur

Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 18), Berlin 1996,39-62.