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Die Ironie Bearbeitet von Vladimir Jankélévitch, Jürgen Brankel 1. Auflage 2012. Taschenbuch. 190 S. Paperback ISBN 978 3 518 58588 7 Format (B x L): 12 x 20,4 cm Gewicht: 259 g Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Metaphysik, Ontologie > Ethik, Moralphilosophie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Die Ironie

Bearbeitet vonVladimir Jankélévitch, Jürgen Brankel

1. Auflage 2012. Taschenbuch. 190 S. PaperbackISBN 978 3 518 58588 7

Format (B x L): 12 x 20,4 cmGewicht: 259 g

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >Metaphysik, Ontologie > Ethik, Moralphilosophie

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Leseprobe

Jankélévitch, Vladimir

Die Ironie

Aus dem Französischen von Jürgen Brankel

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-58588-7

Suhrkamp Verlag

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Vladimir JankelevitchDie Ironie

Aus dem Französischenvon Jürgen Brankel

Suhrkamp

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Titel der Originalausgabe:L’ironie

© Flammarion, Paris 1964

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2012© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder

unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-58588-7

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Ìüíù ã ¡áñ ôù óðïõäáßù óðïõäáóôÝïí ·åí óðïõäáßïéò ôïéòEåñãïéò.

Denn allein mit dem ernsten und edlen Menschteile darf manbei ernstem Werke ernstlich sich bemühen.Plotin, Enneaden, III, 2, 15.

EÅóôé ä ¡ç ôïßíõí ô ¡á ôùí ·áíèñþðùí ðñÜãìáôá ìåãÜëçò ì ¡åíóðïõäçò ï ·õê Eáîéá, ·áíáãêáéüí ãå ì ¡çí óðïõäÜæåéí.

Es sind nun zwar die menschlichen Angelegenheiten erhebli-cher Mühe und ernsten Eifers nicht wert; gleichwohl bleibt unsdies Bemühen nicht erspart.Platon, Gesetze, VII, 803 b.

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Inhalt

KAPITEL I

Die Bewegung des ironischen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Die Ironie über die Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212. Die Ironie über sich: »Ökonomie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283. Die Ironie über sich: die Kunst zu streifen . . . . . . . . . . . . . 32

KAPITEL II

Die ironische Pseudologie und über die Finte . . . . . . . . . . . . . . . 41

1. Varietäten des Geheimnisses und der Allegorie . . . . . . . . . 442. Von der ironischen Verkehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553. Über die doppelte Verneinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814. Zynismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985. Ironischer Konformismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

KAPITEL III

Über die Fallen der Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

1. Konfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1292. Schwindel und Überdruss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433. Probabilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1534. Die humorige Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1605. Spiele der Liebe und des Humors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

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KAPITEL I

Die Bewegung des

ironischen Bewusstseins

ÁËÊÉÂÉÁÄÇÓ: Óþêñáôåò, êáèåýäåéò; – ÓÙÊÑÁÔÇÓ: Ï ·õä ¡çôá …

Alkibiades: Sokrates, schläfst du? – Sokrates: Bewahre …Platon, Gastmahl, 218 c.

Ï ·õ êáèåõäçôÝïí ·åí ôç ìåóçìâñßá.

Sollten sie nun gewahr werden, dass auch wir beide währenddes Mittags einnicken, so würden sie uns mit Recht auslachen.Phädros, 259 d.

EÁñá ï’õí ì ¡ç êáèåýäùìåí Dùò ï Dé ëïéðïß, ·áëë ¡á ãñçãïñùìåí …

So lasset uns nun nicht schlafen wie die anderen, sondern lassetuns wachen und nüchtern sein …1. Thess., V, 6.

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Es gibt eine elementare Ironie, die sich mit der Erkenntnis vermischtund wie die Kunst eine Tochter der Muße ist. Sicherlich ist die Ironiewohl zu moralisch, um wirklich künstlerisch zu sein, wie sie zu grau-sam ist, um wirklich komisch zu sein. Es gibt jedoch einen Wesens-zug, der sie annähert: Kunst, Komik und Ironie werden da möglich,wo die vitale Dringlichkeit nachlässt. Doch ist der Ironiker noch freierals der Lacher; denn der Lacher beeilt sich sehr oft nur zu lachen, umnicht, wie diese Feiglinge, weinen zu müssen, die lauthals in die tiefeNacht hineinrufen, um Mut zu bekommen; sie glauben, der Gefahrallein dadurch zuvorzukommen, dass sie sie benennen, und sie gebensich als Freigeister in der Hoffnung, ihr zuvorzukommen. Ironie, diekeine Überraschungen mehr fürchtet, spielt mit der Gefahr. Diesfallsist die Gefahr in einem Käfig; die Ironie wird sie besuchen, sie ahmtsie nach, provoziert sie, macht sie lächerlich und nährt sie für ihreErholung; die Ironie wird sich sogar durch die Gitter zwängen, da-mit das Vergnügen so gefährlich wie möglich ist, um die vollständigeIllusion der Wahrheit zu erhalten; sie spielt mit ihrer falschen Furchtund ermüdet nicht, diese kostbare Gefahr, die ständig stirbt, zu be-siegen.

Die Schliche können, um die Wahrheit zu sagen, schlecht enden,und Sokrates ist daran gestorben; denn das moderne Bewusstsein ver-sucht nicht ungestraft die monströsen Geschöpfe, die das alte Be-wusstsein in Furcht und Schrecken versetzten. Dennoch ist der Geistder Ironie wohl der Geist der Entspannung, und er nutzt die geringsteWindstille, um sein Spiel wiederaufzunehmen. Im Verlauf seiner Ge-schichte hat so das Denken mehrere Oasen der Ironie durchquert; essind Epochen des »scholastischen Lebens« und freien Gespötts, indenen das Denken Luft holt und sich von den kompakten Systemenausruht, die es bedrückten; Generationen von Ironikern wechseln mitden zu ernsten Generationen ab, wie sich im individuellen Leben dasTragische und das Frivole abwechseln. Das Auftreten von Sokrates amEnde des fünften Jahrhunderts stellt sozusagen diese erste Ironie desJugendalters dar, die in uns auf die panischen Ängste und vorschnel-len Begeisterungen der Jugend folgt. Die sokratische Ironie ist eine

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fragende Ironie;1

1 Eine »konversationelle« Ironie: Rudolf Haym, Die romantische Schule, 4. Auflage, Ber-lin 1920, S.295.

Sokrates zersetzt durch seine Fragen die massivenKosmogonien der Ionier und den erstickenden Monismus des Parme-nides. Bemerken wir zunächst, dass Sokrates ein Sophist ist, wie Pro-metheus ein Titan; aber er ist ein Sophist, der sich über die Sophis-tik ebenso lustig macht wie über die Wissenschaft der Meteore. ImGrunde ist der Geist des Humanismus und der Kontroverse, der beidiesen Scharlatanen weht, eben Sokrates’ Geist; wenn Gorgias zu-gunsten des Nichtseins argumentiert, bemüht er sich, uns zu mystifi-zieren, und ebenso der abderitische Protagoras, der ein Virtuose der»Antilogie« ist. Zum Beispiel: Die Sophisten räumen, wie auch Sokra-tes, die Lehrbarkeit der Tugend ein, aber aus dermaßen suspektenGründen, dass der Sokrates des Protagoras vorgibt, ihre Nichtüber-tragbarkeit zu lehren; dass er die Wissenschaft und nicht die Kniffeoder Rezepte sucht. Was Sokrates den Marktschreiern vorwirft (wiespäter Auguste Comte Saint-Simon), ist, das Pferd vom Schwanz auf-zuzäumen, da zu improvisieren, wo man analysieren müsste, undkurzum zu den routinemäßigen Approximationen des Probabilismuszurückzukehren. Auf einen Sophisten gehören anderthalb Sophisten:Sokrates vereitelt den Skandal dieser Eristik, die Hochstapelei dieses»Aktivismus«; Sokrates löchert mit Fragen die Händler der schönenPhrasen und hat ein listiges Vergnügen daran, ihre Schläuche derBeredsamkeit aufzuschlitzen und aus ihren Blasen voller leeren Wis-sens die Luft herauszulassen. Sokrates ist das Bewusstsein der Athe-ner, ganz zugleich ihr gutes und schlechtes Gewissen;2

2 Der französische Text lautet hier: »conscience«, was auch mit »Bewusstsein« übersetztwerden kann. Der Leser sollte bei dem Wort »Gewissen« immer auch an »Bewusstsein«denken, A.d.Ü.

das heißt, manfindet in seiner Funktion die Diskrepanz, die den Effekten der Ironieje nachdem eigen ist, ob diese uns von unseren Schrecken befreit oderunsere Glaubensüberzeugungen wegnimmt. Einerseits amüsiert So-krates die Athener; Schelling vergleicht ihn mit Dionysos, dem jungenGott, dank dessen sich der öde Himmel des Uranos mit Gesängenund Geräuschen erfüllt. Parmenides ist seinerseits der Kronos derPhilosophie, der bei ihrer Geburt die konkreten Besonderheiten, die

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Vielfalt, die Beweglichkeit, die Andersheit verschlingt. Sokrates, einedionysische Natur, macht diese gierige Einheit lächerlich, dieses Prin-zip Kronos’, das auf der fröhlichen Varietät der Unterschiede lastete;Sokrates hat etwas vom Scharlatan, vom Jongleur, vom Magier; erberauscht die alte starke und steife Polis, er begründet schließlich einbeflügeltes, subtiles, menschliches Wissen, in dessen Umfeld die Ana-lyse des Aristoteles stattfinden wird. Ein Hauch Wahnsinn weht alsoüber den Athenern; der Dämon der Dialektik bestürmt die Jugendli-chen auf den Plätzen und an den Kreuzungen; Alkibiades leistet sichalle Arten von Extravaganzen, um die Aufmerksamkeit der Stadt aufsich zu ziehen … Es ist Sokrates, der dämonische Mensch, der dieBürger wahnsinnig macht, der sie mit Dialektik und scharfen Ideentrunken macht; es gibt nunmehr Platz in Griechenland für die beweg-lichen und losgelösten Ideen, für die fruchtbare Kritik. »Wenn ichdich höre«, sagt ihm Alkibiades am Tisch des Dichters Agathon,»schlägt mein Herz heftiger, als wenn ich von dem Tanz der Koryban-ten erregt wäre […]«; und er vergleicht ihn nacheinander mit einemSilen und dem Satyr Marsyas, die dionysische Wesen sind. Doch istSokrates auch der einzige Mensch, der Alkibiades zum Erröten bringt;der Einzige, der ihm begreiflich macht, dass zu leben, wie er es macht,nicht zu leben wert ist. Alles erscheint flach neben dem herrlichenund bewegenden Lob, mit dem Platons Gastmahl endet. Alkibiades istein wenig trunken, gerade genug, um in der ganzen Spontaneität ei-ner ersten Bewegung zu sprechen. »Ich muss ihn also meiden und mirdie Ohren zustopfen, wie um den Sirenen zu entkommen […]. Er istder Einzige, der in mir ein Gefühl erweckt, dessen man sich kaum fürfähig halten würde: Scham in Gegenwart eines anderen Menschen;und oft würde ich, glaube ich, es vorziehen, dass er nicht existierte.«Sokrates ist also für die frivole Polis eine Art lebender Gewissensbiss;er erquickt sie, aber beunruhigt sie auch; er ist ein Spielverderber. DieMenschen verlieren bei seinem Kontakt die täuschende Sicherheit derfalschen Evidenzen, denn man kann Sokrates nicht gehört haben undweiterhin auf dem Kissen der alten Gewissheiten schlafen: Es ist alsonunmehr vorbei mit dem Dämmerzustand, dem Ausruhen und demGlück. Er stachelt an, er hält die Dämmernden in Atem: Eutyphron,den schüchternen Frömmler, Laches, den Soldaten, Hippias, den All-

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wissenden, den Scharlatan … Er drängt sie alle in eine Sackgasse, erwirft sie in die Unschlüssigkeit der Aporie, die die durch Ironie her-vorgerufene, symptomatische Verwirrung ist: Obgleich du selbst ver-legen bist, bringst du die anderen in Verlegenheit (á ·õôüò ôå ·áðïñåéòêá ¡é ôï ¡õò Eáëëïõò ðïéåéò ·áðïñåéí)!3

3 Platon, Menon, 80 a-d: ãïçôåýåéò ìå êá ¡é öáñìÜôôåéò êá ¡é ·áôå÷íùò êáôåðÜäåéò, flùóôåìåóô ¡ïí ·áðïñßáò ãåãïíÝíáé ([Und ich müßte mich sehr täuschen,] wenn du jetzt michnicht behext und bezauberst und völlig in deine Gewalt bringst, so daß ich nicht mehr ausund ein weiß [Bei den Übersetzungen Platons wird generell die Ausgabe von Otto Apeltbenutzt, Hamburg 1998, A.d.Ü.]). 84 a. In dieser Passage wird Sokrates mit der Pforte ver-glichen. Vgl. ders., Gorgias, 522 a: ·éó÷áßíùí êá ¡é ðíßãùí ·áðïñåéí ðïéåé, ðéêñüôáôá ðþìáôáäéäïýò (und macht euch dürr und welk und bereitet euch Pein durch Verordnung derbittersten Arzeneien). Vgl. 522 b. Ders., Theätet, 149 a: […] flïôé ä ¡å ·áôïðþôáôüò å ·éìé êá ¡éðïéù ôï ¡õò ·áíèñþðïõò ·áðïñåéí ([und darum sagen die Leute,] daß ich ein Ausbund vonWunderlichkeit sei und die Menschen an sich irremache). Vgl. 151 a: ðÜó÷ïõóé ä ¡å ä ¡ç ï Dé·åìï ¡é óõããéãíüìåíïé êá ¡é ôïõôï ôá ·õô ¡ïí ôáéò ôéêôïõóáéò, ·ùäßíïõóé ã ¡áñ êá ¡é ·áðïñßáò·åìðßìðëáíôáé íýêôáò ôå êá ¡é DçìÝñáò ðïë ¡õ ìáëëïí †ç êåéíáé, ôá eõôçí ä ¡å ô ¡çí ·ùäéíá ·åãåßñåéíôå êá ¡é ·áðïðáýåéí Dç ·åì ¡ç ôÝ÷íç äýíáôáé (Es machen nun aber die mit mir Verkehrendenauch in folgender Beziehung die nämliche Erfahrung wie die gebärenden Weiber: sie lei-den an Wehen und werden Tag und Nacht von Zweifelsschmerzen geplagt, weit mehr alsjene. Diesen Schmerz aber vermag meine Kunst zu wecken und auch zu mildern). Ders.,Der Staat, VII, 523 a, 525 a, 524 a, e, 515 d, 505 e. Ders., Das Gastmahl, 203 b, 204 b.

Nachdem sie sich ihrer eigenenUnwissenheit bewusst geworden sind, fühlen sie sich von einem uner-klärlichen Unwohlsein bedrängt: ein durch den Widerspruch hervor-gerufenes Unwohlsein, das gemäß dem Platon des Menon die Wie-dererinnerung einleitet. Daher heißt es im Theätet: Iris ist Tochterdes Thaumas, und die Wissenschaft ist Tochter des Erstaunens,4

4 Platon, Theätet, 155 d.

dasheißt: der Aporie. Diese Aporie, die mit der Mäeutik verbunden ist,das heißt mit einer Art von geistiger Geburtshilfe, enthüllt uns nochdeutlicher ihre erotische Natur: Das Unwohlsein der Widerlegung,Eåëåã÷ïò, ist wie eine Liebesqual, und der »Gott der Widerlegun-gen«, èå ¡ïò ·åëÝã÷ùí, sollte vielleicht den Namen Eros tragen. Sokra-tes stellt also ein Alarm- und Mobilitätsprinzip dar: Als elektrischesGeschöpf mobilisiert er das Unbewegliche, bestreitet er das Unbe-streitbare, und sein unermüdliches Misstrauen ist immer wach. Erlähmt nicht seine Gesprächspartner wie die Eule, die nach dem So-phisten Elien die Vögel durch ihre Grimassen fasziniert, wie dieMaske der Medusa, die die Menschen erstarren lässt, sondern er lässtsie erschlaffen, um sie gewitzter zu machen. So beschämt Jesus5

5 Friedrich Paulsen, Schopenhauer, Hamlet, Mephistopheles, Berlin 1900, S.237.

durch

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seine Fragen die Männer des Gesetzes und bringt sie entweder zumSchweigen oder zur Absurdität: Zum Beispiel erklärt er ihnen, dassaller Reichtum von der List oder Gewalt abstammt, dass aller Besitzdie Tochter der Ungerechtigkeit und des Instinkts der Habsucht ist;das ›Haben‹ ist unwesentlich: Jesus löst also das ›Haben‹ in Luft auf; esgibt kein Eigentum, keine Erbschaft, kein Geld, keine Zugehörigkeit,kein Mein und Dein, was substanziell wäre. Aber Jesus wird nichtüber eine Heimtücke, die die Grundlage der Böswilligkeit ist, trium-phieren, es sei denn durch seinen Tod selbst; dagegen fährt Sokratesdie Spaßmacher an und entlarvt so schon hier auf der Erde eine ober-flächliche Selbstgefälligkeit, die nach allem nur ein schlechtes Gewis-sen ist. Das Evangelium sagt zu Recht: Sie wissen nicht, was sie tun;aber ihre Verblendung selbst ist übernatürlich und fordert ein über-natürliches Vergeben. Nun, es gibt in Athen keine teuflische Halsstar-rigkeit, keine Unkenntnis, deren Geständnis die Ironie nicht herbei-führen könnte. Îýíïéäá ·åìáõôù flïôé ï ·õê ï’éäá (Ich bin mir bewusst,dass ich nicht weiß).6

6 (Übers. J. B.) Vgl. Platon, Gastmahl, 216 a, b; 217 d; 218 d (sich schämen).

Sokrates lässt die Luft aus der zufriedenenSelbstgefälligkeit heraus; er macht die Menschen unzufrieden, gewis-senhaft, für sich selbst schwierig, er verleiht ihnen den Stachel, sich zuerkennen und zu definieren. Dennoch betet das Gewissen im Grundeden beruhigenden Irrtum an, von dem Sokrates es befreit; es ruft diedialektische Person, die es operieren will, herbei und verdammt siezugleich, es empfindet ihr gegenüber ein ambivalentes Gefühl; es willnicht der Versuchung zu untersuchen, dem Geist der Prüfung und derfreien Bewegung nachgeben. Der misstrauische Philosoph wird alsoseinerseits verdächtig werden: So wird Sokrates den Schierlingsbecherleeren. Sokrates ist tot, und dennoch ist sein Tod unter den Menschenlebendig geblieben; Sokrates lebt jeden Augenblick in unseren Herzenauf, denn man weicht nicht seinem schlechten Gewissen nur dadurchaus, dass man ihm den Schierling zu trinken gibt: Denn das Schier-lingsgift selbst verwandelt sich nach dem Wort von Leo Schestow7

7 Athen und Jerusalem (Y.M.C.A. 1951, auf Russisch, deutsche Übersetzung von HansRuoff, München 1994).

inein herzhaftes Stärkungsmittel. Im Übrigen wissen die Menschennicht, was sie wollen; ï ·õäåéò Dåê ¡ùí DáìáñôÜíåé (niemand verfehlt sich

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freiwillig),8

8 (Übers. J.B.)

das heißt: Sie sind noch dümmer als bösartig. Sie tötetenSokrates, aber Sokrates hat Zeit gehabt, sie zu definieren. Er hat sichan seinen Anklägern gerächt, indem er ihnen seinen Tod vererbte.

Sokrates’ Tod ist also eine normative Tatsache wie die Schlacht vonMarathon geworden, ein erhebendes Symbol, das die alten asiati-schen Schicksale des Bewusstseins abwendet: So wird die Jugend die-ses Todes immer im undankbaren Volk wohnen, dessen Freundin sieist. Er hat dem Vielfachen Luft zum Atmen gegeben; er ist wie ein Rät-sel oder Skandal aufregend geblieben; und wie die Unterhaltung mitSokrates die Rhetoren in Verlegenheit brachte, so hat seine Martereine dauerhafte Verlegenheit provoziert, eine Art fruchtbarer Aporie,dank welcher der Geist in Habachtstellung geblieben ist. Von Platonbis zu Lamartine und von Schelling bis zu Hegel, Kierkegaard, Nietz-sche … bis zu Erik Satie hat man nie aufgehört, die Hieroglyphe die-ses Todes zu entziffern: Der christliche Sokrates, der dionysische So-krates, der plebejische Sokrates – der große Hexer (wie ihn Menonnennt) – hat uns für alle Zeiten vor der einfältigen »Euphorie« desUnbewusstseins bewahrt. Sokrates macht eine ganze Ahnenreihe vonprotestierenden Philosophen möglich, die die Tradition immer fre-cher erschüttern; und wie die Olympier in der klassischen MythologieMühe haben, sich ohne Lachen anzusehen,9

9 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 294. Aphorismus.

so wächst die Skepsisunter den Menschen; die Götter beginnen, einander Streiche zu spie-len, und die Farce, deren Opfer nach der Odyssee Ares und Aphroditesind und die die Menschen und Götter zum Lachen bringt, diese gött-liche Farce zeigt uns, dass Respektlosigkeit nicht die Unsterblichenverschont. Wie Hephaistos fängt der Sokrates des Eutyphron und derBücher II und III des Staats die Götter in einem feinen Netz ein, damitwir die Fabeln nicht mehr ernst nehmen. Nach der sokratischen Iro-nie die zynische Unverschämtheit: Denn nach Sokrates kommt Dio-genes, der sozusagen ein fanatischer Sokrates ist, eine Art dem bac-chischen Umzuge entkommener Ziegenfuß. Der Zynismus ist oft einenttäuschter Moralismus und eine äußerste Ironie: Wechselt Fried-rich Schlegel nicht ständig von dieser zu jenem? In dieser Hinsicht istder Zynismus nichts anderes als eine rasende Ironie, die sich damit

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amüsiert, die Philister aus Vergnügen zu schockieren: Es ist der Di-lettantismus des Paradoxes und des Skandals. Kallikles, ein Empor-kömmling und Immoralist, stellt im Gorgias einen ganz anderen Typusdar! Denn der wahre Zynismus ist deswegen die Kunst des ›Sich-Durchwurstelns‹ oder des gewissenlosen Pragmatismus, denn er ver-wirft im Gegenteil die sozialen Konventionen, denn er ist asketischund neigt zur Tugend, dem Genießen feindlich und steht den welt-lichen Größen verächtlich gegenüber; wie Kallikles ist gewiss auchAntisthenes Realist, aber zusätzlich mit eine Nuance an Sittenstren-ge und moralischem Fanatismus, der Rousseau ankündigt und diesechristliche Religion, über die Friedrich Schlegel gesagt hat, dass sie ein»universeller Zynismus« sei. »Inmitten des roten Rauchs des Stolzesist Besace10

10 Die in Kapitälchen wiedergegebenen Wörter haben im französischen Original einenGroßbuchstaben, A.d.Ü.

(der Bettelsack) errichtet, die Stadt des Zynikers, in diekein Parasit Eintritt hat, der nur Thymian, Feigen und Brot erzeugt[…].«11

11 Diogenes L. 85, zitiert nach Emile Brehier, Histoire de la philosophie, Bd. I, Paris 1931,S.277.

Sokrates war arm: Also werden sie Bettler sein. Sokrates fla-nierte an den Straßenecken: Sie werden in Tonnen wohnen. Sokra-tes praktizierte mit einer ausgesuchten Bescheidenheit die Kunst desDialogs; sie werden beißende Kritiken, Predigten, Apologien des Pro-pagandisten vorziehen, weil sie mehr darauf bedacht sind, zu kämp-fen und zu predigen als zu diskutieren, mehr darauf brennen, zubekehren als zu überzeugen. Auf die feinsinnige Ironie folgt die lei-denschaftliche Übertreibung des Grobians; sie meinen, dass sie antausend Dummheiten, an eine ganz komplizierte Schauspielerei ge-halten sind, die Teil ihrer Legende sein wird; die anonyme Ironie beiSokrates hat das Bedürfnis, sich als struppig, verschmutzt und aggres-siv zu zeigen; statt die Ideen zu analysieren, zieht sie die Aphorismenvor (÷ñåéáé, óßëëïé, Geschäfte, Gespött), und man sammelt liebevollihre Sentenzen. Das »Bonmot« ist eine Waffe: Die dialektische Ironieweicht bei Lukian einer Ironie der Sentenzen, und die Weisheit wirdlange »im Zustand des Epigramms« bleiben, bevor sie die »Agudeza«von Baltasar Gracian entstehen lässt. Der Zynismus ist also die Philo-sophie des Überbietens: Nach Sokrates spannt sich die Ironie bis zur

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Gotteslästerung und bis zu den schlimmsten Übertreibungen desmoralischen Radikalismus.

Die sokratische Ironie bestritt nur die Nützlichkeit und Gewissheiteiner Naturwissenschaft; die romantische Ironie wird zu Beginn des19. Jahrhunderts die Existenz selbst der Natur bestreiten. Man kannsich darüber verwundern:12

12 Maurice Boucher, »Ironie romantique«, in: Cahiers du Sud 1937 (»Le Romantismeallemand«), S.29.

Die romantische Glut hat eine Haltungder Distanzierung zur Folge, die eher zu Voltaires Candide als zumBesessenen von Hoffmann und eher zum Skeptizismus als zum En-thusiasmus zu passen scheint. Diese Ironie ist in Wahrheit kein Hu-mor im Sinne von Swift, Stern und Voltaire, diese Ironie ist eine Trun-kenheit der transzendentalen Subjektivität. Der kritische Idealismusermutigte sie, die bei den Dichtern allmählich lyrischer Idealismusund »magischer« Idealismus wird. Von Kants Subjekt zu Fichtes Ichund von Novalis’ Imagination zu Friedrich Schlegels Genie hört derGeist nicht auf, sich aufzublasen, sozusagen sich an sich selbst zuberauschen; als Schöpfer seines Gegenstands determiniert er ihn in sei-nem Sein und nicht nur in seiner Ordnung oder in seinem Sinn. Vomtranszendentalen Subjekt bis zum schöpferischen Willen ist der Ab-stand der gleiche wie von der Freiheit zum Ausschweifen, das heißt vomvon der Pflicht determinierten Wollen zum hyperbolischen, willkürli-chen und unmoralischen Wollen. Statt dass so die sokratische Weisheitsowohl der Selbsterkenntnis und der Kenntnis der Welt misstraut undbeim Wissen seiner Unkenntnis über sich selbst endet, schwächt dieromantische Ironie die Welt nur ab, um sich selbst ernster zu nehmen.Sie ist bei Friedrich Schlegel »Verstand«*,13

13 Die mit einem Sternchen versehenen Wörter oder Zitate sind im Original in deutscherSprache, A.d.Ü.

die Freiheit des Subjekts, dasüber das Objekt hinausragt; bei Novalis ist sie »Gemüt«*, die magischeund poetische Freiheit, die die Welt verklärt, die schwärmerische Frei-heit, die die Natur romantisiert; das Universum ist eine Erzählung dererhabenen Phantasie. Ironie ist die Macht, zu spielen, sich in die Lüfteaufzuschwingen, mit den Inhalten zu spielen, entweder um sie zu ver-leugnen oder um sie neu zu schaffen. Andererseits stellt Sokrates einpraktisches und staatsbürgerliches Problem, das Schlegel, wenigstens

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bis 1802, zu verachten vorgibt; von der einen Ironie bis zur anderen istes ebenso weit wie vom »Moralismus« zum ästhetischen Dilettantis-mus und anarchistischen Nihilismus. Schlegel gibt sich selbst die Frei-heit, aber eine Freiheit ohne Verantwortung, eine Freiheit, die ausnichts anderem besteht als dem Vergnügen, ausgeübt zu werden – miteinem Wort die Freiheit ohne rechtliche Ordnung und ohne all diesesernste Pathos, das das fichtesche Ich verbürgerlicht. Stellen wir unseinen Diogenes vor, der die Wissenschaftslehre* gelesen hätte und sichdamit begnügte, die »heilige Faulheit« und die »transzendentale Pos-senhaftigkeit« zu rühmen, um bei Beamten und Pädagogen Ärgerniszu erregen. Julius, der Held der Lucinde, spielt das zynische Spiel derFreiheit. Durch den Übergang von der klassischen Ästhetik Schillerszur dionysischen Ästhetik Schlegels hat die Idee des Spiels ein boheme-artiges Aussehen angenommen; von nun an bedeutet Spiel nicht mehrMuße, sondern Untätigkeit; nicht mehr olympische und liberale Muße,sondern die einer allen Sorgen des Spleens günstige Vakanz. Zufall undSchicksal vereinigen sich: Diese hyperbolische und faule Freiheit, diealle Kulturwerte verschlingt, endet bei einer Art quietistischer Indiffe-renz, für die es keine Tugend, kein Objekt und selbst keine Kunst mehrgibt! Aufgrund der romantischen Dichtung, wie Jean Paul sie versteht,lösen sich die Grenzen der objektiven Welt in der Unendlichkeit desSubjekts auf, wie sich plastische Formen in dem Halbschatten desMondscheins auflösen. Hegel hat die Selbstherrschaft dieses ironischenIchs sehr verspottet, das jede Determination und Besonderheit ver-schlingt … In der Nacht, macht Hegel sich lustig, sind alle Katzen grau;bezüglich unseres unendlichen freien Willens vernichten sich allegeformten Dinge im Chaos der Ironie,14

14 Vgl. Sören Kierkegaard, Crainte et tremblement, Paris 1946, S. 77, 185 (dt.: Furcht undZittern).

gleichen sich im Nichts. Diesesumgekehrte Erhabene, die unendliche Negation, die den Wahnsinnund die Weisheit gegeneinander ausspielt, ist das, was Jean Paul als Hu-mor bezeichnet; statt aber den Hiatus nach Schlegel zwischen Ich undWelt zu platzieren, situiert ihn Jean Paul, indem er den christlichen Be-griff der Sünde aufnimmt, zwischen Gott und den Dingen der Welt –unter denen sich das Ich befindet: Der Humor vernichtet nicht dasEinzelne, sondern überhaupt die Endlichkeit durch ihren Kontrast

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zur Idee der unendlichen Vernunft;15

15 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, I, 7. Programm, §31-33. Hier ist es die Vernunft*, dieunendlich ist, und der Verstand*, der endlich ist. Das Vokabular ist bei Schlegel um-gekehrt.

er stürzt das universal Mensch-liche von der Höhe des tarpejanischen Felsens16

16 Felsen im Südosten des Kapitols, von dem man bis zur Kaiserzeit die Kriminellen inden Tod stürzte, A.d.Ü.

in den Abgrund;der »Welthumor«* eines Cervantes oder eines Shakespeare ist keinHumor über Details oder Anekdoten, sondern über die Totalität. Vorallem bei Solger geht schließlich die Ironie in das Zentrum eines dog-matischen Systems ein: Sie, die bis dahin eine Art subjektiver undeher literarischer Humor war, ist nun zu einer metaphysischen Kate-gorie geworden; sie bezeichnet diesmal nicht mehr die Launen desgenialen Amateurs, sondern die kosmischen Geschicke des Absolu-ten. Solger stellt die dialektischen Prozesse der Einverleibung desAbsoluten heraus: Das Unendliche erlischt im Endlichen, die Ideegeht im Wirklichen, wo sie sich offenbart, unter: Das heißt, dass dieIdee sich als unendliche und allgemeine verneint und zugleich sich alsendliche und partikulare behauptet; aber sie verneint ihrerseits dieseNegation und behauptet sich so als universelle. Ironie, das ist dasBewusstsein der Offenbarung, durch welche das Absolute in einemflüchtigen Moment sich verwirklicht und bei dieser Gelegenheit sichzerstört; und die Kunst ist nichts anderes als der Augenblick des Über-gangs, das schöne und gebrechliche Scheinen, das die Idee zugleichausdrückt und vernichtet.17

17 Maurice Boucher, K.W. F. Solger, Esthetique et philosophie de la presence, Paris 1934,S. 106. Vgl. Josef Heller, Solgers Philosophie der ironischen Dialektik, Berlin 1928.

So konstituiert sich im Gegensatz zum re-flexiven, bissigen, spöttischen »Witz«* des 18. Jahrhunderts eine ein we-nig wilde Ironie, eine übertriebene und ehrgeizige Ironie. Die Beschei-denheit, die Scham, die Klarsichtigkeit sind nicht mehr ihre Sache.Die aufsteigende Regression des Sokrates weicht der pedantischenDeduktion Solgers und die Suche nach der Wahrheit den metaphy-sischen Tragödien der Inkarnation: Die Ironie ist nicht mehr heuris-tisch, sondern nichtend; die Ironie dient nicht mehr zur Erkenntnis,auch nicht, um das Wesentliche unter den schönen Worten zu ent-decken, sie dient nur dazu, die Welt zu überfliegen und die konkretenUnterscheidungen zu verachten.

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