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Die Krise des Integrationsbeirats, Teil 3 Ziele und Strategien der Nationalkonservativen türkischer Herkunft Die Kurden als Stiefkinder der Erde Zu den Ursachen des Konflikts................................................................1 Die neue Satzung und die Wahl des Integrationsbeirates – beides war nicht ganz in Ordnung...........................................................................................3 Auffälligkeiten bei der Islamischen Liste....................................................3 Ziele und Strategien der Nationalkonservativen mit türkischer Herkunft.............................................................................5 Es gibt auch rechte und rechtsextreme Kräfte unter den türkischen Nationalisten.......................................................................6 Tanil Bora über den türkischen Fundamentalismus und die MHP-Bewegung..............................................................................6 Die Kurden als Stiefkinder der Erde..........................................................8 Folter und Haft in der Türkei. Ein Deutscher in den Mühlen der Willkürjustiz .......8 Augsburg, 6.2.2012. Der Krise des Integrationsbeirates dürfte, wie wir schon in Teil 2 angesprochen haben, ganz wesentlich die repressive Politik der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung zugrunde liegen. Das wird auch deutlich, wenn die Augsburger Allgemeine schreibt, auf dem Festakt zum deutsch-türkischen Anwerbeabkommen im Rathaus sei „vehement für Unterstützung im Kampf gegen den Terror der PKK“ geworben worden. 1 Wenn wir die politischen Zusammenhänge und die aufkochenden Emotionen der Minderheiten innerhalb der türkischen Community verstehen wollen, müssen wir uns der gelebten Realität in der Türkei zuwenden. Erst dann wird uns nämlich auch gelingen, die Reaktionen der türkischen Migranten zu verstehen. Der Sprecher des SPD-Fachforums Migration, Sait Icboyun, empfand zum Beispiel die Veranstaltung im Goldenen Saal als eine Provokation der ethnischen und religiösen Minderheiten sowohl in der Türkei als auch hier. 2 Der damalige Vorsitzende des Integrationsbeirates, Ahmet Akcay, dagegen interpretierte den Ablauf des Festaktes gegenüber der Augsburger Allgemeinen so: „Der Abgeordnete hat auf das Osmanische Reich hingewiesen, wo viele ethnische und religiöse Gruppen in Frieden zusammengelebt haben.“ 3 Eben um diesen „Frieden“ aus Sicht der einen und die „Provokation“ aus Sicht der anderen ging es im Kern. Es sei darauf hingewiesen, dass das Ergebnis der aktuellen Vorstands-Neuwahlen vom 30.1.2012 in diesem Artikel noch nicht behandelt wird (erfolgt in Teil 6 dieser Serie). Zu den Ursachen des Konflikts Recherchiert man innerhalb der Augsburger türkischen Migrantengesellschaft nach Ursachen des Konflikts, dann kommen verwirrende aber doch nicht von der Hand zu weisende Umstände ans Tageslicht. Die türkische Community ist keineswegs so homogen, wie manche glauben. Allein unter Augsburgern mit Migrationshintergrund aus der Türkei gibt es Türken, Kurden, Zazaken, Lazen, Tscherkessen, Jesiden, Araber, Assyrer bzw. Aramäer, Albaner, Griechen und daneben die 1 „Festakt: ‚Türkische Innenpolitik im Augsburger Rathaus‘ - Nachrichten Augsburg - Augsburger Allgemeine“, November 4, 2011. http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Tuerkische-Innenpolitik-im-Augsburger- Rathaus-id17388456.html 2 „Auch Sait Icboyun, Sprecher des Fachforums Migration der SPD, ist empört. »Akcay und sein Vorstand trugen türkische Innenpolitik ins Augsburger Rathaus. Großtürkische Gesten provozieren die ethnischen und religiösen Minderheiten sowohl in der Türkei als auch hier. Dem gesellschaftlichen Frieden dient das nicht.«“ ebd. 3 ebd.

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Die Krise des Integrationsbeirats, Teil 3

Ziele und Strategien der Nationalkonservativentürkischer HerkunftDie Kurden als Stiefkinder der Erde

Zu den Ursachen des Konflikts................................................................1Die neue Satzung und die Wahl des Integrationsbeirates – beides war nicht ganz in Ordnung...........................................................................................3Auffälligkeiten bei der Islamischen Liste....................................................3Ziele und Strategien der Nationalkonservativen mittürkischer Herkunft.............................................................................5Es gibt auch rechte und rechtsextreme Kräfte unter dentürkischen Nationalisten.......................................................................6Tanil Bora über den türkischen Fundamentalismus unddie MHP-Bewegung..............................................................................6Die Kurden als Stiefkinder der Erde..........................................................8Folter und Haft in der Türkei. Ein Deutscher in den Mühlen der Willkürjustiz .......8

Augsburg, 6.2.2012. Der Krise des Integrationsbeirates dürfte, wie wir schon in Teil 2 angesprochen haben, ganz wesentlich die repressive Politik der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung zugrunde liegen. Das wird auch deutlich, wenn die Augsburger Allgemeine schreibt, auf dem Festakt zum deutsch-türkischen Anwerbeabkommen im Rathaus sei „vehement für Unterstützung im Kampf gegen den Terror der PKK“ geworben worden.1

Wenn wir die politischen Zusammenhänge und die aufkochenden Emotionen der Minderheiten innerhalb der türkischen Community verstehen wollen, müssen wir uns der gelebten Realität in der Türkei zuwenden. Erst dann wird uns nämlich auch gelingen, die Reaktionen der türkischen Migranten zu verstehen. Der Sprecher des SPD-Fachforums Migration, Sait Icboyun, empfand zum Beispiel die Veranstaltung im Goldenen Saal als eine Provokation der ethnischen und religiösen Minderheiten sowohl in der Türkei als auch hier.2 Der damalige Vorsitzende des Integrationsbeirates, Ahmet Akcay, dagegen interpretierte den Ablauf des Festaktes gegenüber der Augsburger Allgemeinen so: „Der Abgeordnete hat auf das Osmanische Reich hingewiesen, wo viele ethnische und religiöse Gruppen in Frieden zusammengelebt haben.“3

Eben um diesen „Frieden“ aus Sicht der einen und die „Provokation“ aus Sicht der anderen ging es im Kern. Es sei darauf hingewiesen, dass das Ergebnis der aktuellen Vorstands-Neuwahlen vom 30.1.2012 in diesem Artikel noch nicht behandelt wird (erfolgt in Teil 6 dieser Serie).

Zu den Ursachen des KonfliktsRecherchiert man innerhalb der Augsburger türkischen Migrantengesellschaft nach Ursachen des Konflikts, dann kommen verwirrende aber doch nicht von der Hand zu weisende Umstände ans Tageslicht. Die türkische Community ist keineswegs so homogen, wie manche glauben. Allein unter Augsburgern mit Migrationshintergrund aus der Türkei gibt es Türken, Kurden, Zazaken, Lazen, Tscherkessen, Jesiden, Araber, Assyrer bzw. Aramäer, Albaner, Griechen und daneben die 1 „Festakt: ‚Türkische Innenpolitik im Augsburger Rathaus‘ - Nachrichten Augsburg - Augsburger Allgemeine“, November 4, 2011. http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Tuerkische-Innenpolitik-im-Augsburger-Rathaus-id17388456.html2 „Auch Sait Icboyun, Sprecher des Fachforums Migration der SPD, ist empört. »Akcay und sein Vorstand trugen türkische Innenpolitik ins Augsburger Rathaus. Großtürkische Gesten provozieren die ethnischen und religiösen Minderheiten sowohl in der Türkei als auch hier. Dem gesellschaftlichen Frieden dient das nicht.«“ ebd.3 ebd.

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Glaubensrichtungen Sunniten, Schiiten, Nusairier, christliche Assyrer und die Aleviten. Dies sind nur einige von fast 50 ethnischen Gruppen und den gängigen Glaubensrichtungen, die in der Türkei leben.

Innerhalb der sunnitisch-türkischen Gruppe gab es in den letzten drei Jahren große Veränderungen in ihren Vereinen, die viele sunnitische Türken in eine bedenkliche Richtung lenkten. So wird von mehreren Sunniten berichtet, dass bestimmte Kräfte aus der Milli-Görüs-Cagri-Moschee in der Jakobervorstadt in die besser angesehene Ditib-Moschee am Katzenstadel eingeschleust worden seien und den Vorstand schon bei der nächsten Wahl gestürzt hätten. Um die Sache für uns Außenstehende zu verstehen, muss hinzugefügt werden, dass der islamistische Ministerpräsident der Türkei Recep Tayyip Erdogan aus der Milli-Görüs-Bewegung des Islamisten Necmedin Erbakan hervorgegangen ist. Die Ditib-Moscheen gehören zum türkischen Staat und betreuen den durchschnittlichen türkischen Moslem, der sich keiner Bewegung zurechnen möchte.4 Seit der Machtergreifung der islamischen AKP untersteht die türkische Religionsbehörde Diyanet (Mutterorganisation der in Deutschland aktiven Ditib) Erdogan selbst. Die Ditib, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.5,

4 Lt. Wikipedia hat die Ditib wichtige Funktionen für den durchschnittlichen Moslem in der BRD: „DİTİB gilt als anerkanntes Mitglied in der Gruppe von Anstalten und Einrichtungen mit religiöser und sozialer Zielsetzung in der Bundesrepublik Deutschland. DİTİB vertritt ein Islamverständnis, das sich mit der türkischen Variante des Laizismus arrangiert hat. Zu den Satzungszwecken der Organisation zählen die religiöse Betreuung, Aufklärung und Unterweisung der in Deutschland lebenden türkischen Muslime, Einrichtung und Unterhalt von Gebets- und Unterrichtsstätten und die Ausbildung von Laienpredigern, außerdem die Veranstaltung von sozialen und kulturellen Aktivitäten und Sprachkursen sowie die Durchführung von Berufsbildungsmaßnahmen. DİTİB unterhält außerdem einen Bestattungsfond zur Finanzierung und Organisation der Überführung und Beisetzung verstorbener türkischer Muslime in die Türkei.“ http://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkisch-Islamische_Union_der_Anstalt_f%C3%BCr_Religion5 Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (türkisch Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, abgekürzt DİTİB) ist ein seit dem 5. Juli 1984 beim Amtsgericht Köln eingetragener Verein.Sie untersteht der dauerhaften Leitung, Kontrolle und Aufsicht des staatlichen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei in Ankara und damit indirekt dem türkischen Ministerpräsidenten. Die DİTİB arbeitet als bundesweiter Dachverband für die Koordinierung der religiösen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten der angeschlossenen türkisch-islamischen Moscheegemeinden. Der Sitz des Verbandes ist in Köln-Ehrenfeld.

Pressekonferenz des Integrationsbeirates am 10. Februar 2010 im Filmsaal des Zeughauses zur Vorstellung der kandidierenden Listen für die Beiratswahl am 28.2.2010. Auf dem Podium (v. l.): Hüseyin Yalcin, Olga Zeltner, Internationale Liste (DGB); Ahmet Akcay, Nazim Kücük, Islamische Liste Augsburg (ILA); Robert Vogl, Integrationsbeauftragter der Stadt Augsburg, Leitung der Geschäftsstelle des Integrationsbeirats; Johann Tangel, Liste Augsburger Kulturelle Vielfalt (AKV), Olga Blinkova, Nelly Schulz (fehlt im Bild), Liste Dialog

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wird vom türkischen Staat direkt bezuschusst und finanziert. Daher haben ihre Anhänger andere Moscheevereine aufgegeben und sich dort eingeschleust und die Macht in den Vorständen ergriffen.

Von Kennern der Szene werden in diesem Zusammenhang die Namen zweier Familien genannt, die – auch personell – Einfluss auf den Integrationsbeirat haben.

Die neue Satzung und die Wahl des Integrationsbeirates – beides war nicht ganz in OrdnungDie Wahl des Integrationsbeirates im Februar 2010 war damals in mehrfacher Hinsicht belastet. Zum einen, weil die neue Satzung, die dem Beirat unter diffusen Umständen aufoktroyiert wurde, nicht in Ordnung war. Wir schrieben damals bereits im Vorfeld der Beiratswahlen:

„Weniger erfreulich ist, dass in der Augsburger Satzung für den Integrationsbeirat eine demokratische Wahl nur für 24 von 29 Mitgliedern vorgesehen ist. Die restlichen fünf Mitglieder werden laut Satzung vom Bund der Vertriebenen BdV Kreisverband Augsburg-Stadt vorgeschlagenen und vom Stadtrat ernannt. Nach unseren Informationen wäre der BdV unter anderen Voraussetzungen nicht zu einer Kandidatur beziehungsweise zu einer Beteiligung an denen Beiratswahlen bereit gewesen. Es geht hier vor allem um die so genannten »Russlanddeutschen«, die wohl stärkste Gruppierung in den Reihen des BdV. Sie wollen nicht auf eine Stufe gestellt werden mit dem gemeinen Migranten oder Asylanten und sich auch von solchen nicht wählen lassen.“6

Diese undemokratische Satzung wurde einhellig, auch von SPD und Grünen beschlossen. Über diesen Skandal wurde und wird leider wenig geredet. Der Geschäftsführer Robert Vogel wollte bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung der kandidierenden Listen eine Debatte über diese Frage zunächst gar nicht zulassen, lenkte aber nach einer Publikumsabstimmung ein.7 Allerdings ergab die Debatte dann nicht viel, weil die Vertreter der kandidierenden Listen entweder ahnungslos waren oder sich ahnungslos gaben bzw. diesem Thema auswichen. Dieses unschöne Kapitel hatte und hat natürlich Folgen, aus einer Satzung mit undemokratischen Bestandteilen folgen natürlich undemokratische Verhältnisse.

Auffälligkeiten bei der Islamischen ListeZum anderen hat es bei der Wahl Unregelmäßigkeiten oder sagen wir mal ganz vorsichtig Auffälligkeiten bei der islamischen Liste gegeben, der Vorwurf der Manipulation stand im Raum.8 Darüber wurde etwas mehr geredet als über die Satzung, aber nicht lange, weil die beiden anderen Listen von DGB und AKV9 um des lieben Friedens willen die Sache auf sich beruhen ließen.

Wir zitieren die Augsburger Allgemeine vom April 2010:

„Jetzt gab es Turbulenzen – bis hin zu Überlegungen, die Wahl anzufechten.

Dabei war diese eigentlich erfolgreich verlaufen. Die Wahlbeteiligung lag bei 9,3 Prozent. Das ist weniger als bei der letzten Wahl, doch mehr als in anderen Großstädten. Wahlberechtigt sind alle Augsburger ohne deutschen Pass sowie Aussiedler und Eingebürgerte, die sich aktiv in die Wahllisten eintragen lassen – 37 210 Personen.

64,4 Prozent entfielen auf die Islamische Liste Augsburg, die sich hauptsächlich aus Türken rekrutiert. Es wären noch mehr gewesen, doch es wurden 116 Stimmzettel der Briefwahl für ungültig erklärt, weil sie laut Wahlleiter Klaus Sulzberger eine »auffallende Übereinstimmung« in Wahlverhalten und

DİTİB ist nach eigenen Angaben heute die mitgliederstärkste Migrantenorganisation in Deutschland und ist seit April 2007 Gründungsmitglied des Koordinierungsrats der Muslime.http://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkisch-Islamische_Union_der_Anstalt_f%C3%BCr_Religion6 ausführlich dazu s. Wahl des Integrationsbeirats http://www.forumaugsburg.de/s_1aktuelles/2010/01/24_integrationsbeirat.pdf7 Pressekonferenz 10. Februar 2010 im Filmsaal des Zeughauses8 „... bei den Wahlen gab es den Vorwurf der Manipulation“, Nagelprobe - Nachrichten Augsburg - Augsburger Allgemeine online, 19.5.2010 http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Nagelprobe-id7855266.html9 Internationale Liste (DGB) und Augsburger Kulturelle Vielfalt (AKV)

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Schriftbild aufwiesen. Am Wahlergebnis änderte dies allerdings nichts. Fünf Stunden stritt der Wahlausschuss über das Thema. Für eine Bundestagswahl reichen laut Sulzberger 30 Minuten. Offenbar ging es turbulent zu. Ein Zuhörer wurde des Raumes verwiesen.

Nach außen hin versuchte man nach Angaben eines Insiders, die Wellen nicht hochschlagen zu lassen, um den Ruf des Beirats nicht zu schädigen. Deshalb verzichtete der Deutsche Gewerkschaftsbund, der eine weitere Liste stellt, auf eine Anfechtung der Wahl. Laut Wolfgang Peitzsch vom DGB wollte man kein schlechter Verlierer sein.

Verloren, nämlich stimmenmäßig, hat der Vorsitzende Nazim Kücük. Er rutschte weit nach hinten, wird aber trotzdem wohl vorerst Vorsitzender bleiben, um Kontinuität zu gewährleisten.

Im Hintergrund sind jedoch wieder Leute am Ruder, die im Beirat schon einmal den Ton angaben: die Ex-Vorsitzenden Asan Akcay und Seyfeddin Kececi vom Augsburger Bildungs- und Kulturverein (Eschenhofmoschee). Sie wollen, dass sich etwas ändert, auch im Vorstand. Akcays Sohn Ahmet hat die meisten Stimmen und wäre somit für den Vorsitz legitimiert.“10

Die Augsburger Allgemeine berichtete in einem weiteren Artikel:

„Neuer Vorsitzender ist Ahmet Akcay, Stellvertreterinnen sind Douja Hadjri und Marina Barach. Ahmet Akcay ist 26 Jahre alt und der Sohn des früheren Ausländerbeiratsvorsitzenden Hasan Akcay... Er ist Mitglied im Bildungs- und Kulturverein (Eschenhofmoschee Oberhausen).

Der Verein hatte bei der Wahl im März gleich mehrere neue Mitglieder in den Beirat gebracht. Es gab den Vorwurf der Wahlmanipulation durch Blockabstimmung, den der Verein zurückweist. Bei der konstituierenden Sitzung des Beirates wurde klar, dass der Verein künftig eine bedeutende Hausmacht stellen wird. Es waren mehrere Vertreter inklusive des Imans anwesend; zwischen ihnen und den neuen Beiräten gab es regen Austausch.“11

Ahmet Akcay und Cagri Ugurlu, zwei junge und sehr motivierte Kandidaten der Islamischen Liste wurden von hinteren Listenplätzen12 an die Spitze gewählt. Der auf dem Platz 9 ins Rennen gestartete Ahmet Akcay erhielt vor allem über die Briefwahlen so viele Stimmen, dass er mit 3468 Stimmen auf Platz eins landete. Sein Freund Cagri Ugurlu, der auf Platz 17 gesetzt wurde, kam am Ende durch mehrheitlich Briefwahlergebnisse mit 3149 Stimmen auf Platz 2 der Islamischen Liste.13

Das Ergebnis der Islamischen Liste für die Wahl des Integrationsbeirates bereitete im Ergebnis Kopfschütteln und eine Missstimmung auch innerhalb der Liste selbst. Denn das Ergebnis war so nicht zu erwarten. Diese neu erstarkten Kräfte versuchten dann auch den DTA, den Dachverband der türkischen Vereine in Augsburg, für sich zu vereinnahmen. So stürzten sie den langjährigen Vorsitzenden Ali Osman Öztürk, der ihnen zu passiv war und für ihre Ziele keine Hilfe sein konnte.

10 Turbulenter Start für Integrationsbeirat, AZ-online 28. April 2010 http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Turbulenter-Start-fuer-Integrationsbeirat-id7705411.html11 Integrationsbeirat wechselt Vorstand aus, 19. Mai 2010 http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Integrationsbeirat-wechselt-Vorstand-aus-id7855421.html12 Stimmzettel zur Wahl des Integrationsbeirates 2010: http://www.augsburg.de/fileadmin/www/dat/05so/aubeirat/Stimmzettel.pdf

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Pressekonferenz des Integrationsbeirates am 10. Februar 2010

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Den Co-Vorsitz übernahm der Vater von Ahmet Akcay, Hasan Akcay.

Ziele und Strategien der Nationalkonservativen mittürkischer HerkunftDas Ziel der Gruppe ist nicht eindeutig klar. Klar ist, dass es ihnen vor allem um die Anbindung der sunnitischen Türken an die Politik von Ministerpräsident Erdogan ging. Dem Hörensagen nach wollen sich welche für die Kommunalwahl 2014 unter den Türken der Stadt derart positionieren, dass sie mit einer Islamischen Liste antreten können.

Andere Stimmen besagen, dass es vor allem um Ansehen und Einfluss innerhalb der türkisch-sunnitischen Community geht mit dem Ziel, bei anderen Parteien einen guten Listenplatz für die Stadtratswahl zu bekommen. Das ist aber ziemlich schwierig. Bündnis 90/Die Grünen und die Linkspartei kamen für die Vertreter des Islam nicht infrage. Die Grünen vertreten nach ihrer Ansicht keine guten Werte und seien nicht gut an das konservative Milieu zu verkaufen. Die Linkspartei käme weder ideologisch noch wegen ihrer kurdenfreundlichen Politik infrage.

Es blieben lediglich die SPD, CSU und Pro Augsburg. Es ging ihnen zunächst einmal darum, in der SPD Augsburg Fuß zu fassen. Doch lediglich wenige wurden in der SPD Mitglied und nur wenige besetzten dort Vorstandsposten. Die Migranten, die in der Augsburger SPD sind, haben hauptsächlich eine sozialdemokratische Orientierung. In den SPD-Ortsvereinen Oberhausen mit dem assyrischstämmigen Sait Demir, in Lechhausen mit dem alevitischen Türken Hüseyin Yalcin und in Herrenbach mit Sait Icboyun stellen Migranten dort die stellvertretenden Vorsitzenden. In den genannten und anderen Ortsvereinen gibt es sunnitische Türken, die ebenfalls Vorstandsmitglieder sind. Das Fachforum Migration der SPD Augsburg wird von Sait Icboyun geleitet, ein kurdischer Alevite, der nach im Wahlkampf 1998 bei den Jusos in Baden-Württemberg eingestiegen ist und 2001 Mitglied der SPD wurde.

Die SPD war den neuen national-konservativen türkischen Kräften in Augsburg angeblich politisch zu breitgefächert besetzt. Auch hört man, dass die Anwesenheit von Hüseyin Yalcin sie hinderte, als Kollektiv in die Partei einzutreten. Yalcin ist ehemaliger Geschäftsführer der Alevitischen Gemeinde und als eine Instanz für Integration sowohl auf Landesebene (AGABY14) als auch auf Bundesebene (Bundeszuwanderungsrat) in Integrationsräten Mitglied. Daneben wurde er auch in den Bayerischen Integrationsrat (BIR)15 einberufen. Hüseyin Yalcin ist eher der ruhige aber sachliche Funktionär. Er tritt weniger mit großen Programmen auf, ist aber ein sehr guter Netzwerker und Kenner der türkischen Migrantenszene, seine Kompetenz im Bereich der Integration ist unbestritten. So schaffte er es, mit den sunnitischen Sozialdemokraten zusammen den Verein der Türkischen Sozialdemokraten Augsburg zu gründen und sie darüber näher an die SPD zu binden.16 Hüseyin Yalcin trat aus Protest wegen der Drohungen gegenüber seiner Person, die er auch in der Begründung seines Mißtrauensantrags in der Vollversammlung des Beirats bekanntmachte17 nach vierzehn Jahren als Mitglied des Integrationsbeirats zurück.

Nachdem es bei der SPD nicht gänzlich klappte, versuchte die Gruppe der neuen national-

13 Ergebnis der Wahl des Integrationsbeirates: http://www.augsburg.de/fileadmin/www/dat/02ra/amtsblatt/2010/Amtsblatt-2010-10.pdf ist14 AGABY – Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns http://www.agaby.de/15 s. zur Gründung des BIR: Bayerischer Integrationsrat hat sich konstituiert http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/landtag/x/-/www1/16_5500.htm16 Die TSD Türkische Sozialdemokraten Augsburg e. V. sind Teil der Föderation der Türkischen Sozialdemokratischen Vereine Deutschlands. Über die Aktivitäten der TDS s. zum Beispiel den Bericht der Augsburger Allgemeinen http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Impulse-fuer-mehr-eigene-Verantwortung-id17933151.html17 s. Die Krise des Integrationsbeirats, Teil 1, Anhang 9 Begründung zum Misstrauensantrag gegen den Vorsitzenden des Integrationsbeirates der Stadt Augsburg, Herrn Ahmet Akcay, von Hüseyin Yalcin, 5.12.2011, Vorlage bei der Vollversammlung des Integrationsbeirates am 5.12.2011 http://www.forumaugsburg.de/s_2kommunal/Migration/111215_integrationsbeirat/misstrauensantrag-begruendung-yalcin.pdf

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konservativen türkischen Kräften angeblich Pro Augsburg zu umwerben. Kulturbürgermeister Peter Grab jedenfalls zeigte sich mit Akcay auf einigen Veranstaltungen.

Es gibt auch rechte und rechtsextreme Kräfte unter dentürkischen NationalistenDie Augsburger Allgemeine titelte ganz groß: Türkischer Nationalismus in Augsburg. Gewiss, es gibt in Augsburg türkischen Nationalismus. Sowohl die Grauen Wölfe, die ultranationlistische Gruppierung der türkischen MHP (Milliyetci Hareket Partisi) als auch die „nizam-i Alem“, die nationalistisch-islamistischen Kräfte der BBP (Büyük Birlik Partisi, deutsch: Partei der Großen Einheit) werden zu den Rechtsextremen gezählt und haben auch unter nationalkonservativen türkischen Augsburgern viele Anhänger.

Der türkische Publizist Tanil Bora ist einer der wenigen, die international die Ursachen des türkischen Nationalismus erforschen. Er unterteilt die türkische Rechte in drei Kategorien: Nationalisten, Nationalkonservative und Islamisten. Ihnen ist gemein der Islam als Fundament ihrer Ideologie. Die Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, deutsch: „Partei der Nationalistischen Bewegung“) ist eine faschistische, rechtsextreme Partei in der Türkei. Innerhalb der Grauen Wölfe in Augsburg, so hört man, gibt es zwei verschiedene Vereine. Die Grauen Wölfe hätten sich Ende der Neunziger Jahre gespalten in einen „schlagenden“ und einen „ideologischen“ Flügel. Die Angaben unserer türkischen Informanten scheinen zu stimmen. Denn sowohl im Internet als auch in der Szene werden mindestens zweierlei Vereine den Grauen Wölfen zugeordnet.

Neben ihrer Hoffnung, eines Tages das großtürkische Reich „Turan“ zu gründen, betreiben sie eine Fußballmannschaft und treten sogar öffentlich in der Stadtgesellschaft auf. Ihnen ist das türkische Blut heilig. Daher setzen sie auf junge Türkinnen und Türken, die ihre Identität nicht verlieren dürfen und den „Koran als Führer und Turan als Ziel“ verfolgen sollen. Ihre Aktivitäten sind nicht zu unterschätzen ist:

so nutzen sie die AWO für Vorträge aber auch alljährlich das Bayerische Rote Kreuz für Blutspendeaktionen in ihren Räumlichkeiten. Auf dem im Internet zur Verfügung gestellten Bildmaterial ist deutlich zu erkennen, dass die Mitarbeiter des Bayerischen Roten Kreuzes wissen, von wem sie Blut abzapfen. Auf einem Bild hält eine ältere Sanitäterin ihre Hand nach oben und zeigt stolz das Zeichen der Grauen Wölfe in die Luft. Da bleibt nur zu hoffen, dass sich wenigstens die Kranken, die das Blut bekommen werden, nicht infizieren!

Tanil Bora über den türkischen Fundamentalismus unddie MHP-BewegungDer Autor Tanil Bora schreibt:

„Der türkische Fundamentalismus ist eigentlich ein auf ständiger Existenzangst und empfundener Bedrohung basierender Nationalismus; wobei der Autoritarismus, symbolisiert durch das 1982 grundgesetzlich verankerte Prinzip des „heiligen türkischen Staates“, eine demokratische Souveränität

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„Wolfsgruß“ der türkischen extremistischen Organisation „Graue Wölfe“ (Bozkurtçular), Ülkücü (=Idealisten)-Bewegung, die in anderen Staaten ebenfalls Organisationen hat, wie z.B. in Deutschland die so genannte „Türk Federasyon“ bzw. „Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland“ (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu), kurz ADÜTDF. Er wird an ausgestrecktem Arm erboten, was eine Ähnlichkeit zu anderen faschistischen, rechtsextremistischen Organisationen darstellt und stellt einen stilisierten Wolfskopf dar: Die abgespreizten Finger sind die Ohren, die anderen Finger bilden die Schnauze. Mysthische Vereehrung findet der verstorbene Gründer Alparslan Türkeş, der als Başbuğ verehrt wird.Bild: Canlanma, Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wolfsgru%C3%9F_Graue_Woelfe.jpg?uselang=de

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im Sinne einer staatsbürgerlich bestimmten Besetzung des Nationalen ausschließt. Dieser Fundamentalismus bestimmt bzw. ersetzt das Nomos18 und erstickt jegliches Politikvermögen. […] Im Zusammenhang mit der Gewaltbereitschaft und „Performance“ der MHP-Bewegung auf der Straße bildet die Mobilisierung gegen die „Separatisten“, sprich: die Kurden, zweifellos den kritischen Punkt. […] Während an der MHP-Basis einerseits durchaus eine Stimmung rassistischer Diskriminierung und offener Feindseligkeit gegen die Kurden zu verzeichnen ist, stimmt die MHP verbal und auf ihrer Führungsebene mit dem offiziösen Nationalismus überein, der eine assimilatorische Vision beinhaltet, bei der die Kurden mit ihrer ethnischen Identität nicht als „niedrige Rasse“ betrachtet werden, die versklavt oder vernichtet werden müssen, sondern schlichtweg geleugnet, also gar nicht (oder allenfalls als eine Sub-Identität) akzeptiert und damit dem Türkentum – also der Kulturnation – einverleibt werden. (Yeğen 1999) Diese Assimilationsideologie verbietet „eigentlich“ eine diskriminierende Haltung gegenüber den Kurden, die ja vermeintlich nicht existieren! So wird offiziell immer beschworen, eine sorgfältige Trennung zwischen den Separatisten und der „heimischen Bevölkerung“ bzw. den „kurdischstämmigen Türken“ vorzunehmen.“19

Seit 33 Jahren gibt es in der Türkei einen Krieg in Kurdistan. Kurdistan bedeutet aus dem kurdischen übersetzt „das Land der Kurden“. Schon alleine dieses Wort oder die Bezeichnung „kurdische Region“ kann bei türkischen Nationalisten aber auch bei national-konservativen oder türkischen Kemalisten für eine üble Stimmung sorgen. Denn für den türkischen Staat gibt es nur den Einheitstürken, der über

18 Anm. der Redaktion: mit Nomos dürfte hier ganz allgemein das Recht im Gegensatz zu Willkür und Tyrannenmacht gemeint sein19 Tanıl Bora – Der „Nationale Reflex“: Die fundamentalistische Disposition des Nationalen in der Türkei und der proto-faschistische Nationalismus der MHP http://www.birikimdergisi.com/birikim/article.aspx?mid=508&article=Tan%Fdl%20Bora%20-%20Der%20%22Nationale%20Reflex%22:%20Die%20fundamentalistische%20Disposition%20des%20Nationalen%20in%20der%20T%Fcrkei%20und%20der%20proto-faschistische%20Nationalismus%20der%20MHP

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Flags of political parties before the Turkish municipal elections in Şile. The most visible ones are MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, Nationalist Action Party) flags. 15.03.2009 Bild: Darwinek, Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported http://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C5%9Eile_4722.jpg?uselang=de

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seine muslimische Religion, über sein Türkisch und über die Verinnerlichung der türkischen Geschichte und Kultur entstanden ist und entstehen kann.

Die Türkei verfolgt seit der Gründung der Republik eine Politik der Assimilierung und „Gleichschaltung“ der Bevölkerung.

Die Kurden als Stiefkinder der ErdeZurück zu den Zuständen in Augsburg: Während die Mehrheitstürken sich mit der Geschichte des Osmanischen Reiches rühmen, erinnern die Minderheiten (Aleviten, Assyrer, Armenier u.a.) an seine Verbrechen. In der Türkei gibt es zwei große Völker, die die heutige Türkei gegründet haben: Die Türken und die Kurden. Während die Türken zum Herrenvolk wurden, hat Mustafa Kemal Atatürk die Kurden zu Sklaven gemacht. Jeder Staatsbürger der Türkei, war, sofern Muslim, gleich Türke. Der russische Sozialwissenschaftler N.Y. Marr sagte einmal über die Kurden, sie seien die Stiefkinder der Erde. Er hatte mit seiner Beobachtung recht. Die Kurden sind das einzige Volk auf der Erde, das kein eigenes Land besitzt. Das kurdische Volk darf bis heute in den Grundschulen nicht die eigene Sprache lernen, geschweige denn sprechen. Die kurdische Identität wurde bis vor wenigen Jahren gänzlich geleugnet. Dabei sind die Kurden eines der ältesten Völker des Mittleren Ostens.

Die Türkei ist ein Produkt des türkischen Nationalismus der Jungtürken. Mustafa Kemal Atatürk und seine Gefährten haben ein neues Land, ein neues Volk, eine neue Sprache erschaffen, das vom „türkischen Nationalismus“ (Türk Milliyetciligi) zusammengehalten werden sollte. Trotz der Vernichtungspolitik, Vertreibung und Assimilation durch den türkischen Staat haben die Kurden seit der Gründung der Republik 28 Aufstände gehabt. 27 davon wurden blutig niedergeschlagen. Die PKK führt den 28. Aufstand und der Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat dauert schon 33 Jahre.

Nach Angaben des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei leben in der Türkei 12.600.000 Kurden. Andere nichtstaatliche Untersuchungen kommen auf 14.000.000 bis 15.500.000 Kurden allein in der Türkei. Die Republik Türkei leugnet seit ihrer Gründung die kurdische, alevitische, assyrische Identität, um nur einige zu nennen. In der Debatte in Augsburg wurden den Kritikern von Akcay, u.a. Sait Icboyun und Hüseyin Yalcin, PKK-Anhängerschaft vorgeworfen. Das ist eine billige Taktik, die nicht gegriffen hat. Jedes Mal, wenn sich Kurden oder Aleviten gegen die Regierung von Erdogan in der Türkei echauffieren, wird ihnen die Mitgliedschaft in der PKK vorgeworfen. Dagegen haben sich die SPD-Politiker Sait Icboyun und Hüseyin Yalcin vehement gewehrt. Es gibt viele Beispiele, wie aus so einer Verdächtigung eine jahrelange Haftstrafe werden kann. So schreibt Mehmet Desde in einem Buch, das im März 2011 erschienen ist unter dem Titel „Folter und Haft in der Türkei. Ein Deutscher in den Mühlen der Willkürjustiz“:

Folter und Haft in der Türkei. Ein Deutscher in den Mühlen der Willkürjustiz Der deutsche Staatsbürger Mehmet Desde fliegt im Juni 2002 in die Türkei. Dort wird er von Beamten einer Antiterroreinheit verhaftet und vier Tage lang unter dem Vorwurf, Mitglied einer illegalen Organisation zu sein, festgehalten und gefoltert. Nach sechsmonatiger Untersuchungshaft in einem Hochsicherheitsgefängnis kommt er wieder frei, darf aber das Land nicht verlassen. In einem unfairen Prozess wird Mehmet Desde auf der Grundlage von erfolterten Aussagen schuldig gesprochen. Die juristischen Auseinandersetzungen ziehen sich bis Mai 2007 hin, dann sind in der Türkei alle Rechtsmittel ausgeschöpft und er muss die Haft antreten. Nach einem erzwungenen Aufenthalt von insgesamt sechs Jahren und drei Monaten kann Mehmet Desde im Oktober 2008 wieder nach Deutschland zurückkehren.

In seinem Bericht schildert Mehmet Desde, wie er in die Mühlen der türkischen Willkürjustiz geriet und sich gegen die absurden Vorwürfe der türkischen Polizei zur Wehr setzen musste. Das Buch liefert Informationen aus erster Hand über Folterpraktiken und Haftbedingungen in der Türkei. Ergänzt werden die Schilderungen des Autors durch zahlreiche Sachinformationen. Zudem wird die Frage aufgeworfen, ob die deutsche Regierung genug getan hat, um den deutschen Staatsbürger Mehmet Desde vor Zwangsaufenthalt und Inhaftierung in der Türkei zu bewahren.

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Die Krise des Integrationsbeirats, Teil 3 6.2.2012 www.forumaugsburg.de

Die Geschichte von Mehmet Desde ist kein Einzelfall. Die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) spricht in ihrem Folteratlas von einer Million Menschen, die seit dem Militärputsch im September 1980 gefoltert wurden. Seit 1990 hat die Stiftung mehr als 10.000 Menschen wegen Folter behandelt. Einer davon war Mehmet Desde.20

Pascal H. Bariel und Redaktion

Teil 1 u. 2 dieser Artikelreihe finden sich hier:

Berechtigte Kritik und problematische Vorwürfe – in einer politisch komplizierten Lage http://www.forumaugsburg.de/s_2kommunal/Migration/111215_integrationsbeirat/artikel1.pdf

Umstrittener Festakt http://www.forumaugsburg.de/s_2kommunal/Migration/120108_integrationsbeirat2/artikel2.pdf

20 Die ganze Geschichte gibt es auch als Buch zu kaufen: Mehmet Desde: Folter und Haft in der Türkei: Ein Deutscher in den Mühlen der Willkürjustiz, Loeper Literaturverlag, Auflage: 1 (12. März 2011), Broschiert: 185 Seiten.s.a. Die Protestaktion von Amnesty International im Jahre 2007 gegen die drohende willkürliche Verhaftung von Mehmet Desde, Mehmet Bakır, Hüseyin Habip Taşkın, Maksut Karadağ, Şerafettin Parmak, Metin Özgünay, Ömer Güner, Ergün Yıldırım http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/51a43250d61caccfc1256aa1003d7d38/2885eecaa756a793c1257280006231ce?OpenDocumentoder s.a. den Bericht der Anwältin Barbara Wessel, Berlin im März 2006, Verfahren gegen Mehmet Desde und andere vor der 8. Kammer des Landgerichts in Izmir am 16.03.2006 http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Newsletter_Anhaenge/110/Prozessbericht_Desde.pdf

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