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Aus dem Hahn-Meitner-Institut fur Kernforschung Berlin, Berlin-Wannsee Die LET-Abhangigkeit der Strahlenreaktionen des Polyvinylacetats in Losung Von ARNIM HENGLEIN, WOLFRAM SCHNABEL und EDGAR HECKEL (Eingegangen am 20. Juni 1961) ZUSAMMENFASSUNG: Polyvinylacetat wurde in Borsauretrimethylester-Losung der Einwirkung von Co-60-y Strahlen, 120 kV-Rontgenbremsstrahlung und thermischen Neutronen bei verschiedenen Dosisleistungen ausgesetzt. Die beobachteten Effekte sind jeweils unabhangig von der Dosislcistuog, hangen aber stark von der LET*) der Strahlung ab: y- und Rontgenstrahlen bewirken rasche Vernetzung ; die dicht ionisierenden 4He/'Li-Strahlungen aus der exo- thermen Kernreaktion loB + n -+ *He + 7Lirufen jedoch einen Abbau des Polymeren her- vor. Proben, die durch y-Bestrahlung bis iiber den Gelpunkt verfestigt wurden, wurden durch nachfolgende 4He/7Li-Strahlung wieder verfliissigt. Diese Versuche zeigen, daB das Verhaltnis po/qo (po, qo: spezif. Abbau- und Vernetzungsdichte) mit steigender LET zu- nimmt. Mehrere Mechanismen werden diskutiert, die prinzipiell zur Deutung von LET-Effekten in Polymeren herangezogen werden konnen. Zwei ,,klassische" Deutungen auf Grund der verschiedenen Anfangskonzentration intermediker Radiolyseprodukte in den Bahnen ionisierender Teilchen werden gegeben : Die Verringerung von q, durch Unterdriickung von Ubertragungzreaktionen zwischen Losungsmittel-Radikalen und intakten Makromolekeln zugunsten von Radikal-Radikal-Reaktionen bei hoher LET, sowie die Erhohung von po durch Unterbindung primarer Kafig-Rekombinationen zwischen endstandigen Makro- radikalen durch Losungsmittel-Radikale bei hoher LET. Als neue Deutung wird die viel- fache Ionisation und Anregung von Molekeln durch Teilchen hoher LET diskutiert : Die Dissoziation mehrfach ionisierter Makromolekeln vermag zu einem vollig veranderten Ver- haltnis von po/qo zu fiihren; ferner kann die Einfuhrung mehrerer Radikalstellen in ein Makromolekiil intramolekulare an Stelle intermolekularer Vernetzung hervorrufen. SUMMARY: Solutions of polyvinylacetate in trimethylborate have been exposed to , radi- ation, to 120 kV-Bremsstrahlung and to thermal neutrons at various dose rates. The ob- served effects are independent on dose rate. However, they strongly depend on the LET (linear energy transfer) of the radiations. y- and X-rays fastl, crosslink the polymer. The densely ionizing 4He/7Li-particles from the exothermic nuclear reaction loB + n --t 4He+7Li cause degradation of the polymer. Solutions that had been solidified beyond the gel point under y-irradiation became liquid again when subsequently exposed to 4He/'Li-radiation. These experiments show that the ratio po/qo (po, go: specific degradation and crosslinking densities) increases with increasing LET. *) LET = linear energy transfer. 41

Die LET-abhängigkeit der strahlenreaktionen des polyvinylacetats in lösung

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Aus dem Hahn-Meitner-Institut fur Kernforschung Berlin, Berlin-Wannsee

Die LET-Abhangigkeit der Strahlenreaktionen des Polyvinylacetats in Losung

Von ARNIM HENGLEIN, WOLFRAM SCHNABEL und EDGAR HECKEL

(Eingegangen am 20. Juni 1961)

ZUSAMMENFASSUNG:

Polyvinylacetat wurde in Borsauretrimethylester-Losung der Einwirkung von Co-60-y Strahlen, 120 kV-Rontgenbremsstrahlung und thermischen Neutronen bei verschiedenen Dosisleistungen ausgesetzt. Die beobachteten Effekte sind jeweils unabhangig von der Dosislcistuog, hangen aber stark von der LET*) der Strahlung ab: y- und Rontgenstrahlen bewirken rasche Vernetzung ; die dicht ionisierenden 4He/'Li-Strahlungen aus der exo- thermen Kernreaktion loB + n -+ *He + 7Li rufen jedoch einen Abbau des Polymeren her- vor. Proben, die durch y-Bestrahlung bis iiber den Gelpunkt verfestigt wurden, wurden durch nachfolgende 4He /7Li-Strahlung wieder verfliissigt. Diese Versuche zeigen, daB das Verhaltnis po/qo (po, qo: spezif. Abbau- und Vernetzungsdichte) mit steigender LET zu- nimmt.

Mehrere Mechanismen werden diskutiert, die prinzipiell zur Deutung von LET-Effekten in Polymeren herangezogen werden konnen. Zwei ,,klassische" Deutungen auf Grund der verschiedenen Anfangskonzentration intermediker Radiolyseprodukte in den Bahnen ionisierender Teilchen werden gegeben : Die Verringerung von q, durch Unterdriickung von Ubertragungzreaktionen zwischen Losungsmittel-Radikalen und intakten Makromolekeln zugunsten von Radikal-Radikal-Reaktionen bei hoher LET, sowie die Erhohung von po durch Unterbindung primarer Kafig-Rekombinationen zwischen endstandigen Makro- radikalen durch Losungsmittel-Radikale bei hoher LET. Als neue Deutung wird die viel- fache Ionisation und Anregung von Molekeln durch Teilchen hoher LET diskutiert : Die Dissoziation mehrfach ionisierter Makromolekeln vermag zu einem vollig veranderten Ver- haltnis von po/qo zu fiihren; ferner kann die Einfuhrung mehrerer Radikalstellen in ein Makromolekiil intramolekulare an Stelle intermolekularer Vernetzung hervorrufen.

SUMMARY:

Solutions of polyvinylacetate in trimethylborate have been exposed to , radi- ation, to 120 kV-Bremsstrahlung and to thermal neutrons a t various dose rates. The ob- served effects are independent on dose rate. However, they strongly depend on the LET (linear energy transfer) of the radiations. y- and X-rays fastl, crosslink the polymer. The densely ionizing 4He/7Li-particles from the exothermic nuclear reaction loB + n --t 4He+7Li cause degradation of the polymer. Solutions that had been solidified beyond the gel point under y-irradiation became liquid again when subsequently exposed to 4He /'Li-radiation. These experiments show that the ratio po/qo (po, go: specific degradation and crosslinking densities) increases with increasing LET.

*) LET = linear energy transfer.

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A. HENGLEIN, W. SCANABEL und E. HECKEL

Several mechanisms are discussed which may basically explain LET effects in polymers. Two “classical” explanations in terms of different initial concentrations of intermediate radiolysis products in the tracks of ionizing particles are given qo may be decreased by the depression of transfer reactions between solvent radicals and intact macromolecules in favor of radical-radical reactions a t high LET. po may be increased at high LET since primary recombinations of end-group-macroradicals will be prevented by solvent radicals in the same cage. A new explanation considers multiple ionization and excitation of mole- cules by particles of high LET. Dissociation of multiply ionized macromolecules may result in a complete change of the ratio po/qo. Furthermore. the introduction of several radical spots into one macromolecule may lead to intramolecular instead of intermolecular cross- linking.

Einleitung

Der Verlauf von Strahlenreaktionen in niedermolekularen Systemen - insbesondere in wail3rigen Losungenl) - hangt oft von dem spezifischen Energieverlust der betreffenden Strahlung ab. Dies wird meist auf die verschiedene geometrische Anfangsverteilung intermediarer Reaktions- produkte (z. B. freier Radikale) in den Bahnen energiereicher Teilchen zuruckgefuhrt. Z. B. beschreibt ein a-Teilchen der kinetischen Anfangs- energie von 2 MeV in einem Medium der Dichte 1 eine nur etwa 10 p. lange Bahn; dies entspricht einem mittleren spezifischen Energieverlust (linear energy transfer, Abkurzung: LET) von 20 eVlk bzw. einer spezifischen Ionisation von ca. 7000 Ionenpaaren/y *). Fur ein 1 MeV-Compton-Elek- tron (Reichweite ca. 3 mm), das z. B. durch Co-60-y-Strahlung im absor- bierenden Material frei gemacht wird, sind die entsprechenden Werte da- gegen nur 0,03 eVlk bzw. 10 Ionenpaareip.. Freie Radikale, die in der Bahn eines a-Teilchens entstehen, haben wegen ihrer zunachst sehr hohen ortlichen Konzentration hohere Wahrscheinlichkeit zu Reaktionen unter- einander, wahrend sie aus der Bahn eines energiereichen Elektrons leichter herausdiffundieren konnen.

Der EinfluB der LET auf Strahlenreaktionen in makromolekularen Stoffen ist bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Mehrere Versuche scheinen darauf hinzuweisen, daB Reaktionen an Polymeren unter dem EinfluB von Strahlen verschiedener LET in gleicher Weise ver- laufen. Strahlen geringer LET, wie Elektroneh- und y-Strahlen, rufen in festen Polymeren dieselben Abbau- oder Vernetzungsprozesse hervor wie Reaktorstrahlung, in der schnelle Neutronen durch Auslosung von ener- giereichen Protonen im absorbierenden Material als Komponente hoher

*) Unter der Annahme; da13 zur Erzeugung eines Ionenpaares wie in Luft im Mittel 34 eV

l) Vgl. A. HENGLEIN, Angew. Chem. 71 (1959) 15. erforderlich sind.

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LET-Abhangigkeit der Strahlenreaktionen des Polyvinylacetats

spezifischer Ionisation wirken2). ANDERsON~) hat iiber die Vulkanisation von Butadien-Styrol-Kautschuk durch thermische Neutronen berichtet ; die Kautschukproben enthielten bor- oder lithiumhaltige Verbindungen in fein verteilter Form, so daB als wirksame Strahlen die sehr dicht ioni- sierenden Folgekerne der exothermen Kernreaktionen der thermischen Neutronen

l0B + n -+ 'Li + 4He + y + 2,79 MeV (1)

"i + n --f 3H + 4He + 4,79 MeV (2)

auf das Material einwirkten. Auf diese Weise wurde Vernetzung des Kautschuks erzielt wie durch Elektronen- oder y-Bestrahlung. ALEXAN- DER et aL4) haben am Beispiel der Desoxyribonukleinsaure ein uber- wiegen der Vernetzung durch energiereiche Elektronen und des Abbaus durch Polonium-u-Teilchen beobachtet. Dies wurde auf die Unterschiede in der LET dieser Strahlen zuriickgefiihrt ; allerdings sind diese Versuche bei verschiedenen Dosisleistungen durchgefiihrt worden, was bei Ver- gleichen dieser Art prinzipiell nicht der Fall sein sollte.

Wir berichten im folgenden iiber einen starken Effekt der LET auf das Verhalten von Polyvinylacetat in Losung (Konzentration 19 Gew.- yo) unter dem EinfluB ionisierender Strahlung. Als Losungsmittel diente eine Mischung aus 76 Vo1.- yo Borsauretrimethylester und 24 VoL- yo Metha- nol. Strahlung hoher LET, namlich die 4He- und 'Li-Teilchen aus Kern- reaktion (l), wurde durch Neutronenbestrahlung in der thermischen Saule des Berliner Forschungsreaktors in der Losung selbst erzeugt. Die mittlere LET dieser Strahlung betragt 28 eV/A entsprechend einer mitt- leren spezifischen Ionisation von ca. 10000 Ionenpaaren/p. Es wurde ge- funden, daB Polyvinylacetat durch Rontgen- und y-Strahlung in ein drei- dimensionales Netzwerk iiberfiihrt wird, wahrend die 4He /'Li-Strahlung eine Molekulargewichtserniedrigung durch Abbau der Hauptkette her- vorruft.

Versuchsteil 1. Durchfiihrung der Versuche

Das verwendete Polyvinylacetat war eine unfraktionierte Mowilith-50- Probe der Farbwerke HOECHST AG. Die Viskositatszahl5) des unbestrahl-

2, Vgl. A. CHARLESBY, Atomic Radiation and Polymers, Pergamon Press, London 1960. 3, H. R. ANDERSON Jr., J. Polymer Sci. 43 (1960) 59. 4, J. T. LETT, K. A. STAGEY und P. ALEXANDER, Radiation Research 14 (1961) 349;

P. ALEXANDER, J. T. LETT, P. KOPP und R. ITZHAKI, Radiation Research 14 (1961) 363. 5, M. MATSUMOTO und Y. OHYANAGI, J. Polymer Sci. 44i (1960) 441.

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ten Polymeren in Aceton betrug 0,71 [ lo0 ccm/g] entsprechend einem mittleren viskosimetrischen Molekulargewicht von 2,24.lO5. Die Losun- gen der Borsaureester-Methanol-Mischung wurden unter sorgfaltigem AusschluS von Feuchtigkeit hergestellt. Die Dichte einer 19 yoigen Losung, mit der die meisten Versuche durchgefiihrt wurden, betrug 0,936, ihr Borgehalt 6,68 Gew.-%. Jeweils 1 ccm der Losung wurde in einem reagenzglasformigen WeichglasgefaB durch mehrfaches Einfrieren mit fliissiger Luft und Auftauen unter Hochvakuum von Luft befreit; das GefM wurde anschlieSend abgeschmolzen und der Strahlung bei Zimmer- temperatur ausgesetzt. Die Probe wurde nach der Bestrahlung mit der 10-fachen Menge Methanol verdunnt und die Viskositat dieser Losung ge- messen. Die Geldosis ergab sich aus der Extrapolation der Dosis-Abhan- gigkeit der spezifischen Viskositat des Polymeren6-8).

Die y-Bestrahlungen erfolgten im Feld einer Co-60-Quelle von 100 Curie; die rnit Hilfe des FRIcKE-Dosimeters bestimmte Dosisleistung be- trug 0,121 Mrad/h bzw. 7,08. 10l8 eV/ccm- h. Zur Rontgenbestrahlung diente eine AEG-Hochleistungsrohre, die bei 120 kV betrieben wurde ; die Probe war 2 cm vom Austrittsfenster entfernt. Der weiche Anteil der Bremsstrahlung wurde durch das Austrittsfenster und die Glaswand des BestrahlungsgefaBes abgehalten. Als chemisches Dosimeter diente die Wasserstoffentwicklung aus Cyclohexan, das unter gleichen Bedingungen wie die Polymeren-Losung der Rontgenstrahlung ausgesetzt wurde ; der Errechnung der Dosisleistung wurde ein G-Wert von 5,3 Molekeln HJ100 eV zugrunde gelegt. Auf diese Weise wurde eine Dosisleistung von 1,84 Mradlh, entsprechend 1.08- loso eV/ccm.h, gefunden.

Die Neutronen-Bestrahlungen geschahen in zwei Positionen der ther- mischen Saule des Berliner Forsch~ngsreaktors~) , in 81 bzw. 110 cm Ab- stand vom Core. Der thermische NeutronenfluB wurde durch die Akti- vierung von 1 ccm einer verdunnten waBrigen Goldlosung (4 mg Gold/ccm) in einem WeichglasgefaB bestimmt. Der Neutronenflua @ errechnet sich nach der Beziehung

@ = A/nA,. 6~~ (l-e-"t) (3 )

Dabei ist A die nach der Bestrahlungszeit t induzierte absolute Aktivitat, nAu die Zahl der Goldatome pro ccm Losung, O A ~ = 88,2-10-24 cm2 der

e, A. HENGLEIN und CH. SCHNEIDER, Z. physik. Chem. [Frankfurt/M.] 18 (1958) 56. 7, A. HENGLEIN, J. physic. Chem. 63 (1959) 1852. 8 ) W. SCHNABEL und A. HENGLEIN, Makromolekulare Chem. 44-46 (1961) 611. 9, E. W. ALLEN, R. BECKER, W. DREIBRODT, G. KNOERZER und H. MAHLITZ, Atomwirt-

schaft 4 (1959) 94.

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LET-Abhangigkeit der Strahlenreaktionen des Polyvinylacetats

Wirkungsquerschnitt des Goldes zum Einfang thermischer Neutronen und A = 2,98.10p6 sec-l die Zerfallskonstante des gebildeten lg8Au. Die Messung der Aktivitat A geschah an dem Goldruckstand nach Eindamp- fen der Losung mit Hilfe der P-y-Koinzidenz-Methodel"). Bei einer Lei- stung des Reaktors von 50 kWatt betrug der NeutronenfluS in den er- wahnten Positionen 3,7-1010 bzw. 7,6-109 n/cm2. sec. Der Anteil epither- mischer Neutronen in diesen Positionen (bestimmt durch Aktivierung einer mit Cadmium umgebenen Goldfolie) war mit weniger als 0,2 yo ver- nachlassigbar klein.

Fur die Absorption der thermischen Neutronen in der borhaltigen Losung des Polymeren gilt :

Q = Q ~ . ,-"B"B'~ (4)

wobei a,, der eintretende, @ der nach Durchlaufen der Schichtdicke x aus- tretende Neutronenstrom, nB die Zahl der Boratome pro ccm und cB der Wirkungsquerschnitt von Reaktion (1) ist. Die absorbierte Dosisleistung wird dann:

(5 1 ~ 1 = D~ (l-e-nBoB'x EKin

E K ~ , die kinetische Energie der Folgekerne aus Reaktion ( l ) , ist 2,35 MeV (1,47 MeV entfallen auf das 4He-, 0,88 MeV auf das 7Li-Teilchen). Das in 93 yo aller Zerfalle gebildete y-Quant fuhrt den Rest von 0,48 MeV der Warmetonung von Reaktion (1) mit11) ; es wird in dem kleinen Volumen der bestrahlten Losung praktisch nicht absorbiert. Mit nB = 3,49-102' Atome/ccm und Q B 755.10-24 cm2 (bezogen auf das naturliche Isotopen- Gemisch) wird das Verhaltnis @/ao = e-nB5B'x fur die 19 %ige Lo- sung des Polymeren gleich 0,071 (x = 1 cm, da 1 ccm Losung in anna- hernd kubischer Form bestrahlt wurde). Die Bestrahlungsprobe ist also weitgehend ,,schwarz" fur thermische Neutronen, weshalb ein starker Gradient der Dosisleistung in ihr besteht. Von der nach Gleichung (5) errechneten absorbierten Dosisleistung wurden 10 yo in Abzug gebracht, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daB nicht alle Neutronen senk- recht zur Oberflache der Probe einfallen und deshalb eine kurzere Strecke als 1 cm in ihr laufen*).

lo) H. H. SELIGER und A. SCHWEBEL, Nucleonics 12, No. 7 (1954) 54; zur Anwendung in der Strahlenchemie vgl. auch R. H. SCHULER und N. F. BARR, J. h e r . chem. SOC. 78 (1956) 5756.

11) N. EHRENBERG und E. SAELAND, Joint Establishment for Nuclear Energy Research, Report No. 8, Kjeller per Lillestrom, Norwegen, 1954.

*) Eine entsprechende Abschatzung ist von Herrn Dip1.-Phys. BUCHHOLZ im Hahn- Meitner-Institut durchgefiihrt worden.

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Die fiir die oben erwahnten Neutronenfliisse errechneten Werte der Dosisleistung betragen 2,6.1020 eV/ccm. h und 5,4.1019 eV/ccm.h ent- sprechend 4,5 bzw. 0,93 Mrad/h.

Neben der Neutroneneinwirkung war die Probe der y-Strahlung in der thermischen Saule des Reaktors ausgesetzt. Die y-Dosisleistung, gemessen durch Ionisationskammer und das Cer-IV-Dosimeter, betrug in den oben erwiihnten Positionen der thermischen Saule ca. 0,08 bzw. 0,002 Mrad/h. Sie ist somit kleiner als 2 % der Dosisleistung der 4He/'Li-Strahlung und kann deshalb praktisch vernachlassigt werden.

2. Ergebnisse

Abb. 1 zeigt die reziproke Geldosis fur y-Bestrahlung als Funktion des Molenbruchs xp des Polyvinylacetats. Unterhalb xp = 0,11 wird keine Vernetzung mehr erreicht, weil hier der Abbau der Hauptkette iiberwiegt ; oberhalb dieser Konzentration steigt die Vernetzungsgeschwindigkeit ZU-

nachst an, um bei' hohen Polymerenkonzentrationen wieder kleiner zu werden. ffber die Deutung solcher Kurven ist bereits friiher ausfiihrlich berichtet worden s).

0.4 ,---- 0.3 -

0.2

O" i Abb. 1. y-Bestrahlung von Polyvinylacetat in Borshretrimethylester IMethanol-Losung-

Reziproke Geldosis in Abhangigkeit vom Molenbruch des Polymeren

Alle weiteren Versuche wurden nun mit einer Losung von xp = 0,16 (19 Gew.- yo) angestellt, in der y-Strahlung nach Abb. 1 rasche Vernetzung bewirkt. In Abb. 2 sind die Ergebnisse der Versuche mit verschiedenen Strahlen durch die Auftragung der spezifischen Viskositat des Polymeren gegen die absorbierte Dosis zusammengestellt. Strahlen geringer spezi- fischer Ionisation (Kurve 1) verursachen ein Anwachsen der Viskositat

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LET- Abhangigkeit der Strahlenreaktionen des Polyvinylacetats

I I ' I

I 20 LO 60 80 100 120 140 '6C

DOSE. [ e ~ / r n t ] x

Abb. 2. hderung der spezifischen Viskositat von Polyvinylacetat in Losung unter dem EinfluB von Strahlen verschiedener LET. Konzentration xp = OJ6. (Untere Abszisse :

Kurve 2 und 3; obere Abszisse: Kurve 1)

Kurve 1 : y-Strahlung (7,08.10'8 eV/ccm.h): A 120 kV Bremsstrahlung (1,08.1OZ0 eV/ccm.h): x

Kurve 2 : 'He /7Li-Strahlung. o : 2,6. loao eV/ccm. h 0 : 5,4.1018 eV/ccm.h

Kurve 3 : gestrichelter Teil : y-Strahlung ausgezogener Teil : 4He /7Li-Strahlung

bis sich der Gelpunkt bei einer Dosis von 2,3.1020 eV/ccm durch sprung- haftes Ansteigen von qsp bemerkbar macht. Kurve 1 zeigt, daI3 die Dosis- leistung dabei keine Rolle spielt. Die 4He/'Li-Strahlung ruft eine all- mahliche Abnahme der spezifischen Viskositat hervor (Kurve 2) ; ob- gleich hier Dosen bis zur fast lOfachen Geldosis fur y-Bestrahlung ange- wendet wurden, konnte kein Zeichen einer Vernetzung entdeckt werden. Die Geschwindigkeit des Abbaus durch 4He/7Li-Strahlung ist ebenfalls unabhangig von der Dosisleistung. Es erscheint uns bei dem Vergleich

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der chemischen Wirkungen von Strahlen unterschiedlicher LET uner- laBlich, solche Versuche bei vergleichbaren Dosisleistungen durchzu- fuhren, weil LET-Effekte von Dosisleistungseffekten sonst nicht mit Sicherheit unterschieden werden konnen. Da die Kurven 1 und 2 in Abb. 2 jeweils von der Dosisleistung unabhangig sind und da sich ferner die Be- reiche der Dosisleistung fur die beiden Kurven uberschneiden, ist ihr ver- schiedener Verlauf den Unterschieden in der LET der verwendeten Strah- len zuzuschreiben.

Der LET-Effekt wird besonders deutlich durch Kurve 3 in Abb. 2 de- monstriert; hier wurde eine Losung durch y-Bestrahlung bis kurz vor den Gelpunkt vernetzt (Zunahme der Viskositat) ; die anschlieBende 4He/7Li- Behandlung zerstorte das bereits gebildete Netzwerk (Abnahme der Vis- kositat). In anderen Experimenten wurden Proben durch y-Strahlung in feste Gele uberfuhrt und anschlieaend durch die Neutroneneinwirkung wieder verflussigt.

Diskussion

Polymere erfahren unter dem EinfluB ionisierender Strahlen meist gleichzeitig einen Abbau der Hauptkette und Vernetsung zwixhen ver- schiedenen Makromolekeln. Je nachdem, ob das Verhaltnis po/qo groBer oder kleiner als 2 ist, beobachtet man eine laufende Abnahme des mitt- leren Polymerisationsgrades durch das tfberwiegen des Abbaus bzw. dip Ausbildung eines dreidimensionalen Netzwerkes bei groBeqer Vernetzungs - tendenz (po, q,: Anteil der Grundeinheiten im Polymeren, die pro Dosis- einheit abgebaut hzw. vernetzt werden) 2). Makromolekeln in Losung er- fahren ahnliche Strahlungsreaktionen, die aber nun wegen der Beteiligung von reaktionsfahigen Radiolyse-Produkten des Losungsmittels kompli- zierter verlaufen ; ein umfassendes Reaktionsschema fur Abbau und Ver- netzung in Losung ist kurzlich beschrieben ~ o r d e n ~ ’ ~ ) . Nach diesem Schema nimmt q,, mit sinkender Konsentration des Polymeren ab, weil immer mehr freie Makroradikale durch Radikale R aus dem Losungs- mittel desaktiviert werden, bevor sie sich unter Ausbildung einer Ver- netzungsstelle zusammen lagern :

Schema konkurrierender Radikalreaktionen :

-- + R- + --__M Desaktivierung von Makroradikalen (6 )

R - + R- + R2 Kombination von Losungsmittelradikalen (7)

WI- _uc_____

0

(8 ) Kombination von Makroradikalen + (Vernetzung)

rxrrrrurr- P

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LET- Abhangigkeit der Strahlenreaktionen des Polyvinylacetats

Bei einer bestimmten ,,kritischen" Konzentration des Polymeren wird schlieRlich po/q, gleich 2, so daR unterhalb dieser Konzentration kein durchgehendes Netzwerk mehr erzeugt wird.

Die oben beschriebenen Experimente zeigen, daR offenbar das Ver- haltnis po/qo mit steigender LET ansteigt. Bei einer Polymerenkonzen- tration xp = 0,16 ist po/qo noch wesentlich kleiner als 2 im Falle der y- Bestrahlung, da hier eine rasche Vernetzung der ganzen Probe beobachtet wird; der Abbau durch 4He/7Li-Strahlung deutet jedoch darauf hin, da5 bei dieser hohen spezifischen Ionisation der Wert 2 jenes Verhaltnisses uberschritten ist. Mehrere Deutungen dieses Effekts sind denkbar, die wir nachstehend kurz diskutieren mochten; dabei sei aber vorweggenom- men, daR eine endgultige Entscheidung fur eine dieser Hypothesen gegen- wartig noch nicht gefallt werden kann. Als Anregung fur weitere Unter- suchungen uber LET-Effekte in Polymercn erscheint es uns jedoch niitz- lich, an dieser Stelle einmal alle Mechanismen zusammenzustellen, die prinzipiell eine Erhohung des Verhaltnisses po/qo mit steigender LET er-

%warten lassen:

a ) Zunachst liegt es nahe, den LET-Effekt in ,,klassischer" Weise durch die verschiedene geometrische Anfangsverteilung intermediarer Reak- tionsprodukte in den Bahnen von Teilchen verschiedener spezifischer Ionisation zu erklaren. Das Verhaltnis po/qo kann sich beim Ubergang von y-Strahlung zu der dicht ionisierenden 4He/7Li-Strahlung andern, indem entweder q, abnimmt oder p, zunimmt oder gar beide Moglichkeiten ein- treten. Der Mechanismus (6) - (8) konkurrierender Radikalkombina- tionen la5t keine LET-Abhangigkeit fur qo erwarten, weil alle diese Re- aktionen von zweiter Ordnung in bezug auf die Radikalkonzentrationen sind. Sollte jedoch bei der y-Bestrahlung die Ubertragungsreaktion (9) zwischen freien Radikalen aus dem Losungsmittel mit intakten Makro- mole keln

Re+-- -+ R H + y (9)

maRgeblich ablaufen und zur Vernetzung beitragen, ware eine Abnahme von q, mit steigender LET zu erwarten. Denn bei der hohen Konzentra- tion freier Radikale in den 4He- und 'Li-Bahnen wurde Reaktion (9), die von erster Ordnung in bezug auf [R] ist, gegenuber (6) und (7) zuriick- treten.

Zu einer Zunahme der Abbaugeschwindigkeit p, mit steigender LET konnte es folgendermafien kommen: Es ist denkbar, da5 zahlreiche Dis- soziationen in der Hauptkette von angeregten Makromolekeln sofort ruck-

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gangig gemacht werden, indem die entstehenden endstandigen Makro- radikale rekombinieren, bevor sie aus dem Kafig der umgebenden Molekeln der Flussigkeit herausdiffundieren :

- Strahlung (-0 o-) -+ - primiire Rekombi- Dissoziation irn

Kifig des Losungsmittels

+ Losungsrnittei -+

* nation

Im Falle der Strahlen hoher LET wurde diese primare Rekombination weitgehend verhindert werden. Denn wegen der hohen Radikalkonzen- tration wird der Kafig nun auch mehrere freie Radikale aus dem Losungs- mittel enthalten, die die Makroradikale abfangen :

Strahlung -+ - R + R - R.

b) Bei der Deutung von LET-Effekten in niedermolekularen Systemen hat man meist davon auszugehen, daB die Art der intermediaren Reak- tionsprodukte, d. h. der Verlauf von Ionisations- und Anregungsakten, unabhangig von der Natur des energiereichen ionisierenden Teilchens ist, und Unterschiede nur in bezug auf die geometrische Anfangsverteilung der ionbierten und angeregten Molekeln gemla der BETHE-Gleichung be- stehen. In Makromolekeln kann es aber - je nach ihrer Form und Kon- zentration - zu mehrfacher Ionisation und Anregung durch Strahlen hoher LET kommen.

Fur eine grobe Abschatzung dieser mehrfachen Ionisation nehmen wir einmal in idealisierender Weise an, daB die Makromolekeln in Losung als sich beruhrende, mit Losungsmittel durchspiilte Knauel vorliegen, ohne sich gegenseitig zu durchdringen. Der Durchmesser eines solchen Knauels in ern ist dann annahernd

(P : mittlerer Polymerisationsgrad, c : Konzentration in Grundmol/ccm). Fur unsere 19 %ige Losung wird d = ern mit P = 1400 (arithm. Mit- tel). Ein durch y-Strahlung frei gemachtes Elektron der spezifischen Ioni- sation 10 Ip/p wurde beim zentralen Durchlaufen des Knauels 0,l Ioni- sationsakte in diesem ausliisen, wobei nur jeder funfte hiervon auf die Ionisation des Makromolekiils selbst entfallt, wenn man gleiche Ioni-

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LET- Abhangigkeit der Strahlenreaktionen des Polyvinylacetats

sationswahrscheinlichkeit von Losungsmittel und Polymerem annimmt. D. h. aufeinanderfolgende Ionisationen in Makromolekeln sind hier im Mittel 5.10-5 cm voneinander entfernt. Mehrfache Ionisation und Anre- gung von Makromolekeln durch Strahlung geringer LET ist also praktisch ausgeschlossen. Fur die hohe spezifische Ionisation von 10000 Ip /p der 4He/7Li-Strahlung errechnet man aber 100 Ionisationsakte pro Knauel, wobei 20 Ionisationen (und die entsprechende Anzahl von Anregungs- akten) am Makromolekul selbst erzielt werden.

Es erscheint plausibel, daB die Dissoziation von solchen mehrfach ioni- sierten und angeregten Makromolekeln vollig anders verlauft als bei ein- facher Ionisation, so daB sich das Verhaltnis po/q, andert: Sei es, daB die aufgenommene Anregungsenergie im Makromolekul wandert und bevor- zugt in Bindungen der Hauptkette konzentriert wird, sei es, daB die vie- len positiven Ladungen zu einer momentanen Streckung des Makromole- kuls AnlaB geben, wodurch Bindungen der Hauptkette gespannt und somit zur Dissoziation pradestiniert werden. SchlieBlich mag es sein, daB mehrere freie Radikalstellen in einem Makromolekul entstehen, deren Kombination zu intramolekularer Vernetzung fuhrt. Ein solcher Vorgang tragt zur Bildung eines dreidimensionalen Netzwerks nicht bei ; vielmehr entstehen hierdurch Makromolekeln von mehr kugelformiger Struktur entsprechend geringer Viskositatszahl. Intramolekulare Vernetzung konnte deshalb ebenfalls die beobachtete Abnahme der Viskositat durch 4He/7Li-Bestrahlung erklaren.

Herrn Dr. HEINZE und Mitarbeitern sind wir sehr zu Dank verbunden fur die Durchfuhrung der Bestrahlungen an der AEG-Rontgenanlage in der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik A.G., Ludwigshafen. Herrn Dip1.-Phys. BUCHHOLZ und Herrn LEUTHER danken wir fur die wcrtvolle Unterstutzung bei der Neutrmen-Dosimetrie, Frau WINKELMANN und Herrn SEIFERT fur ihre Hilfe bei den Experimenten.

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