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© Oldenbourg DOI 10.1524/hzhz.2011.0057 Die Nase der Kleopatra Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung Ein Versuch Von Wolfgang Reinhard I. „Kleopatras Nase: wenn sie kürzer gewesen wäre, das gesamte Gesicht der Erde sähe anders aus.“ Diese Feststellung findet sich nicht bei Asterix, son- dern bei Blaise Pascal (1623–1662). 1 In der Tat, nach Münzbildern hatte Kleopatra als Erbe ihrer Dynastie eine lange spitze Nase und ein spitzes Kinn. 2 Wir wissen allerdings weder, woher Pascal das wusste, noch wie er sich den alternativen Ablauf der Weltgeschichte vorstellte. Aber mit sei- nem flotten Spruch bringt er einen Sachverhalt auf den Punkt, um den es in dieser Untersuchung gehen soll. Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Politik und Geschichte großmaßstäbliche sachliche Entscheidungen und Ergebnisse produzieren, gehen wir davon aus, dass sie in Wirklichkeit von kleinkarierten sachfremden, in der Person von Beteiligten begründeten Einflüssen bestimmt werden. Deren Anteil ist empirisch schwer zu fassen und wird daher von seriöser Forschung gerne ignoriert. Das erleichtert die Flucht in unseriöse Verschwörungsmythen. Denn es gibt zwar informelle Einflüsse von Jesuiten, Freimaurern oder Juden in der Geschichte, aber die Jesuiten, die Freimaurer oder die Juden sind nie geschlossene Verschwörer- klüngel gewesen. 3 1 „Le nez de Cléopatre: s’il eût été plus court, toute la face du monde aurait changé“; Blai- se Pascal, Pensées. Ed. Philippe Sellier. Paris 2000, 32 (B 162). 2 Christoph Schäfer, Kleopatra. Darmstadt 2006, 255–261. 3 Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945. Phi- losophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozial- ordnung. Bern 1976, 3. Aufl. Wiesbaden 2008; Wolfgang Reinhard, Freunde und Krea- turen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römi- sche Oligarchie um 1600. München 1979, 11–14.

Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch

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© Oldenbourg DOI 10.1524/hzhz.2011.0057

Die Nase der KleopatraGeschichte im Lichte mikropolitischer Forschung

Ein Versuch

Von

Wolfgang Reinhard

I.

„Kleopatras Nase: wenn sie kürzer gewesen wäre, das gesamte Gesicht derErde sähe anders aus.“ Diese Feststellung findet sich nicht bei Asterix, son-dern bei Blaise Pascal (1623–1662).1 In der Tat, nach Münzbildern hatteKleopatra als Erbe ihrer Dynastie eine lange spitze Nase und ein spitzesKinn.2 Wir wissen allerdings weder, woher Pascal das wusste, noch wie ersich den alternativen Ablauf der Weltgeschichte vorstellte. Aber mit sei-nem flotten Spruch bringt er einen Sachverhalt auf den Punkt, um den esin dieser Untersuchung gehen soll. Im Gegensatz zu der Vorstellung, dassPolitik und Geschichte großmaßstäbliche sachliche Entscheidungen undErgebnisse produzieren, gehen wir davon aus, dass sie in Wirklichkeit vonkleinkarierten sachfremden, in der Person von Beteiligten begründetenEinflüssen bestimmt werden. Deren Anteil ist empirisch schwer zu fassenund wird daher von seriöser Forschung gerne ignoriert. Das erleichtert dieFlucht in unseriöse Verschwörungsmythen. Denn es gibt zwar informelleEinflüsse von Jesuiten, Freimaurern oder Juden in der Geschichte, aber dieJesuiten, die Freimaurer oder die Juden sind nie geschlossene Verschwörer-klüngel gewesen.3

1 „Le nez de Cléopatre: s’il eût été plus court, toute la face du monde aurait changé“; Blai-se Pascal, Pensées. Ed. Philippe Sellier. Paris 2000, 32 (B 162).2 Christoph Schäfer, Kleopatra. Darmstadt 2006, 255–261.3 Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945. Phi-losophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozial-ordnung. Bern 1976, 3. Aufl. Wiesbaden 2008; Wolfgang Reinhard, Freunde und Krea-turen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römi-sche Oligarchie um 1600. München 1979, 11–14.

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Fast fünfzig Jahre beschäftigt mich das Problem, wie unter solchen Um-ständen Politik wirklich funktioniert.4 Nach drei Forschungsprojekten mitumfangreichen Datenbanken über Augsburger Eliten des 16. Jahrhun-derts5, über die römische Kurie des frühen 17. Jahrhunderts6 und über diedeutsche Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert7 und nachBeobachtung anderer einschlägiger Untersuchungen8 will ich jetzt versu-chen, die empirisch gewonnenen Ergebnisse zusammenzufassen und dieFolgerungen zu formulieren, die sich daraus ergeben. Mein theoretischesKonzept hat sich durch erforderliche empirische Korrekturen im Laufe derJahre deutlich verändert. Vor allem wurde es ausgeweitet, weil das Phäno-men eine große Variationsbreite besitzt.9 Von „Familie und Klientel“ amAnfang10 bin ich inzwischen zum Rahmenbegriff „Mikropolitik“ überge-gangen, den ich aber seinerseits ausgeweitet und damit empirisch zutref-fender gemacht habe. Allerdings evoziert „Mikropolitik“ automatisch denGegenbegriff „Makropolitik“, obwohl dieser aus mikropolitischer Pers-

4 So der Titel meiner Augsburger Antrittsvorlesung 1978.5 Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographiewirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620. Bearb. v. Mark Häberleinu. a. Berlin 1996; Katarina Sieh-Burens, Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahr-hundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger1518–1618. München 1986; Mark Häberlein, Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Be-ziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des16. Jahrhunderts. Berlin 1998; Wolfgang Schütze, Oligarchische Verflechtung und Kon-fession in der Reichsstadt Ravensburg 1551/52–1648. Diss. phil. Augsburg 1981.6 Die Ergebnisse meiner eigenen Studien und von anderthalb Dutzend von mir betreutenArbeiten zusammengefasst in: Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605–1621). Mi-kropolitische Papstgeschichte. (Päpste und Papsttum, 37.) Stuttgart 2009 (mit Datenbankauf CD).7 Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Her-kunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft1800–1970. Frankfurt am Main 1984; ders., Biographisches Lexikon zur Geschichtswis-senschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Frankfurt am Main 1984, wobeidie Rezeption dieser Untersuchung ebenso wie das Schicksal ihres Autors eine Art vonempirischer Bestätigung der These vom Gewicht informeller Einflüsse darstellen; JaanaEichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institu-tionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung. Göttingen2006.8 Wolfgang Reinhard, Kleine Politik ganz groß, in: Wolfgang Weber/Regina Dauser(Hrsg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Fschr. für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag. Berlin 2008, 237–256.9 Vgl. dazu Antoni Mączak, Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Anti-ke bis zur Gegenwart. Osnabrück 2005.10 So der Titel meines Habilitationsprojekts in den 1960er/70er Jahren und der Manu-skriptfassung meiner Habilitationsschrift von 1973.

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pektive sinnlos ist. Die trennscharfe Unterscheidung von Mikro- und Ma-kropolitik ist ein bloßes Konstrukt, das wahlweise zur Verschleierung oderzur Denunziation von Mikropolitik herangezogen werden kann.

1996 hatte ich definiert: „Mikropolitik soll heißen der mehr oder weni-ger planmäßige Einsatz eines Netzes informeller persönlicher Beziehungenzu politischen Zwecken, wobei die Besetzung einer Stelle und der Rangihres Inhabers in der Regel sehr viel wichtiger ist als das, was diese Personanschließend treibt. Erfolgreiche Politik ist demnach solche, die wichtigePersonen zufrieden stellt und Positionen mit Leuten besetzt, deren Vernet-zung ihre Loyalität garantiert, denn von Amtsinhabern wird eher loyale alskompetente Amtsführung erwartet.“11 Von dieser Definition braucht zwarnichts zurückgenommen zu werden, denn sie bringt nicht nur Entscheidun-gen an der römischen Kurie des 17. Jahrhunderts zutreffend auf denPunkt12, sondern ebenso die Besetzung von Ministerposten in heutigendeutschen Kabinetten13. Sie erfasst aber nur einen wichtigen Ausschnittdes mikropolitischen Feldes.

Der Geschichtswissenschaft war der Begriff „Mikropolitik“, den ich2004 erstmals mit einem Buchtitel einzuführen versuchte14, bisher fremd.Auch in der Politikwissenschaft spielt er erst neuerdings eine bescheideneRolle, vielleicht weil sie als normative Wissenschaft die wünschenswerteSachlichkeit von Politik gegenüber der real existierenden Unsachlichkeitallzu hoch gehängt hat. Inzwischen gilt aber auch dort, dass „Mikropolitik[…] überall [ist], wo Politik geschieht. Sie wird jedoch erst sichtbar, wennder wissenschaftlich reflektierende Zugriff sich einer mikroskopischen Zu-gangsweise bedient“, das heißt, wenn durch teilnehmende Beobachtungquasi-ethnologisch das höchst komplexe sub-institutionelle Innenleben ei-nes Politikfeldes mit seinen bürokratischen und parlamentarischen Routi-nen und Strategien erhellt wird. Da geht es um die Erarbeitung von Vorla-gen, um die weitere Kommunikation über sie, um den Gegensatz vonpolitischer Argumentation zwecks Erreichung eines Ziels beim Parlamen-tarier und der Perspektive technisch-funktionaler Machbarkeit beim Büro-

11 Wolfgang Reinhard, Amici e creature. Politische Mikrogeschichte der römischen Kurieim 17. Jahrhundert, in: QuFiAB 76, 1996, 308–334, hier 312.12 Vgl. Anm. 6.13 Vgl. z. B. die Presseberichte über die Besetzung des bayerischen Kabinetts nach derWahlniederlage 2008 oder die Umbesetzung der Stelle des Bundeswirtschaftsministersim Frühjahr 2009 sowie Bob Woodward, Die Macht der Verdrängung. George W. Bush,das Weiße Haus und der Irak. München 2007.14 Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese(1605–1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua. Tübingen 2004.

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kraten. Das Problem, wer von beiden sich durchsetzt, lässt erkennen, dassdie Rolle der an solchen Prozessen beteiligten Personen auf keinen Fallignoriert werden kann.15 Auch wertneutrale Untersuchungen zeigen, dasses dabei zum ständig neuen Aushandeln von Positionierungen, Gruppen-bildungen und Netzwerken kommt.16 „Die Erklärung sozialer und politi-scher Prozesse kann nur unter Einbeziehung relationaler Variablen erfol-gen, die die Beziehungen zwischen den Akteuren abbilden.“17 Allerdingssind diese nicht leicht zu erhellen, denn der Regierungsapparat arbeitet„beinahe so intransparent wie eine Liechtensteiner Bank“.18

Damit nähert sich der politikwissenschaftliche Mikropolitikbegriff demorganisationssoziologischen und mikroökonomischen, von dem ich ausge-gangen bin. Seit langem ist bekannt, dass sich in Organisationen im Allge-meinen und in Betrieben im Besonderen Verhaltensweisen und intra-orga-nisationale Netzwerke bilden, von denen die formale Organisationsstrukturunterlaufen und bisweilen die Erreichung der Organisationsziele in Fragegestellt wird. Auf der anderen Seite vermögen sie aber Informationsfluss zubeschleunigen, organisationale Komplexität zu reduzieren und Innovationzu fördern.19 Häufig tragen sie zur Verbesserung des Betriebsklimas unddamit zum Erfolg des Unternehmens bei. Außerdem steigert emotionaleBindung an Kollegen und Vorgesetzte die soziale Kohärenz.

Das läuft auf die Definition hinaus, dass „mikropolitisch handelt, werdurch die Nutzung anderer in organisationalen Ungewissheitszonen eigeneInteressen verfolgt“.20 Über den Gegensatz von Eigennutz und Organisati-onszielen hinaus gehört also dazu, dass es um die Verteilung von Vorteilenund Ressourcen geht, um Gewinn auf Kosten anderer, der durch Einfluss-nahme und Machttaktiken verschiedenster Art zur Vergrößerung der eige-

15 Wolfgang Seibel/Stephanie Reulen, Verwaltungsaufbau in den neuen Bundesländern.Zur kommunikativen Logik staatlicher Institutionenbildung. Berlin 1996, 99 u. ö.16 Frank Nullmeier/Tanja Pritzlaff/Achim Wiesner, Mikro-Policy-Analyse: ethnographi-sche Politikforschung am Beispiel Hochschulpolitik. Frankfurt am Main 2003, bes. 9–21,35, 257f.17 Wolfgang Seibel/Hartmut Maaßen, Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung derDDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990–2000. Frankfurtam Main 2005, 290.18 Felix Berth, Tricks, Stellschrauben und ein paar Wunder, in: Süddeutsche Zeitung10. Februar 2010.19 Vgl. Hartmut Berghoff/Jörg Sydow (Hrsg.), Unternehmerische Netzwerke. Eine histo-rische Organisationsform mit Zukunft. Stuttgart 2007, Einleitung 36 (obwohl das Buchhauptsächlich inter-organisationaler Vernetzung gewidmet ist).20 Oswald Neuberger, Mikropolitik und Moral in Organisationen. 2. Aufl. Stuttgart 2006,18.

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nen Macht erzielt werden soll. Wegen der Ungleichheit der Menschen sindselbst elementare menschliche Beziehungen nicht nur, aber auch Machtbe-ziehungen21, das heißt aber politische Beziehungen. Mikropolitik brauchtdeshalb nicht unbedingt eine Organisation als Rahmen, denn bereits unserAlltagshandeln ist mikropolitisch; alltägliche Macht ist sein Rohstoff.22

Einschlägige mikropolitische Aktivitäten werden informell mittels per-sönlicher Beziehungen und unter Verbergen der eigenen Motive durchge-führt. Öffentliche Vertretung von Sachfragen dient allenfalls zur Verschlei-erung der wirklichen Handlungsziele. Denn Mikropolitik kann auf Korrup-tion hinauslaufen; zumindest gilt sie heute als moralisch anrüchig. Aber derWandel politischer Kultur im Lauf der Geschichte betrifft weniger die mi-kropolitischen Aktivitäten selbst als deren jeweilige Bewertung. So sindzum Beispiel die unsterblichen mikropolitischen Praktiken Nepotismusund Patronage auch heute selbstverständlich, gelten aber als korrupt oderzumindest als unfein. In der Frühneuzeit hingegen waren sie nicht nur zu-lässig, sondern sittlich geboten.23 Der Korruptionsvorwurf selbst gehört zudem Repertoire mikropolitischer Techniken wie Argumentieren oderSchmeicheln, Blockieren oder Koalieren, Leistung und Gegenleistung an-bieten, Sanktionen androhen und so fort.24

Darüber hinaus gibt es heute das paradox anmutende Phänomen der „er-folgreich scheiternden Organisationen“, die vor allem auf dem „DrittenSektor“ zwischen Markt und Staat anzutreffen sind: Wohlfahrtsverbände,Genossenschaften, öffentliche Unternehmen und verselbständigte Verwal-tungsträger, sogenannte „Quangos“ (Quasi-Nongovernmental Organisa-tions). Auch wenn sie mit der Durchsetzung offizieller zweckrationaler Or-ganisationsziele scheitern, sind sie erfolgreich beim Einräumen des gesell-schaftlich erforderlichen Spielraums für vormoderne mikropolitische Ak-tivitäten, für die moderne zweckrationale Organisationskultur keinen Platzmehr hat. Manifest sind sie oft empörend dysfunktional, latent aber überausfunktional für Staat und Gesellschaft. So ist die „Treuhand“ mit der Ab-wicklung der DDR-Betriebe zwar wirtschaftspolitisch gescheitert, war

21 Günther Ortmann, Mikropolitik, in: Peter Heinrich/Jochen Schulz zur Wiesch (Hrsg.),Wörterbuch der Mikropolitik. Fschr. Horst Bosetzky. Opladen 1998, 1–5; Willi Küpper/Anke Felsch, Organisation, Macht und Ökonomie. Mikropolitik und die Konstitution or-ganisationaler Handlungssysteme. Wiesbaden 2000, 18.22 Willi Küpper/Günther Ortmann (Hrsg.), Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spielein Organisationen. 2. Aufl. Opladen 1992, 7.23 Wolfgang Reinhard, Papa Pius. Prolegomena zu einer Sozialgeschichte des Papsttums(1972), in: ders., Ausgewählte Abhandlungen. Berlin 1997, 14–36.24 Neuberger, Mikropolitik (wie Anm. 20), 85–146, nennt hunderte von Möglichkeiten!

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aber ein höchst erfolgreicher Sündenbock, der Bund und neue Länder vomUnmut der Bevölkerung entlastete. Immerhin fiel ihr erster Leiter 1991 ei-nem Mordanschlag zum Opfer!25

Mikropolitik ist freilich ein Spiel, das durchaus nach Regeln gespieltwird. Im Umgang mit Organisationen legen Konventionen fest, wie vielSpielraum mikropolitisches Handeln hat, ohne mit Sanktionen rechnen zumüssen. Auch Korruption beruht ja auf kalkuliertem Risiko. Die Spielre-geln mögen sich aus konstanten Elementarsachverhalten ergeben wie dieselbstverständliche Bevorzugung von Personen aus dem Nahbereich oderaus der jeweiligen politischen Kultur wie die Bewertung dieser Bevorzu-gung. Sie regulieren und strukturieren die zwischenmenschlichen Macht-beziehungen, aber ohne das Handeln vollständig zu determinieren. Immerbesteht die Freiheit, auch anders zu handeln.26 Mikropolitisches Handelnfindet nämlich selten nach rationalen Entscheidungen von Homines oeco-nomici statt, sondern beginnt auf Grund ziemlicher vager Vorstellungen,die sich erst im Zuge des Handelns in Zielvorstellungen niederschlagen.27

Mit der Metapher „Spiel“ bewegen wir uns in der Mitte zwischen zweireduktionistischen Vorstellungen von der sozialen und historischen Weltund ihren Erklärungsstrategien. Dem mikrosoziologischen und mikrohis-torischen Individualismus der „kleinen Geschichten“ entspricht die Erklä-rung durch rationales individuelles Handeln, während das Denken in mak-rosoziologischen Strukturen und großen historischen Erzählungen auf dieVorstellung vom überindividuellen Eigenleben eines historischen Systemshinausläuft, dessen Zwänge den im System Handelnden häufig nicht ein-mal bewusst werden.28 Die deagentivierende Sprache des üblichen Politik-begriffs läuft daher auf eine implizite Systemanalogie hinaus, wenn davondie Rede ist, dass „Deutschland“ etwas tut oder „der Vatikan“ etwas unter-lässt.29 Demgegenüber findet das mikropolitische Spiel zwischen den bei-

25 Wolfgang Seibel, Funktionaler Dilettantismus. Erfolgreich scheiternde Organisationenim „Dritten Sektor“ zwischen Markt und Staat. 2. Aufl. Baden-Baden 1994; Seibel/Maa-ßen, Illusionen (wie Anm. 17).26 Küpper/Ortmann (Hrsg.), Mikropolitik (wie Anm. 22), 21.27 Hans Joas, Die Kreativität des Handelns. Frankfurt am Main 1992.28 Bernhard Miebach, Soziologische Handlungstheorie. 2. Aufl. Wiesbaden 2006, 183–320; Heidrun Hesse, Ordnung und Kontingenz. Handlungstheorie versus Systemfunkti-onalismus. Freiburg im Breisgau 1999.29 Peter von Polenz, Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider dieDeagentivierung, in: Theo Bungarten (Hrsg.), Wissenschaftssprache. Tübingen 1981,85–110.

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den Spannungspolen Systemzwang und Handlungsfreiheit statt.30 SeineErgebnisse mögen den generalisierten Verhaltenserwartungen eines Sys-tems entsprechen, können aber auch allen Erwartungen widersprechen, bishin zur Emergenz, dem Auftreten unvorhersehbarer Folgen.31

Weil die sozialen Beziehungen und Interaktionen, um die es dabei geht,zwar geregelt, aber nicht determiniert sind, lassen sie sich weder als hier-archisches System noch als freier Markt beschreiben, sondern nur als„Netzwerk“. Denn die Netzwerktheorie vermag Mikro- und Makroansätzeebenso zu integrieren wie Akteur und Handlung, Struktur und System. Siebietet nicht nur Methode, sondern zugleich ein Organisationsmodell ausanti-essentialistischer Perspektive, denn sie erklärt soziale Phänomene alsRelationen und nicht durch Substanz oder Wesen. Grob vereinfacht läuftsie erstens auf einen Satz von „Knoten“ oder „Elementen“ hinaus, in derRegel Personen, zweitens auf die zwischen diesen verlaufenden „Kanten“,das sind die Beziehungen, die jene erst zu einem „Satz“, das heißt einemsinnvollen Untersuchungsgegenstand werden lassen. Drittens geht es umdie Merkmale der „Knoten“, viertens um die Inhalte der „Kanten“, fünftensum die Gestalt und Eigenschaften der Netzwerke, die sich daraus ergeben.Die Forschung hat elaborierte mathematische Verfahren zur Netzwerkana-lyse entwickelt, die aber für Historiker weitgehend entbehrlich sind, weilsie angesichts der fast immer zufälligen und lückenhaften Quellenüberlie-ferung nur eine illusionäre Pseudo-Exaktheit produzieren könnten.32 Oh-nehin ist häufig gerade die weitgespannte und schwache Vernetzung mik-ropolitisch bedeutsam; das wird nicht nur von Befunden aus römischen Ak-ten, sondern auch von Untersuchungen über moderne Arbeitsmärkte bestä-tigt.33

30 Jörg Bogumil/Josef Schmid, Politik in Organisationen. Organisationstheoretische An-sätze und praxisbezogene Anwendungsbeispiele. Opladen 2001, 59f.; Neuberger, Mik-ropolitik (wie Anm. 20), 151.31 Bettina Heintz, Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem, in: KZSS 56, 2004, 1–31.32 John Scott (Ed.), Social Networks. 4 Vols. London 2002, v. a. Vol. 1, 1–21: General In-troduction, und Vol. 1, 81–122; Barry Wellman, Structural Analysis. From Method andMetaphor to Theory and Substance, in: ders. (Ed.), Social Structures. A Network Ap-proach. Cambridge 1988, 19–61; Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse.Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele. 3. Aufl. Opladen 2006, bes. 13–34, 58f.,165; Stefan Kaufmann (Hrsg.), Vernetzte Steuerung. Soziale Prozesse im Zeitalter tech-nischer Netzwerke. Zürich 2007, 7–21; Reinhard, Freunde und Kreaturen (wie Anm. 3).33 Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: Scott (Ed.), Social Networks (wieAnm. 32), Vol. 1, 60–80.

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Netzwerke sind ein allgegenwärtiges historisch-anthropologisches Phä-nomen, was an der altchinesischen Variante Guanxi und ihrer Anpassungan die Gegenwart ebenso überzeugend demonstriert wurde34 wie mit einernetzwerktheoretischen Interpretation des 1. Korintherbriefs des ApostelsPaulus35. Aber ihre Bedeutung wurde erst erkannt, als sie zur Vergesell-schaftungsform der Informationswelt unserer Gegenwart aufstiegen; derZusammenhang mit der wachsenden Bedeutung des Internet ist evident.Seit 1990 wurde „Netzwerk“ zum absoluten Begriff, ohne den heute keinewissenschaftliche oder nicht-wissenschaftliche Veröffentlichung mehrauskommt.36

Allerdings zeigt die nähere Untersuchung von „Knoten“, „Kanten“ undder Gesamtgestalt von Netzwerken, wie sehr Netzwerke durch historischeund kulturelle Umwelteinflüsse modifiziert werden. Dabei spielt die jewei-lige politische Kultur als Inbegriff politischer Praxis abermals eine wichti-ge Rolle. Grundsätzlich führt eine gesellschaftliche Machtrolle zu einerbesseren Position in Netzwerken, denn Macht ist der Rohstoff der Mikro-politik. Doch weil sich die politischen Machtrollen historisch verändert ha-ben, spielt heute die Mitgliedschaft in Parteien oder Verbänden, bei denFreimaurern37 oder im Rotary-Club eine sehr viel größere Rolle als Ver-wandtschaft oder Landsmannschaft, die in der Vormoderne mikropolitischwichtiger waren.38 Demgemäß dürfte auch die Bedeutung der aus gemein-samer Ausbildung, Arbeitsstätte und Mitgliedschaft erwachsenen „Seil-

34 Thomas Gold/Doug Guthrie/David Wank (Eds.), Social Connections in China. Institu-tions, Culture, and the Nature of Guanxi. Cambridge 2002; Klaus Kammerer/BerndSchauenberg/Harro von Senger, Guanxi oder die Ambivalenz von Netzwerkbeziehun-gen, in: Gerold Blümle (Hrsg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik. Münster 2004,173–188.35 John K. Chow, Patronage and Power. A Study on Social Networks in Corinth. Sheffield1992.36 Erhard Schüttpelz, Ein absoluter Begriff. Zur Genealogie und Karriere des Netzwerk-begriffs, in: Kaufmann (Hrsg.), Vernetzte Steuerung (wie Anm. 32), 25–46; Paul N. Ed-wards, Schwache Disziplin. Der Macht-Wissen-Komplex in Netzwerken und der Nieder-gang des Expertentums, in: ebd. 47–66; Hartmut Böhme, Einführung, in: Jürgen Bark-hoff/Hartmut Böhme/Jeanne Riou (Hrsg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne.Köln 2004, 17–36.37 Gunilla-Friederike Budde, „Denn unsere Bruderliebe soll ihn leiten“. Zum Zusam-menhang von Künstlerexistenz und Freimaurertum bei Wolfgang Amadeus Mozart, in:HZ 275, 2002, 625–650.38 Reinhard, Freunde und Kreaturen (wie Anm. 3), 29–32. Verwandtschaft spielt abernoch heute ihre Rolle; zur „Übergangszeit“: Carola Lipp, Verwandtschaft – ein negiertesElement der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: HZ 283, 2006, 31–77.

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schaften“ in der Moderne zugenommen haben.39 Zusätzlich ist zu beden-ken, dass der Mikropolitik infolge ihres Netzwerkcharakters durch das In-ternet ganz neue Möglichkeiten eröffnet werden.

„Mikropolitik“ muss also weiter definiert werden. Denn sie umfasst al-les Handeln, das erstens statt Organisationszielen partikularen Interessendient, das zweitens weniger individuell oder organisiert als vernetzt statt-findet und das sich drittens unterhalb der institutionalisierten Ebene ab-spielt. Diese drei Eigenschaften müssen nicht in jedem Fall zu finden sein;es gibt aber genug Schnittmengen zwischen ihnen für unsere Untersu-chung. Logisch stringent müsste demgegenüber „Makropolitik“ jenes po-litische Handeln heißen, das sich erstens strikt an allgemeinen sachlichenInteressen des Gemeinwohls orientiert, das zweitens organisiert abläuftund drittens an Institutionen gebunden ist, vor allem an den Staat als dieHyperorganisation schlechthin. „Staatshandeln“ wäre ein angemessenesSynonym für „Makropolitik“, stünden wir nicht unter dem semantischenZwang binomischer Gegenbegrifflichkeit. Denn das staatliche Hyperorga-nisationsziel Gemeinwohl wird ja durch Mikropolitik auf Schritt und Trittin Frage gestellt, und zwar durchaus auch durch organisiertes mikropoliti-sches Handeln.

Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Frage der politischen Moralzu handeln. Gemeinwohlorientierte Politik gilt generell als moralisch, Mi-kropolitik hingegen tendenziell als unmoralisch. Das mag eine deutsche,besonders staatsgläubige Sicht der Dinge sein, während die angelsächsi-sche Welt der Interessenpolitik und den Machterhaltungstechniken gesell-schaftlicher Kräfte unbefangener gegenübersteht. Freilich steht der kon-krete Inhalt des Gemeinwohls hier wie dort selten eindeutig fest, und es gibtin der Regel verschiedene Lösungen mit Anspruch auf Sachgerechtigkeit.

Die Erfahrung lehrt allerdings, dass hier wie dort eine Kluft zwischenpolitischem Anspruch und politischer Wirklichkeit besteht, die regelmäßigdurch Fiktionen überbrückt, durch Geheimhaltung verschleiert oder durchLügen aus der Welt geschafft werden muss. Fiktionen wie die Volkssouve-ränität legitimieren die Herrschaft der Parteien und Verbände, Folter undpolitischer Mord von Staats wegen finden geheim statt, die staatliche Miss-wirtschaft wird von der Regierung solange bestritten, bis nach der Wahl die

39 Eike Emrich/Vassilios Papathanassiou/Werner Pitsch, Klettertechnik für Aufsteiger.Seilschaften als soziales Phänomen, in: KZSS 48, 1996, 141–155; Hans-Jürgen Döscher,Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts. 2. Aufl. Berlin 2005(vgl. unten Anm. 69f.); Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerkeund korrupte Seilschaften. Göttingen 2006.

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notwendigen Steuererhöhungen durchgeführt werden können.40 Außer-dem gehört zur „Makropolitik“ eine politische Klasse aus Juristen und Be-rufspolitikern, die sie zu ihrer Sache machen, weil sie von ihr leben. Ausdiesem mikropolitischen Interesse heraus sind sie gezwungen, die makro-politische Fiktion aufrecht zu erhalten und mit entsprechenden Argumen-ten zu legitimieren.

Genauer besehen empfiehlt sich also eine neutralere Perspektive. Ers-tens können bestimmte Partikularinteressen wie Menschen- und Bürger-rechte eine höhere Legitimität beanspruchen als das so genannte Gemein-wohl, in dessen Namen sie verletzt werden. Zweitens können legale undmit angeblichen Interessen des Gemeinwesens begründete politische Prak-tiken dennoch verbrecherisch sein wie Massenmord durch Atombombenoder durch „ethnische Säuberung“. Erfreulicherweise wurde nicht nur dieShoah manchmal durch couragierte Mikropolitik konterkariert. Korruptionerscheint hier als einzige Möglichkeit zur wirksamen Bekämpfung von Fa-natismus!41 Korruption ist zwar eine Form von Mikropolitik, aber nichtjede Mikropolitik ist korrupt. Obendrein ist „Korruption“, wie gesagt, keineindeutiger, sondern ein perspektivischer Begriff!

Der empirische Befund ist eindeutig: „reine“ Makropolitik gibt es, wennüberhaupt, dann nur als theoretischen Entwurf. Sie ist das anthropologischAllgemeine, das in Wirklichkeit stets nur als mikropolitisch bestimmtesBesonderes vorkommt. Sie ist eine Sub-Fiktion unserer politischen Basis-fiktion, der Idee eines egalitären Rechtsstaats, in dem Gesetze, nicht Men-schen zweckrationale Herrschaft ausüben, gegebenenfalls gesteigert zurDemokratie mit Volkssouveränität, wobei die Letztere ebenso wie dieZweckrationalität der Herrschaft konstitutive Sub-Fiktionen darstellen.42

Möglicherweise handelt es sich bei der politischen Zweckrationalität umeinen Ableger der kulturspezifischen „abendländischen Rationalität“, dievon den Griechen nicht nur in die Politik eingeführt wurde. In Wirklichkeitist Mikropolitik ein integrierender Bestandteil, wenn nicht sogar das Wesenjeder Politik. Denn Politik wird von vernetzten Menschen mit partikularen

40 Wolfgang Reinhard, Unsere Lügengesellschaft. Warum wir nicht bei der Wahrheitbleiben. Hamburg 2006; Wolfgang Reinhard, Geheimnis und Fiktion als politischeRealität, in: ders. (Hrsg.), Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege.(Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie, Bd. 10.) Wien 2007,221–250.41 „Corruption is the only force that can fight fanaticism“, aus: Salman Rushdie, TheMoor’s Last Sigh (1995), nach Pradyumna S. Chauhan (Ed.), Salman Rushdie Inter-views. A Sourcebook of His Ideas. Westport/London 2001, 211.42 Reinhard, Geheimnis (wie Anm. 40).

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Interessen betrieben, die dabei unausweichlich auf vororganisationale In-teraktionstechniken angewiesen bleiben. Selbst eine so idealistische politi-sche Philosophin wie Hannah Arendt musste sich mit der Untrennbarkeitvon handelnder Person und behandelter Sache herumschlagen.43

Doch auch wenn „reine“ Makropolitik als „reines“ Staatshandeln eine„reine“ Fiktion darstellt, so ist sie nichtsdestoweniger erstens als solche ge-geben und wirksam. Zweitens ist sie in mikropolitisch „kontaminierter“Form durchaus eine Realität, die natürlich nicht geleugnet werden kannund soll. Dem Anspruch nach sind ihre Gegenstände universal und monis-tisch, weil sie sich auf das Gemeinwesen als Ganzes beziehen und durchdiesen Bezug legitimieren. Die entsprechenden historischen Quellen sindamtlich, offiziell und öffentlich beziehungsweise ausdrücklich anti-öffent-lich, das heißt „amtlich“ für „geheim“ erklärt. Weil „Makropolitik“ öffent-lich ist, spielten Kommunikationsmedien für sie eine Rolle von zunehmen-der Bedeutung, bis heutzutage Makropolitik weitgehend zur Medienveran-staltung geworden ist.

Gegenstände und Verfahren der Mikropolitik sind demgegenüber parti-kular und pluralistisch, weil sie sich auf einzelne Personen oder Gruppenoder Koalitionen beziehen und durch diesen Bezug entweder legitimiertoder aus der Perspektive des Staatshandelns delegitimiert werden. Die ent-sprechenden Quellen sind diskret und privat, zum Beispiel Briefe, höchs-tens halbamtlich-offiziös und selbstverständlich nicht öffentlich, auchwenn sie von Medien oder Gerichtsverfahren öffentlich gemacht werdenkönnen. Die bereits angesprochene Delegitimation der Mikropolitik aus„makropolitischer“ Perspektive lässt sich „entlarven“ als bloße Interessen-vertretung von deren Nutznießern, weil es sich aus der Sicht des Staatshan-delns bei jeder Mikropolitik um eine Art von Korruption handeln kann.Man könnte sie als „Korruption 1. Grades“ bezeichnen, denn es gibt darü-ber hinaus die massive Verletzung individualethischer Normen auch imRahmen von Mikropolitik, die dann „Korruption 2. Grades“ wäre. Derpäpstliche Nepotismus zum Beispiel müsste aus der Perspektive von Kir-che und Staat trotz seiner gesellschaftlichen Legitimität als Korruption 1.Grades bezeichnet werden, die hemmungslose Gier der NepotenfamilieBarberini 1623–1644 hingegen als Korruption 2. Grades.44

43 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960, hier nach HomiK. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, 282–284.44 Wolfgang Reinhard, Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichenKonstante, in: ZKiG 86, 1975, 145–185.

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Freilich sind die Mischungsverhältnisse von Staatshandeln und Mikro-politik von Fall zu Fall ebenso unterschiedlich wie der Sachverhalt derDurchmischung als solcher evident bleibt. Deswegen handelt es sich beiunseren Ausführungen über Mikropolitik auch nicht um Binsenweisheiten,sondern um einen neuen Weg zu differenzierter Politikanalyse in Einzelfäl-len einerseits, zu grundlegenden Einsichten politischer Anthropologie an-dererseits. Mikropolitische Analyse führt zu einer Art „Tiefenpolitik“, dieanalog zur „Tiefenpsychologie“ unbekannte oder verdrängte Dimensionenins Licht des wissenschaftlichen Bewusstseins hebt und dadurch zeigt,„wie Politik wirklich funktioniert“.45

II.

Ich beanspruche aber nicht, eine „neue Politikgeschichte“ erfunden zu ha-ben.46 Ich will nur genauer hinsehen als bisher. Zur Demonstration des re-gelmäßigen Übergewichts der Mikrodimension im politischen Prozess füh-re ich Exempel aus verschiedenen Feldern vor, um damit die Plausibilitätmeiner Überlegungen zu steigern. Wenn diese Ausführungen teilweise ei-nen „entlarvungshistorischen“ Tenor haben, dann liegt das an der Sacheselbst. Denn hier werden bisher unbekannte oder höflich übersehene Di-mensionen der Geschichte ausgeleuchtet, die nicht selten auf Korruptionhinauslaufen. Und auch dort, wo dies nicht der Fall ist, widersprechen un-sere Befunde in der Regel dem modernen Mythos sachbezogenen Staats-handelns.

1. Ein Papst wie Paul V. Borghese (1605–1621) hatte kaum noch politi-sche Entscheidungen von einiger Tragweite zu treffen.47 Er wollte es abernicht hinnehmen, dass die Republiken Genua und Venedig ihre Kontrolleüber kirchliche Güter ausweiteten und Geistliche vor ihre weltlichen Ge-richte zogen. Beiden drohte er mit Kirchenstrafen. Die Republik Genuawar allerdings als europäischer Finanzplatz aufs beste mit der römischenKurie vernetzt, so dass ein genuesischer Kardinal das Krisenmanagementin die Hand nehmen und mit dem mikropolitischen Instrumentarium per-sönlicher Einflussnahme zu einem guten Ende führen konnte; Papst undRepublik versöhnten sich. Venedig hingegen hatte keinen nennenswerten

45 Neuberger, Mikropolitik (wie Anm. 20), 8f.46 Vgl. Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte undneue Wege. (HZ, Beihefte, NF. 44.) München 2007, bes. 4 u. 12.47 Wolfgang Reinhard, Schwäche und schöner Schein. Das Rom der Päpste im Europades Barock 1572–1676, in: HZ 283, 2006, 281–318.

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Einfluss in Rom, und die Kurie ihrerseits konnte kaum auf Parteigänger un-ter der Oligarchie der Republik zählen. Es war das Fehlen derartiger mik-ropolitischer Möglichkeiten, was das „Interdetto di Venezia“ 1606 bis andie Grenze eines Krieges eskalieren ließ.

In Genua und Venedig waren allerdings kaum Interessen der Papstfami-lie und der Kurie im Spiel. Anders in Spanien, wo der KirchenrechtlerPaul V. demgemäß seine Sachentscheidungen weniger streng und stärkernach mikropolitischen Prioritäten traf. Papst und Kurie waren für ihren Un-terhalt in beträchtlichem Umfang auf das Wohlwollen der spanischen Kro-ne angewiesen. Außerdem hatte die Krone den Aufstieg des Hauses Bor-ghese von patrizischem zu fürstlichem Rang gefördert. Als die Krönungdieses Aufstiegs durch Verleihung der Würde eines „Grande de España“ anden Fürsten Borghese anstand, ließ sich dessen Onkel Paul V. im Gegen-satz zu seiner sonstigen Zurückhaltung nicht nur dazu bewegen, die Hei-ligsprechung des Isidro Labrador einzuleiten, die König Philipp III. einHerzensanliegen war. Außerdem erhob er den zwölfjährigen Prinzen Fer-nando zum Kardinal und zum Administrator des Erzbistums Toledo, derreichsten Pfründe der Christenheit, beides in klarem Widerspruch zum Kir-chenrecht.48

In der zölibatären Wahlmonarchie Papsttum mussten bei Herrscher-wechseln die politischen Karten ständig neu gemischt werden. Deshalbsind die dortigen Archive und Bibliotheken voll von mikropolitischenDenkschriften mit Ratschlägen, manchmal geradezu Lehrbücher für dasVerhalten an der römischen Kurie. Auch Ratgeber für Sekretäre konntenüber die Kunst des Briefschreibens hinaus mikropolitische Hinweise ge-ben, und eine weitverbreitete Instruktion für Gouverneure im Kirchenstaatenthält genaue Angaben darüber, wo und wie ein solcher seine Vertrauens-leute platzieren müsse, um diskrete Informationen über die mikropolitischeKonstellation unter den lokalen Eliten zu erhalten.49 In den amtlichen Ins-truktionen für die päpstlichen Diplomaten wird hingegen selten die ge-meinwohlbezogene kirchenpolitische Argumentation zugunsten der mik-ropolitischen verlassen. Diese findet sich eine Ebene tiefer in der diploma-tischen Alltagskorrespondenz und in botschaftsinternen Schriftstücken.50

48 Reinhard, Papst Paul V. (wie Anm. 6), passim.49 Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi N III 84, 318f.50 Wolfgang Reinhard, Makropolitik und Mikropolitik in den Außenbeziehungen Romsunter Papst Paul V. Borghese 1605–1621, in: Alexander Koller (Hrsg.), Die Außenbezie-hungen der römischen Kurie unter Paul V. Borghese (1605–1621). Tübingen 2008, 67–81.

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Die Frühe Neuzeit ging unbefangener mit der mikropolitischen Wirk-lichkeit um als die Gegenwart, denn die Perspektive sachbezogenen Staats-handelns gewann damals erst langsam an Gewicht. Erst damit verlor derBegriff „Politik“ allmählich den leicht „anrüchigen“ Charakter, der seinerbis dahin vorherrschenden mikropolitischen Konnotation geschuldetwar.51 Die berühmt-berüchtigten Kapitel 12–19 von Niccolò Machiavellis,Principe‘ stellen nichts anderes dar als einen Traktat über richtige Mikro-politik; Vergleichbares findet sich auch bei Giovanni Botero und JustusLipsius. Das ,Handorakel‘ des Baltasar Gracian schließlich lässt sich als re-gelrechtes Lehrbuch für Mikropolitik in allen Lebenslagen lesen.

Die ziemlich „moderne“ Gemeinwohlrhetorik der Kameralisten des18. Jahrhunderts entpuppt sich genauer besehen als schiere Heuchelei; esging schlicht um die Füllung der fürstlichen Kassen und um Vorteile fürKameralisten wie Johann Heinrich Gottlob von Justi selbst. Aber ihr Ge-meinwohldiskurs wurde zum Selbstläufer, der Veränderungen der Wirk-lichkeit durch kritische Initiativen von unten anregte.52 Allerdings musstendiese immer noch mittels Eingaben ausgelöst werden, das heißt im Rahmendes vormodernen europäischen Herrschaftssystems, in dem durch indivi-duelle Bescheide (Reskripte) auf individuelle Bittschriften (Suppliken) re-giert wurde oder durch persönliches Zusammentreffen mit dem Herrscherin einer Audienz, was einen individuellen Gunsterweis (Privileg) zur Folgehaben konnte. Das heißt, es handelte sich strukturell um institutionalisierteMikropolitik!

2. Die spätere Neuzeit und ihre Historiographie neigten in Deutschlandzur Idealisierung der „großen“ Politik. „Das [entsprechende] höfliche Um-kreisen von Korruption […] führt selbstverständlich zu Erkenntnislü-cken.“53 Mikropolitik darf jetzt nicht mehr vorkommen, denn Politik ist Sa-che der Hyperorganisation Staat geworden, die ihrerseits eine sittliche In-stanz darstellt. Neben der bereits erwähnten Strategie der Deagentivierungwird auch die entgegengesetzte der Personalisierung verwendet, bis hin zurHeroisierung. Nicht mehr „Preußen“ tut dieses oder jenes, sondern Politik

51 Vgl. dazu zuletzt die Beiträge von Pasi Ihalainen und Michael Freeden zu der Tagung„Political History: Recent Trends in International Perspective“ im Dezember 2009 inBielefeld.52 André Wakefield, The Disordered Police State. German Cameralism as Science andPractice. Chicago 2009.53 Andreas Fahrmeir, Investitionen in politische Karrieren? Politische Karrieren als In-vestition? Tendenzen und Probleme historischer Korruptionsforschung, in: Jens Ivo En-gels/Andreas Fahrmeir/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik. Kor-ruption im neuzeitlichen Europa. (HZ, Beihefte, NF. 48.) München 2009, 67–88, hier 72.

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und Weltgeschichte liegen in der Hand eines Titanen – Bismarcks. Selbstseine drei Kaiser und deren Frauen geraten neben ihm zu bloßen Statisten,was in Wirklichkeit keineswegs der Fall war. Vielmehr war Bismarck ähn-lich wie frühneuzeitliche Günstling-Premierminister vom Schlage einesRichelieu ganz und gar vom Vertrauen Wilhelms I. abhängig, das ihm zwar26 Jahre lang gewährt wurde, aber keineswegs selbstverständlich war. Wil-helm war auch konkurrierenden Einflüssen ausgesetzt, etwa, wiederumganz frühneuzeitlich, demjenigen seiner Gemahlin.54

Studien über Bismarcks Mitarbeiter widmen sich ausdrücklich der Fra-ge: War Bismarcks Politik wirklich Bismarcks Politik?55 Auch wenn derKanzler die Zügel nie ganz aus der Hand gab und seine Mitarbeiter als aus-tauschbare Werkzeuge betrachtete, so übten manche von ihnen dennochbeträchtlichen Einfluss aus, sogar in der Außenpolitik. Der LegationsratFriedrich von Holstein war von klein auf ein Protegé des Kanzlers, für dener später ein Informationssystem neben den amtlichen Wegen aufbaute.Auch über den Bismarck-Sohn Herbert konnte er auf seinen Chef einwir-ken. Holstein behauptete zwar, er habe nie gegen den ausdrücklichen Wil-len des Kanzlers gehandelt, faktisch nahm er sich aber große Freiheiten, zu-mal als er mit dem alternden Kanzler, den er übrigens für „eine gemeineNatur“ hielt, nicht mehr übereinstimmte.56 Ob er allerdings beim Sturz Bis-marcks im Hintergrund die mikropolitische Regie geführt hat, bleibt um-stritten.57

Holstein war auch Zeuge von Bismarcks Mikropolitik, etwa als dieser1884 dem Geldmangel des bayerischen „Märchenkönigs“ Ludwig II. miteiner Million Mark und der Vermittlung eines Darlehens seines Hausban-kiers Bleichröder abzuhelfen versuchte.58 Dem Kanzler stand ja der soge-nannte „Welfenfonds“ zur freien Verfügung, das waren die Zinsen aus dem1868 von Preußen beschlagnahmten Vermögen des Königshauses vonHannover im Wert von 48 Millionen Mark. Bismarck hat die Belege für sei-ne Zahlungen planmäßig vernichtet, so dass sich die Gerüchte über dieKäuflichkeit der Fürsten und politischen Eliten des Kaiserreichs, die schon

54 Vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen, Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Frankfurtam Main/Berlin 1978, 531.55 Lothar Gall/Ulrich Lappenküper (Hrsg.), Bismarcks Mitarbeiter. Paderborn 2009.56 Hans Fenske, Holstein und Bismarck, in: ebd. 123–133.57 These von Horst Groepper, Bismarcks Sturz und die Preisgabe des Rückversiche-rungsvertrags. Paderborn 2008, 201f., 337f., 358f. Dagegen Hans Fenske, Friedrich vonHolstein. Außenpolitiker mit Augenmaß. Friedrichsruh 2009.58 Hans Philippi, König Ludwig II. von Bayern und der Welfenfonds, in: ZBLG 23,1960, 66–111, hier 89–95.

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damals umgingen, nicht mehr verifizieren lassen.59 Aber die Historiogra-phie teilte bis vor kurzem, was sie für Bismarcks eigene Einstellung hielt,dass man nämlich nicht über Dinge moralisch zu Gericht sitzen dürfe, „dieihrer Natur nach dem Bereiche der Staatskunst und damit eben der unwäg-baren Seite alles politischen Geschehens angehören“.60

Die Käuflichkeit des bayerischen Königs steht allerdings fest. Politischwar Ludwig für Bismarck ein Garant gegen die Machtergreifung der Ultra-montanen im zweitgrößten Bundesstaat, für den König hingegen stellte derKanzler eine Geldquelle zur Aufstockung seiner Zivilliste dar. 5 MillionenGoldmark aus dem Welfenfonds in Jahresraten von 300000 waren keine„peanuts“. Als Gegenleistung stimmte der König 1871 entgegen seiner frü-heren Überzeugung nicht nur dem Beitritt Bayerns zum neugegründetenDeutschen Reich zu, sondern schrieb obendrein dem König von Preußeneinen von Bismarck entworfenen eigenhändigen Brief, in dem er ihn umAnnahme des Titels „Deutscher Kaiser“ bat. Dadurch wurde Wilhelm I.ausgetrickst, der dazu wenig Neigung gezeigt hatte.61

Bismarcks Bankier Gerson Bleichröder ist als mikropolitische Zentral-figur in Bismarcks Herrschaftssystem paradigmatisch für das Funktionie-ren von Mikropolitik überhaupt. Er begann als Vertrauensmann des HausesRothschild in Berlin, wurde als solcher Bismarcks Bankier und kam als des-sen Vertrauensmann ins Geschäft mit der Staats- und Kriegsfinanzierung.Er pflegte ein riesiges Netz von Schützlingen und Informanten, zum Teildank der Abhängigkeit strategisch platzierter Kunden von seinem Kredit.„Seine Helfer, Freunde und Protektionskinder saßen überall: in der Regie-rung, am Hof, im Parlament und in der Presse.“62 So konnte er Bismarck mitNachrichten versorgen, sogar solchen vom Kaiserhof63, und seinerseits vondiesem erhaltene Informationen oder auch gezielte Fehlinformationen wei-terleiten. Bleichröder setzte Spitzel auf Bismarck-Gegner wie den GrafenHarry von Arnim an64 und finanzierte im deutsch-französischen KriegDiversion aus dem Untergrund65. Im Verhältnis von Kanzler und Bankiergab es „keine feste Grenze zwischen privaten und öffentlichen Belangen“.66

59 Ebd. 66–89, bes. 71, 74.60 Ebd. 66.61 Dieter Albrecht, König Ludwig von Bayern und Bismarck, in: HZ 270, 2000, 39–64.62 Stern, Gold und Eisen (wie Anm. 54), 229.63 Ebd. 316.64 Ebd. 297f.65 Ebd. 175.66 Ebd. 142.

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Bismarck war von kleinlicher Habgier. Er ignorierte auch als Geschäfts-mann die konventionelle Moral, schüchterte Beamte ein, schlug den Steu-erbehörden ein Schnippchen und versuchte, die Branntweinsteuer zuguns-ten seiner Brennereien zurechtzustutzen. Mit Bleichröders Hilfe sammelteer ein Wertpapierportefeuille von 1,2 Millionen Mark an. Den Ertrag eineröffentlichen Spendenaktion zu seinem 70. Geburtstag verwendete er ohneBedenken zum Rückkauf eines Landguts seiner Familie. Dank der Schen-kungen, die er als Erfolgsprämien vor allem nach siegreichen Kriegen er-halten hatte, wurde er einer der reichsten Grundbesitzer Deutschlands. Aufseinen Gütern richtete er gewinnträchtige Industriebetriebe ein. ZumSchluss verkaufte er seine Memoiren gegen Vorkasse von 100000 Markpro Band – die größte Vorauszahlung, die ein deutscher Autor bis dahin be-kommen hatte.67 In diesen Memoiren wird Bleichröder ein einziges Malbeiläufig erwähnt; von den umfangreichen Geschäften des Kanzlers ist sogut wie nie die Rede. Und die historische Forschung hat sich dieses keim-frei staatspolitisch bereinigte Geschichtsbild lange Zeit nur zu gerne vonjener Quelle diktieren lassen!68

3. Auch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat aufschluss-reiche Einblicke in mikropolitische Dimensionen zu bieten. So hat die Neu-begründung des Auswärtigen Amtes 1951 beträchtliches Aufsehen erregt,weil zwei Drittel der maßgebenden Positionen des höheren Dienstes inBonn und ein noch höherer Anteil des gehobenen Dienstes mit Angehöri-gen der Vorgängerbehörde des Großdeutschen Reiches besetzt wurden, diezum größeren Teil selbst Nationalsozialisten oder Zuarbeiter jenes Regi-mes gewesen waren, auch bei den Judendeportationen aus verschiedenenLändern Europas.

Zunächst traf sich die arbeitslose alte Garde im Zeugenstand der Nürn-berger Prozesse, um zur Entlastung ihres früheren Chefs, des Staatssekre-tärs Ernst von Weizsäcker beizutragen und damit ihn wie sich selbst nichtganz zutreffend zu Teilnehmern am Widerstand zu stilisieren. Als ihr Kol-lege Herbert Blankenhorn, der in der CDU aufgestiegen war, von Adenauermit der personellen Vorbereitung eines neuen auswärtigen Dienstes betrautwurde, konnte sich dieser „der Sogwirkung alter Verbindungen und gesell-schaftlicher Verpflichtungen“ nicht entziehen und bemühte sich höchst er-folgreich „um die Wiederverwendung und Förderung befreundeter Kolle-gen aus der ‚Wilhelmstraße‘ im Bonner Auswärtigen Amt“.69

67 Ebd. 289, 352, 355, 371–375.68 Ebd. 9f., 13.69 Hans-Jürgen Döscher, Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Ade-

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Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, ob diese Leute wie er selbst Mit-glieder der NSDAP, der SS oder anderer NS-Organisationen gewesen wa-ren. Die alliierte Kontrolle unterblieb. Gegen kritische Angriffe entwickel-ten diese Diplomaten ein solidarisches Gruppenhandeln, das von Adenauerabgefedert wurde, weil dieser unter demokratischen Bedingungen seinePersonalpolitik als untadelig darstellen musste. Man war sich mit Informa-tionsverhinderung, Falschaussagen und Erinnerungslücken behilflich unddiffamierte Kritiker wirkungsvoll als Kommunisten oder als israelischeAgenten.70 Gekonnte Mikropolitik ermöglichte die Selbstbehauptung einerprivilegierten Gruppe.

Vergleichbare Geschichten ließen sich nicht nur von den Raketenbau-ern des „Dritten Reiches“, sondern auch von Geheimdiensten erzählen,etwa wie ehemalige Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS planmäßigvom Bundesnachrichtendienst und den Amerikanern übernommen wur-den.71 Oder wie SS-Obergruppenführer Karl Wolff wegen seiner Mitwir-kung am Waffenstillstand in Italien von Allan Dulles und seinem Geheim-dienstnetzwerk zunächst erfolgreich vor Verfolgung geschützt werdenkonnte.72

Wichtiger für die Bundesrepublik wurde das Netzwerk der Unterneh-mer, die unter Albert Speer die deutsche Kriegsindustrie am Laufen gehal-ten hatten. Nach dem Krieg stiftete ihre gemeinsame Internierungserfah-rung weiter Zusammengehörigkeitsgefühl und Kontakte. Planmäßiges net-working und gemeinsamer Lebensstil, etwa regelmäßige Jagdgesellschaf-ten, trugen zur Kohärenz dieses Kreises bei, der bis in die Mitte der 1960erJahre die deutsche Wirtschaft lenkte. Seine Dominanz beschränkte sichaber nicht auf die Wirtschaft. Der Einfluss der großen Netzwerker RobertPferdmenges, angeblich der einzige wirkliche Freund Konrad Adenauers,und Hermann Josef Abs reichte weit darüber hinaus.73

70 Döscher, Verschworene Gesellschaft (wie Anm. 69), 165–171, 178.71 Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxisdes Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsen. München2008, bes. 286f.72 Kerstin von Lingen, SS und Secret Service. „Verschwörung des Schweigens“: DieAkte Karl Wolff. Paderborn 2009.73 Nina Grunenberg, Die Wundertäter. Netzwerke der deutschen Wirtschaft 1942–1966.München 2006, bes. 44, 81, 122f., 144f.; vgl. die Besprechung von Werner Abelshauser

nauer zwischen Neubeginn und Kontinuität. Berlin 1995, 306. Vgl. auch die Rezensionder zweiten Auflage mit dem (für die Forschungsentwicklung bezeichnend) abgeänder-ten Titel: Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes. Berlin2005, durch Jörg Später in der Süddeutschen Zeitung vom 6. März 2006.

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Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs bestimmte das Politbürodes Zentralkomitees der SED den politischen Kurs. Weniger bekannt sinddie mikropolitischen Zusammenhänge innerhalb dieser Gruppe, die zu ei-ner exklusiven Gerontokratie ohne realistische Information über die Au-ßenwelt verkam. Der Zusammenbruch der DDR ist damit zwar nicht zu er-klären, wird aber aus dieser Mikroperspektive um einiges verständlicher.74

Hier wie dort handelt es sich um das mikropolitische Interesse der Herr-schenden an der Erhaltung ihrer Macht, das unter dem staatspolitischenSchleier in Wirklichkeit deren Handeln bestimmt, „gehört [doch] die Be-rücksichtigung der Folgen politischer Handlungen für die eigene Personzum Alltagsgeschäft [nicht nur] demokratischer Politiker, so dass die Un-terscheidung zwischen Korruption und normaler Amtsführung nicht ganzeinfach sein dürfte“.75 Das 2009 ans Licht gekommene Spesenrittertum derbritischen Parlamentarier ist nur eine Variante der üblichen Selbstbedie-nung, die sich in Deutschland in der Diätenpolitik niederschlägt.

Anfang 2010 entpuppte sich in Deutschland der Konflikt um die Sach-frage des (Nicht-)Ausstiegs aus der Atomenergiegewinnung als persönli-ches Ränkespiel zwischen dem zuständigen Minister, dem Fraktionsvorsit-zenden seiner Partei im Bundestag, einem Ministerpräsidenten und demdazugehörenden Landesgruppenvorsitzenden im Bundestag. Zunächstging es um Postengerangel und dadurch entstandene Abneigungen. Dochder Ministerpräsident deckte die ausstiegsfreundliche Haltung des Minis-ters, weil er die Grünen als mögliche Koalitionspartner nach der bevorste-henden Wahl im Auge behalten wollte. Diese Perspektive lag damals ver-mutlich auch der Kanzlerin nahe, und sei es nur als Drohgebärde, denn siedeckte im Widerspruch zu ihren früheren Äußerungen als atomfrohe Phy-sikerin behutsam ihren Minister.76 Denn „die größte politische Leiden-schaft Angela Merkels heißt Angela Merkel. Sie ist einfach gerne Bundes-kanzlerin. Ihre Emphase für Koalitionen richtet sich hingegen danach, wasfür den Erhalt ihrer Kanzlerschaft gebraucht wird.[…] Hauptsache, dieKanzlerin bleibt.“77

74 Christian Jung, Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangi-gen Mitgliedern der SED nach 1989. Heidelberg 2007.75 Fahrmeir, Investitionen (wie Anm. 53), 86f.76 Wulf Schmiese, Eine alte Rechnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 9. Februar2010; Stefan Braun, Eifersucht und Emotionen, in: Süddeutsche Zeitung 10. Februar2010.77 Nico Fried, Die treulose Kanzlerin, in: Süddeutsche Zeitung 11. Februar 2010.

in: HZ 286, 2008, 263–265; Lothar Gall, Der Bankier. Hermann Joseph Abs. Eine Bio-graphie. München 2004, 124–127, 155, 176, 183, 249f., 341–350, 390f. u. ö.

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Allerdings geht es in der westlichen Demokratie auch um die mikropo-litischen Interessen der Bürger. Politiker, die wiedergewählt werden wol-len, müssen darauf Rücksicht nehmen. Der populäre Kreisvorsitzende undLandtagsabgeordnete einer Partei hatte sich als Finanzstaatssekretär langeerfolgreich als Chef-Lobbyist seiner Region in Stuttgart betätigt, Zugangzu immer neuen Förderprogrammen gefunden und dafür gesorgt, dass dieFörderung auch funktionierte – bis ihm offenbar nicht ohne Grund nachge-sagt wurde, er habe nach Wahlkampfspenden der Kies-Industrie deren Pro-jekt für ein Hochwasserrückhaltebecken unter anderem dadurch gefördert,dass er eine alternative Kabinettsvorlage blockierte.78 Längst müssen Lob-byisten nicht mehr bei Parlament und Regierung antichambrieren, sie sit-zen heute selbst in Parlament und Regierung. Hunderte von Interessenver-tretern wechselten in den letzten Jahren in deutsche Ministerien, um dortdie Gesetze für ihre Branche selber zu schreiben, und das nicht nur im vonverbündeten Pharma- und Ärzteinteressen notorisch verteuerten Gesund-heitswesen.79 Im Gegenzug erhalten ein ehemaliger Bundeskanzler und eingescheiterter Ministerpräsident lukrative Posten in den Chefetagen der In-dustrie ausdrücklich zwecks Beziehungspflege.

Politikerpersönlichkeiten stehen nicht für ein festes Programm; siewechseln das Programm nach Bedarf. Nach einer großzügigen Spende ei-nes Hotelbesitzers setzte eine Partei beflissen die Halbierung der Mehr-wertsteuer für Hotels durch80, um diesen Schritt nach ungünstigen Umfra-gewerten unverzüglich wieder in Frage zu stellen. Politiker betrachtensich ohnehin als universal kompetent; der Sprung vom Fraktionschef zumWirtschaftsminister ist ebenso problemlos möglich wie vom Landwirt-schaftsminister zum Ministerpräsidenten. Man braucht dazu nicht einmaleine Wahl zu gewinnen. Affinität zum betreffenden Politikfeld spielt sel-ten eine Rolle, im Gegenteil, eine Bäuerin als Landwirtschaftsministerinoder ein Lehrer als Kultusminister haben selten Erfolgsgeschichten ge-habt. Die makropolitische Sachkompetenz des Berufspolitikers bestehtaus seiner universalen Inkompetenz, sein Erfolg beruht vor allem auf sei-ner mikropolitischen Kompetenz, genauer auf dem verlässlichen Netz-werk, das er sich aufgebaut hat. Umgekehrt bietet eine Wahlniederlage diebeste Gelegenheit, mit einem gegnerischen Netzwerk in der eigenen Par-

78 Rüdiger Soldt, Das Ende des „Fleischerismus“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung17. Februar 2010.79 Hans Leyendecker, „Legale Korruption“, in: Süddeutsche Zeitung 26. Januar 2010.80 Hans Leyendecker, Das Prinzip der politischen Landschaftspflege, in: SüddeutscheZeitung 26. Januar 2010.

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tei abzurechnen, wie umgekehrt ein Wahlsieg zunächst einmal auf Posten-schacher hinausläuft. Von den Sachfragen wird später geredet, wenn über-haupt.

Denn die erforderliche Leistung erbringen – hoffentlich – Beamte wieder Staatssekretär. Aber der Erfolg eines bestimmten Staatssekretärs imFinanzministerium beruht nicht nur auf dem mikropolitischen Vertrauens-verhältnis zum Minister, sondern auch darauf, dass er zusammen mit demWirtschaftsberater der Kanzlerin bei einem bestimmten Hochschullehrerstudiert hatte und als Büroleiter eines früheren Ministers diesen Freundzum Bundesbank-Chef machen konnte.81 Im Finanzbereich bedient sichauch das deutsche „Staatshandeln“ zwecks Schönung des Budgets nichtnur der Schattenhaushalte und Scheinprivatisierungen82, sondern verkauftmittels dubioser Derivate von Investmentbanken zukünftige Einnahmen,weil die kommenden Belastungen aus diesen Geschäften anders als bei Pri-vatfirmen nicht in die Haushaltsrechnung aufgenommen werden müssen.83

4. Da politisches Handeln vermittelt durch Parteien und Verbände statt-findet, kommt der Mikropolitik unter deren Mitgliedern für den Machter-halt und für die Durchsetzung von politischen Zielen ausschlaggebendeBedeutung zu. Hier wimmelt es von Freunden, Gönnern und Getreuen,aber auch von Feinden, Neidern und Verrätern!

Helmut Kohl hatte in der CDU ein Netzwerk von Vertrauten aufgebautund seine Günstlinge in den Landesverbänden in Schlüsselstellungen ge-bracht. Er interessierte sich für privaten Tratsch, denn damit konnte er dieLeute packen. Mittels der zu diesem Zweck geschaffenen „schwarzen Kas-sen“ verteilte er seine Gunsterweise, einerseits zwecks Machterhalt, ande-rerseits analog zur Verpflichtung eines Familienvaters, denn er sah dies imSinne vormoderner Mikropolitik alles sehr persönlich, emotional unddaher ohne jede Selbstkritik.84 Vormodern-personenorientiert war auch derEhrbegriff, auf den er sich bei seiner Weigerung berief, seine Geldquellenoffenzulegen!

81 Berichte über den Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen von Roland Pichler in der Ba-dischen Zeitung vom 17. Oktober 2008, von Claus Hulverscheidt in der SüddeutschenZeitung vom 9. Juni 2009, 18.82 Wolfgang Reinhard, Öffentliche und andere Hände. Privatisierung und Deregulierungim Lichte historischer Erfahrung, in: Helga Breuninger/Rolf Peter Sieferle (Hrsg.), Marktund Macht in der Geschichte. Stuttgart 1995, 265–296.83 Der Graubereich der Staatsfinanzierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 17. Feb-ruar 2010.84 Gerd Langguth, Das Innenleben der Macht. Krise und Zukunft der CDU. Berlin 2001,106f. u. ö.

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Der soziale Aufsteiger Gerhard Schröder hingegen stilisierte sich gerneals Einzelkämpfer, der die „Seilschaften, die man dann Freunde nennt“,nicht brauchte. Aber es fehlte ihm durchaus nicht an Protektion im SPD-Präsidium. Als Ministerpräsident pflegte er dann Beziehungen zu mög-lichst vielen Wirtschaftsleuten, symbolisch besiegelt dadurch, dass er sichmit ihnen duzte. Daher sein Spitzname „Genosse der Bosse“.85 Daraus er-gab sich, wie in der Politik üblich, die lukrative Auffangstellung in derWirtschaft nach Verlust des Amtes.

Angela Merkel hat durch gezielten Einsatz ihrer Fähigkeiten in der per-sonell labilen politischen Lage nach 1989 Erfolg gehabt und Interesse anihrer Person erregt. Dabei wurde sie zunächst von Günther Krause prote-giert, der ihr als Landesvorsitzender zur Kandidatur in Mecklenburg-Vor-pommern und damit nach ihrem Wahlsieg 1990 zum Einzug in den Bun-destag verholfen hatte. Sie hat sich dann gezielt darum bemüht, HelmutKohl vorgestellt zu werden, und ihn im Gespräch unter vier Augen zu be-eindrucken verstanden. Kohl hingegen fand in ihr, was er als Ministerinbrauchte: eine tüchtige, unbelastete, moderne und doch konservative Ost-Frau ohne gefährliche eigene Hausmacht. Ihren weiteren Weg machte siedank ihres taktischen Geschicks verbunden mit Härte gegen Konkurrenten.Netzwerken in Kohls Art galt hingegen nicht als ihre starke Seite. Sie ar-beitet aber inzwischen daran, das Netz ihrer Unterstützer auszuweiten, un-ter anderem mit dem altmodischen Instrument, den richtigen Leuten das„Du“ anzubieten. Auf der anderen Seite gab es in der CDU ein wegen ge-meinsamer Südamerikareisen als Pacto andino bekanntes Netzwerk ehe-maliger Funktionäre der Jungen Union, darunter Franz Josef Jung, RolandKoch, Günther Oettinger und Christian Wulf, die nicht zu Merkels zuver-lässigsten Gefolgsleuten zählten.86

5. Sogar im kleinen schul- und hochschulpolitischen Alltag müssen Ide-alisten, die an die zwingende Kraft von Argumenten und gemeinsamen In-teressen glauben, die Erfahrung machen, dass ohne mikropolitische Absi-cherung keine Sachziele zu erreichen sind. Einer der auszog, den Mathe-matikunterricht zu erneuern, musste trotz Berufung ins Kultusministeriummangels mikropolitischer Absicherung durch Parteimitgliedschaft resig-niert aufgeben. Ein engagierter Geschichts- und Sozialkundelehrer, der alsProtagonist für ein Gesamtschulexperiment an endlosen Verhandlungen

85 Sylvia Meichsner, Zwei unerwartete Laufbahnen. Die Karriereverläufe von GerhardSchröder und Joschka Fischer im Vergleich. Marburg 2002.86 Gerd Langguth, Angela Merkel. München 2005, 144f., 151f., 271–276, 286–295,312f.

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beteiligt war, bis er endlich Erfolg hatte, gestand mir 1965, er habe dabeieine ganz neue Vorstellung von Politik bekommen. Wahrscheinlich diesel-be wie ich selbst, als ich dreißig Jahre später im Kuratorium einer Stiftungderen Geldgeberin aus dem Stand zur Gründung eines Instituts für ange-wandte Geschichtswissenschaft bewegen wollte. Ich selbst fand meine Ar-gumente zwar durchaus überzeugend, und die Sponsorin schien der Ideenicht abgeneigt zu sein, aber meine Kollegen im Kuratorium lehnten denVorschlag einhellig ab. Einer bedeutete mir anschließend mitleidig: Siehätten das besser vorbereiten, das heißt jeden einzelnen von uns gründlich„bearbeiten“ müssen.

Offensichtlich kommt keine politische Sachentscheidung ohne mikro-politische Operationen zustande, während umgekehrt mikropolitische Per-sonalentscheidungen keine sachliche Grundlage brauchen, auch wenn einesolche zur Legitimation nützlich sein mag – was zu beweisen war. Dennochist Mikropolitik an und für sich, wie gesagt, weder unmoralisch noch ille-gitim. Aber sie kann durchaus auf Korruption hinauslaufen, wenn sie denaus Kleingruppenperspektive mehr denn je gebotenen Regeln von Anstandund Mitmenschlichkeit widerspricht (Korruption 2. Grades). Das kommtkeineswegs nur in Griechenland vor, auch wenn es dort wegen der weitrei-chenden Folgen 2010 am meisten Aufsehen erregt hat. „Rusfeti“ (Gefällig-keiten) verschiedenster Art – übrigens ein Lehnwort aus dem Türkischen –sorgen dort, und nicht nur dort dafür, dass die Gesellschaft funktioniert.87

Denn Korruption 1. Grades gilt dort und nicht nur dort geradezu als In-begriff von Mitmenschlichkeit. Das ist nur eine Frage der Perspektive. DerIllegitimitäts- und Korruptionsvorwurf erfolgt nämlich, wie wir sahen,häufig aus der Perspektive der Großorganisation, einer Firma oder einesStaates, deren zum Selbstzweck gewordene Zwecke von der Mikropolitiktangiert werden. Aber nicht nur viele Griechen und Italiener trauen ihremStaat nicht. Er wird als Ausbeuter betrachtet, dem man aus dem Wege ge-hen oder den man zur legitimen Selbstverteidigung betrügen muss. Auch inDeutschland und anderswo treiben kleine Leute ihre Kleinkorruption zumSchaden des Gemeinwesens, weil ihnen zur Korruption im Großen die Mit-tel fehlen. Der geschickten Nutzung aller Chancen auf der Mikroebenesteht notgedrungen Distanz zur Makroebene gegenüber, wo die großmaß-stäblichen Entscheidungen fallen. Denn nur wenige sind mikropolitisch da-rin verwickelt, die meisten schauen ohnmächtig zu und finden, dass sie das

87 Alexandros Stefanidis, Highway to Hellas. Korruption und Staatsschulden, in: Süd-deutsche Zeitung, Magazin, 4. Februar 2010, 10–14.

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Ganze nichts angeht, bis sie merken müssen, dass sie die Folgen der großenPolitik zu tragen haben. Sie wissen sich im Recht, weil nicht erst in eineraktuellen Krise Finanzpolitik wie immer nach derselben Regel betriebenwird: Privatisierung der Gewinne – Sozialisierung der Verluste.

III.

Nach dem systematischen Nachweis und der exemplarischen Demonstra-tion der unvermeidlichen Allgegenwart von Mikropolitik bleiben die Fra-gen offen, was die historischen Ursachen dieses Sachverhalts sind und wa-rum wir merkwürdigerweise trotz seiner Selbstverständlichkeit an ihm An-stoß nehmen. Denn zumindest unser Empfinden ist offenbar auf die Vor-stellung gedrillt, dass sich politisches Handeln an gemeinsamen Interessenmöglichst aller Menschen des Gemeinwesens zu orientieren habe, auchwenn ein Robert Mugabe oder ein Silvio Berlusconi keinerlei derartigeNeigungen verspüren mögen. Doch im Gegensatz zu Letzteren sind selbstbei vielen Päpsten des 15.–18. Jahrhunderts, die auf Kosten der Kirche ih-rem Nepotismus frönten, Spuren eines schlechten Gewissens nachzuwei-sen, obwohl Nepotismus damals als legitim und sogar als geboten galt!88

Ein Normenkonflikt ist nicht zu übersehen!Die Antwort ist evident, auch wenn sie in Details hypothetisch bleibt.

Die Menschheit hat Millionen Jahre mikropolitischer Praxis hinter sich,aber allenfalls zwei- bis dreitausend Jahre Staatshandeln, das sich am Inte-resse des gesamten Gemeinwesens orientieren will. Ob dieser Sachverhaltdurch Auslese der besonders tüchtigen Mikropolitiker zu einer genetischenVerankerung mikropolitischen Verhaltens geführt hat, oder ob es sich nurum die erfolgsbedingte Weitergabe eines kulturellen Codes handelt,braucht hier nicht entschieden zu werden.

Während die klassische Hypothese von der evolutionären Menschwer-dung darauf hinausläuft, dass die Entwicklung des Gehirns mit der Zäh-mung des Feuers und dem Gebrauch von Werkzeugen zusammenhängenmüsse, wird seit längerem die alternative Auffassung vertreten, sie sei nichttechnologischen, sondern politischen Ursprungs. Denn es sei die ständigeNotwendigkeit gewesen, die eigenen Interessen in der Kleingruppe mikro-politisch durchzusetzen, die den Menschen zum Menschen gemacht habe.

88 Marzio Bernasconi, Il cuore irrequieto dei papi. Percezione e valutazione ideologicadel nepotismo sulla base dei dibattiti curiali del XVII secolo. Bern 2005.

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Täuschung und Lüge spielen in der Evolution eine wichtige Rolle.89 DerMensch wäre also von seinen Ursprüngen her definitionsgemäß Mikropo-litiker, das Animal sociale nur so weit sozial, wie es den eigenen Interessendient, das heißt also viel eher ein Animal micropoliticum.90

Für Primaten einschließlich des Menschen lässt sich eine Korrelationzwischen der Größe der Neocortex und der Standardgröße der sozialenGruppe nachweisen. Letztere steigt von wenigen Individuen beim Gibbonauf ca. 150 Personen beim Menschen. Tatsächlich haben die kohärentenGemeinschaften, in denen die meisten vormodernen Menschen lebten,ebenso wie die segmentierten Netzwerke unserer Zeitgenossen ziemlichgenau diesen Umfang.91

Nach Christian Meier entstand „das Politische bei den Griechen“ alseine Ordnung, die „weitgehend, unvermittelt und konkret von den Bürgerngemacht wurde“.92 Ihr Vollzug oblag Amtsträgern, die im Auftrag ihrerMitbürger tätig und diesen Rechenschaft schuldig waren, statt ihre Stellungals nutzbares Eigentum zu beanspruchen. Aber dieser weltgeschichtlicheDurchbruch blieb zunächst im mikropolitischen Rahmen. Denn er bezogsich auf die Polis, die zwar größer war als die genannte Standardgruppe,aber immer noch so überschaubar blieb, dass es sich häufig um eine face-to-face society gehandelt haben dürfte.

Die meisten Poleis umfassten 50–100 Quadratkilometer und 500–1000Bürger. Athen allerdings hatte 431 vor Christus mit einem Territorium von2550 Quadratkilometern ca. 60000 Bürger bei 3–400000 Einwohnern. Ob-wohl es dort inzwischen Vollzeitpolitiker und Hauptredner gab, hatte im-mer noch „jeder Bürger das Recht zu Rede und Antragstellung“ in der sou-veränen Volksversammlung. Die oligarchischen Regimes der Folgezeit re-duzierten die Zahl der Vollbürger dann auf mikropolitisch handliche 5000bzw. 3000.93 Platos Idealstaat sollte 5040 Bürger haben.

89 Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch.München 1992.90 Richard W. Byrne (Ed.), Machiavellian Intelligence. Social Expertise and the Evolu-tion of Intellect in Monkeys, Apes and Humans. Oxford 1988, Vf., 1–8, 63 u. bes. 122–131: Frans de Waal, Chimpazee Politics; Andrew Whiten/Richard W. Byrne (Eds.),Machiavellian Intelligence II. Extensions and Evaluations. Cambridge 1997.91 Robin Dunbar, Why Humans Aren’t Just Great Apes, in: British Academy Rev. 11,2008, 15–17.92 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main1980.93 Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie inAthen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, 18, 46f., 54, 74f., 327f.

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Aber Politik in der Polis bedeutete Befassung aller Bürger mit dem, wassie unmittelbar anging, und noch nicht die fiktive Beteiligung an der Kon-trolle des Managements einer Riesenorganisation, moderner Staat ge-nannt.94 Obwohl sich Athen infolge der Größe des Gemeinwesens auf demWeg dorthin befand95, war Politik bei den Griechen immer noch Mikropo-litik und unmittelbar anfällig für „Korruption“ verschiedenen Grades.

Paradoxerweise führen wir heute sogar die Entstehung des modernenStaates selbst auf die erfolgreiche Verwirklichung mikropolitischer Inter-essen zurück. Zwar wurde griechisches und römisches „Staatshandeln“ seitdem Ende der Antike zunächst wieder von rein personalen Herrschaftsver-hältnissen mikropolitischen Zuschnitts abgelöst. Doch seit dem hohen Mit-telalter verstanden es selbstsüchtige Manager der Macht, diese ihre Machtzunächst mit mikropolitischen Mitteln zu steigern und zu institutionalisie-ren, bis ihre Herrschaften langfristig zu modernen Staaten wurden. Über-wiegend handelte es sich um Monarchen, deren Erfolg einerseits von dy-nastischer Kontinuität abhing, andererseits von der Unterstützung durchEliten, für die Machtsteigerung der betreffenden Herrschaften im eigenenInteresse lag. In Europa waren dies vor allem die Juristen. Die hier entwi-ckelte Auffassung von Mikropolitik wird durch die Untersuchung dieseshistorischen Langzeitprozesses rundum bestätigt.96

Einst galten die Entwicklung des modernen Staates und sein Export indie gesamte Welt als eine der Erfolgsgeschichten Europas. Von den 205Gemeinwesen der Gegenwart sind immerhin 204 moderne Staaten oderwollen es werden. Nur der Vatikanstaat ist eine gut konservierte Barock-monarchie geblieben. Nichtsdestoweniger ist die politische Wirklichkeitweit von diesem Anspruch entfernt. Entweder ist die Einheit von Staatsge-biet, Staatsvolk und Staatsgewalt nur unzulänglich verwirklicht, oder derStaat besitzt weder Souveränität noch Gewaltmonopol, oder seine Rechts-und Verfassungswirklichkeit lässt zu wünschen übrig, oder die Staatsklasseist dermaßen korrupt, dass staatliche Leistungen nur auf dem Papier stehen,oder es trifft alles zusammen, so dass der Staat völlig zerfallen ist. Das ge-wohnheitsmäßige Basisvertrauen der Beherrschten in die Herrschenden,das unterhalb der expliziten Legitimitätstypen Max Webers die impliziteBasislegitimität staatlicher Herrschaft darstellt, ist kaum vorhanden.97 Am

94 Wolfgang Reinhard, Geschichte des modernen Staates. München 2007, 19.95 Nippel, Antike (wie Anm. 93), 54, 76–82, 112–124.96 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungs-geschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Aufl. München 2002.97 Trutz von Trotha, Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Zerfall des Staates, von der Vor-

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schlimmsten sind die Verhältnisse in Teilen Afrikas.98 Kann man dort viel-leicht nur nicht mit dem anspruchsvollen Konstrukt „moderner Staat“ rich-tig umgehen?

Wohl kaum, denn auch unsere Staaten sind seit den 1970er Jahren zwarnicht überall am Zerfallen wie die Sowjetunion oder Jugoslawien, wohlaber durchaus im Niedergang. Neu entstandene europäische Staaten sindnicht mehr im Stande, die bisher üblichen Standards von Staatlichkeit ein-zuhalten.99 Metaphorisch gesprochen handelt es sich um eine Art von „Au-toimmunreaktion des politischen Körpers“ gegen seine Überbeanspru-chung. Denn die großen Wachstumsfaktoren der Staatsgewalt: Machtstei-gerung, Vereinheitlichung, Demokratie, Nationalismus, Daseinsvorsorgefür die Bürger haben die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht. In der öko-logischen Anthropologie gibt es aber für alles ein optimales Maximum.Jenseits dieser Grenze verwandeln sich konstruktive Wirkungen unaus-weichlich in destruktive.100

Die Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt löst sich auf,Landesteile fordern Autonomie, Einwanderer ihr eigenes Recht. Das innereGewaltmonopol funktioniert nur noch eingeschränkt; auch Gewaltanwen-dung wird privatisiert. Souverän mit der Möglichkeit zu beliebiger Krieg-führung sind nur noch die USA. Grundrechte werden abgebaut; der Rechts-staat hebt sich durch die interessenbedingte Hektik der Produktion neuenRechts selbst auf. Demokratie wird zum Theaterstaat; der Sozialstaat istnicht mehr zu finanzieren. Die Staatsgewalt gestaltet nichts mehr, sondernverhandelt nur noch mit Interessengruppen.101 Gerade ihre vorübergehen-de Aufwertung im Zeichen der Finanzkrise 2009/10 bietet die besten Be-weise dafür. Eilfertig rettet sie Banken mit Steuergeldern, denen sie vorherdurch Deregulierungspolitik kriminelle Operationen ermöglicht hat, wäh-rend die schüchternen Anläufe zur Regulierung der Finanzmärkte erwar-tungsgemäß scheitern müssen.102 Basisvertrauen und Basislegitimität neh-

98 Thomas Scheen, Nichts ist gut in Zimbabwe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung9. Februar 2010; ders., Von Politikern, die Nahrungsmittelhilfen verkaufen, in: Frankfur-ter Allgemeine Zeitung 17. Februar 2010.99 Enver Robelli, Betrug, Gewalt und Korruption. Nach zwei Jahren Freiheit wächst imKosovo der Frust, in: Süddeutsche Zeitung 11. Februar 2010.100 So auch Gregory Bateson nach Sommer, Lob der Lüge (wie Anm. 89), 145.101 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 96), 509–536; ders., Geschichtedes modernen Staates (wie Anm. 94), 110–116, 119–124.102 Michael Hirsch/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik,Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart 2009, 11–15.

herrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit, in: Levi-athan 2000, 253–279, bes. 260.

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men auch bei uns deutlich ab. Nur der Nationalismus scheint nach wie vorzu funktionieren, wahrscheinlich deswegen, weil er ein mikropolitisch be-quem umsetzbares Angebot für die Identifikation mit dem Staat machenkann!

Offensichtlich ist die Vorstellung vom modernen europäischen Staat alsweltweitem Erfolgsmodell eine Illusion, von der wir uns schleunigst ver-abschieden sollten. In der größten Demokratie der Welt, in Indien, gilt derNationalstaat westlichen Musters zwar durchaus als Schiedsrichter odergar als Modernisierer. In erster Linie aber ist er ganz ähnlich wie die vor-modernen Vorläufer der europäischen Staaten Beschützer vor unkontrol-lierbarer Gewalt von außen. Dafür werden seine eigene Gewalttätigkeitund seine Rechtsverletzungen als kleineres Übel in Kauf genommen. Dennsie sind kalkulierbar und erleichtern dadurch das Auffinden von Schlupf-löchern und Überlebensstrategien. Demgemäß hatten zwar 20–50 Prozentder Parlamentarier indischer Bundesstaaten eine aktenkundige kriminelleVergangenheit, wobei man sich fragen muss, was darüber hinaus noch ver-schleiert wurde. Aber dank ihrer mehrbödigen Staatsvorstellung könnenIntellektuelle die Kenntnis der schmutzigen politischen Realität mit demGlauben an den Staat verbinden103 – ein Sachverhalt, der in milderer Formauch für Europa zutreffen dürfte.

Für Afrika hat der Soziologe Trutz von Trotha den Spieß umgedreht undverkündet: „Die Zukunft liegt in Afrika“. Denn in Afrika sind der moderneStaat und die ihm zugrunde liegende altgriechische Idee der Trennung vonAllgemeinem und Besonderem am deutlichsten gescheitert. Afrika bestehtstattdessen auf der weltgeschichtlich normalen konzentrischen Ordnung, inder man sich in erster Linie dem Nächsten verpflichtet fühlt, was sogar gutchristlich ist. Machthaber haben im Sinne der Politik der Gefräßigkeit („po-litique du ventre“)104 neben sich selbst für Verwandte, Freunde und Ge-folgsleute zu sorgen. Außenstehende kommen nur als Bittsteller ins Spiel.Die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem, von Gemeinwohlund Partikularinteresse ist unbekannt; die öffentliche Ordnung ist eine Ord-nung der Privilegien. Doch das eigentlich Aufregende ist Trothas Schluss-folgerung, „dass wir an diesen Erscheinungen voraussichtlich mehr überuns selbst und unsere Zukunft lernen können, als uns lieb ist“.105

103 Ashis Nandy, Democratic Culture and Images of the State. India’s Unending Ambi-valence, in: ders., Time Warps. London 2002, 36–60.104 Jean-François Bayart, L’état en Afrique. La politique du ventre. Paris 1989.105 Trotha, Zukunft (wie Anm. 97), bes. 254, 265, 277f. Ob Trotha das einschlägige un-

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In der Tat müssen wir lernen, auch unseren Staat nicht mehr als histori-schen Regelfall, sondern als vorübergehende Ausnahme zu betrachten. So-gar ein Jurist hat vorgeschlagen, den Staatsbegriff zu „prozessualisieren“,das heißt, unsere essentialistische Vorstellung „Staat“ durch eine konstruk-tivistische von graduell variabler „Staatlichkeit“ zu ersetzen.106 Das trägtder zeitlichen wie sachlichen empirischen Priorität der (Mikro-)Politik vordem Staat Rechnung und ermöglicht uns, Politik ohne Staat und Staat alsAbfallprodukt von Politik zu denken!

Angesichts unserer Geschichte haben wir sogar allen Grund, den mo-dernen nationalen Machtstaat als historische Fehlentwicklung zu betrach-ten. Damit rücken seine angeblichen Vor- und Zerfallsformen zum histori-schen Normalfall auf. Es könnte also sinnvoll sein, sich in diesem Sinn mit-tels historischer Information auf nachstaatliche, offen mikropolitische For-men politischer Ordnung einzurichten. Noch in der Frühen NeuzeitEuropas haben nicht nur die Eidgenossen, sondern allerhand Gemeinden,Städte und Kleinterritorien sich Neutralität und Frieden im Krieg der gro-ßen Mächte, bisweilen sogar ihrer eigenen Herren, sichern können. Erst mitdem weiteren Erstarken der Staatsgewalt im 18. Jahrhundert verschwindetdiese Möglichkeit derartiger Politik nicht gegen, aber ohne den Staat.107

Für Giorgio Agamben ist die Souveränität des Staates die Wurzel allenÜbels, denn als eine Art von permanentem Ausnahmezustand verfügt sieüber das Recht und suspendiert damit die Rechtsordnung.108 Historisch hatdie Nutzung der Sachzwänge von Ausnahmelagen, vor allem von Kriegen,in der Tat entscheidend zum Wachstum der Staatsgewalt beigetragen.109

In diesem Zusammenhang sollte man sich daran erinnern, dass wichtigeElemente moderner Staatlichkeit aus Interessen erwachsen sind, die sich

106 Gunnar Folke Schuppert, Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in siebenAufzügen. Frankfurt am Main 2010.107 Jean-François Chanet/Christian Windler (Ed.), Les ressources des faibles. Neutrali-tés, sauvegardes, accommodements en temps de guerre (XVIe–XVIIIe siècle). Rennes2009.108 Nach Rüdiger Voigt, Souveräne Entscheidungen im Ausnahmezustand. StaatlichesHandeln zwischen Legalität und Legitimität, in: Hirsch/Voigt (Hrsg.), Staat (wieAnm. 102), 41–67.109 Vgl. neben Reinhard, Staatsgewalt (wie Anm. 96), Achim Landwehr, „Gute Policey“.Zur Permanenz der Ausnahme, und Michaela Hohkamp, Sicherheit oder Drohgebärde?Herrschaftliche Gewalten und lokale Staatlichkeit – Beispiele aus dem 18. Jahrhundert,beide in: Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Si-cherheitsregimes. Historische Perspektiven. Göttingen 2008, 39–90.

veröffentlichte Papier des Historikers Terence Ranger, The Tribalisation of Africa and theRetribalisation of Europe (1994), gekannt hat?

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ursprünglich im Gegensatz zur wachsenden Staatsgewalt befanden. Dermoderne Staat war erst vollendet, als er deren Träger unterworfen, „umge-dreht“ und für seine Zwecke in Dienst genommen hatte. Nichtsdestoweni-ger könnte ihre latente staatskritische Sprengkraft immer noch Potential fürein neues mikropolitisches Zeitalter enthalten.

An erster Stelle wäre der Grundsatz zu nennen, dass man Gott mehr ge-horchen müsse als den Menschen. Er entsprang dem Dualismus von Kircheund Staat, der dem Abendland weltgeschichtlich einzigartige Freiheits-spielräume beschert hat. Zweitens besaßen die Vorläufer des Staates langeZeit kein Rechtsmonopol. Auch wo sie Richter waren, konnten sie sich we-der als Schöpfer noch als Herren des Rechts betrachten, sondern wurdenunnachsichtig an der Idee der Gerechtigkeit gemessen. Machten sie sich inden Augen der Untertanen einer Rechtsverletzung schuldig, fühlten sichdiese drittens zum Widerstand berechtigt, für den es ein abgestuftes Instru-mentarium mit Gewaltanwendung als letzter Möglichkeit gab. Diese tradi-tionelle Widerspenstigkeit der Europäer beruhte viertens auf der einzigar-tigen Vorstellung vom unverletzlichen Eigentum des Menschen an seinerPerson, an seinen Rechten und an seinen Gütern im engeren Sinn, das vomStaat höchstens mit Zustimmung der Betroffenen angetastet werden durfte.Hier liegen die Wurzeln der Grund- und Menschenrechte und des Parla-mentarismus.

Bevor die Juristen zur allgegenwärtigen Staatsklasse wurden, waren siekeine Handlanger der jeweiligen Inhaber der Staatsgewalt, sondern erfreu-ten sich beträchtlicher Autonomie. Das befähigte sie in Frankreich undEngland sogar zur Auslösung von Revolutionen. Denn auch das Wachstumder Staatsgewalt selbst enthält dialektische Widersprüche. Zwar haben sichletztlich monarchische Manager der Macht durchgesetzt und den Charakterdes modernen Staates bestimmt. Aber Vor- und Frühformen des Staates wiedie griechischen Poleis, später die Stadtrepubliken und Kommunen Euro-pas im Mittelalter und der Frühen Neuzeit stellten bewusste Alternativenzur monarchischen Herrschaft dar. Denn sie waren als politische Organisa-tionen von face-to-face societies ihrer Natur nach mikropolitische Gebilde,weil in ihnen Bürger selbst direkt darüber bestimmen konnten, was sie un-mittelbar anging. Hier liegen die Wurzeln mikropolitisch konkreten Ge-meinwohldenkens, bevor staatliche Makropolitik es sich aneignen konn-te.110

110 Zu diesen Entwicklungen vgl. Reinhard, Staatsgewalt (wie Anm. 96), passim.

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IV.

Die systematisch, exemplarisch und genetisch begründete Allgegenwartder Mikropolitik führt uns unausweichlich zu der Frage, welche Folgen fürdie wissenschaftliche Erforschung von Politik und Geschichte einerseits,für unser politisches Denken und Handeln andererseits sich daraus erge-ben. An kritischen Äußerungen dazu fehlt es ja keineswegs. Denn die Sa-che mag zwar bisher nicht wissenschaftlich auf den Begriff gebracht wor-den sein, unbeachtet ist sie deswegen aber nicht geblieben. Wie Belege die-ser Untersuchung erkennen lassen, ist die Berichterstattung vieler Zeitun-gen heute auf Kritik mit diesem Tenor eingestimmt.

Bereits bei den Politikhistorikern Thukydides und Tacitus fehlt es nichtan einschlägiger Politikkritik, auch wenn dieselbe nicht grundsätzlicherNatur war, sondern eher von Vorstellungen politischer Fehlentwicklungausging. Bezeichnenderweise wurde dieser Faden um 1500 wieder aufge-griffen, als das Wachstum der Staatsgewalt dank einer Generation skrupel-loser Monarchen einen Schub erlebte. Historiker wie Philippe de Commy-nes und humanistische Moralisten wie Erasmus von Rotterdam wären zunennen, vor allem aber politische Schriftsteller wie Francesco Guicciardiniund Niccolò Machiavelli. Letzterer predigte ja nicht politische Unmoral,sondern analysierte die politische Wirklichkeit mit dem Ergebnis, dass po-litisch Handelnden keine Wahl bliebe, als sich auf unmoralische mikropo-litische Operationen einzulassen.111

Vor allem seit Politik mit demokratischer Partizipation verbunden wird,hat eine lange Reihe europäischer Geistesriesen ihre Enttäuschung über diereal existierende Politik unverblümt zum Ausdruck gebracht. Das mag aufdie Frustration zurückgehen, die jedem politisch Tätigen vertraut ist, dasssich nämlich überzeugende Problemlösungen aus einem Guss wegen desWiderstreits mikropolitischer Interessen so gut wie nie erreichen lassen.Statt zum Beispiel wenigstens einen Versuch mit der Einführung der Kirch-hof’schen Flatrate zu wagen, wird das deutsche Steuersystem unter demVorwand der Gerechtigkeit ständig um weiteres Flickwerk zugunsten vonGruppeninteressen bereichert. Und die großartig angekündigte Recht-schreibreform des Deutschen ist fast vollständig gescheitert, „weil die Po-litik diese Reform immer nur politisch verhandeln wollte, also in den Ka-tegorien von Interesse und Durchsetzung, nie aber sachlich, in Form einer

111 Hans Fenske/Dieter Mertens/Wolfgang Reinhard/Klaus Rosen, Geschichte der poli-tischen Ideen. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2008, 46–53, 129–131, 244–253, 255–259,301.

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Auseinandersetzung über Sprache und Schrift“.112 Solche Erfahrungenwerden gerne mit den Parolen schöngeredet, Politik sei eben die Kunst desMöglichen und ihre Spitzenleistung demgemäß der Kompromiss, mag erauch noch so faul sein.

Oft genug bleibt es aber nicht bei harmloser Frustration, sondern die Er-fahrung der abscheulichen Ergebnisse von Geschichte und Politik mündenin einen Cantus firmus verzweifelter, weil ohnmächtiger Wut. Für Gott-fried Benn war die Sache klar: „Es gibt innerhalb der geschichtlichen Weltkein Gut und Böse. Es gibt nur das Böse.“113 Ich selbst habe auf Grund der„Geschichte der europäischen Expansion“ 1990 als „Prinzip der menschli-chen Schäbigkeit“ formuliert: „die Mehrheit der Menschen neigt stets da-zu, die edleren Regungen einer Minderheit zu überlassen und deren Ver-halten auszunützen, selbst aber nach den eigenen kurzfristigen Interessenzu handeln, auch wenn das eigene wohlverstandene Interesse langfristigdarunter leidet“.114 Edward Gibbon meinte dazu: „Man traue keinem erha-benen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein niedriges findenlässt“.115

Die von Max Weber in politisch-polemischer Absicht erfundene, her-vorragend zur Selbstrechtfertigung von Politikern geeignete Verantwor-tungsethik ändert nichts an der Einsicht, dass Macht entweder böse ist odermindestens korrumpierend wirkt. Denn weil „man Macht haben muss, umdas Gute durchzusetzen, setzt man zuerst das Schlechte durch, um dieMacht zu gewinnen“ (Ludwig Marcuse alias Heinz Raabe).116 Im Besitzder Macht interessiert dann das Gute nicht mehr, oder es gibt nur nochdurch Macht verzerrte Vorstellungen davon.117

112 Thomas Steinfeld, Wie bei der Rechtschreibereform. Die Schwächen der neuen Stu-dienordnung lassen sich nicht durch ein paar Korrekturen beheben, in: Süddeutsche Zei-tung 12./13. Dezember 2009, 4.113 Jörg Drews, Das zynische Wörterbuch. Stuttgart 2008, 165.114 Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 4: Dritte Welt Afri-ka. Stuttgart 1990, 206.115 Drews, Wörterbuch (wie Anm. 113), 57.116 Ebd. 96.117 In Hans Jürgen Wendel/Steffen Kluck (Hrsg.), Zur Legitimierbarkeit von Macht. Frei-burg im Breisgau 2008, 5–19, definiert Hermann Schmitz Macht als Steuerungsfähigkeit,um damit über Max Weber hinaus die anonyme Gestaltungsmacht nach Michel Foucaulteinzubeziehen; er verknüpft Macht mit Autorität und wendet sich scharf gegen ihre Dä-monisierung wie bei Jacob Burckhardt. Aber im selben Buch 117–137 zeigen ErichH. Witte, Niels van Quaquebeke und Tilman Eckloff empirisch, wie Macht oft genug tat-sächlich korrumpiert, und zwar ohne dass es den Handelnden bewusst wird.

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Das ist zwar alles richtig beobachtet, geht aber von der unzutreffendenVorstellung der Möglichkeit einer streng sachlich am Gemeinwohl orien-tierten ethisch untadeligen Politik aus. Wenn überhaupt, ist so etwas allen-falls in Ausnahmesituationen möglich. Die Regel ist politisches Verhalten,das sich an dem im Erbe der Gattung Mensch verankerten Code der Mikro-politik orientiert.

Allerdings sind wir nicht nur auf Mikropolitik programmiert, sondernauch auf jüngere Vorstellungen von Sittlichkeit, auch in der Politik. Es sindja genau diese Ideale, die sich indirekt in den Äußerungen verzweifelterWut artikulieren. Kann uns die Wissenschaft in dieser Lage weiterhelfen,oder ist die politisch destruktive Zerstörung unserer Illusionen ihr letztesWort?

Mikropolitische Forschung führt in zweierlei Hinsicht weiter. Erstensgestattet sie durch tiefenpolitische Analyse eine genauere Beschreibungkomplexer historischer Befunde als bisher, woraus sich eine bessere Erklä-rung ergeben kann. Denn die Ergebnisse von Handlungen entsprechen oftnicht deren vorgegebenen Zielen, sondern ihren mikropolitischen Implika-tionen. Wandel in der Geschichte kommt seltener durch Verwirklichungvon Handlungszielen zustande als durch nicht intendierte Nebenwirkungender Handlungen.118 Das kann sogar auf dialektische Hervorbringung der ei-genen Antithese hinauslaufen, wenn zum Beispiel Kolonialherrschaft Eli-ten westlichen Zuschnitts ausbildet, sie aber in ihren Ansprüchen frustriert,was dann dazu führt, dass diese den Kampf gegen den Kolonialismus auf-nehmen.119

Zweitens ergeben sich aus mikropolitischer Tiefenanalyse weitreichen-de delegitimatorische Wirkungen. Angeblich kann die Geschichtswissen-schaft wegen der Einbettung in ihre jeweilige Lebenswelt gar nicht anders,als deren gesellschaftliche Praxis legitimieren.120 Mehr noch als die Juris-prudenz orientiert sie sich am Prinzip der normativen Kraft des Faktischen.Was vorhanden ist, ist zu Recht vorhanden und das ist gut so! Selbst eine

118 Man vgl. das philosophische Theorem der Heterogonie der Zwecke nach WilhelmWundt, System der Philosophie. 3. Aufl. Leipzig 1907, Bd. 1, 326, 329, Bd. 2, 221.119 Reinhard, Expansion, Bd. 4 (wie Anm. 114), 205.120 Winfried Schulze hat diese seine schon früher vorgetragene Auffassung mit ausdrück-licher Zurückweisung meiner Kritik (Wolfgang Reinhard, Geschichte als Delegitimation,in: Jb. des Historischen Kollegs 2002, 27–37) erneut bekräftigt: ich könne mich nichtdurch Selbstmarginalisierung aus dem auch für mich zwingenden deutschen nationalkul-turellen Zusammenhang zurückziehen: Winfried Schulze, Die Bundesrepublik, die deut-sche Nation und Europa, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Nationale Geschichtskulturen –Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit. Stuttgart 2006, 298f.

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kritische Untersuchung vermittelt die Botschaft, dass ihr Untersuchungs-gegenstand wichtig ist. Marxistische oder feministische Alternativen legi-timieren ebenfalls, aber anstelle des Vorhandenen dasjenige, was sein soll.Die „neue“ Kulturgeschichte ist in dieser Hinsicht extrem konservativ.Weil es Rituale gibt, werden diese nicht nur untersucht, sondern auch un-eingeschränkt als notwendig bejaht – als ob es keine Ritualkritik gegebenhätte und gäbe!

Im Sinne der heuristischen Tradition des methodischen Zweifels und derphänomenologischen Reduktion besteht aber durchaus die Möglichkeit zuversuchen, methodisch einen Standpunkt außerhalb der eigenen politischenKultur und Fachkultur zu finden. Die ironische Einsicht in die eigeneStandortgebundenheit wäre kein Hindernis, sondern die Bedingung derMöglichkeit dieses Vorgehens.121 Immerhin wurde schon im 18. Jahrhun-dert vom Historiker gefordert, „dass er ohne Vaterland, ohne Glauben undohne Herrscher auftreten muss“.122 Es wäre dann seine Aufgabe, von au-ßen „ein Loch nach dem anderen“ in den alltäglichen bullshit der politi-schen und wissenschaftlichen Sprachen „zu bohren, bis das Dahinterkau-ernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt“, wie es Samuel Be-ckett zur Aufgabe des absurden Theaters erklärt hat.123 Die Weltgeschichtestellt sich ja oft genug als absurdes Theater dar!

Vor allem mikropolitische Tiefenanalyse lässt erkennen, was hintergroßartigen „makropolitischen“ Fassaden hockt – oft genug wirklichnichts! Dabei bleibt auch die imposante Legitimation des modernen Staatesauf der Strecke. Seine verbleibende Legitimität besteht höchstens darin,dass es ihn gibt und wir ohne seine Dienstleistungen noch nicht auskom-men. Allerdings dürfen wir dabei nicht der Versuchung erliegen, mikropo-litische Analyse als bloße „Entlarvungswissenschaft“ zu missbrauchen.Denn mit der Delegitimation des an Bedeutung verlierenden Staates könnteeine Rehabilitation mikropolitischer Alternativen einhergehen, auf die sichpolitische Ideale mit mehr Grund zur Hoffnung projizieren ließen als aufdie frustrierende Großpolitik des Leviathan.

121 Vgl. Rüdiger Graf, Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit. Pragmati-sche Überlegungen zum Dissidenzpotential historischer Wahrheit, in: Andreas Frings/Jo-hannes Marx (Hrsg.), Erzählen, Erklären, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorieund Methodologie der historischen Kulturwissenschaften. Berlin 2008, 71–96.122 Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) nach Dittmar Schorkowitz, Clio und Natio imöstlichen Europa, in: HZ 279, 2004, 1–33, hier 4.123 Samuel Beckett, Disjecta (1937). London 1983, 52.

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Wenn wir dank unserer mikropolitischen Perspektive lernen, den mo-dernen Staat als kontingentes Produkt der Politik zu verstehen, anstatt diePolitik auf Lebensäußerungen eines a priori gegebenen Staates zu reduzie-ren, gewinnen historische Alternativen zum modernen Staat ganz neuesGewicht. Es ist dann nicht mehr nötig, die historische Bedeutung der auto-nomen Stadt- und Landgemeinden von ihrem Beitrag zur Staatsbildung herzu denken, wie es immer noch üblich ist. Denn es gibt heute kleine Gemein-wesen, die den umgekehrten Weg gehen, sich dem Staat entziehen und indiesem Sinn „The Art of Not Being Governed“ entwickelt haben. Das giltparadigmatisch für Bergvölker Südostasiens124, aber auch für die Slums af-rikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Megastädte, obwohl de-ren Autonomie wie einst zu Zeiten der alten Mafia in Süditalien von Kri-minellen exekutiert wird. Statt eines großspurigen „Weltethos“ wäre dahereine bescheidene Ethik des mikropolitischen Alltags angesagt. Denn auchGlobalisierung findet bekanntlich vor Ort statt, und die christliche Nächs-tenliebe ist nichts anderes als gute Mikropolitik.

Immerhin wurde 2009 eine Untersuchung mit dem Nobelpreis für Öko-nomie ausgezeichnet, die auf der empirischen Grundlage von tausendenvon Fallstudien herausgefunden hat, unter welchen Bedingungen dieSelbstorganisation der Bewirtschaftung gemeinsam besessener Ressour-cen wie Allmenden, Bewässerungssysteme und Fischgründe nicht in Ex-zesse egoistischer Schäbigkeit münden muss, sondern zum Nutzen allerBeteiligten funktionieren kann.125

Zusammenfassung

Ausgehend von Ergebnissen dreier personengeschichtlicher Großprojektewird unter Rückgriff auf sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnissezuerst das Konzept „Mikropolitik“ systematisch entwickelt. Es gestattetdurch gründliche Berücksichtigung der häufig ignorierten oder herunterge-spielten personenbezogenen Momente eine genauere Analyse von Politikals bisher, während sich der Gegenbegriff angeblich sachbezogener und ge-meinwohlorientierter „Makropolitik“ als semantische Schimäre entpuppt.Anschließend wird dieser Sachverhalt zweitens an historischen Beispielen

124 James C. Scott, The Art of Not Being Governed. An Anarchist History of UplandSoutheast Asia. New Haven 2009.125 Elinor Ostrom, Governing the Commons. The Evolution of Institutions for CollectiveAction. Cambridge 1990, dt.: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat undMarkt. Tübingen 1999.

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exemplarisch demonstriert und drittens mit der Evolution des Menschen ei-nerseits, der Entwicklung des Staates andererseits historisch erklärt. Dar-aus ergibt sich ein logischer wie historischer Primat der Mikropolitik vordem Staat, eine Umkehrung der bisherigen Ordnung, die Politik vom Staather denkt. Das erleichtert viertens den Versuch, die Frage nach dem erziel-ten Erkenntnisgewinn zu beantworten. In Wissenschaft wie Praxis gilt eshinfort, mikropolitische Alternativen zur staatlichen Politik ernst zu neh-men und anstelle makropolitischer Leerformeln praktikable mikropoliti-sche Modelle und eine konkrete Ethik der Mikropolitik zu entwickeln.