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eines Infektionsvorgangs sichtbar gemacht werden. Alle diese methodischen Innovatio- nen stellen die „Neue Mikrobiologie“ auf ein breites Fundament. Zweitens können nun mittels dieser neuen methodischen Möglichkeiten Fragen adres- siert werden, die früher so nicht lösbar waren. Die Epidemiologie von Infektionen ist durch die Analyse von Gesamtgenomen sehr leis- tungsfähig geworden. Auch Fragen zur Evo- lution von Mikroorganismen und zur Bedeu- tung des Gentransfers bei der Entwicklung von Arten und Varianten können auf eine neue Weise behandelt werden. Die genomi- schen Techniken haben ebenfalls die Analy- se von Lebensgemeinschaften weiterent- wickelt. Metagenome, also das Erbgut ganzer Habitate, beispielsweise bestimmter Boden- biotope oder unterschiedlicher menschlicher Körperzonen, können umfassend analysiert werden. Hier sind nach einer quantitativen Auswertung jetzt qualitative Daten zu erwar- ten, um die Funktion von Proteinen zu stu- dieren. Die Analyse von Stoffwechselfunktio- nen spielt dabei eine zentrale Rolle – die Metabolomik hat zu einer echten Renaissance der Stoffwechselphysiologie geführt. Auch die Interaktionen der Mikroben unter- einander, beispielsweise durch Quorum Sen- sing, können nunmehr umfassend analysiert werden. Weiterhin haben sich dem Studium pathogenetischer Prozesse neue Zugänge eröffnet, etwa durch die umfassende Beschrei- bung von Wirtszellen und Vektoren. Darüber hinaus ist die Analyse von regulatorischen Netzwerken heute auf neuer Grundlage mög- lich. Es hat sich dabei die Disziplin der Epi- genomik herausgebildet, die die Prozesse der Steuerung von Genen durch Modifikationen der DNA in den Blick nimmt. Zudem rückt die Rolle von regulatorischen RNAs immer weiter in das Blickfeld. Insgesamt können jetzt mikrobielle Interaktionen nicht mehr nur als Einzelvorgänge, sondern als Systeme untersucht und beschrieben werden. BIOspektrum | 01.13 | 19. Jahrgang 3 EDITORIAL ó Letztes Jahr fand in Paris eine Tagung der französischen Akademie der Wissenschaften, der britischen Royal Society und der Leopol- dina zum Thema „New Microbiology“ statt. Mikrobiologen aus verschiedenen Ländern diskutierten die Entwicklung ihres Fachs und suchten eine Antwort auf die Frage, welche neuen Erkenntnisse die Mikrobiologie für junge Wissenschaftler interessant machen. Warum ist es attraktiv, in die mikrobiologi- sche Grundlagenforschung einzusteigen? Ich sehe drei Gründe: Zum einen haben sich in den vergangenen Jahren neue methodische Zugänge eröffnet. Hierzu zählen die neuen DNA-Sequenzier- techniken genauso wie aktuelle Algorithmen der bioinformatischen Auswertung. Deep sequencing erlaubt es sogar, schwach tran- skribierte RNA-Moleküle aufzuspüren, die eine Rolle in der Genregulation spielen. Aber nicht nur die nukleinsäurebasierten Tech- niken entwickeln sich rasant, auch die Analyse der Proteine ist heute mit einem Grad an Genauigkeit und Vollständigkeit möglich, der früher nicht zu erwarten war. Über 90 Prozent der Eiweiße einer Zelle lassen sich so bestim- men. Gearbeitet wird jetzt vor allem an den Modifikationen der Eiweiße, beispielsweise durch Phosphatgruppen oder Zuckerreste. Die Analyse verlagert sich dabei von ganzen Popu- lationen hin zu einzelnen Zellen, die umfas- send studiert werden können. Komplettiert werden diese neuen metho- dischen Zugänge durch die Ansätze der Syn- thetischen Biologie. Ziel dieser Disziplin ist es, mithilfe von Gensynthesen, aber auch mittels „alternativer“ genetischer Codes, Biomole- küle zu schaffen, die neue Eigenschaften haben und die sowohl in der Grundlagenfor- schung als auch in der Biotechnologie genutzt werden können. Nicht zuletzt sind es die bild- gebenden Verfahren, die es möglich machen, die Verteilung von Mikroorganismen in ihren Wirten zu analysieren. Zusätzlich können ein- zelne Zellen und sogar Moleküle während Abschließend sei auf einen dritten Punkt hingewiesen: Die „Neue Mikrobiologie“ hat ein riesiges Anwendungspotenzial. Sei es in der pharmazeutischen und chemischen Indus- trie oder in der Landwirtschaft – überall kann man beobachten, wie mikrobiologische Ver- fahren entwickelt oder weiterentwickelt wer- den, um neue Produkte zu generieren. Dabei kann die „Neue Mikrobiologie“ auch Beiträge zur Lösung von medizinischen Problemen, Stichwort „Impfstoffe“, von Umweltfragen oder von Problemen der Energiegewinnung leis- ten. Im Grunde nimmt die „Neue Mikrobio- logie“ jetzt wieder die Rolle ein, die die tra- ditionelle Mikrobiologie einst bei der Ent- wicklung der Molekularbiologie spielte – die einer Leitdisziplin der modernen Lebens- wissenschaften. ó Jörg Hacker, Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften Jörg Hacker „DIE MIKROBIOLOGIE NIMMT WIEDER DIE ROLLE EIN, DIE SIE EINST BEI DER ENTWICKLUNG DER MOLEKULARBIOLOGIE SPIELTE – DIE EINER LEITDISZIPLIN DER MODERNEN LEBENSWISSENSCHAFTEN.“ DOI: 10.1007/s12268-013-0260-x Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Jörg Hacker Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften Postfach 110543 D-06019 Halle/Saale Tel.: 0345-47239-915 Fax: 0345-47239-919 [email protected] www.leopoldina.org Die „Neue Mikrobiologie“: Grundlagenforschung auf dem Vormarsch

Die „Neue Mikrobiologie“: Grundlagenforschung auf dem Vormarsch

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eines Infektionsvorgangs sichtbar gemachtwerden. Alle diese methodischen Innovatio-nen stellen die „Neue Mikrobiologie“ auf einbreites Fundament.

Zweitens können nun mittels dieser neuenmethodischen Möglichkeiten Fragen adres-siert werden, die früher so nicht lösbar waren.Die Epidemiologie von Infektionen ist durchdie Analyse von Gesamtgenomen sehr leis-tungsfähig geworden. Auch Fragen zur Evo-lution von Mikroorganismen und zur Bedeu-tung des Gentransfers bei der Entwicklungvon Arten und Varianten können auf eineneue Weise behandelt werden. Die genomi-schen Techniken haben ebenfalls die Analy-se von Lebensgemeinschaften weiterent -wickelt. Metagenome, also das Erbgut ganzerHabitate, beispielsweise bestimmter Boden-biotope oder unterschiedlicher menschlicherKörperzonen, können umfassend analysiertwerden. Hier sind nach einer quantitativenAuswertung jetzt qualitative Daten zu erwar-ten, um die Funktion von Proteinen zu stu-dieren. Die Analyse von Stoffwechselfunktio-nen spielt dabei eine zentrale Rolle – dieMetabolomik hat zu einer echten Renais sanceder Stoffwechselphysiologie geführt.

Auch die Interaktionen der Mikroben unter-einander, beispielsweise durch Quorum Sen-sing, können nunmehr umfassend analysiertwerden. Weiterhin haben sich dem Studiumpathogenetischer Prozesse neue Zugängeeröffnet, etwa durch die umfassende Beschrei-bung von Wirtszellen und Vektoren. Darüberhinaus ist die Analyse von regulatorischenNetzwerken heute auf neuer Grundlage mög-lich. Es hat sich dabei die Disziplin der Epi-genomik herausgebildet, die die Prozesse derSteuerung von Genen durch Modifikationender DNA in den Blick nimmt. Zudem rücktdie Rolle von regulatorischen RNAs immerweiter in das Blickfeld. Insgesamt könnenjetzt mikrobielle Interaktionen nicht mehrnur als Einzelvorgänge, sondern als Systemeuntersucht und beschrieben werden.

BIOspektrum | 01.13 | 19. Jahrgang

3EDITORIAL

ó Letztes Jahr fand in Paris eine Tagung derfranzösischen Akademie der Wissenschaften,der britischen Royal Society und der Leopol-dina zum Thema „New Microbiology“ statt.Mikrobiologen aus verschiedenen Länderndiskutierten die Entwicklung ihres Fachs undsuchten eine Antwort auf die Frage, welcheneuen Erkenntnisse die Mikrobiologie für junge Wissenschaftler interessant machen.Warum ist es attraktiv, in die mikrobiologi-sche Grundlagenforschung einzusteigen? Ichsehe drei Gründe:

Zum einen haben sich in den vergangenenJahren neue methodische Zugänge eröffnet.Hierzu zählen die neuen DNA-Sequenzier-techniken genauso wie aktuelle Algorithmender bioinformatischen Auswertung. Deepsequencing erlaubt es sogar, schwach tran -skribierte RNA-Moleküle aufzuspüren, dieeine Rolle in der Genregulation spielen. Abernicht nur die nukleinsäurebasierten Tech -niken entwickeln sich rasant, auch die Analyseder Proteine ist heute mit einem Grad anGenauigkeit und Vollständigkeit möglich, derfrüher nicht zu erwarten war. Über 90 Prozentder Eiweiße einer Zelle lassen sich so bestim-men. Ge arbeitet wird jetzt vor allem an denModifikationen der Eiweiße, beispielsweisedurch Phosphatgruppen oder Zuckerreste. DieAnalyse verlagert sich dabei von ganzen Popu-lationen hin zu einzelnen Zellen, die umfas-send studiert werden können.

Komplettiert werden diese neuen metho-dischen Zugänge durch die Ansätze der Syn-thetischen Biologie. Ziel dieser Disziplin ist es,mithilfe von Gensynthesen, aber auch mittels„alternativer“ genetischer Codes, Biomole-küle zu schaffen, die neue Eigenschaftenhaben und die sowohl in der Grundlagenfor-schung als auch in der Biotechnologie genutztwerden können. Nicht zuletzt sind es die bild-gebenden Verfahren, die es möglich machen,die Verteilung von Mikroorganismen in ihrenWirten zu analysieren. Zusätzlich können ein-zelne Zellen und sogar Moleküle während

Abschließend sei auf einen dritten Punkthingewiesen: Die „Neue Mikrobiologie“ hatein riesiges Anwendungspotenzial. Sei es inder pharmazeutischen und chemischen Indus-trie oder in der Landwirtschaft – überall kannman beobachten, wie mikrobiologische Ver-fahren entwickelt oder weiterentwickelt wer-den, um neue Produkte zu generieren. Dabeikann die „Neue Mikrobiologie“ auch Beiträgezur Lösung von medizinischen Problemen,Stichwort „Impfstoffe“, von Umweltfragen odervon Problemen der Energiegewinnung leis-ten. Im Grunde nimmt die „Neue Mikrobio-logie“ jetzt wieder die Rolle ein, die die tra-ditionelle Mikrobiologie einst bei der Ent-wicklung der Molekularbiologie spielte – dieeiner Leitdisziplin der modernen Lebens -wissenschaften. ó

Jörg Hacker,Präsident der Deutschen Akademie derNaturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften

Jörg Hacker

„DIE MIKROBIOLOGIE NIMMT WIEDER DIE ROLLE EIN, DIE SIE EINSTBEI DER ENTWICKLUNG DER MOLEKULARBIOLOGIE SPIELTE –DIE EINER LEITDISZIPLIN DER MODERNEN LEBENSWISSENSCHAFTEN.“

DOI: 10.1007/s12268-013-0260-x

Korrespondenzadresse:Prof. Dr. Jörg HackerDeutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der WissenschaftenPostfach 110543D-06019 Halle/SaaleTel.: 0345-47239-915Fax: [email protected]

Die „Neue Mikrobiologie“:Grundlagenforschung auf dem Vormarsch